4. Kapitel

Der Haubenadler stieß durch das Baumkronendach herab, ohne das Faultier, seine Lieblingsbeute, zur Kenntnis zu nehmen. Von einem inneren Zwang getrieben, der sich nicht ignorieren ließ, wendete der Vogel und flog zur Hazienda zurück. Tief im Inneren des mächtigen Adlers seufzte Zacarias. Er war der Wahrheit nicht näher als bei seinem Aufbruch. Die Fäden, die ihn an die Frau banden, waren stärker geworden statt schwächer, und sie ging ihm einfach nicht mehr aus dem Sinn.

Wüsste er es nicht besser, wäre er vielleicht sogar auf die Idee gekommen, dass sie seine Seelengefährtin war. Er hatte natürlich darüber nachgedacht, den Gedanken dann jedoch gleich wieder verworfen. Wäre sie die andere Hälfte seiner Seele, würde er wieder Farben sehen und Emotionen haben. Und falls es Gefühlsregungen waren, die er wahrnahm, verstand er nicht genug von solchen Dingen, um sie auch nur zu erkennen. Was auch immer vorging, war ein Rätsel, das gelöst werden musste, bevor er zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehrte, die Morgendämmerung zu suchen. Marguarita Fernandez verfügte über große Macht. Sie war eine potenzielle Bedrohung für Karpatianer und musste deshalb beseitigt werden. So einfach war das.

Ein scharfer Schmerz in der Nähe seines Herzens ließ ihn innehalten. Er blickte sogar auf die Brust des Vogels herab, um zu sehen, ob sie womöglich von einem Pfeil durchbohrt worden war. Aber es war nur die Vorstellung, die Frau zu töten, die ihm den Stich versetzt hatte. O jelä peje emnimet! Hol die Sonne sie! Sie musste ihn mit einem Zauber belegt haben. Es gab keine andere Erklärung für seine heftige körperliche Reaktion bei dem Gedanken, sie zu töten. Sie hatte sie aneinandergefesselt. Oder es war ihr Blut gewesen. Blut war die Essenz des Lebens, und das ihre war … außergewöhnlich.

Zacarias wollte – nein, er musste – an ihr Bewusstsein rühren. Alles in ihm drängte ihn, eine Verbindung zu ihr herzustellen, um zu wissen, wo sie war. Aber er weigerte sich, dem Bedürfnis nachzugeben. Er vertraute ihm ebenso wenig wie dem Drang, sie zu sehen, zu berühren und sich zu vergewissern, dass sie existierte. Was immer für einen Zauber sie gewirkt hatte, es war ein machtvoller, und er musste eine Falle sein.

Zacarias hatte Selbstkontrolle, Disziplin und viele Lebenszeiten hinter sich, um beides zu entwickeln, und keine Frau – eine menschliche schon gar nicht -, würde diese Eigenschaften in ihm zerstören können. Er würde sich Zeit lassen und sich selbst und ihr beweisen, dass er viel zu stark war, um Zaubersprüchen zu erliegen. Und bevor er sie tötete, würde er ihre Geheimnisse in Erfahrung bringen. Jedes einzelne. Sie würde schon noch merken, was es hieß, einen de la Cruz zu verraten und zu versuchen, ihn hereinzulegen.

Er hatte Vampire bekämpft und vernichtet, die übelsten, widerlichsten Kreaturen, die man sich vorstellen konnte; eine halbe Portion wie diese Frau hatte keine Chance gegen sie. Zacarias versuchte zu ignorieren, dass sein Geist immer wieder die Verbindung zu ihr suchte – und sein Blut sich beim Gedanken an sie erhitzte. Es war nicht so sehr der Zauber als vielmehr die Tatsache, dass sie ihn wirklich faszinierte, was seit tausend Jahren oder länger nicht mehr vorgekommen war. Das war alles. Interesse. Neugier. Wer konnte ihm das auch verübeln, da ihn doch schon so lange nichts mehr hatte überraschen können – bis er dieser Marguarita begegnet war?

Er erschrak, denn kaum hatte er ihren Namen gedacht – ihr Leben verliehen -, konnte er sie schon wieder schmecken. Sein Herz machte einen seltsamen kleinen Satz, und für einen Moment hatte er den Eindruck, dass sich in seinen Lenden etwas regte. Er erstarrte, und für einen Augenblick verschlug es ihm sogar den Atem. Was er da zu spüren glaubte, war unmöglich. Ein Trick. Eine Illusion. Marguarita war viel mächtiger, als er ursprünglich gedacht hatte.

Dieser spezielle Trick würde ihr Zeit erkaufen. Länger, als er sich zurückerinnern konnte, war er kein Mann mehr, sondern eine Tötungsmaschine gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Er kannte keine fleischlichen Begierden und konnte nichts empfinden. Die seltsamen Dinge, die jetzt in seinem Körper und Geist vorgingen, waren also nicht real, egal, wie gut die Illusion war. Trotzdem schloss Zacarias die Augen und genoss das Pochen des Blutes in seinen Lenden. Genauso schnell schlug er die Augen jedoch wieder auf und blickte sich misstrauisch um. War der Zweck dieser Illusion, ihn um den Verstand zu bringen – ihn für einen Moment Gefühle verspüren zu lassen, nur um sie ihm dann wieder zu entreißen, damit er sich für immer nach dem kurzen Rausch verzehren würde?

Die Harpyie löste sich aus dem Blätterdach und flog über die Hazienda. Zacarias dachte nicht daran, dem stets präsenten Bedürfnis nachzugeben, an Marguaritas Geist zu rühren. Jetzt, mehr denn je, musste er Kraft zeigen – und so viel wie möglich über Marguarita Fernandez in Erfahrung bringen.

Das Haus, das er suchte, lag zwischen zwei Berghängen versteckt. Es befanden sich noch andere Gebäude auf dem Besitz, aber Cesaro Santos war der Vorarbeiter, und sein Status zeigte sich in seinem Haus. Der Adler schwebte zur Erde hinunter und wechselte im letzten Moment zu seiner menschlichen Gestalt. Zacarias ging geradewegs auf die Veranda zu, wo er sich in Dunst verwandelte und so durch den Spalt unter der Haustür schlüpfte.

Das Haus war tadellos sauber wie die meisten der Wohnstätten der Menschen, die mit seiner Familie zusammenlebten. Er wusste, dass Cesaro überaus loyal war. Er hatte Zacarias sein Blut, ja sogar sein Leben angeboten, um ihn zu retten. Der Mann war über jeden Vorwurf erhaben, und nirgendwo auf der Ranch war auch nur ein Hauch vom Makel des Bösen zu spüren, soweit Zacarias feststellen konnte. Cesaro würde die Familie de la Cruz nie bestehlen oder sie in irgendeiner anderen Weise hintergehen, und falls Cesaro herausfinden sollte, dass einer seiner Untergebenen betrog, war Zacarias sicher, dass der Mann – oder die Frau – von Cesaro persönlich tief im Regenwald begraben werden würde.

Kommen Sie her zu mir! Blut rief Blut, und alle vertrauenswürdigen Angestellten hatten karpatianisches Blut erhalten – genug, damit jeder der Brüder de la Cruz ihre Gedanken lesen, ihren Geist mit Schutzschilden versehen und, falls nötig, ihnen Information entnehmen konnte.

Zacarias konnte den genauen Moment bestimmen, in dem Cesaro erwachte und nach seiner Waffe griff. Es war sehr befriedigend zu wissen, dass er die Familie gut gewählt hatte. Loyalität war die am stärksten ausgeprägte Eigenschaft innerhalb der Familien Chevez und Santos, die durch Blutsbande verbunden waren. Zacarias hatte schon wieder seine menschliche Gestalt angenommen, als der capitán der Hazienda Minuten später voll bekleidet und schwer bewaffnet aus seinem Schlafzimmer kam.

Cesaro machte eine angedeutete Verbeugung und blieb in etwas steifer Haltung stehen. Zacarias wusste, dass kein Mensch oder Tier sich je entspannt in seiner Nähe fühlte. Er konnte den Killer in sich nicht verbergen, und da der den größten Teil von ihm ausmachte, versuchte er es erst gar nicht. Cesaro deutete einladend auf das strategisch gut platzierte Sofa vor dem Fenster, von dem aus leicht zu sehen war, wer oder was sich seinem Zuhause näherte.

»Was kann ich für Sie tun, señor?«

»Ich möchte alles wissen, was Sie mir über die Frau erzählen können.« Zacarias hielt den Blick auf Cesaros Gesicht gerichtet und beobachtete aufmerksam seinen Ausdruck. Dabei drang ein Teil von ihm in den Geist des Mannes ein, um sicherzugehen, dass er die Wahrheit sagte. Was er dort sah, waren Verwirrung und Erstaunen. Seine Frage war das Letzte, was der capitán erwartet hatte.

»Sie meinen Marguarita Fernandez?« Auf Zacarias’ Nicken hin legte Cesaro die Stirn in Falten. »Ich kenne sie seit dem Tag ihrer Geburt. Ihr Vater war mein Cousin. Ihre Mutter starb, als sie noch ziemlich jung war, und Marguarita wuchs zusammen mit Julio, meinem Sohn, auf der Hazienda auf.«

Ein Anflug von etwas Tödlichem rührte sich in Zacarias’ Adern, ein dunkler Schatten, der Protest erhob gegen die Nähe zwischen Marguarita und diesem Mann, der mit ihr aufgewachsen war. Wie nahe standen sie sich? Etwas sehr Hässliches stieg in Zacarias auf, um sich in seiner Magengrube festzusetzen, als er sich Julio und Marguarita miteinander vorstellte. Seine Zähne verlängerten sich, und er ballte die Hände zu Fäusten. Nägel, die scharf wie Krallen waren, bohrten sich in die Handinnenflächen.

Cesaro, der sichtlich blass geworden war, umfasste das Gewehr auf seinem Schoß noch fester. »Habe ich etwas gesagt, das Sie verärgert hat?«

Blut rann über Zacarias’ Hand, und ohne Cesaro aus den Augen zu lassen, leckte er die Tröpfchen ab. »Fahren Sie fort.«

Der Vorarbeiter erschauerte. »Sie ist ein gutes Mädchen. Sehr loyal.«

Zacarias tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab. Er wollte nicht Cesaros Meinung von ihr hören. »Erzählen Sie mir von ihr!« Von den Männern in ihrem Leben. Von allem, was er wissen musste – was wichtig für ihn war.

»Sie kümmert sich um die Hazienda und vertritt die Familie bei den Arbeitern. Sie gibt die Bestellungen auf, und sie ist außerordentlich wertvoll bei der Arbeit mit den Rindern und den Pferden.« Cesaro wusste offensichtlich nicht, was Zacarias suchte. »Ist ihr etwas zugestoßen?«, fragte er, schon halb im Aufstehen.

Zacarias drückte ihn mit der flachen Hand zurück, und obwohl er gar nicht vorhatte, ihn so hart zu schupsen, warf die Bewegung Cesaro auf die Couch zurück. »Es geht ihr gut. Sagen Sie mir, was ich wissen will! Ist sie mit einem Mann zusammen? Verlässt sie oft die Ranch?«

Cesaros Stirnrunzeln vertiefte sich. »Sie hat viele hoffnungsvolle Besucher, einige von außerhalb der Ranch und andere von hier. Sie geht aber nicht mit ihnen aus, besonders seit dem Angriff auf sie nicht. Marguarita bleibt die meiste Zeit zu Hause, obwohl sie die Familie bei Wohltätigkeitsveranstaltungen vertritt und auch zu lokalen Tanzabenden und so weiter geht.«

Zacarias behielt seine unbewegte Miene bei. Ihm gefiel nicht, was er da von »vielen hoffnungsvollen Besuchern« hörte. Verhängte sie ihre Zauber denn in alle Richtungen? Dem würde er sofort ein Ende setzen. »Sie lassen sie unbegleitet ausgehen? Ein junges Mädchen?«

»Nein, natürlich nicht. Marguarita wird sehr gut beschützt. Es ist immer jemand von der Ranch bei ihr.«

Zacarias ließ Cesaros Blick nicht los, starrte ihn fragend, aber auch mit deutlicher Missbilligung in den Augen an.

»Mein Sohn begleitet sie oft«, gab Cesaro zu. »Ich hatte gehofft, dass aus den zweien ein Paar werden würde. Beide dienen Ihrer Familie und wissen, was für die Sicherheit unseres Bündnisses nötig ist. Sie wären ein gutes Paar, doch sie scheinen nicht interessiert aneinander zu sein.«

Der Boden schlingerte, die Wände wölbten sich. Für einen Moment wurde der Druck im Raum fast schmerzhaft, als wäre alle Luft aus ihm herausgesogen worden. Cesaro rang nach Atem, seine Kehle schloss sich, und seine Lunge brannte. So schnell, als wäre er nie da gewesen, verschwand der Eindruck wieder. Mit vor Furcht geweiteten Augen hustete Cesaro ein paarmal und griff sich mit der Hand an den Hals.

»Erzählen Sie mir von ihren Fähigkeiten mit Tieren!«

Cesaro zuckte die Schultern. »Niemand weiß, wie sie es macht. Ich glaube, sie weiß es selbst nicht, aber alle Tiere, einschließlich der am Himmel, sprechen auf sie an. Als kleines Mädchen konnte sie ihrem Vater schon sagen, dass ein Pferd sich das Bein verletzt hatte und auf welcher Weide es passiert war. Kurz darauf war das Pferd dann auch tatsächlich lahm. Sie wusste immer, wann eine Stute fohlen würde oder ob es eine schwierige Geburt sein würde. Die Pferde vertrauen ihr, und wenn sie bei ihnen ist, sind die Stuten ruhig, ganz gleich, wovor sie Angst haben.«

Zacarias nahm die Information in sich auf. Marguarita hatte solche Dinge also schon als Kind vermocht. Es war möglich, dass sie mit übersinnlichen Fähigkeiten geboren worden war, doch viel wahrscheinlicher war, dass sie von einem Magier dazu ausgebildet worden war, einen Zauber zu wirken, der machtvoll genug war, ihn, Zacarias, zu Fall zu bringen. »Fahren Sie fort!«

Cesaro sah noch ratloser aus als zuvor. »Als sie fünfzehn war, versetzte ein Jaguar die Herde in Panik, und die Rinder durchbrachen einen Zaun und rannten auf die Kinder zu, die Fußball spielten. Marguarita stellte sich vor sie, und wie durch ein Wunder bogen die Rinder ab, wurden langsamer und hielten an, als hätten sie jede Orientierung verloren.« Cesaro richtete den Blick wieder auf Zacarias. »Sie ging geradewegs auf den Jaguar zu und schwenkte abwehrend die Hand, als ich ihn erschießen wollte. Nachdem die beiden sich ein paar Minuten angestarrt hatten, lief die Raubkatze in den Wald zurück, und wir sahen hier nie wieder etwas von ihr. Nicht einmal Spuren.«

»Was wissen Sie von der Mutter dieser Frau?« Wenn ihr Vater ein Cousin Cesaros gewesen war, war die Mutter vielleicht eine Magierin gewesen. Es musste eine Erklärung geben.

»Ihre Mutter war eine Chevez von der Hazienda in Brasilien. Sie kennen ihre Familie.«

Er kannte die Chevez’ sogar besser als einige der anderen Familien. Sie waren definitiv nicht als Magier zur Welt gekommen, und keiner von ihnen war darin ausgebildet worden, Zaubersprüche zu verhängen. Die Frauen der Chevez’ waren von Geburt an mit geistigen Schutzzaubern belegt worden, damit kein Vampir sich ihrer bemächtigen oder sie manipulieren konnte, nicht ohne sie zu töten jedenfalls.

Zacarias ballte die Faust, als sein Geist wieder eine Verbindung zu Marguarita suchte. Er musste seine ganze Beherrschung aufbieten, um nicht an ihren Geist zu rühren. Sein Blut rief nach dem ihren. Oder war es umgekehrt? Der Ruf war jedenfalls sehr stark, schon fast ein Zwang. Zacarias fluchte unterdrückt in seiner Muttersprache. Die Frau war eine einzige Bedrohung.

»Falls sie Sie stört, können wir sie während Ihres Aufenthalts von der Hazienda fortschicken«, bot Cesaro an, als hoffte er, dass Zacarias dem Vorschlag zustimmen würde. »Sie hat viele Tanten, die sich über einen Besuch von ihr sehr freuen würden.«

Wieder ging ein Beben durch den Boden. Zacarias rührte keinen Muskel. Seine Zunge glitt über die scharfen Spitzen seiner Zähne. Sein ganzer Körper schmerzte. Sie müsste für viele Sünden büßen, aber er wagte nicht, zu ihr zu gehen – nicht, solange es ihm ein Bedürfnis war, sie zu sehen oder an ihren Geist zu rühren. Zacarias verbot sich, sie in seinem Kopf herumspuken zu lassen. Er war zu stark, sie konnte ihn nicht besiegen.

Cesaro erschrak. »Señor«, begann er voller Unbehagen.

»Überlassen Sie die Frau mir!«

»Ich verstehe Sie nicht. Marguarita ist ein gutes Mädchen. Sie wird von allen hier geliebt. Der Vampir hat ihre Stimmbänder zerstört, darum kann sie nicht sprechen. Falls Ihnen das Kummer bereitet …«

»Ich kenne keinen Kummer.«

Das entsprach der Wahrheit. Aber er war beunruhigt von dem Bedürfnis, sie zu berühren. Ihr nahe zu sein. Ihre warme, weiche Haut zu berühren und das unbändige Verlangen nach dem exquisiten Geschmack ihres Blutes zu lindern, das sie in ihm erweckt hatte.

Cesaro stand schnell auf, als Zacarias’ Körper flimmerte und transparent zu werden begann. »Warten Sie! Bitte, señor, ich muss wissen, dass Sie ihr nichts zuleide tun werden.«

Zacarias richtete einen eisigen Blick auf den Vorarbeiter. »Wagen Sie nicht, sich zu erdreisten, mich ins Verhör nehmen zu wollen! Dies ist mein Land. Sie gehört mir, und ich kann mit ihr verfahren, wie ich will. Ich werde nicht dulden, dass Sie sich in diese Angelegenheit einmischen. Was sie getan hat, geht nur uns beide etwas an. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Cesaro umklammerte den Lauf seines Gewehrs so hart, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er schluckte zweimal hart, bevor er nur sehr widerstrebend nickte.

Zacarias konnte seine Zeit nicht länger mit dem Mann verschwenden. Was war nur los mit allen, dass sie glaubten, sein Urteilsvermögen infrage stellen zu können? Offensichtlich hatte schon viel zu lange keiner seiner Brüder mehr auf der Ranch gelebt. Seine Leute hatten ihren Schwur, zu dienen und zu gehorchen, offenbar vergessen. Das war der wahre Grund, warum Zacarias wusste, dass er zu altmodisch für diese Welt war. Seine Regeln und Gewohnheiten waren überholt. Das Prinzip von »Töten oder getötet werden« wurde nicht mehr so recht verstanden. Die Welt lebte und handelte unter dem falschen Eindruck, dass die Menschheit sicher war -dass es keine Ungeheuer wie Vampire gab und das Böse nicht real war. Er wusste es besser, aber seine Zeit war längst vorbei.

Nachdem Zacarias sich in Dunst aufgelöst hatte, schlüpfte er aus dem Haus und vermischte sich mit dicken Regentropfen. Langsam begab er sich zum Herrenhaus zurück. Selbst in dieser Form, wenn er fast nicht wahrnehmbar war, stampften die Tiere in den Ställen nervös. Trotz seines drängenden Bedürfnisses, Marguarita zu finden, zwang er sich, eine große, langsame Runde über dem Besitz zu drehen, um nach irgendwelchen Anzeichen dafür zu suchen, dass der Untote ihm zu seiner Ruhestätte gefolgt war. Und Zacarias wollte nicht nur ihr, sondern auch sich selbst beweisen, dass er die Kontrolle hatte und nicht sie.

Er zweifelte nicht daran, dass einer der Brüder Malinov auf Rache sann, nachdem er so viele seiner Soldaten bei dem Angriff auf die Ranch der Familie de la Cruz in Brasilien verloren hatte. Falls die Malinovs irgendjemanden noch mehr hassten als den Prinzen der Karpatianer, war es Zacarias. Die Malinovs würden immer glauben, dass die Brüder de la Cruz sie verraten hatten. Statt sich gegen den Prinzen zu wenden und die Malinovs bei seiner Ermordung zu unterstützen, hatten Zacarias und seine Brüder Mikhail Dubrinsky Bündnistreue geschworen.

Doch den Prinzen zu töten hieße, ihr Volk zum Aussterben zu verdammen. Zacarias wusste das. Sie waren schon so nahe daran, wie eine Spezies es nur sein konnte, bewegten sich auf solch dünnem Eis, dass ein Einsturz jede Rettung unmöglich machen würde. Doch nun, da Mikhail noch lebte, und mit Solanges Blut und der jüngsten Erkenntnis, warum ihre Frauen Fehlgeburten erlitten, hatten die Karpatianer wieder eine gute Chance zu überleben. Dessen war sich Zacarias völlig sicher. Es war der ideale Moment, sich seiner Verpflichtungen zu entledigen. Und das hatte er auch vorgehabt – aber Marguarita Fernandez war ihm dazwischengekommen.

Froh, dass Ruslan Malinov, der Meister der Untoten, keine Zeit gehabt hatte herauszufinden, warum seine Soldaten nicht zurückgekehrt waren, machte Zacarias sich auf den Weg zum Herrenhaus. Sein Herzschlag beschleunigte sich auf merkwürdige Weise, was ihn nur noch nervöser machte. Er umkreiste das Gebäude, ohne sich ein einziges Mal zu erlauben, den Geist der Frau mit seinem anzurühren. Sehr langsam näherte er sich der Eingangstür, nahm wieder seine menschliche Gestalt an und ging hinein.

Er würde nicht der Hitzewelle, die ihn durchschoss, und dem Verlangen erliegen, das ihm mehr zusetzte, als er je für möglich gehalten hätte. Zacarias kannte kein Verlangen; er begehrte nicht. Er hatte die Gipfel der höchsten Berge erklommen, die fernsten Winkel der Erde bereist und war immer auf der Suche nach … irgendetwas gewesen. Er war Jahrhunderte auf der Erde gewandelt, viel länger als die meisten seiner Art, und hatte mehr Untote getötet, als heutzutage vorstellbar war. Zacarias hatte den schlimmsten Verrat und die größte Tapferkeit gesehen. Es gab nichts mehr, was ihn noch überraschen konnte. Nichts, was sein Herz so außer Kontrolle geraten lassen konnte. Nichts, was ihn zu solch brennender Begierde treiben konnte, weil er kein Begehren kannte.

O jelä peje emnimet! Möge die Sonne die Frau holen! Es gab eine Antwort, und er würde sie finden. Niemand beherrschte ihn. Er würde nicht ihr Bewusstsein anrühren oder sich auf die Suche nach ihr machen. Aber er ertappte sich dabei, dass er durch das dunkle Haus geradewegs zu ihrem Zimmer ging. Die Tür, die zersplittert und in der Mitte durchgebrochen war, hing gerade noch in den Angeln. Stirnrunzelnd betrachtete Zacarias den Schaden, den er angerichtet hatte. Die teilweise vom Rahmen herabhängenden Holzsplitter hatten gefährlich scharfe Enden.

Er schwenkte die Hand und brachte die Tür in Ordnung, nicht, um Marguarita zu schützen oder damit niemand in ihr Schlafzimmer schauen konnte, sondern einfach nur, weil es kein schöner Anblick war. Sowie er den Raum betrat, merkte er, dass der Duft der Frau das Zimmer noch erfüllte, sie sich aber in einem anderen Teil des Hauses aufhielt und sich hoffentlich an ihre Pflichten in seinem Haushalt erinnerte.

Zacarias blickte sich in ihrem Zimmer um. Es wirkte ausgesprochen feminin und roch auch so – doch der Geruch von Furcht war ebenfalls zu spüren. Obwohl der Rest des Zimmers ordentlich und sauber war, quoll der Papierkorb von zerknüllten Blättern über. Eine jähe Erinnerung an sie überfiel ihn, wie sie in einer Ecke dieses Zimmers gekauert und ihm ein Stück Papier entgegengestreckt hatte. Er sah sich um, beinahe sicher, dass es ihr aus der Hand gerutscht war, als er sie hochgerissen hatte.

Tatsächlich lag ein Blatt Schreibpapier gleich unter dem Rand des Bettes. Zacarias hob es auf und überflog den Brief. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, was geschehen war, warum sie ihn nicht in der Sonne hatte sterben lassen können. Sein Magen beruhigte sich. Er konnte weder den Ton ihrer Stimme hören noch beurteilen, ob sie die Wahrheit schrieb oder nicht, doch ihr Brief erklärte zumindest sehr gut ihr Dilemma. Wie er selbst hatte sie einen inneren Zwang verspürt, dem sie nicht hatte widerstehen können.

Was bedeutete das? Gab es irgendjemanden, der sie beide manipulierte? Vielleicht sollte ich Marguaritas Motivation noch einmal unter die Lupe nehmen, überlegte Zacarias. Falls sie manipuliert wurde, wie jemand es mit ihm zu tun versuchte, war sie viel schwächer und würde auch viel schneller unterliegen als ein erfahrener Karpatianer.

Er schüttete den Inhalt des Papierkorbs auf das Bett und strich die Blätter eines nach dem anderen glatt, um ihren Inhalt durchzusehen. Marguaritas ersten Erklärungsversuchen fehlte es an Sicherheit und Selbstvertrauen, aber sie bemühte sich weiter, was Zacarias verriet, dass sie hartnäckig und entschlossen war – und tapfer. Sie war nicht zu Cesaro gelaufen, der sicherlich dumm genug gewesen wäre zu versuchen, sie zu beschützen. Nein, sie hatte ihrer Verfehlung ins Auge gesehen und auf ihn, Zacarias, gewartet – in der Hoffnung, ihm alles erklären zu können.

Zacarias seufzte. Es war nicht nur ihre Schuld, dass sie nicht gehorcht hatte. Psychische Zwänge waren gefährlich und fast unmöglich zu ignorieren – wie er selbst am besten wusste. Er war ohne Grund zur Ranch gekommen – getrieben von seinem Begehren –, und er war im Umgang mit Magie erfahren. Marguarita dagegen hatte keine derartigen Erfahrungen, auf die sie sich stützen konnte, um sich zu retten.

Zacarias steckte das erste Blatt in seine Tasche und beförderte die anderen mit einer Handbewegung in den Korb zurück, bevor er ihr Kissen aufhob und ihren Duft einatmete. Er sog ihn tief in seine Lunge und gab dem Sehnen nach. Ihr femininer Duft umhüllte ihn. Genau genommen erschütterte er ihn. Zacarias strich die Laken glatt und zeichnete mit der Hand Marguaritas Bild auf dem Bett nach. Er glaubte fast, die Wärme ihrer Haut zu spüren, und wieder einmal schmeckte er ihr exquisites Blut auf der Zunge – köstlicher als der feinste Wein.

Er hätte jedes einzelne Haus auf dem ausgedehnten Besitz aufsuchen und jeden Bewohner, jeden Arbeiter einer genauen Prüfung unterziehen sollen. Sie mussten alle wissen, dass er sich hier aufhielt, allein schon der zugezogenen Vorhänge des Hauses wegen. Niemand würde unaufgefordert in die Nähe des Hauses kommen – oder sollte es zumindest nicht. Wie konnte der Zauber also so machtvoll bleiben, obwohl er sich dessen doch bewusst war?

Wieder atmete er den Duft der Frau tief ein, und sein Körper reagierte mit einem merkwürdigen Kribbeln, einem elektrischen Strom, der durch seine Adern raste und Reaktionen in ihm hervorrief, die er am besten gar nicht erst beachtete. Seufzend begab er sich auf die Suche nach Marguarita. Er hatte dem psychischen Zwang widerstanden und sich bewiesen, dass er Herr seiner Sinne war und sich voll und ganz unter Kontrolle hatte.

Marguarita schob das handgearbeitete Kanu in den Strom hinaus und stieg vorsichtig hinein. Es war das erste Mal, dass Julio nicht das Ruder führte, aber unter seinem wachsamen Auge hatte sie gelernt zu paddeln. Sie hatte angenommen, Angst im Dunkeln zu haben, doch seltsamerweise konnte sie auf dem Wasser ebenso gut sehen wie im Regenwald. Der Fluss war tief genug, um sie bis zum Amazonas zu tragen, das wusste sie. Der anfangs schmale Wasserlauf wurde breiter und die Strömung stärker, dort, wo er sich dem Hauptfluss näherte, und sie würde den Unterschied bemerken. Wenn Julio bei ihr war, war es aufregend, wie das Kanu über das weiß schäumende Wasser glitt, sobald es sich dem brüllenden Amazonas näherte. Aber allein und womöglich gar von einem Vampir verfolgt, verspürte Marguarita nur das dringende Bedürfnis, schnell voranzukommen.

Kaimane mit schwerlidrigen glasigen Augen kauerten wie alte Dinosaurier an den Böschungen, an denen sie vorbeifuhr. Sie schluckte und stieß das Ruder noch kräftiger ins Wasser. Das Kanu glitt still darüber. Unter den dunklen Wolken, die sich am Himmel zusammenballten, sah das Wasser wie ein glitzernder schwarzer Streifen aus, der sich durch lange, halb im Wasser hängende Bäume und Wurzeln hindurchkämpfte, die riesige Käfige bildeten. Marguarita tauchte das Ruder ein und paddelte noch kräftiger, während sie die Vögel zu erreichen suchte, damit sie Alarm schlugen, falls sie vor ihr ein Raubtier sahen.

Bei der Fahrt flussabwärts ergriff ein seltsames Unbehagen Besitz von ihr. Nicht Furcht oder Schrecken - zwei Empfindungen, die sie mit Zacarias de la Cruz in Verbindung brachte -, sondern ein Widerstreben, den Weg fortzusetzen. Sie brachte Abstand zwischen sich und ihn, und mit jedem Meter wurde ihr unwohler zumute. Das Herz tat ihr weh, und es war ein echter körperlicher Schmerz. Vom Verstand her wusste Marguarita, dass sie das einzig Richtige tat. Zweimal ertappte sie sich dennoch dabei, dass sie aufs Ufer zupaddelte, als wäre es ihre Absicht umzukehren.

Sie konnte froh sein, dass der Regen den Fluss hatte anschwellen lassen. Nun war die Strömung stark und trug sie sogar weiter, wenn ihre Arme sich weigerten mitzuhelfen, sie noch schneller von Zacarias wegzubringen. Ihr Unbehagen wuchs, und der Schmerz griff von ihrem Herzen auf ihren ganzen Körper über. Ihr zitterten die Beine, ihre Arme wurden schwer wie Blei, ihr Gaumen war wie ausgedörrt.

Er war tot. Zacarias de la Cruz war tot, und weil sie ihn verlassen hatte, trug sie irgendwie die Schuld daran. Der Gedanke schlich sich ungebeten in ihr Bewusstsein und ließ sich nicht mehr daraus verdrängen. Kummer übermannte sie und machte sich sogar körperlich bemerkbar. Ihre Brust wurde so eng, dass sie kaum noch atmen konnte. Tränen traten ihr in die Augen und ließen ihre Sicht verschwimmen. In ihren Ohren herrschte ein furchtbares Geschrei: ihr eigener stummer Protest gegen Zacarias’ Tod.

Aber – er war doch ein Vampir, oder nicht? In einem verzweifelten Wettlauf versuchte sie, den Besitz der Brüder de la Cruz noch vor ihm zu erreichen, um die Jäger herbeizurufen, damit sie ihn töteten. Falls er also schon tot war, müsste sie sich dann nicht freuen, statt zu weinen? Verwirrt zog Marguarita das Paddel ins Boot und konzentrierte sich aufs Atmen. Zacarias hatte ihr mehrere Male Blut gespendet. Seiner schnellen Reaktion verdankte sie ihr Leben, als der Vampir ihr die Kehle zerfetzt hatte. Das hatte Cesaro ihr erzählt. War da irgendetwas in Zacarias’ Blut, das sie selbst im Tod noch aneinanderband? Beim letzten Mal hatte er sie sogar gezwungen, sein Blut zu nehmen.

Marguarita presste die Lippen zusammen. Sie war stark, und sie würde keinen wilden Vermutungen erliegen. Sie hatte eine Mission zu erfüllen. Was immer ihre merkwürdigen Gefühle zu bedeuten hatten, sie mussten Einbildung sein. Das Einzige, was sie interessieren durfte, war, die geliebten Menschen auf der Hazienda zu retten. Der Regen wurde wieder heftiger, der sanfte Nieselregen steigerte sich zu einem erbarmungslosen Wolkenbruch. Sie musste zu dem größeren Fluss und auf dessen andere Seite zum Land der Familie de la Cruz gelangen, um die Jäger herbeizurufen. Der sich sehr schnell bewegende Strom trug Marguarita mit hoher Geschwindigkeit durch den Regenwald, um sie in dem breiten, angeschwollenen Amazonas abzuladen.

Ihr Herz begann fast schmerzhaft hart zu pochen. Sie musste aufpassen, wenn sie das hier überleben wollte. Das Donnern des Flusses war ohrenbetäubend und übertönte jedes andere Geräusch. Das Kanu wurde um eine Kurve getrieben, und das Wasser schoss sogar noch wilder und schneller dahin. Sie durfte jetzt nicht an Zacarias oder Vampire denken. Das einzig Wichtige war, das Paddel in Bewegung zu halten, um nicht gegen die vor ihr aufragenden Felsen geworfen zu werden.

Sie hatte Julio sicher hundert Mal das Kanu durch diese heimtückische Reihe plötzlicher Abfälle und Felsen manövrieren sehen und hatte gelacht und die Erregung und den Nervenkitzel des Moments genossen. Aber sie hatte sich auf die Fähigkeiten ihres Freundes verlassen und blind darauf vertraut, dass er jeden vor ihnen liegenden Felsen kannte. Bei sich selbst war sie da nicht so sicher. Julio hatte ihr ein paarmal erlaubt, es zu versuchen, doch da war es nicht dunkel und die Strömung nicht so schnell gewesen.

Marguarita umklammerte das Ruder noch fester und rief ihre neuen Reflexe zu Hilfe. Ihre Augen brannten vor Anstrengung, als sie sich der Reihe von Felsen näherte, die sich aus dem schäumenden Strom erhoben. Während sie noch tief ausatmete, um sich für die wilde Fahrt zu entspannen, spürte sie schon den ersten Abfall des Kanus, als es in den Gesteinsgarten trieb. Sie rief sich jedes komplizierte Manöver in Erinnerung, das Julio ihr gezeigt hatte, führte es so sorgfältig aus, als säße er bei ihr im Boot, und rief die einzelnen Bewegungsabläufe auf. Schon fiel sie ab, verlagerte das Gewicht und umrundete den ersten Felsen, um perfekt ausgerichtet auf das Tor zum nächsten Abfall zuzuschießen.

Schäumend weiß schien das Wasser um sie herum in der trüben Dunkelheit zu kochen. Der Regen prasselte auf den Strom, und ohne ihre geschärfte Sicht wäre Marguarita nicht imstande gewesen, die enge Durchfahrt zu bewältigen, die sie nehmen musste, um einen besonders heimtückischen Felsen zu umfahren. Der Nervenkitzel, das weiß schäumende Wasser zu befahren, strömte durch ihre erfrorenen Adern und milderte die Angst vor den Vampiren. Marguarita hatte die Ausflüge mit Julio in den Regenwald immer geliebt. Gemeinsam waren sie zu vielen Abenteuern aufgebrochen, und sie wünschte nur, er wäre jetzt auch bei ihr.

Das nächste Hindernis war das schwierigste, denn das Kanu musste in einem ganz bestimmten Winkel in das Felsentor einbiegen, um die Brandung zu umschiffen, die das Boot zum Kentern bringen konnte. Marguarita konnte Julios Stimme hören, die ihr Anweisungen gab, wie sie das Paddel halten musste, um das Kanu für den Bruchteil einer Sekunde anzuhalten. So lange brauchte sie, um scharf abzubiegen, und es dann mit einem harten Paddelschlag nach vorn schießen zu lassen. Marguarita meisterte die schmale Klamm zwischen den beiden Felsen genau so, wie Julio es ihr vorgemacht hatte, und wich dem gefährlich aufgewühlten Wasser um Zentimeter aus.

Das Kanu schoss ins offene Wasser hinaus, und schon war Marguarita auf dem Amazonas. Die Strömung erfasste das Boot, und Marguarita musste ihre ganze Kraft aufwenden, um es auf das Ufer zuzulenken. Der Fluss führte Hochwasser und war unglaublich schnell. Nur mit purer Willenskraft und unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es ihr, das Ufer zu erreichen. Sie war ein Stück weiter flussabwärts abgetrieben als geplant, aber heilfroh, als sie einen der im Wasser hängenden Äste ergreifen und sich daran mit ihrem Kanu an die Uferböschung ziehen konnte.

Das Gefälle hier am Rand war extrem verschlammt und glitschig. Marguarita war erschöpft, durchfroren und nass und fühlte sich erbärmlich. Sie versuchte, die Böschung hinaufzuklettern, rutschte jedoch immer wieder ab. Der Wind frischte auf und peitschte schließlich mit einer solchen Kraft von allen Seiten auf sie ein, dass er sogar Strähnen aus ihrem dicken Zopf herausriss und ihr Kopfschmerzen verursachte. Schließlich gab sie es auf, die Böschung hinaufzuklettern, und kroch stattdessen. Doch obwohl sie ihre Finger in die Erde krallte, rutschte sie immer wieder zurück, bis ihre Beine und Arme schmerzten und sie schon fürchtete, sie nie wieder anheben zu können. Der von dem Wind gepeitschte Regen biss in ihren Körper, als sie endlich oben ankam und einen Moment lang liegen blieb, um zu Atem zu kommen.

Marguarita machte sich gar nicht erst die Mühe aufzustehen, sondern kroch einfach über den unebenen Boden in den Schutz eines großen Kapokbaumes, um aus dem Regen herauszukommen. Erschöpft lehnte sie sich an die dicken Wurzeln und versuchte, wieder einigermaßen ruhig durchzuatmen. Und da überfiel sie erneut die Erinnerung an den Vampir, der sie angegriffen hatte. Irgendein Detail entzog sich ihr, aber sie wusste, dass es wichtig war.

Sie repräsentierte schon seit Jahren die Familie de la Cruz. Die meisten Familien, die die Ranch bewirtschafteten, hatten noch nie einen der Brüder zu Gesicht bekommen. Marguarita hatte den Arbeiterfamilien Lebensmittel und Medikamente gebracht, wenn sie benötigt worden waren, die Abtragung ihrer Schuld geregelt oder ihnen in Notzeiten ein Darlehen gewährt, womit sie sich ihre Loyalität und ihren guten Willen erworben hatte. Sie hatte die Familie de la Cruz zu einer der meistgeliebten in der Region gemacht. Ihre Großzügigkeit … okay, und das Geld der de la Cruz’ hatten das Ihrige dazu beigetragen.

Vorsichtig stand sie auf und zwang ihre Beine, ihre Arbeit aufzunehmen. Ohne jede Vorwarnung schlingerte der Boden und warf sie wieder auf die Knie. Sofort schwärmten Ameisen über Marguaritas Hände und Stiefel. Sie unterdrückte einen kleinen Aufschrei, weil sie jetzt wusste, dass Zacarias nicht tot war. Wie hatte sie so dumm sein können? Er war zur Hazienda zurückgekehrt und hatte sie dort nicht mehr gefunden. Marguarita sprang auf und lief ziellos los, was sich als ein weiterer dummer, gedankenloser Fehler entpuppte.

Riesige Motten, die vom Licht der Stirnlampe angezogen worden waren, flatterten um Marguarita herum. Fledermäuse kreisten nicht weit über ihr und stürzten herab, um die Insekten zu fangen, die das Lampenlicht enthüllte. Große Augen starrten sie einen Moment lang aus geringer Entfernung an, dann sprang das Tier auf einen Baumstamm und flitzte zu den höheren Ästen hinauf. Eine Schlange entrollte sich und hob den Kopf.

Wieder schwankte der Boden, und Donner krachte. Für einen Moment konnte Marguarita kaum atmen. Wieder einmal fühlte sie sich wie die gelähmte Beute eines Monsters, das sie in die Enge trieb. Der Wind brauste durch die Bäume und verbog die kleineren, bis sie regelrechte Bögen formten. Marguarita suchte Zuflucht im Wurzelkäfig des großen Kapokbaumes und versuchte, sich zum Nachdenken zu zwingen, statt in Panik zu geraten. Sie umklammerte die Wurzeln und starrte grimmig in den Wald hinein.

Sie hatte recht gehabt, Zacarias für einen Vampir zu halten. Die Insekten sprudelten auf sein Geheiß förmlich aus dem Boden heraus und flitzten von den Bäumen herab. Giftschlangen glitten durch das nasse Unterholz, und Blutegel krochen über Laub und Blätter auf Marguarita zu. Alles, was sie über Vampire gewusst hatte, war ihr plötzlich wieder gegenwärtig – zusammen mit der Erinnerung an den, der sie angegriffen hatte.

Sie erschauerte und empfand ein geradezu überwältigendes Bedürfnis, sich zu einem Ball zusammenzurollen und zu verstecken. Sie konnte den widerlichen Atem des Vampirs noch riechen, sein verfaulendes Fleisch und die hässlichen, verformten Krallen sehen, die er anstelle von Fingernägeln gehabt hatte. Seine Augen waren vollkommen rot geworden, als sie sie angestarrt und versucht hatten, ihrem Geist die Information zu Zacarias’ Aufenthaltsort zu entreißen. Marguarita hatte sich darauf konzentriert, eine vollkommene Leere in ihrem Kopf zu bewahren, und die starken Schutzzauber hatten ihr sehr geholfen, den Ältesten der Brüder de la Cruz nicht zu verraten.

Der Vampir hatte ihren Vater ermordet, und er würde sie umbringen – das wusste sie mit absoluter Sicherheit –, aber ihr war auch klar, dass Zacarias oder einer seiner Brüder den Vampir jagen und vernichten würde. Er würde nie wieder morden. Sie hatte standgehalten, selbst als die grauenvolle Kreatur die rasiermesserscharfen Zähne gefletscht und ihr gedroht hatte, ihr das Herz herauszureißen und es vor ihren Augen zu verspeisen. Sie erschauerte bei der Erinnerung an die roten Augen des Monsters, seinen Atem und den ekelhaften Geruch von verwesendem Fleisch.

Marguarita setzte sich gerade auf. Obwohl sie auch vor Zacarias große Angst gehabt hatte, war er doch nicht wie der Vampir gewesen. Bei ihm war nichts von diesem fürchterlichen Fäulnisgeruch zu spüren gewesen. Verfaulten Vampire nicht von innen heraus?

Zacarias hatte sie in Panik versetzt. Sie berührte das Mal, das er an ihr hinterlassen hatte, und rieb es mit der Fingerspitze. Der Angriff war nicht der gleiche gewesen. Zacarias war ihr nicht böse erschienen. Und auch nicht wie ein Vampir. Wie ein gefährliches, Angst einflößendes Raubtier, das ja, doch nicht wie etwas Übles.

Die Erkenntnis bestürzte sie. Zacarias de la Cruz war ein wildes Tier, ein ungezähmtes Geschöpf, das jagte und tötete, um zu überleben. Er war kein Untoter, aber das änderte nichts. Sie würde nicht zu der Hazienda zurückkehren. Nicht, solange er sich dort aufhielt. Sie fürchtete nur wenige Geschöpfe, doch Zacarias war eine völlig andere Sache. Das Mal, das er an ihr hinterlassen hatte, brannte ein wenig und erinnerte sie daran, dass kein Tier im Regenwald so unberechenbar oder gewalttätig war.

Allein schon, wie entschlossen er auf sie zugekommen war … Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske gewesen, sein Mund zu einem grausamen, unnachgiebigen Strich verzogen, seine Augen flach und kalt und ohne Gnade. Marguaritas Mund wurde trocken, und ihr Herz pochte wieder wie wild. Sie hätte sich nicht rühren können, selbst wenn sie es gewollt hätte, sie war starr vor Schreck wie ein in die Enge getriebenes Beutetier. Marguarita wusste, dass Zacarias sie mit voller Absicht so geängstigt hatte. Sie hatte versucht, auf die gleiche Weise Verbindung zu ihm aufzunehmen wie zu einem wilden Tier, und für einen Moment hatte sie gedacht, er reagierte. Doch danach war er noch schlimmer gewesen als zuvor. Er war gefährlich, aber kein Vampir.

Sie musste an einen sicheren Ort gelangen und sich ihre nächsten Schritte überlegen, und das bedeutete, dass sie die eingeschnitzten Markierungen finden musste, mit denen Julio die Bäume versehen hatte, um den Weg zu kennzeichnen. Dazu musste sie zu der Stelle zurückkehren, wo sie normalerweise das Kanu aus dem Wasser zogen.

Marguarita wartete, bis der heftige Wind ein wenig nachließ, und rappelte sich dann auf, um vorsichtig den Schutz des Baumes zu verlassen. Die Äste über ihr knarrten und ächzten, und sie erhob den Blick zu ihnen. Fledermäuse hingen von allen Ästen und umflogen den Baum, um einen Platz zu suchen. Zuerst dachte Marguarita, sie seien der Früchte des Baumes wegen hier, doch sie fraßen nicht. Mehr und mehr ließen sich auf Zweigen und Ästen nieder, hängten sich kopfüber mit gefalteten Flügeln hin und beobachteten sie aus glitzernden kleinen Augen.

Ein Frösteln durchlief Marguarita. War sie vor Zacarias geflohen, nur um in ein Vampirnest zu geraten? Sie wusste, dass Untote Fledermäuse und Insekten bisweilen als Marionetten benutzten. Sie wich langsam von dem Baum zurück und wäre dabei fast über einen verrottenden Stamm gefallen. Termiten strömten aus dem Holz. Marguarita presste die Lippen zusammen und verbot sich, in Panik zu geraten. Sie musste nachdenken – eine Entscheidung fällen –, und beides konnte sie nicht, wenn sie hier zusammenbrach.

Sie blickte zu den Fledermäusen auf, versuchte sehr behutsam, sie zu erreichen, und sandte ihnen einen Gruß zu. Dabei achtete sie darauf, sie nicht zu sehr zu bedrängen. Ihre Berührung war nur ganz leicht, aber es gelang ihr, geistig mit ihnen in Kontakt zu treten. Sie hätte Böses spüren müssen, wenn sie von den Untoten befehligt würden, doch sie schienen ganz gewöhnliche Fledermäuse zu sein, die fressen mussten. Aber irgendetwas hatte sie aufgehalten, benutzt und ihnen etwas befohlen …

Er benutzte Insekten und Fledermäuse, um sie, Marguarita, im Auge zu behalten. Er wollte wissen, was sie vorhatte, und hatte Spione ausgesandt. Eine Idee fasste Fuß in Marguarita, und sie dachte über die Situation nach und versuchte, sie logisch zu betrachten. Vielleicht waren die Fledermäuse die falsche Art Spione, um sie gegen sie einzusetzen. Sie hatte ihren eigenen Draht zu Tieren und Insekten, und es war gut möglich, dass sie sie alle auf ihre Seite bringen konnte.

Marguarita blickte wieder zu den Fledermäusen auf, sandte ihnen eine weitere freundschaftliche Schwingung zu und drängte sie, sich keinen Zwang anzutun und zu fressen, wenn sie wollten. Sie versprach ihnen, langsamer zu gehen, damit sie ihr folgen und dennoch auf dem Weg noch fressen konnten. Einige der Fledermäuse schienen Früchte zu bevorzugen, andere Insekten. Zacarias hatte sogar Spezies vermischt. Sie lächelte die kleinen Kreaturen an und empfand das gleiche Gefühl der Verwandtschaft, das sich immer einstellte, wenn ihr Geist an den eines Tieres rührte. Mit Zacarias waren sie durch Furcht verbunden, sie jedoch schloss Freundschaft mit ihnen und brachte ihnen ein Verständnis entgegen, das gegenseitig war. Die meisten Tiere und sogar einige Insekten verstärkten die Beziehung, weil sie die tiefe Bindung zwischen ihnen spürten. Marguarita wollte diese Verwandtschaft auch zu den Fledermäusen aufbauen, die Zacarias gewählt hatte, um sie auszuspionieren.

Sie hielt die warmen Schwingungen und die Einladung zu fressen aufrecht. Eine Fledermaus ergriff die Initiative, vielleicht war sie hungriger als die anderen, aber sie flog zum nächsten Obstbaum und ließ sich darauf nieder, um Nahrung zu sich zu nehmen. Sofort war die Luft voller Fledermäuse. Viele wählten Früchte, andere jagten Insekten. Marguarita beging nicht den Fehler davonzueilen – das würde nur den Drang der Tiere verstärken, Zacarias’ Auftrag zu erfüllen. Sie war freudig erregt, als sie die Stelle fand, an der Julio und sie normalerweise das Kanu an Land zogen.

Überall war Wasser. Es tropfte von Bäumen, lief Hügel und Hänge herab und erzeugte Hunderte kleiner, in Kaskaden herabstürzender Wasserfälle. Auch auf dem Waldboden sammelte sich das Wasser in großen Pfützen, die alle irgendwann den Weg zum Amazonas finden würden. Sein Rauschen war allgegenwärtig – genau wie das unaufhörliche Summen der Insekten. Marguarita entfernte sich von dem lärmenden Wasser und hielt auf das Landesinnere zu.

Julio hatte Äste markiert – als Kinder hatten sie das ausprobiert, aber mit der Zeit war alles von Pflanzen überwuchert worden. Die Vegetation war so dicht, dass die Baumrinde darunter größtenteils verborgen war und es daher eigentlich keinen Sinn hatte, irgendetwas in einen Baum zu ritzen. Die Markierungen wurden immer schnell verdeckt. An den Bäumen hinauf krochen Lianen, die die Stämme als Treppen zu dem Licht über dem Blätterdacht benutzten. Farne vervollständigten die Vegetation, da auch sie sich in der Baumrinde einbetteten und an ihr zur Sonne hinaufkletterten.

Dicke Wurzeln schlängelten sich über den Waldboden und verankerten die hohen Bäume, deren Wipfel bis in die Wolken hinaufreichten. Diese gewaltigen Brettwurzeln stützten und ernährten die Baumriesen; einige verdrehten sich zu kunstvollen Formen, während andere eine Art hölzerne Rippen formten. Doch wie sie im Einzelnen auch aussehen mochten, diese Wurzeln beherrschten den Waldboden, beanspruchten große Flächen und boten Tieren wie Fledermäusen und Hunderten von Insektenarten Unterschlupf.

Julio und Marguarita hatten auch in die Wurzeln Zeichen geritzt und wussten, wo sie suchen mussten, selbst wenn Schlingpflanzen und Farne sich schon längst über den mächtigen Baumwurzeln miteinander verwoben hatten. Und tatsächlich fand Marguarita eins ihrer Zeichen unter einem der grün schimmernden Farne, die sie beiseiteschob.

Sie bewegte sich nur langsam voran und fuhr fort, den Fledermäusen Wärme, Achtung und Kameradschaft zu übermitteln. Keine Befehle. Keine Forderungen. Zacarias würde sich in die Dunkelheit der Erde zurückziehen müssen, bevor die Sonne aufging. Bis dahin waren es nur noch wenige Stunden. So lange konnte sie ihn noch austricksen. Die Fledermäuse waren sehr empfänglich und würden keinen Alarm schlagen, solange sie nicht wegrannte oder versuchte, sich vor ihnen zu verstecken.

Marguarita beschloss, sich die Fledermäuse für ihr eigenes Warnsystem zunutze zu machen, und hoffte, dass sie ihre Art von Alarm verstehen würde, wenn ein Raubtier in der Nähe war. Ein umgestürzter riesiger Baum lag quer über dem Weg, und Schösslinge füllten schon die Lücke, die er hinterlassen hatte. Der verrottende Stamm war mit Insekten, Pilzen und Schlingpflanzen bedeckt. Marguarita betrachtete ihn aufmerksam, weil sie sich der gefährlichen Schlangen und giftigen Frösche bewusst war, die sie leicht berühren könnte, wenn sie darüberkletterte.

Doch ihr blieb keine andere Möglichkeit. Andernfalls müsste sie von ihrem Weg abweichen, was im Dunkeln in einem Regenwald denkbar unvernünftig wäre. Und so trat sie vor und griff nach oben, fest entschlossen, über den Stamm hinwegzuklettern. Im Geiste verscheuchte sie die Insekten und die Frösche und hoffte, dass sie sie in Ruhe lassen würden.

Doch da packten sie von hinten Hände an der Taille und zogen sie an einen harten Körper. »Bist du wirklich so beschränkt, Frau, oder macht es dir nur Spaß, dich in Gefahr zu bringen?«, hörte sie Zacarias’ leise Stimme an ihrem Ohr, die sie bis ins Mark erschauern ließ.