Krumme Wege
»Los, wir müssen ihr nachgehen!«, sagte Rosanna. »Sie kennt sich hier doch überhaupt nicht aus.«
»Pah, ist mir doch egal!« Misstrauisch betrachtete Lilli den brennenden Besenstiel. »Wie sie das wohl gemacht hat? Sah ziemlich einfach aus.«
Rosanna guckte sich beunruhigt um. »He, wo sind denn die Tiere?«
»Sind hinter ihr hergelaufen«, antwortete Lilli verächtlich. »Einträchtig nebeneinander. Wie die allerbesten Freunde. Was für Verräter!«
Rosanna sah zum Mond hinauf. »Wie spät ist es?«
»Gleich Mitternacht. Wieso?«
»Ich geh ihr nach«, sagte Rosanna entschlossen. »Wir haben ihr schließlich den Ärger eingebrockt.«
»Ach was!« Ärgerlich trat Lilli gegen den leeren Kochtopf. »Wahrscheinlich hat sie sich selbst aus Versehen hierhergezaubert. Ich kann sie nicht ausstehen!«
»Ich geh ihr nach«, sagte Rosanna und lief los. Nach ein paar Schritten war Lilli neben ihr. In der Dunkelheit war das schon sehr beruhigend.
Auf der Straße war es nicht ganz so unheimlich wie in dem dunklen Garten. Rosanna sah nach links, Lilli nach rechts.
»Ich seh sie!«, rief Rosanna. »Dahinten an der Ecke ist sie. Und Ramses und Zorro sind bei ihr.«
Hastig rannte sie ihr nach. Als die Hexe die Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um.
»Ach, sieh an, die Junghexen!«, rief sie. »Sauberes kleines Städtchen, in dem ihr wohnt. Für eine Hexe allerdings trostlos. Guckt euch das an!« Sie zeigte auf den gepflasterten Bürgersteig, auf die Straße und die sauber gerupften Vorgärten. »Wo, bitte schön, soll ich da ein paar Kräuterchen finden, hm? Nicht mal ein Hustenmittel würde ich hier zusammenkriegen, geschweige denn eine Rückfahrkarte nach Hause. Wo geht’s denn hier etwas weniger ordentlich zu? Eure Tiere habe ich schon gefragt, aber die denken, das Futter wächst in der Dose. Und an Grünzeug sind sie nicht interessiert.«
»Bei Lilli im Garten ist es nicht ordentlich«, sagte Rosanna. »Da, wo wir gerade waren.«
»Stimmt.« Elfriede spähte angestrengt die Straße hinunter. »Ist ein nettes Fleckchen. Aber außer Gras und Johanniskraut war da auch nichts Brauchbares.« Sie tippte sich an die Nase. »So was rieche ich nämlich.« Mit Kennermiene sog sie die kühle Nachtluft ein. Dann zeigte sie über eine niedrige Hecke. »In der Richtung riecht es verheißungsvoll. Auf jeden Fall Waldmeister und vielleicht auch ein bisschen Gundermann.«
Und – hopp – sprang sie über die Hecke, mitten in ein Blumenbeet. Ramses und Zorro sprangen ihr nach.
»Entschuldigt die Störung!«, sagte Elfriede zu den Blumen. Sacht strich sie ihnen über die Blätter und pustete sie an. Beunruhigt guckten Rosanna und Lilli die Straße hinunter. »Du kannst doch nicht einfach in fremde Gärten hüpfen!«, zischte Lilli. »Wenn dich jemand sieht!«
Elfriede kicherte nur. »Heilige Dreizehn! Nun mach dir bloß nicht in die Hosen. Hexen lieben krumme Wege! Denn nur die sind voller Überraschungen.«
Pfeifend tanzte sie über den kurz geschorenen Rasen auf die nächste Hecke zu. Rosanna sah sich noch mal um, dann fasste sie sich ein Herz und kletterte hinterher. Kopfschüttelnd folgte Lilli ihr.
Sie stiegen über viele Hecken und Zäune, bis Elfriede fand, was sie suchte. In einem völlig verwilderten Garten wuchsen überall unter Obstbäumen und Sträuchern weiß blühender Waldmeister und blassblauer Gundermann.
»Darf ich vorstellen? Herr Gundermann und Frau Waldmeister!« Behutsam pflückte Elfriede die kleinen Stiele und steckte sie in einen Beutel, der an ihrem Gürtel hing.
»Wozu sind die gut?«, fragte Rosanna.
»Vertreiben den Muskelkater beim Fliegen«, sagte Elfriede. »Und noch einiges mehr. Aber darüber plaudert eine Hexe nicht vor zwei Nachwuchshexen wie euch.«
Sie stand auf und sah sich zufrieden um. »Was habe ich euch gesagt! So was findet sich nur auf krummen Wegen. Wunderbare Bleibe für eine vorübergehend heimatlose Hexe. Vielleicht gibt es hier ja sogar einen Besen.«
Der Garten gehörte zu einem verlassenen Haus. Die Fenster waren zugenagelt. Vor der Treppe stand zwischen hohen Brennnesseln ein Schild »Zu verkaufen«. Elfriede lief zu einem Fenster an der Hinterfront des Hauses, zog ihren Dolch aus dem Gürtel und stemmte damit die Bretter vom Fenster los.
»Oje, willst du da etwa rein?«, fragte Lilli.
»Ja, sicher. Ist doch niemand zu Hause«, sagte die Hexe, öffnete die morschen Fensterflügel und kletterte hinein. Die beiden Nachwuchshexen folgten ihr. Ramses und Zorro erkundeten lieber den Garten.
Spukig war es in dem verlassenen Haus. Alle Zimmer standen völlig leer, selbst der Raum, der mal eine Küche gewesen war. Dunkel und leer war alles, bis auf raschelnde Mäuse und Spinnweben. Die Mädchen waren froh, als Elfriede die Besensuche aufgab und sie wieder ins Freie kletterten. »Ich könnte diesen Besen ja auch selber machen«, sagte die Hexe. »Aber das ist viel Arbeit. Zaubern ist dabei nämlich verboten. Und ich bin eine faule Hexe.«
Also ging die nächtliche Suche weiter. Der Mond wanderte über den Himmel, und sie wanderten durch fremde Gärten, schlichen sich in fremde Schuppen, über verlassene Parkplätze und an beleuchteten Geschäften vorbei. Eine merkwürdige Gesellschaft: zwei Mädchen in sonderbarer Kleidung, eine nicht weniger sonderbar gekleidete Frau mit einem Dolch im Gürtel und einer Schlange um den Arm, ein Kater und ein Riesenhund, die friedlich nebeneinanderher trabten.
Das alles war so unwirklich, dass Rosanna sich wie eine Traumwandlerin fühlte.
Erst als der Mond verblasste, kehrten sie zu Lillis Haus zurück. Die Hexe hatte die Taschen voll mit Kräutern, Vogelfedern und kleinen Steinchen. Aber den richtigen Besen hatten sie nicht gefunden.
»Verflucht und zugehext! Plastikstiele, Plastikstiele oder irgendein lackiertes Zeugs!«, schimpfte sie. »Also doch Handarbeit, Elfriede.« Sie rekelte sich und gähnte. »Was soll’s! Jetzt wird geschlafen. War auf jeden Fall mal was anderes, dieses Walpurgisfest. Allerdings etwas unerfreulich für meine Füße.«
»Wo gehst du jetzt hin?«, fragte Lilli. Die lange Wanderung im Mondlicht hatte ihren Zorn verrauchen lassen. Am liebsten hätte sie die aufgehende Sonne hinter den Horizont zurückgescheucht.
»Oh, mal sehen«, sagte Elfriede. »Vielleicht in den Garten voll Waldmeister und Gundermann?«
»Und?« Rosanna wagte kaum zu fragen. »Sehen wir dich wieder?«
»Mal sehen«, antwortete die Hexe. »Kann sein.« Sie winkte ihnen noch einmal zu, hüpfte über die leere Straße, stieg über einen Zaun und war verschwunden.
Wenn die Mädchen Zorro und Ramses nicht festgehalten hätten, wären sie ihr nachgerannt.