Wetterzauber
Langsam ging Elfriede zur Mitte der Hügelkuppe und sah hinauf zu den dunklen Wolken. Ihr Gesicht war nass vom Regen.
»Fast zu spät«, hörten die Mädchen sie murmeln. Dann streckte die Hexe ihre Hände dem Himmel entgegen. Zischend wand sich die Schlange an ihrem Arm.
Elfriede ließ die Hände wieder sinken, zog den Holzstab mit dem Katzenkopf aus dem Gürtel und zeichnete damit einen großen Kreis auf die feuchte Erde.
»Der Kreis sieht aber auch nicht besser aus als meiner«, flüsterte Lilli Rosanna ins Ohr.
Rosanna musste kichern.
»Ruhe da!«, rief Elfriede. »Krötengift und Hexenspucke, wie soll ich mich bei dem Gegacker konzentrieren?«
»Entschuldigung!«, murmelte Rosanna zerknirscht.
»Schon gut!« Elfriede wischte sich mit dem Kleid das Gesicht ab. »Dieser ewige Regen geht an die Nerven. Wird Zeit, dass er aufhört.«
Sie stellte ihren Besen mitten in den Kreis und entzündete an seinem Stiel ein Feuer, wie sie es in Lillis Garten getan hatte. »So, wenigstens ein bisschen Licht in dieser mondlos scheußlichen Nacht.«
Aus einem Beutel an ihrem Gürtel nahm sie vier große glatte Steine und legte sie auf die Linie.
»Wozu sind die gut?«, fragte Lilli neugierig.
»Nun hör sich eine das an! Wozu sind die gut? Schon mal etwas von den vier Himmelsrichtungen gehört? Ja?« Elfriede zeigte auf den ersten Stein. »Der Osten. Zu ihm gehört das Element Luft.« Sieben Federn legte sie auf den Stein und beschwerte sie sorgfältig mit ein paar Kieseln. »Der Süden.« Sie ging zum nächsten Stein. »Zu ihm gehört das Feuer.« Mit Spucke malte sie eine Sonne darauf. Dann stellte sie auf den dritten Stein einen kleinen Kelch. »Zum Westen das Wasser und zum Norden …« Sie zeigte auf den letzten Stein. »Zum Norden die Erde.« Und sie beschmierte den Stein und ihre Hände mit Erde.
»Einfach zu merken, was?«, flüsterte Lilli Rosanna zu. »Ein paarmal üben, und wir können das auch.«
»Ach ja?«, flüsterte Rosanna zurück. »Ich wette, du weißt nicht mal, wo welche Himmelsrichtung ist.«
»Noch mehr von eurem Getuschel«, rief Elfriede, »und ich lass es Frösche regnen.«
Die Mädchen bissen sich fest auf die Lippen.
Die Hexe ging zurück in die Mitte des Kreises und holte ihre Kröte aus der Tasche.
»Was sagst du dazu, Brunhilde«, hörte Rosanna sie raunen. »Ist das nicht ein abscheuliches Wetter? Machen wir Schluss damit, ja?«
Immer schneller jagte der Wind die Wolken über den Himmel, der Regen peitschte Elfriede ins Gesicht, und ihre nassen Haare tanzten im Wind. Auch die Linde bot jetzt keinen Schutz mehr. Klitschnass und fröstelnd drängten sich Lilli und Rosanna aneinander.
»Scheint, als wär der Wind wütend auf sie, was?«, flüsterte Lilli.
Rosanna nickte nur. Sie ließ kein Auge von der Hexe.
Elfriede saß neben dem brennenden Besen auf dem Boden und redete leise mit der Kröte. Die Schlange kroch an ihrem Arm hinunter und ringelte sich um ihr Handgelenk.
Plötzlich stand die Hexe mit einem Ruck auf, hüpfte durch den Kreis und setzte Brunhilde auf den nördlichen Stein. Von dort kam der Wind.
Mit einem Satz sprang Elfriede auf die Kreislinie und tanzte von einem Stein zum anderen. Dabei sang sie ein Lied über die Himmelsrichtungen. Viel Sinn machte es nicht, aber wenigstens reimte es sich.
»Norden, Süden, Osten, Westen,
was schmeckt Kröten wohl am besten?
Westen, Osten, Süden, Norden,
fort, ihr feuchten Wolkenhorden!
Westen, Norden, Süden, Osten,
na, ihr Schätzchen, wollt ihr kosten?
Hexenspucke, Krötengift?
Ha, ich seh, das schmeckt euch nicht!
Flaprappadapps, jetzt ist’s vorbei,
macht den Himmel wieder frei!«
»Also, das hört sich ziemlich albern an, findest du nicht?«, flüsterte Lilli Rosanna zu.
Aber die zuckte nur die Schultern. »Hauptsache, es wirkt.«
Immer schneller tanzte die Hexe, immer ausgelassener wirbelte sie im Kreis herum. Vor jedem Stein griff sie in ihre Taschen und streute etwas in den Wind. Aber wenn sie den Stein des Nordens erreichte, machte sie nur einen hohen Satz über Brunhildes Kopf hinweg. Die Kröte nahm es gelassen. Ab und zu ließ sie ein lautes Quaken hören. Rosanna zählte mit. Nach genau dreizehn Runden hüpfte Elfriede zurück in die Kreismitte. Dort schnappte sie ihren Besen, erstickte mit der Hand das Feuer am Stiel und fegte den magischen Kreis aus. Dann sammelte sie schweigend ihre Sachen ein und verstaute sie wieder in ihren unzähligen Taschen. Bis auf Brunhilde, die behielt sie in der Hand. Sie ging unter die Linde und setzte sich erschöpft auf die kräftigen Wurzeln.
»Das war’s?«, fragte Lilli erstaunt.
Die Hexe nickte lächelnd. »Das war’s. Was hast du erwartet? Dass ich einem Huhn den Kopf abreiße oder blutige Zeichen in den Sand male? Pfui, Eisenhut und Bilsenkraut! Die Schwarze Magie überlasse ich den Schwarzen Zauberern und ihren verfaulten Gehirnen. Fieser Hokuspokus.« Zärtlich kraulte sie Brunhilde den fetten Bauch. »Die Magie der Hexen ist weiß. Merkt euch das.«
»Wie merkt man denn, was Schwarze Magie ist und was Weiße?«, fragte Rosanna.
»Oje, was stellt ihr der armen Elfriede wieder für verzwackte Fragen!« Seufzend strich sich die Hexe das nasse Haar aus der Stirn. »Wie erkennt ihr die Schwarze Magie? An ihren unappetitlichen Methoden. Blut, Schmerz, geopferte Tiere, so was lieben die Schwarzen Zauberer. Und ihr Ziel ist immer dasselbe: Macht über Menschen und Tiere, Macht über alles, was ihre vergifteten Herzen begehren. Dafür benutzen sie das Böse in der Welt. Was leider nicht schwierig ist.« Elfriede gab ihrer Kröte einen schmatzenden Kuss.
»Und die Weiße Magie?«, fragte Lilli.
»Die Weiße Magie krümmt keinem Huhn eine Feder«, sagte Elfriede, »und ihr Ziel ist das Heilen und Helfen oder, um es kurz zu sagen, das Glück. Die Weiße Magie ist schwer zu erlernen, weil sie die Kraft des Guten nutzt, und die kommt leise daher. Aber …«, Elfriede kicherte, »sie ist die gesündere, denn eins gilt für alle Zauberei, ob Schwarz oder Weiß: ›Was du gibst, erhältst du dreimal zurück.‹ Das Gute und das Böse, alles kommt zu dir zurück. Merkt euch das. So, und jetzt hab ich wirklich genug geredet.«
Nachdenklich sah sie zum Himmel empor. Die Mädchen taten es ihr nach.
»Die Wolken«, sagte Rosanna. »Die sind nicht weg.«
Elfriede kicherte. Vorsichtig verstaute sie Brunhilde wieder in ihrem Kleid. »Natürlich sind sie nicht weg«, sagte sie spöttisch. »Etwas Geduld musst du schon haben. Geduld ist alles.« Gähnend nahm sie ihren Besen. »Morgen sind sie weg«, sagte sie. »Genau wie ich.«
Erschrocken sahen die Mädchen sie an.
»Wieso?«, fragte Lilli entgeistert. »Wieso bist du weg?«
»Wieso nicht?«, fragte die Hexe zurück.
Die Mädchen schwiegen.
»Na, nun sitzt mal nicht da wie beleidigte Kröten«, sagte Elfriede. »Ich hab noch was für Notfälle für euch. Da.« Sie riss sich zwei Haare aus, wickelte jedes sorgfältig in ein Stückchen Stoff von ihrem Kleid und gab jedem Mädchen ein kleines Päckchen. »Das müsst ihr fest reiben, siebenmal draufpusten und ein bisschen tanzen. Ach ja, und – da war doch noch was. Moment.« Sie holte ihren Zettel mit den dreizehn wichtigsten Zaubersprüchen hervor. »Hm, ist in der Dunkelheit nicht zu entziffern.« Ärgerlich schnippte sie mit den Fingern und plötzlich tanzte ein kleines Irrlicht auf ihrem Fingernagel. »Da ist es. ›Einladung einer Hexe‹. Ja, drei Blätter Zaubernuss. Die müsst ihr beim Tanzen fest in der Hand halten. Ganz fest.«
Sie steckte den Zettel wieder ein und pustete das Irrlicht von ihrem Fingernagel. Leuchtend trudelte es davon.
»Wenn ihr das alles tut, kann es sein, dass ich mich wieder bei euch sehen lasse. Es sei denn, ihr stört mich gerade beim Essen oder Schlafen oder sonst was Wichtigem. Aber bitte nur benutzen, wenn ihr mich wirklich braucht. Und es wirkt nur bei abnehmendem Mond, verstanden?«
Die Mädchen nickten und verstauten die wertvollen Päckchen tief in ihren Taschen.
»Gut, dann steigt mal wieder auf mein Holzpferd«, sagte Elfriede. »Zeit fürs Bett. Sogar für zwei Nachwuchshexen wie euch. Ihr gähnt ja, als wolltet ihr den Mond verschlucken.«
Auch der Rückflug war für Rosanna nicht gerade ein Genuss. Der Wind wurde immer stärker und der Besen ritt auf ihm wie ein Boot auf den Wellen. Rosanna war zwar noch nie seekrank gewesen, aber so ähnlich musste man sich dabei fühlen. Lilli und Elfriede hatten wieder ihren Spaß. Bei jedem Hopser, den der Besen machte, setzte Rosannas Herzschlag aus – die anderen beiden aber quietschten vor Vergnügen.
»Na dann, bis irgendwann und nirgendwann!«, sagte die Hexe, als Rosanna mit zitternden Beinen zurück in ihr Zimmer kletterte.
»Bis irgendwann und nirgendwann«, antwortete Rosanna – und vermisste sie schon.
»Aber wie guckst du denn?«, rief Elfriede und zwickte sie zärtlich in die Nase. »Das ist doch kein Abschied für die Ewigkeit. Wer weiß, in wie vielen Leben wir uns noch über den Weg laufen werden! Von diesem Mal ganz zu schweigen.«
Rosanna musste lächeln.
»So ist es richtig«, sagte Elfriede. »Und jetzt werde ich diese kleine Flughexe zum Abschied noch mal ordentlich durchschütteln!« Sie stupste Lilli an. »Wir zwei fliegen noch ein paar Extrarunden, was?«
Rosanna blieb am offenen Fenster stehen und sah ihnen nach. Lillis Juchzen hörte sie noch, als der Besen mit den beiden kaum noch zu sehen war. Wie eine Fahne flatterten ihre nassen Karottenhaare im Wind.
Macht nichts, dachte Rosanna. Dafür bin ich eine erstklassige Krötenbeschimpferin. Und trotzdem war sie neidisch, als sie zum Himmel hochsah.