9. Kapitel

Marguarita drehte sich auf die Seite und starrte ihr Fenster an. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, aber ein schmaler Streifen Licht verriet ihr, dass es mitten am Tag war. Es regnete Steinchen an die Fensterscheibe, und schließlich seufzte sie und richtete sich auf. Ihr Körper war schwer wie Blei und wollte ihr nicht gehorchen, doch sie zwang sich aufzustehen und schleppte sich zum Fenster. Sie zog gerade die Vorhänge zurück, als Julio eine weitere Hand voll Steinchen gegen die Scheibe warf.

Mit einem leisen Lachen schob Marguarita das Fenster hoch. Helles Sonnenlicht fiel in ihr Zimmer und brannte in ihren Augen. Schnell legte sie schützend eine Hand darüber und wunderte sich, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, die ganze Nacht lang auf zu sein. Dann zog sie einen Stift und einen Notizblock von ihrem Nachttisch zu sich heran.

Bist du verrückt? Er bringt dich um, wenn er dich noch mal hier findet.

»Er schläft, und es ist noch lange hin bis Sonnenuntergang. Ich musste einfach herkommen und sehen, ob es dir wirklich gut geht.«

Sie beschattete die Augen und musterte ihn prüfend. Er hatte einen dicken, blutbefleckten Verband am Unterarm und sah verärgert aus.

Was ist mit deinem Arm passiert?

»Das war der Hund. Er ist vor etwa einer Stunde völlig ausgerastet. Mein eigener Hund. Plötzlich fing er an zu knurren und fletschte die Zähne. Und dabei hatte er keinen Laut mehr von sich gegeben, seit …«

Marguarita schrieb ein Fragezeichen in die Luft.

»Zacarias de la Cruz kam gestern Nacht zu uns, und Max fing an zu toben. Du weißt schon, wie all die anderen Tiere, wenn dieser Mann in der Nähe ist. Max stand bellend und knurrend am Fenster, und dann verstummte er von einem Moment auf den anderen. Bis vor etwa vor einer Stunde hatte er keinen Pieps mehr von sich gegeben, und dann schien er auf einmal völlig durchzudrehen. Er begann, nach den Beinen meines Pferdes zu schnappen, und es hat ihn getreten. Als ich absaß, um ihn zu beruhigen, griff er mich auf einmal an.«

Marguarita setzte sich aufs Fensterbrett und bedeutete Julio mit einer Geste näher zu kommen, damit sie sich seine Verletzungen ansehen konnte.

Julio zog das Hemd aus, um ihr die Kratzer an seiner Brust zu zeigen. »Max ist mir an die Kehle gegangen, und es hat mich meine ganze Kraft gekostet, ihn zurückzuhalten.«

Marguaritas Herz verkrampfte sich. Julio hatte dem Hund den Unterarm ins Maul gestoßen und riskiert, den Arm zu verlieren, um den Angriff auf seine Kehle abzuwenden.

Du musstest ihn erschießen?

Sie wusste schon, was er sagen würde, bevor er antwortete. Julio hatte seinen Hund geliebt.

»Ricco hat ihn erschossen. Er hatte keine andere Wahl, Marguarita. Ich glaube, Zacarias de la Cruz hat irgendwas mit Max gemacht.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf und kritzelte schnell etwas auf ihren Block.

Ganz bestimmt nicht, Julio. Alles auf der Ranch steht unter seinem Schutz, einschließlich der Tiere.

»Aber sie haben furchtbare Angst vor ihm, und das weißt du. Je länger er hierbleibt, desto schlimmer wird es. Sogar die Pferde sind verstört, Marguarita. Sie sind schwer unter Kontrolle zu halten, wenn wir auf Patrouille sind. Ich glaube, Zacarias bleibt deinetwegen länger. Doch er muss hier weg, verstehst du?« Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und schrieb:

Das hier ist sein Zuhause. Es ist gemein von dir, so was zu sagen, Julio.

Der junge Mann schüttelte den Kopf und zerknüllte ihren Zettel. »Es ist unser Zuhause. Sie sind nie hier, und Zacarias schon gar nicht. Er ist der Schlimmste von ihnen. Er kann nicht einfach hierherkommen und uns allen erzählen, du gehörtest ihm. Wir arbeiten für ihn, doch du bist nicht seine Sklavin. Er muss gehen, und du musst das Haus verlassen. Jetzt. Bevor er irgendeinen Zauber wirkt, der es dir unmöglich macht, diesen Mann zu verlassen.«

Er braucht mich, Julio.

Er starrte sie unter zusammengezogenen Brauen an. »Zacarias de la Cruz ist nicht eins deiner verletzten Tiere, die du retten musst, Marguarita. Er ist eine Gefahr für dich. Du kannst ihn nicht wie ein wildes Tier behandeln.«

Das ist genau das, was er ist. Er ist allein, und er braucht mich. Ich werde ihn nicht im Stich lassen wie alle anderen in seinem Leben. Er stößt jeden von sich, und dann gehen sie. Aber ich bleibe, Julio.

»Was, wenn er mehr von dir will, als du bereit bist, ihm zu geben?«, wandte Julio ein. »Immerhin behauptet er schon, du seist seine Frau. Hast du eine Ahnung, was er alles von dir verlangen könnte? Du spielst mit dem Feuer, Marguarita. Wenn er ein wildes Tier ist, ist er das gefährlichste, dem du je begegnet bist, und du wirst ihn nicht zähmen können. Verschwinde von hier, solange du noch kannst. Ich helfe dir. Wir alle werden dir beistehen. Er besitzt dich nicht. Er besitzt keinen von uns. Wir haben eine Wahl – und du genauso gut wie alle anderen.«

Ja, und meine Wahl ist, ihm zu helfen, das hier durchzustehen. Du weißt nichts von seinem Leben, Julio. Er kam her, um es ehrenvoll zu beenden, und das habe ich ihm vermasselt. Er ist im Moment vollkommen verloren, und ich muss ihm helfen … will ihm helfen. Und ich weiß, dass ich es kann.

Julio fluchte leise. »So warst du schon immer, Marguarita – so verdammt stur, dass dich niemand zur Vernunft bringen kann.« Er wollte sein Hemd überziehen, hielt jedoch inne, als sie den Kopf schüttelte.

Marguarita schlüpfte schnell wieder ins Zimmer und suchte im angrenzenden Bad nach dem Erste-Hilfe-Kasten, den sie vor Jahren für die Männer eingerichtet hatte. Bei all den Verletzungen und Unfällen, die auf einer Ranch vorkamen, war sie mit der Zeit so etwas wie eine Krankenschwester geworden. Sie nahm den Kasten zum Fenster mit und trug eine antibiotische Salbe auf Julios tiefe Kratzer auf, bevor sie ihm ein paar Tabletten gab.

Julio schluckte sie gehorsam, ehe er sein Hemd wieder überzog und es zuknöpfte. »Ich sag’s dir, Marguarita, dieser Zacarias de la Cruz ist kein normaler Mann. Du musst ihn gehen lassen.«

Sie ignorierte den Einwand, entfernte nur ruhig den Verband an seinem Arm und schnappte nach Luft, als sie die Wunde sah. Mit Gesten fragte sie ihn, ob sie sie nähen sollte, aber Julio zuckte nur die Schultern und schüttelte den Kopf.

»Das wird schon verheilen. Tu einfach nur, was sein muss, damit sich die Wunde nicht entzündet.«

Marguarita musste immer wieder blinzeln. Die Sonne kam ihr heute ungewöhnlich hell vor, und ihre Augen hörten nicht auf zu tränen. Sie schüttelte den Kopf und gab Julio zu verstehen, dass sie zumindest Butterfly-Pflaster anbringen musste, um die Wundränder zusammenzuhalten.

»Na gut, dann aber schnell! Ich muss wieder an die Arbeit. Und du musst heute Abend zu den Ställen kommen, um die Tiere zu beruhigen, denn wenn nicht, wird hier noch jemand ernsthaft verletzt werden, verstehst du?«

Sie nickte, als sie die antiobiotische Salbe auftrug und dann sehr sorgfältig die Wunde zu verschließen begann.

»Er kann dich nicht hier festhalten«, wiederholte Julio. »Du verdankst ihm nicht dein Leben, Marguarita. Also denk bitte mal ernsthaft darüber nach, von hier fortzugehen.«

Sie griff wieder nach Block und Stift und schrieb:

Er würde mich finden. Außerdem will ich bleiben, Julio. Ich weiß, dass ich ihm helfen kann.

Sie hätte fast geschrieben: retten kann. Zacarias musste vor sich selbst gerettet werden. Vielleicht war es nicht möglich, und sie war sich nicht mal sicher, ob er gerettet werden wollte, aber irgendjemand musste sich um ihn kümmern. Zacarias war arrogant und hatte enormes Selbstvertrauen, doch er war auch überzeugt davon, dass er den Makel des Bösen in sich trug.

Das mit Max tut mir leid, Julio, doch was auch immer es war, Zacarias war daran nicht beteiligt. Sei heute vorsichtig! Ich komme heute Abend rüber.

Sie hoffte nur, dass Zacarias ihr entgegenkommen würde. Er wusste, dass die Arbeit auf der Ranch erledigt werden musste, und wenn sie dazu in die Ställe gehen musste, um die Tiere zu beruhigen, würde er sicher nichts dagegen haben. Sie winkte Julio zum Abschied, schloss das Fenster und zog die Vorhänge wieder zu. Sie war müde, aber der Gedanke, ein paar Stunden für sich allein zu haben, gefiel ihr, und deshalb beschloss sie aufzubleiben.

In der Badewanne lag sie lange mit geschlossenen Augen da und erlaubte sich, in aller Ruhe über Zacarias nachzudenken. Er war ein solches Rätsel – ein Mann, der nicht einmal eine richtige Vorstellung davon hatte, wer er war. Er tat ihr furchtbar leid, weil er so ganz und gar allein war. Niemand dürfte so einsam sein. Und er hatte auch nicht die geringste Vorstellung von seinen eigenen Gefühlen. Er hatte sich nie verziehen und seine Erinnerungen so tief in sich vergraben, dass er sich nicht einmal eingestehen wollte, dass er sich an diese furchtbare Tragödie in seinem Leben erinnerte.

Marguarita seufzte, sank noch tiefer in das heiße, duftende Wasser und tauchte auch den langen, dicken Zopf ein. Sie war so erschöpft, dass es ihr schwerfiel, ihre Gedanken von Zacarias abzuwenden. In der kurzen Zeit ihres Zusammenseins hatte sie fast immer Angst vor ihm gehabt, weshalb es eigentlich völlig unverständlich war, dass sie so fest entschlossen war, ihm zu helfen. Niemand sollte so allein sein, so abgeschnitten von allem, was sanft und freundlich war. Zacarias war so wenig Menschlichkeit geblieben, dass er nicht einmal mehr glaubte, er könne das Raubtier in sich überwinden.

Marguarita konnte in ihn hineinblicken, doch wann immer sie versuchte, ihm klarzumachen, dass er tief im Innern anders war, wies er sie zurück. Es war fast so, als fürchtete er diese weichere Seite von sich selbst. Sie machte ihn verwundbar, und das war Zacarias de la Cruz noch nie gewesen – oder zumindest erinnerte er sich nicht daran. Und wollte sich auch nicht erinnern.

Zacarias hatte so lange als gefährlicher Vampirjäger gelebt, immer allein und abgekapselt, dass er tatsächlich keine Möglichkeit mehr hatte, sich in die moderne Gesellschaft einzufügen, sich den Menschen oder auch nur seinen eigenen Leuten anzupassen. Er hatte größtes Vertrauen in sich selbst als Jäger, aber nicht als Mann. Doch da irrte er sich. So arrogant und gefährlich er auch war, hatte er auch etwas Sanftes und Liebevolles in sich. Seine enorme Loyalität und sein Pflichtgefühl waren bewundernswert. Nur sah er es nicht so. Für ihn gab es nur Schwarz oder Weiß.

Marguarita trocknete sich langsam ab, ließ sich Zeit und genoss das Gefühl, ihr Zuhause einmal für sich allein zu haben. Endlich konnte sie sich wieder so fühlen, als gehörte es ihr. Sie war so lange die Hausherrin gewesen, dass sie nun, da Zacarias daheim war und ihr Vorschriften machte, wohin sie gehen durfte und was sie anziehen sollte, schon fast vergessen hatte, wie friedlich das Haus für sie war. Es war ihre alleinige Domäne. Marguarita hielt es sauber, gestaltete es, wie sie wollte, und hatte ihr Leben selbst in der Hand. Sie hatte Verehrer, die kamen und gingen, und das hob ihr Selbstvertrauen, aber sie wusste, dass sie keinen von ihnen zum Ehemann würde haben wollen.

Zacarias. Allein der Gedanke an ihn sorgte dafür, dass sie sich lebendig fühlte. Sie liebte das Reiten, die Freiheit, auf einem ihrer Pferde über den Boden zu fliegen, und Zacarias gab ihr die gleiche Art von Kick, nur noch viel intensiver. Er war absolut nicht friedlich, aber in seiner Gesellschaft zu sein war ungemein belebend. Marguarita saß an der Frisierkommode, bürstete ihr langes Haar, um ihm wenigstens einen Anschein von Gepflegtheit zu geben, und dachte weiter über Zacarias nach.

Trotz seiner harten Züge war er ein gut aussehender Mann. Sein prachtvoller, durchtrainierter Körper war der eines Kriegers. Dass sie sich körperlich zu ihm hingezogen fühlte, stand außer Zweifel, aber das war nicht der Punkt. Wahrscheinlich würden die meisten Frauen seinem Aussehen nicht widerstehen können. Er war faszinierend, und seine fast schon animalische Schönheit war es ebenfalls. Aber es war viel mehr an ihm, als es den Anschein hatte, und offen gestanden reizte dieser Mann sie sehr.

Marguarita zog ihre übliche Hauskleidung an, eine Bluse und einen langen Rock, und runzelte dann ein wenig die Stirn, als ihr klar wurde, dass sie sich damit auch nach Zacarias’ Wünschen richtete. Doch es wäre albern, Jeans zu tragen, nur weil er gesagt hatte, ihm gefalle feminine Kleidung. Außerdem liebte sie ihre Röcke – und würde sich so oder so nicht für ihn ändern. Niemand hatte ihr je Vorschriften gemacht, nicht einmal ihr Vater, und dass Zacarias sie nun ständig herumkommandieren wollte hatte fast schon etwas Komisches für Marguarita.

Jemand kam auf die Veranda und klopfte an die Eingangstür. Es war ein etwas schüchternes Anklopfen, das nicht nach Julio oder einem der anderen Cowboys klang. Marguarita zog sich der Magen zusammen, als sie einen schnellen Blick zum Schlafzimmer des Hausherrn warf. Bevor sie öffnete, holte sie eine geladene Waffe aus der Truhe in der Diele und steckte sie in die Rocktasche. Sie bekamen nicht viel Besuch, und da Zacarias tagsüber völlig hilflos war, war es ihre Sache, ihn zu beschützen.

Sie spähte hinaus und war ein wenig schockiert, als sie Lea Eldridge allein dort draußen stehen sah. Lea war noch nie ohne ihren Bruder auf die Ranch gekommen. Estebans Schwester war eine große, blonde Frau und immer sehr gut angezogen. Auch ihr Haar und Make-up waren stets perfekt, und sie trug nie etwas anderes als Designersachen. Während Esteban die Arbeiter sehr von oben herab behandelte, schien Lea immer offen und freundlich zu sein. Sie war eine schöne Frau und Marguarita viel sympathischer als die Mädchen, mit denen sie aufgewachsen war. Lea schien eine aufrichtige, großzügige Person zu sein, die immer Zeit hatte, auch mit älteren Arbeitern und Kindern zu sprechen, statt nur mit den gut aussehenden Junggesellen. Gerade das gefiel Marguarita sehr an ihr.

Deshalb riss sie erschrocken die Augen auf, als sie die Tür öffnete und Leas Gesicht sah. Ihre Freundin hatte eine Prellung an einem Wangenknochen und Tränenspuren im Gesicht. Normalerweise war Leas Haut makellos wie Porzellan, heute jedoch konnte selbst das sorgfältige Make-up die blaue Färbung nicht verbergen. Marguarita trat schnell zurück, um Lea hereinzulassen.

Ihre Freundin warf rasch noch einen Blick über die Schulter auf die umliegenden Felder und Straßen, bevor sie hereinhuschte und die Tür hinter sich zuzog. »Mein Bruder weiß nicht, dass ich hier bin. Niemand weiß etwas davon.«

Ich brühe uns Tee auf. Ich freue mich, dass du mich besuchst, schrieb Marguarita auf den Block, den sie immer bei sich hatte.

Sie drückte Lea den Zettel in die Hand und ging in die Küche voran, wo sie ihre Freundin mit einer Handbewegung aufforderte, Platz zu nehmen. Sie selbst stellte das Teewasser auf. In Momenten wie diesem fand sie es besonders ärgerlich, dass sie nicht sprechen konnte. Es dauerte ewig, alles aufzuschreiben. Während das Wasser sich erhitzte, setzte sie sich Lea gegenüber, berührte ihre Hand und schob ihr einen weiteren Zettel hin.

Was ist passiert? Hier bist du sicher, Lea.

Lea blinzelte, um die Tränen zu verdrängen, und schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht. Der Freund meines Bruders, Dan, wir nennen ihn DS, hat uns hier gefunden. Er ist … grässlich. Wohin wir auch gehen, er spürt uns auf, und Esteban tut, was immer er ihm sagt. Ich dachte, an einem Ort wie diesem würde er uns nicht finden, aber er ist schon hier, und er wird etwas Schreckliches tun. Wie immer.«

Wer hat dich geschlagen?

Lea senkte den Kopf und berührte mit der Fingerspitze ihre Wange. »Die Wahrheit ist, dass Esteban blind jeden von Dans Befehlen befolgt. Ich dachte, wir wären hierher gezogen, um ihn loszuwerden, aber sogar darin hatte DS seine Hand im Spiel. Er war es, der Esteban gedrängt hatte, hierherzukommen und sich mit den Leuten auf dieser Ranch hier anzufreunden.« Sie richtete einen sorgenvollen Blick auf Marguarita. »Ich schwöre dir, ich wusste nichts davon. Ich dachte wirklich, wir hätten hier endlich eine Chance, von DS wegzukommen. Er ist ein Teufel, Marguarita. Esteban lässt sich zu schrecklichen Dingen hinreißen, wenn er mit DS zusammen ist. Und falls er irgendetwas mit dieser Ranch vorhat, wird es nichts Legales oder Gutes sein«, warnte sie. »Das alles bedaure ich unendlich.«

Marguarita schrieb ein Fragezeichen in die Luft.

Lea rieb sich die Schläfen. »DS hat mich geschlagen, weil ich mich weigerte zu tun, was er verlangte.« Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. »Esteban stand einfach nur dabei, während DS mich herumschubste.«

Was will DS von dir und Esteban?

»Er will unbedingt jemanden aus der Familie de la Cruz kennenlernen. Er ist wie besessen von der Idee. DS will, dass ich einen der Brüder verführe. Er sagt, wenn ich mich weigere, bringt er Esteban um. Ich habe versucht, mit meinem Bruder zu reden, doch er lachte nur und meinte, dann sollte ich DS besser gehorchen.« Lea tupfte die Tränen ab und schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann, und niemanden zum Reden. Niemanden, dem ich vertrauen kann. Ich wollte unsere Freundschaft nicht verraten, aber ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich mich verhalten soll.«

Das Wasser kochte, und Marguarita stand auf, um es in die Teekanne zu gießen. Dann schrieb sie schnell etwas auf und schob Lea den Zettel hin.

Die Brüder de la Cruz kommen nur sehr selten her. Wieso glaubt dieser Mann, du könntest einen von ihnen verführen, wenn sie nie länger als einen Tag oder zwei bleiben und sich dann jahrelang nicht mehr sehen lassen? Das ergibt doch keinen Sinn. Und was würde dieser DS damit gewinnen, wenn du einen von ihnen verführtest?

Lea fuhr sich mit den Händen durch das Haar und zuckte die Schultern. »Geld? Nervenkitzel? Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass DS Drogen und Waffen verkauft. Esteban hat sich in all diesen Mist verwickeln lassen. Ihm gefällt die Vorstellung, Mitglied einer illegalen Organisation zu sein. DS spricht von einem Geheimbund, dem er angehört – deren Mitglieder ›Bescheid wissen‹, wie er es nennt … und solche Dinge reizen meinen Bruder.«

Und eure Eltern?

»Sind beide tot. Wir haben einen Treuhandfonds, den unser Onkel verwaltet. Esteban ist nie zufrieden. Ich denke immer noch, dass er mit der Zeit vielleicht vernünftiger wird, doch er hört nie auf, nach dem nächsten Kick zu suchen. Seit er DS begegnet ist, ist unser Leben vollkommen verrückt geworden. DS treibt sich mit einigen sehr … gruseligen Leuten herum.«

Warum glauben sie, dass einer der Brüder de la Cruz hierherkommen wird?

»Deinetwegen.« Lea nahm dankend die Tasse und den kleinen Teller mit Plätzchen. »Etwas so Schlimmes wie dein Unfall musste einen der Besitzer hierher rufen, um die Angelegenheit zu untersuchen. Esteban hat DS wahrscheinlich herkommen lassen.« Sie trank einen Schluck Tee und betrachtete Marguarita über den Rand der Tasse hinweg. »Ich dachte, hier würde ich eine Chance auf ein normales Leben haben. Mir gefällt es hier. Und dann ist da auch noch … Julio.« Sie beobachtete Marguarita aufmerksam. »Habt ihr beide etwas miteinander? Er ist sehr fürsorglich dir gegenüber.«

Wir sind wie Geschwister aufgewachsen.

»Und uns mag er nicht, nicht wahr?«, fragte Lea. »Er sieht mich nicht mal an.«

Sie klang so traurig, dass es Marguarita fast das Herz zerriss. Julio hatte recht: Sie, Marguarita, fiel auf alles herein, was irgendwie verletzt war, ob Mensch oder Tier. Sie seufzte und zuckte die Schultern. Dann schrieb sie eine Antwort.

Julio findet es merkwürdig, dass ihr hierhergekommen seid. Ihr habt Geld und seid an das Leben in der Stadt gewöhnt. Keiner von euch beiden scheint hierher zu passen. Aber natürlich sieht Julio dich an, Lea. Du bist eine schöne Frau. Wie könnte er dich nicht anschauen?

»Ich würde gern bleiben. Selbst wenn Esteban weggeht, möchte ich bleiben. Mir gefällt unser Haus, und langsam beginne ich auch die Pferde zu lieben. Ich weiß, dass ich hier leben könnte. Und Esteban wird wegziehen. Ihm wird zu schnell langweilig. Ich habe mein Bestes getan, um ihn vor sich selbst zu retten, doch ich weiß jetzt, dass ich es nicht kann. Er hört nicht mehr auf mich. Wenn einer der Brüder de la Cruz nicht bald hier auftaucht, wird DS zu einer der anderen Haziendas gehen wollen, wo er vielleicht eine bessere Chance hat, einem von ihnen zu begegnen, und Esteban wird tun, was DS sagt.«

Die Brüder bleiben für sich. Selbst wenn sie auf einer der Ranches auftauchen, sprechen sie selten mal mit jemand anderem als Cesaro. Sie halten sich ein, zwei Nächte hier auf, und dann sind sie wieder weg.

»Kennst du sie?«

Zwei von ihnen habe ich ein paarmal gesehen, doch ich kenne sie nicht wirklich. Was auch immer dieser Mann, dieser DS, von den Brüdern de la Cruz will, er wird sie hier nicht finden, Lea. Will er vielleicht irgendwelche Geschäfte mit ihnen machen?

Mit einem leichten Stirnrunzeln knabberte Lea an einem Plätzchen. »Ich weiß es wirklich nicht. Esteban will nicht mit mir darüber reden. Er sagt mir nur, ich solle DS gehorchen.«

Marguarita ließ den Tee durch ihre Kehle rinnen. Er war heiß und süß, und ihr Magen rebellierte zunächst ein wenig, aber dann beruhigte er sich wieder. Das Essen fiel ihr in letzter Zeit schwer. Nichts schmeckte mehr, und oft hatte sie das Gefühl, als würde ihr übel, wenn sie feste Nahrung zu sich nahm. Besonders widerwärtig war ihr der Geruch von Fleisch. Sie befürchtete, dass es im Zusammenhang mit dem Vampirangriff und ihrer zerfetzten Kehle stehen könnte. Natürlich glaubte Lea wie die meisten Leute, sie sei von einer großen Dschungelkatze angegriffen worden. Unwillkürlich berührte Marguarita ihren Hals und spürte wieder das Pochen des Mals, das Zacarias dort hinterlassen hatte. Ohne sich etwas dabei zu denken, strich sie fast zärtlich mit der Fingerspitze darüber.

»Schmerzt er, dein Hals?«, fragte Lea.

Marguarita schüttelte den Kopf. Sie hatte schon lange keine Schmerzen mehr, doch ihr fiel noch immer schwer, sich damit abzufinden, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Zum Glück war Lea trotzdem ihre Freundin geblieben. Esteban hatte immer vorgegeben, ihr, Marguarita, den Hof zu machen – bis zu ihrem »Unfall«. Seither achtete er bei seinen Besuchen darauf, nicht mehr zu sehr mit ihr zu flirten. Wahrscheinlich wollte er sie nicht auf falsche Ideen bringen. Ohne Stimme entsprach sie nicht seinem Niveau. Vielleicht beurteilte sie ihn zu hart, doch im Grunde hatte sie schon immer gewusst, dass er nicht ernsthaft an ihr interessiert war.

Lea beugte sich impulsiv über den Tisch und legte ihre Hand auf Marguaritas. »Was sind wir für ein Paar! Ich ohne einen Ort, an den ich gehen kann, und du mit einer kaputten Kehle.«

Marguarita lächelte sie an und zwang sich, einen weiteren Schluck zu trinken.

»Julio würde wohl nicht mit uns Tee trinken wollen, oder?«, scherzte Lea, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. »Vielleicht könntest du ja einen Liebestrank finden und ihn ihm in den Tee geben.«

Marguarita grinste und schüttelte den Kopf.

Bitte ihn, dir die Pferde zu zeigen! Bring ihn dazu, über sie zu reden! Er liebt Pferde. Ich habe dich noch nie reiten sehen. Kannst du es?

»Ich habe einen Mann angestellt, um Unterricht zu nehmen, doch bisher ist er noch nicht erschienen. Dabei sehe ich dir so gern beim Reiten zu, und wenn ich selbst auf einem Pferd sitze, fühle ich mich herrlich frei. Ich liebe den Wind im Gesicht und die harmonischen Bewegungen der Pferde. Ich weiß, dass ich hier leben könnte, auch ohne meinen Bruder. Ich verbrauche nicht viel von dem Geld aus meinem Treuhandfonds. Esteban verpulvert seinen Anteil jeden Monat, aber ich könnte mir in der Gegend ein Haus kaufen und zufrieden sein.«

Hier gibt es nicht den Trubel der Stadt, Lea. Auf dem Land kann es für eine Frau sehr einsam sein.

Lea seufzte und strich mit dem Finger über den blauen Fleck an ihrer Wange. »Man kann auch mitten in einer Menschenmenge einsam sein, Marguarita. Ich habe einfach nicht mehr das Gefühl, noch irgendwo dazuzupassen. Oder hatte es zumindest nicht, bis ich hierherkam. Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich für ein bisschen verwöhnt hältst, doch ich kann auch arbeiten. Und lernen. Ich will nur Frieden finden, Marguarita.«

Warum reist du mit Esteban, wenn du weißt, dass er in illegale Machenschaften verwickelt ist?

»Weil ich niemanden mehr habe außer ihm. Uns ist zwar noch das Familiengeschäft geblieben, das mein Onkel, mein einziger noch lebender Verwandter außer Esteban, führt, und dort könnte ich wieder arbeiten, wenn ich wollte, aber ich kannte diesen Onkel nicht einmal, bevor meine Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Er ist alt und sehr streng. Esteban kann ihn nicht ausstehen, und mein Onkel lässt ihn bei jeder Gelegenheit wissen, dass er ein verwöhnter reicher Bengel ist. Das scheint Esteban nur noch mehr anzustacheln. Ich hatte gehofft, er würde aufhören, sich an solch gefährlichen Dingen zu beteiligen, wenn ich bei ihm bin.«

Ist er drogenabhängig?

Lea biss sich auf die Unterlippe. »Er nimmt Kokain. Anfangs kokste er nur am Wochenende, und ich versuchte, mich nicht darüber aufzuregen. Ich meine, jeder, den wir kennen, nahm das Zeug. Aber jetzt kommt Esteban keinen Tag mehr ohne aus. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, doch er sagt, ich sei ein Workaholic und wüsste mich nicht zu amüsieren. Früher habe ich für meine Eltern gearbeitet, während Esteban von meinem Vater sehr verwöhnt und geradezu dazu ermutigt wurde, ein Playboy zu werden.«

Dann muss ihn der Tod eurer Eltern hart getroffen haben.

Lea nickte. »Ich glaube, das hat ihn so empfänglich für DS gemacht. Er begann, noch mehr Drogen zu nehmen und noch mehr zu feiern. Esteban springt mit dem Fallschirm aus Flugzeugen ab, fährt Ski auf sehr riskanten Abfahrten – kurz gesagt, er liebt alles, was gefährlich ist. Und egal, was ich ihm sage, ich kann ihn nicht davon abbringen.« Sie rieb sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen. »Ich kann ihm aber auch nicht um die ganze Welt folgen, um zu versuchen, ihn am Leben zu erhalten. Er hört nicht mehr auf mich.«

Das tut mir leid, Lea. Vielleicht kann ich dir ja irgendwie helfen?

Lea schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Ich bin dir dankbar, dass du mir zuhörst. Es ist lange her, seit ich das Gefühl hatte, eine richtige Freundin zu haben, der ich vertrauen kann. Ich habe keine Ahnung, wie ich Esteban und mich aus diesem Schlamassel herausholen kann, doch das Gespräch mit dir hat mir geholfen, und es geht mir jetzt schon besser.«

Glaubst du, dass es riskant für dich ist heimzugehen?

Marguarita hätte sie gern eingeladen zu bleiben, doch da Zacarias im Haus war und sie wusste, dass Esteban und DS einen der Brüder de la Cruz kennenlernen wollten, glaubte sie, ihn beschützen zu müssen. Aber sie hatte natürlich auch Angst um Lea.

Die Freundin zuckte die Schultern. »Esteban liebt mich. Er glaubt nicht, dass DS mir wirklich etwas antun würde, doch falls es dazu käme, würde er mich bestimmt beschützen. Außerdem werde ich DS meiden. Ich wollte dich nur warnen, ihnen nicht zu trauen, wenn sie hierherkommen. Denn das werden sie. Ich weiß nur nicht, was sie vorhaben. Sobald ich wieder zu Hause bin, werde ich versuchen, Esteban zum Reden zu bringen.«

Marguarita schüttelte schnell den Kopf und schrieb:

Das ist nicht nötig, wirklich nicht, Lea. Selbst wenn sie herkommen – was werden sie auf der Hazienda schon finden? Die Jungs sind bei der Arbeit. Siehst du hier irgendwo einen der Brüder de la Cruz? Nein, und sie werden auch keinen entdecken. Sie werden unverrichteter Dinge wieder gehen.

Lea nickte. »Dann sollte ich mir wohl keine Sorgen machen. Und die de la Cruz’ sind ja auch eine sehr mächtige Familie, die wahrscheinlich ständig ins Visier von Leuten wie DS gerät.«

Plötzlich schrillte die Alarmsirene und warnte Marguarita, dass auf der Ranch etwas passiert war. Sie sprang auf und lief zur Eingangstür, wo sie das Trommeln von Pferdehufen hören und die Reiter sehen konnte, die auf das Haus zugeprescht kamen. Marguarita riss die Tür auf und erblickte Julio, der vom Pferd gesprungen war. Er war unter seiner Sonnenbräune kreidebleich und voller Blut.

»Wir brauchen den Hubschrauberpiloten, Marguarita. Ricco ist schwer verletzt. Sein Pferd hat ihn abgeworfen, und dann geriet er zwischen die panisch flüchtenden Rinder. Es sieht schlimm aus. Wirklich schlimm.«

Sie rannte ins Bad zurück und schnappte sich den Erste-Hilfe-Kasten, während Julio den Piloten anrief.

Julio fluchte, als sie zu ihm zurückkam, und sie zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Charlie trinkt wieder und ist nicht zu erreichen. Ausgerechnet dann, wenn wir ihn am meisten brauchen!« Julio fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ricco schafft es nicht, wenn wir ihn nicht in ein Krankenhaus bringen.«

»Ich kann einen Helikopter fliegen«, sagte Lea schnell. »Ich habe einen Pilotenschein. Ich kann so gut wie alles fliegen. Mein Vater besaß eine Charterfirma, und wir alle lernten fliegen.«

Julio fuhr zu ihr herum und starrte sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. »Ich hoffe, Sie wissen, wovon Sie reden. Ricco wird sterben, wenn er nicht in ärztliche Behandlung kommt.«

Röte stieg in Leas Wangen. »Ich kann ihn ins Krankenhaus fliegen. Ich habe Hunderte von Flugstunden in einem Helikopter und noch mehr in kleinen Flugzeugen absolviert. Ich kann fast alles fliegen. Es war das Metier meiner Familie.«

»Dann sind Sie der Pilot«, entschied Julio. »Also los! Komm du auch, Marguarita, denn du wirst ihn am Leben erhalten müssen, bis wir das Krankenhaus erreichen.«

Sie rannten auf den großen Hangar mit dem Helikopter zu. Eines der Dinge, wofür Marguarita den Brüdern de la Cruz immer dankbar gewesen war, war die erstklassige Ausrüstung, die sie zur Verfügung stellten. Die Ranch lag so abgelegen, dass sie für medizinische Hilfe und die Kontrolle der Rinder und Pferde auf weiter entfernten Hügeln und Weiden Luftfahrzeuge benutzen mussten.

»Ist Ihr Helikopter in gutem Zustand?«, fragte Lea, die laufen musste, um mit Julio Schritt zu halten.

»Ja, er wird nach jedem Flug gewartet. Aber Sie sollten ihn trotzdem noch mal überprüfen. Ich habe keine Ahnung, wie lange Charlie dieses Mal schon an der Flasche hängt«, erwiderte Julio grimmig.

Mehrere Männer eilten mit Ricco auf einer Trage auf den Hangar zu. Marguarita lief ihnen entgegen, um sich die Verwundung des jungen Mannes anzusehen, während sie ihn zum Helikopter brachten. Eines der Rinder hatte Ricco im Unterleib erwischt, und die Wunde sah schlimm aus. Sehr schlimm. Marguarita befürchtete, dass er kaum eine Chance hatte, selbst wenn er rechtzeitig in die Klinik kam und ein Chirurg bereitstand. Sie blickte kurz zum Himmel auf und schaute Julio dann über die Trage hinweg fragend an.

Er sah genauso grimmig aus, wie ihr zumute war. Julio war nicht dumm. Er wusste, was ein panisches Rind anrichten konnte. Die Sonne stand noch wie ein roter Ball am Himmel, obwohl sie ihren Abstieg schon begonnen hatte. Kleine Wolkenfetzen zogen vor dem ansonsten klaren Blau dahin. Es war noch eine gute Stunde bis Sonnenuntergang, doch Ricco hatte diese Zeit nicht mehr. Und Marguarita hatte gesehen, was die Sonne bei Zacarias angerichtet hatte. Sie schüttelte den Kopf. Julio warf ihr einen beschwörenden Blick zu, als die Männer Ricco vorsichtig in den Helikopter luden. Marguarita stieg neben ihm ein und riss sein Hemd auf.

Sie atmete tief ein und versuchte, die Blutung zu stoppen, indem sie Druck auf die Wunde ausübte. Es war völlig unmöglich, dass Ricco es schaffen würde, egal, wie schnell sie den Helikopter in die Luft bekamen.

Zacarias. Sie wollte ihn nicht dazu zwingen, ihr eine Absage erteilen zu müssen, doch die Wunde war grauenvoll, und ohne Zacarias’ Hilfe würde Ricco es nicht lebend ins Krankenhaus schaffen. Ich brauche dich. Sie hatte keine Ahnung, ob Zacarias ihren Ruf beantworten würde – oder ob ihr Problem ihn auch nur interessierte -, aber sie musste es versuchen.

Sie spürte jedoch sofort eine Regung in ihrem Kopf, als wäre ihm die ganze Zeit bewusst gewesen, dass sie wach und nicht im Haus war. Bist du verletzt?, fragte er mit unüberhörbarer Sorge, bei der ihr gleich ganz warm ums Herz wurde.

Nicht ich. Ricco, einer der Arbeiter. Wir bringen ihn ins Krankenhaus, doch er wird es nicht schaffen, wenn du uns nicht helfen kannst.

Du möchtest, dass ich ihn dir zuliebe heile?

Ihr Herz schlug schneller, kam ins Stottern und begann dann wieder, wild zu pochen. Seine Stimme war so sachlich, und im Grunde war sie nicht einmal sicher, was sie von ihm verlangte. Aber er hatte es geschafft, sie zu retten, und auch sie hätte normalerweise nicht überleben können.

Was würdest du dabei riskieren? Sie musste es wissen – und biss sich auf die Lippe, weil es ihr plötzlich Angst machte, was sie von ihm verlangte. Dir darf nichts geschehen!

Für einen Moment spürte sie ihn ganz deutlich in ihrem Bewusstsein, wo er sie mit einer sanften Liebkosung berührte, die so gar nicht seiner ansonsten eher harten Art entsprach.

Zeig mir die Wunde! Sieh sie dir direkt an!

Marguarita hatte schon alle möglichen Verletzungen versorgt, aber noch nie eine solche. Sie war keine Krankenschwester, doch Riccos einzige Chance. Und deshalb schloss sie die Augen und befolgte Zacarias’ Anweisung. Mit einem widerlich schmatzenden Geräusch versanken ihre Hände in Blut und aufgerissenem Fleisch.

Ein leises Lachen neckte sie. Ich muss die Wunde sehen, kislány kunenak minan – meine kleine Närrin. Öffne die Augen!

Sie schluckte und gehorchte. Dann spürte sie Hitze durch ihren Körper fließen, und ihre Hände kribbelten und wurden heiß. Ihre Finger bewegten sich aus eigenem Antrieb, und für einen Moment war sie irgendwie nicht länger in ihrem eigenen Körper, sondern an Zacarias’ Seite und bewegte sich mit ihm durch Riccos Körper. Es war ein seltsam bewegendes Gefühl, ihre physische Hülle zurückzulassen und sich – in Form von Energie – durch einen anderen Menschen zu bewegen. Ihr Magen rebellierte, doch sie kämpfte, um die Fassung zu bewahren, und atmete tief durch.

Genauso plötzlich war sie wieder zurück in ihrem Körper. Sie fühlte sich ein bisschen schwach und schwindlig, konnte aber spüren, dass Zacarias sogar noch schwächer war als sie.

Das müsste vorhalten, bis er zu einem Arzt kommt, doch Ricco hat zu viel Blut verloren, Marguarita. Ich werde ihm von meinem geben müssen, oder all das war umsonst.

Sollen wir ihn ins Haus bringen? Kannst du überhaupt um diese Tageszeit schon aufstehen?

Riskier nicht, ihn noch einmal zu bewegen! Ich komme zu euch.

Aber das kannst du nicht! Das war unmöglich. Die Sonne würde ihn verbrennen. Was hatte sie getan? Bitte opfere nicht dein Leben!

Wieder spürte sie diese sehr sachte Liebkosung in ihrem Geist, fast so, als striche er mit den Fingerspitzen über die Innenseite ihres Kopfes.

Lea saß schon auf dem Pilotensitz, ging die Checkliste durch und bereitete sich auf den Abflug vor. Marguarita hob die Hand, um Julios Aufmerksamkeit zu gewinnen. Fieberhaft wischte sie sich die blutigen Hände ab und kritzelte eine Nachricht für ihren Freund.

Sag ihr, dass wir ihn stabilisieren müssen, bevor sie ihn herausfliegen kann. Zacarias hat durch mich sein Bestes gegeben, was er konnte, aber er sagt, Ricco braucht sein Blut, um den Flug zu überleben. Zacarias kommt her, und Lea darf ihn nicht sehen. Sie darf nicht wissen, dass er auf der Ranch ist. Ich erkläre es dir, sobald ich kann.

Julio nickte. Marguarita war froh, dass er den Ernst der Lage erkannte und keine Zeit damit verschwendete, mit ihr zu debattieren. Draußen verdunkelte sich der Himmel, und schwarze, Unheil verkündende Gewitterwolken türmten sich am Horizont auf.

»Wir müssen los!«, schrie Lea.

»Noch nicht«, sagte Julio schnell. »Marguarita muss ihn vorher stabilisieren, sonst schafft er’s nicht.«

»Das Wetter schlägt um«, warnte Lea. »Wenn wir nicht sofort losfliegen, kriegen wir ihn nicht mehr ins Krankenhaus.«

»Das Gewitter wird schnell vorübergehen«, versicherte ihr Julio. »Vertrau mir einfach nur!«

Ich bin in ein paar Minuten draußen, hörte Marguarita Zacarias’ Stimme.

Ich sage dir Bescheid, sobald es ungefährlich für dich ist. Hier ist jemand, der dich nicht sehen sollte. Sie ist keine von uns, und ich glaube, ihr Bruder ist eine Gefahr für dich.

Sie wird mich nicht sehen.

Marguarita war der Panik nahe. Sie wollte ihre Freundschaft gewiss nicht verraten, doch sie kannte Lea nicht gut genug, um sich darauf verlassen zu können, dass sie schweigen würde, falls ihr Bruder sie bedrängte. Sie reichte Julio eine weitere Notiz.

Bring Lea für ein paar Minuten weg!

Julio beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und legte die Kopfhörer weg, um aus dem Helikopter auszusteigen. Dann liefen beide auf das Haus zu. Der Himmel verdüsterte sich noch mehr, und die unruhigen Wolken warfen dunkle Schatten auf den Boden. Die Pferde begannen, verrückt zu spielen, bäumten sich auf und trommelten mit den Hufen in der Luft herum, warfen die Köpfe zurück und waren kaum zu bändigen. Marguarita gab den Männern ein Zeichen, sich aus dem Bereich zu entfernen, und sandte den Pferden beruhigende Schwingungen zu.

Zwischen den Sturmwolken konnte sie einen Dunststreifen ausmachen, der sich durch die Schatten bewegte, aber unter dem Blätterdach der Bäume und den verschiedenen Dachvorsprüngen blieb. Das war Zacarias, der schon auf dem Weg über den Hof zum Hangar war.

Er kam schnell in das geräumige Gebäude und hielt sich in den dunklen Ecken, als er sich dem Helikopter näherte. Marguarita trat beiseite, um ihn hereinzulassen. Drinnen war es ziemlich eng, da die Trage mit dem still daliegenden Ricco sehr viel Platz einnahm.

Er atmet kaum noch, informierte sie Zacarias.

Er verwandelte sich schnell und beugte sich über den Verwundeten. »Seine Lunge ist verletzt.« Mit den Zähnen öffnete er die Pulsader an seinem Handgelenk und drückte sie an Riccos Lippen. »Du wirst trinken, was ich dir gebe, und du wirst am Leben bleiben, hörst du?«, befahl er ihm.

Riccos Mund bewegte sich an Zacarias’ Handgelenk. Marguarita konnte den Blick nicht abwenden. Es war abstoßend und faszinierend zugleich zu sehen, wie Ricco trank. Aber auch ihr hatte Zacarias so geholfen, und deswegen hatte sie den Vampirangriff überlebt. Falls Ricco überlebte, würde auch er sein Leben Zacarias zu verdanken haben.

Nein, emnim – meine Frau, er wird sein Leben dir zu verdanken haben. Ich tue es, weil du mich darum gebeten hast. Normalerweise mische ich mich nicht in die Angelegenheiten der Menschen ein.

Danke. Mir liegt viel an ihm. Ricco dient deiner Familie schon, seit er ein Kind war, und er ist immer sehr loyal gewesen.

»Es genügt, dass du mich darum gebeten hast, Marguarita.« Zacarias flüsterte dem Verletzten wieder etwas zu und nahm das Handgelenk vom Mund des Mannes. Dann schloss er die kleine Wunde und strich Marguarita übers Haar. »Komm zum Haus zurück und lass die anderen ihn ins Krankenhaus bringen! Wenn er kämpft und sie einen guten Arzt antreffen, wird er leben.«

Du darfst hier nicht gesehen werden. Sobald Julio zurück ist, komme ich nach, bedrängte sie ihn. Er musste doch ungesehen bleiben.

Zacarias ließ ein sorgloses Lächeln aufblitzen, und ihr Herz geriet ins Stocken. Er sah so männlich aus, so stark, dass es schwer zu begreifen war, dass er bei Tageslicht verwundbar und sogar schwach war.

»Du glaubst, ich könnte nicht mit einem Sterblichen fertig werden? Und noch dazu mit einer Frau?«

Marguarita verzog den Mund. Sein Ego würde ihn noch in Schwierigkeiten bringen. Die Tür zum Haus schlug zu, und Marguarita wusste, dass Julio sie damit warnen wollte, dass er mit Lea auf dem Rückweg war.

Sie kommen zurück. Geh schon. Beeil dich. Los! Sie war der Verzweiflung nahe. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass Lea darüber schweigen würde, ihn gesehen zu haben. Er war zu faszinierend, zu anders. Zu gefährlich. Du musst gehen, drängte sie.

Doch Zacarias lächelte nur und wickelte sich eine ihrer langen Haarsträhnen um die Hand. »Ich mag es, wenn dein Haar so durcheinander ist. Du siehst aus, als hätten wir uns stundenlang im Schlafzimmer vergnügt.«

So etwas hatte er noch nie zu ihr gesagt. Niemand hatte das bisher gewagt. Marguarita konnte spüren, wie sie bis unter die Haarwurzeln errötete. Nervosität erfasste sie, und sie stieß ihn ärgerlich gegen die harte Brust. Du musst gehen. Ich scherze nicht.

Zacarias nahm ihre Hände zwischen seine und drückte sie an seinen Oberkörper. Ihr Herz schlug schneller, bis es nahezu zu zerspringen drohte. Er lachte leise. »Jetzt hast du mich schon wieder ohne Erlaubnis angefasst. Wie soll ich dich dafür bestrafen? Mal sehen …«

Marguarita blickte sich über die Schulter nach Julio und Lea um. Lea hatte einen Stapel Decken unter dem Arm. Bitte. Geh einfach! Bitte beeil dich! Du kannst tun, was du willst, sobald du in Sicherheit bist.

»Ich kann mit dir tun, was ich will?«, fragte er mit erhobener Augenbraue. »Das lässt mir aber sehr viel Spielraum.«

Julio warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und gestikulierte aufgeregt.

Zacarias!

Und schon löste er sich vor ihren Augen auf. Gerade stand dieser beeindruckende Mann noch vor ihr, und im nächsten Augenblick schon sah sie ihn nicht mehr. Sie stieg schnell aus dem Helikopter, um Julio Platz zu machen, der sich neben Ricco setzte.

»Hat er ihm geholfen?«, flüsterte Julio ihr zu.

Lea reichte ihm die Decken an und stieg auf den Pilotensitz. Schon verzogen sich die Wolken und lösten sich genauso schnell wieder auf, wie sie sich gebildet hatten.

Marguarita nickte Julio zu und lief zum Haus hinüber, als der Hubschrauber sich in die Luft erhob.