Kapitel zehn

Joie träumte von einem heißen, feuchten Mund an ihrer Brust und sanften Händen, die zärtlich ihren Körper streichelten. Von Lippen, die an ihrer nackten Haut zu ihrem Nabel hinunterglitten, einer flinken Zunge, die ihn umspielte, und von spielerischen kleinen Bissen in die Haut an ihrem Bauch. Von Händen an ihren Schenkeln, die behutsam ihre Beine spreizten und die heiße Feuchte an ihrer empfindsamsten Stelle berührten.

Sie öffnete die Augen, als Wogen der Lust sie durchfluteten wie ein unerwartetes Geschenk. Traians seidiges dunkles Haar, das über ihre Haut strich, war ein erotischerer Anblick, als sie je gedacht hätte. Seine Finger liebkosten sie auf intimste Weise und fanden geheimnisvolle Wege, Ströme von Feuer durch ihre Adern fließen zu lassen. Und dann ersetzte er seine Hände mit seiner Zunge, glitt tief in sie hinein und kostete, streichelte und stimulierte sie, bis sie weinte vor Glück und ihr Körper nicht mehr ihr gehörte. Welle um Welle ekstatischer Gefühle durchströmte sie, ein lustvoller Orgasmus nach dem anderen ließ sie erschauern und sich aufbäumen, während Traian sie festhielt und nicht aufhörte, sie auf äußerst erotische Weise zu liebkosen, bis sie nicht mehr atmen und nicht mehr denken konnte in der Glut dieses rauschhaften Moments.

Sie tauchte die Hände in sein langes Haar und klammerte sich daran fest, während er sie mit Lippen und Zunge in einen Zustand reiner Verzückung versetzte, bis die Erde erbebte und ihr Körper in tausend Stücke zu zerspringen schien. Und da ergriff er Besitz von ihr, kniete sich über sie und zog ihre Hüfte zu sich heran, um mit einer einzigen kraftvollen Bewegung in sie einzudringen, während sie von einem nicht enden wollenden Höhepunkt überwältigt wurde. Traian war überall, in ihrem Körper und in ihren Gedanken, und auch sein Herz schlug in exakt dem gleichen Rhythmus wie das ihre. Sie konnte die Intensität seiner Empfindungen spüren, eine wahre Flutwelle aus Sehnsucht und Liebe, glühendem Verlangen und machtvollem Begehren, aus Fürsorge, Zärtlichkeit und Treue, weit mehr, als sie verstehen konnte, aber dennoch sehr real.

Traian liebte es, wie Joie sich an ihn klammerte, als sein Körper vom Sturm der Emotionen mitgerissen wurde und er sie nicht mehr sanft und zärtlich liebte wie zuvor, sondern seine Bewegungen immer härter, leidenschaftlicher, fordernder und besitzergreifender wurden. Donner grollte ihm in den Ohren, Blitze durchzuckten seine Adern, und Feuer raste durch seinen Leib, bis all diese Eindrücke sich tief in seinem Innersten zu einer wahren Feuersbrunst vereinten. Joie war so heiß und eng und glatt wie Samt, dass der Kontakt mit seinem pulsierenden Glied eine unglaublich aufregende Empfindung war. Er hob ihre Hüfte an, um noch tiefer in sie hineinzugleiten, und wäre am liebsten ganz in sie hineingekrochen. Sie war sein Zuhause und sein Zufluchtsort nach so vielen Lebenszeiten der Einsamkeit. Er wollte ihr die Welt zu Füßen legen und ihr die gleiche berauschende Leidenschaft und Lust bereiten, die sie auch in ihm entfachte.

Als er spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog und was für eine gewaltige Kraft sich in ihr sammelte, warf Traian den Kopf zurück und überließ sich rückhaltlos dem leidenschaftlichen Vergnügen. Sein Körper schien in Flammen zu stehen, während die Erfüllung Joie und ihn in den Himmel und geradewegs ins Sonnenlicht hinaufzutragen schien – das er nur in einem solchen Augenblick erfahren konnte.

Traian barg den Kopf an ihrem Nacken und atmete ihren unverwechselbaren Duft ein. Es war noch zu früh für ihn, sich zu erheben, aber er hatte sie sehen müssen, bevor er auf die Jagd ging. Ihm war ein völlig unerwartetes Geschenk zuteilgeworden, ein wahres Wunder, und er hatte nicht die Absicht, diese Frau je wieder zu verlieren. »Früher dachte ich, die Worte ›für immer‹ seien die schlimmsten in jeder Sprache. Und jetzt kann ich mir gar nicht einmal genug Zeit mit dir vorstellen.«

»Ich auch nicht«, gestand Joie.

Er drehte sie in seinen Armen und drückte seinen Körper in seiner ganzen Länge an den ihren. »Geh nie, nie weg von mir«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Lass mich nicht wieder all den endlosen Jahren allein entgegensehen.«

Joie strich ihm das lange Haar aus dem Gesicht, nahm es zwischen ihre Hände und blickte zu ihm auf – zu den Linien, die unzählige Kämpfe gegen das Böse in seine männlich schönen Gesichtszüge gegraben hatten. Oder auch die furchtbare Einsamkeit, die er erfahren hatte. »Ich will dich immer an meiner Seite haben, Traian. Gemeinsam werden wir unseren Weg schon finden.«

Wie leicht sie ihm das Herz brach mit ihrer absoluten Überzeugung! Sie hatte vollstes Vertrauen in sich selbst und in ihn.

»Ich hätte dir wirklich besser erklären sollen, wie das mit unseren Babys und Kleinkindern ist und was unsere Frauen durchmachen müssen, um wenigstens zu versuchen, ein Kind zur Welt zu bringen. Es hat seinen Tribut von ihnen gefordert – es muss furchtbar hart für eine Mutter sein, eine Fehlgeburt nach der anderen zu haben oder ein Kind auszutragen und es schon im ersten Lebensjahr wieder zu verlieren.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass ich sehr viel von dir verlange, Joie, und wenn ich zu viel darüber nachdenke, bricht es mir das Herz zu denken, dass du vielleicht den gleichen schmerzlichen Verlust wirst hinnehmen müssen.«

»Ich würde den Verlust eines Kindes nicht allein hinnehmen müssen, Traian. Sollte ich schwanger werden, bin ich mir sicher, dass du das gleiche furchtbare Verlustgefühl empfinden würdest. Wir würden es gemeinsam überstehen.«

»Du sollt nicht einen solchen Schmerz erleiden. Ich will das nicht.«

»Ich kann spüren, dass du das nicht willst, aber niemand kann vorhersagen, was in der Zukunft geschehen wird, nicht einmal ein allmächtiger Karpatianer. Es ist sehr traurig, dass die Frau deines Prinzen eine Fehlgeburt hatte. Doch das heißt noch lange nicht, dass es auch mir passieren wird, falls wir das Glück haben sollten, dass ich schwanger werde.«

»In Zukunft werde ich darauf achten, dir die Dinge in allen Einzelheiten zu erklären, damit du weißt, worauf du dich einlässt«, versprach er.

Dann beugte er sich vor und küsste sie sanft, mit exquisiter Zärtlichkeit und der überwältigenden Liebe in seinem Herzen, die er nicht in Worte fassen konnte, aber zu zeigen versuchte, indem er ihr mit seinem Körper huldigte. Er küsste sie immer wieder, sehr langsam und sehr zärtlich, in einer sanften Eroberung ihrer Sinne, während sie noch immer inniglichst verbunden waren, und vergrub die Hände in ihrem dichten Haar. Dann ließ er den Mund über ihre Kehle und an ihrer Brust hinuntergleiten, wo er zielsicher die Stelle über ihrem Herzen fand.

Als Joie seine flinke Zunge auf ihrer erhitzten Haut spürte, begann ihr Herz wie wild zu pochen, und alles in ihr zog sich zusammen. Ein brennender Schmerz durchzuckte sie, der jedoch augenblicklich sinnlicher Ekstase wich. Liebevoll nahm sie Traians Kopf zwischen ihre Hände, während er von ihr trank, und passte sich seinen langsamen, erotischen Bewegungen in ihr an. Es war ein Gefühl, wie sie es noch nie zuvor erfahren hatte. Er war in ihrem Körper, in ihrem Kopf und füllte ihr ganzes Sein aus, während er ihr Blut nahm und sie immer näher an seine Welt heranführte.

In hilflosem Begehren wand sie sich unter ihm und hob einladend die Hüfte an. Ihre Brüste wurden schwer und schmerzten vor Verlangen. Als er mit einer Hand die sanft schwellende Rundung einer Brust umfasste und sein Daumen über ihre harte kleine Spitze glitt, drückte Joie seinen Kopf noch fester an sich, in einer stummen Bitte, noch mehr zu nehmen – alles, was er von ihr brauchte.

Ihr Herz schlug im gleichen Rhythmus wie das seine, ihr Blut pochte in ihren Adern, rauschte ihm heiß entgegen und passte sich dem hämmernden Rhythmus seines Blutes an. Joie hätte es beängstigend, ja sogar abscheulich finden müssen, ihn ihr Blut trinken zu lassen, aber für sie war es nur eine überaus sinnliche Handlung.

Traian schloss die Augen und kostete ihren süßen Geschmack aus, während sein Verlangen nach ihr wuchs. Macht und Energie rauschten durch seinen Körper, drangen in Zellen, Sehnen und Knochen ein und erfüllten ihn mit einer solchen Kraft, dass kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass sie ihn vervollständigte. Schon allein durch ihr Vorhandensein, durch ihre bloße Existenz, hatte sie ihm so viel gegeben, und nun trat sie auch noch in seine Welt ein und gab sich selbst auf, um ihn zu retten. Sie war ein Geschenk für ihn, ein Wunder.

Sanft strich er mit der Zunge über die kleinen Einstiche und liebkoste ihre verführerischen Brüste, bevor er ihre Lippen in Besitz nahm, um den Geschmack ihrer Lebensessenz mit ihr zu teilen. Und er ließ sich alle Zeit der Welt, um ausgiebig die warme Höhle ihres Mundes zu erforschen und seine Zunge zu einem berauschend sinnlichen Tanz mit ihrer zu vereinen.

Diesmal war Joie in einem traumähnlichen Dunst gefangen, obwohl sie sich durchaus ihrer körperlichen Empfindungen bewusst war, als sie sich ruhelos, ja fast schon schamlos unter ihm bewegte. Als ihr Mund seine Brust berührte und sein kostbares Geschenk annahm, liebkosten seine Finger ihre Kehle und Brust und bewahrten die Intimität und Sinnlichkeit des Akts. Gleichzeitig war Traian ihr behilflich, sein Blut zu nehmen. Joie konnte spüren, wie er wieder härter und heißer in ihr wurde und wie viel kraftvoller und zielstrebiger seine Bewegungen wurden. Erneut spürte sie die schon vertrauten Flammen, die in seinen Adern brannten, durch seinen Körper pulsierten und, knisternd vor Leben, auch auf ihren übergriffen.

Joie war überglücklich, ihm so viel sinnliches Vergnügen und so viel Glück zu schenken. Sie wollte ganz und gar in seiner Welt sein, mit ihm wie jetzt gerade so inniglich vereint, dass sie nicht einmal mehr sagen konnte, wo er endete und sie begann. Ihre Bewegungen wurden herausfordernder, bis er sie so wild und leidenschaftlich nahm, dass sie spüren konnte, wie jeder Nerv und Muskel und ihr Blutstrom sich vereinten, um sie und ihn höher noch denn je auf den Gipfel ihrer Empfindungen zu treiben.

Ich will mehr Zeit mit dir. Ich will dich berühren und deinen Körper kennenlernen, wie du meinen kennst. Ich möchte die Dinge sehen, die du gesehen hast, und die gleichen Gefühle in dir wecken wie du in mir, flüsterte sie im Geiste.

»Wir haben Zeit«, sagte er. »All die Dinge, von denen du träumst, alles, was dir wichtig ist – wir haben Zeit für all das, Joie.« Sehr sanft löste er ihren Mund von seiner Brust und verschloss die kleine Wunde, legte Joie behutsam auf das Bett zurück und streichelte mit sanften, liebevollen Händen ihre nackte Haut, um Joie aus ihrer sinnlichen Verzauberung in die Realität zurückzuholen.

Sie blinzelte und erhob den Blick zu ihm. »Das war das zweite Mal. Jetzt bin ich schon viel näher daran, in deine Welt überzuwechseln«, murmelte sie und berührte zärtlich sein Gesicht. »Ist dir eigentlich klar, wie wahnsinnig verliebt ich in dich bin, Traian?«

Er wusste sehr gut, was sie ihm damit sagen wollte: dass sie sich voll und ganz auf ihn eingelassen hatte und sich nur noch ein klein wenig davor fürchtete, er könnte es sich mit ihr vielleicht doch noch anders überlegen. Aber wie hätte er ihr, die in einer menschlichen Welt lebte, in der Scheidung zur Lebensweise zu gehören schien, in angemessener Weise das Konzept von Seelengefährten erklären können? Oder dass es für einen Karpatianer schlicht unmöglich wäre, seine Gefährtin zu verlassen?

»Damit bist du nicht allein«, versicherte er ihr. »Ich hatte keine Ahnung, dass Gefühle so stark sein können, doch selbst wenn ich mich umschaue, kann ich nichts anderes sehen als dich, Joie. Du bist wirklich und wahrhaftig das Licht in meiner Dunkelheit.«

Sie schenkte ihm ein zaghaftes kleines Lächeln, bevor sie sich zur Seite drehte und den Kopf auf eine Hand aufstützte. »Dazu kann ich nichts sagen. Aber ich bezweifle, dass meine Geschwister mich je als ›Licht in der Dunkelheit‹ bezeichnen würden.«

»Nun ja, ich nehme an, das liegt daran, dass sie dich nicht so sehen wie ich.«

»Da liegst du richtig.«

Traian seufzte bedauernd. »Doch jetzt muss ich wirklich gehen, Joie. Es ist schon kurz vor Sonnenuntergang, und ich muss mindestens einen der Schlupfwinkel des Meistervampirs finden, bevor er sich erhebt.«

»Hast du eine Ahnung, wo du suchen musst?« Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen die Konturen seines Gesichts und seines Mundes nach, um sie sich in ihrem Herzen und in ihrem Gedächtnis einzuprägen.

»Ich hoffe, dass sie die Höhle inzwischen nicht verlassen haben. Sie waren vorher zwar ganz versessen darauf zu bleiben, aber da hatten wir die Magierfallen ja auch noch nicht entdeckt. Die Höhle ist ein gefährlicher Ort, selbst für die Untoten – oder vielleicht sogar besonders für die Untoten.«

»Versprich mir, dass du sofort Verbindung zu mir aufnimmst, falls du in Schwierigkeiten gerätst«, verlangte Joie mit einem prüfenden Blick in seine Augen.

»Du bist meine Seelengefährtin, Joie. Sollte ich in Schwierigkeiten geraten, wirst du es wissen.« Traian senkte den Kopf, um sie zu küssen. Langsam und zärtlich, als hätte er alle Zeit der Welt, zog er sie zu einem heißen, eindringlichen Kuss an sich, in den er Herz und Seele legte.

Kaum löste er sich von ihr, schluckte Joie, weil sie vor lauter Angst um ihn einen trockenen Mund bekam. Sie setzte sich auf und griff nach einer Decke, wie um Trost darin zu suchen. »Es fällt mir furchtbar schwer, dich allein gehen zu lassen, Traian.«

»Das weiß ich, sivamet – meine Liebste, und du ahnst gar nicht, wie dankbar ich dir für dein Verständnis bin. Ich weiß, dass es dir gegen den Strich geht, mich allein auf die Jagd gehen zu lassen, aber du und deine Geschwister, ihr schwebt hier wirklich in Gefahr. Mir fällt es genauso schwer, dich schutzlos zurückzulassen, obwohl ich mir der drohenden Gefahr bewusst bin. Doch deine Duftspuren sind noch in der Höhle, und die würden den Untoten genügen, um dich aufzuspüren. Denk also nicht einmal eine Sekunde lang, du würdest nicht gejagt.«

»Hier? Mitten im Dorf und umringt von Menschen? Sind sie wirklich derart kühn?«

»Vampire sind äußerst rachsüchtige Kreaturen, und sie machen sich Menschen dienstbar, die ihren Anordnungen Folge leisten. Damit ist jeder ein potenzieller Feind für dich, Joie.«

»Ich muss noch viel über Vampire lernen«, erwiderte sie seufzend. »Meine Ausbildung und beruflichen Erfahrungen scheinen im Umgang mit diesen Bestien nicht allzu viel zu zählen.«

Traian hob mit einer Hand ihr Kinn an und küsste sie erneut. Als er zurücktrat, war er vollständig bekleidet und sah wie ein tadelloser Gentleman, aber irgendwie auch gefährlich aus. »Die Schutzzauber an deiner Tür habe ich entfernt, damit deine Geschwister problemlos hereinkommen können, doch die an deinen Fenstern bleiben. Ich werde so schnell wie möglich wieder bei dir sein.«

Und damit war er auch schon weg. Joie ließ sich aufs Bett zurücksinken und starrte zur Zimmerdecke auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihre Kehle war wie ausgedörrt aus Furcht um ihn. Traian war fort, verschwunden in einer Dunstwolke, die sich vor dem Fenster in die Luft erhob. Die Sonne war noch nicht untergangen, für Joie aber fühlte es sich an, als wäre sie für immer über ihrer Welt erloschen.

Dir darf nichts passieren, flüsterte sie Traian über ihre telepathische Verbindung zu. Ich würde es mir nie verzeihen, dass ich dich allein dort habe hingehen lassen.

Ich sehe schon, dass ich mein Wissen über die Jagd nach Untoten so bald wie möglich an dich weitergeben muss. Es ist wirklich schwer für dich, zurückgelassen zu werden, wenn ich mich in Gefahr begebe. Aber denk an deine Geschwister, Joie. Sie brauchen dich im Moment auch ganz dringend.

Um ihr fast schmerzhaft pochendes Herz zu beruhigen, drückte Joie eine Hand an ihre Brust und atmete tief durch, um sich zu fassen. Ihre Aufregung war nicht nur darauf zurückzuführen, dass Traian allein in den Kampf gezogen war, sondern auch auf ein zunehmend ungutes Gefühl im Magen, das mehr Kummer war als Angst. Hätte sie nicht seinen Geist anrühren können, wäre sie jetzt schon überzeugt gewesen, dass er tot war. Denn gleich hinter ihrer Sorge um ihn lauerte Trauer.

Das sind nur die Folgen unserer geistigen Verbindung. Ich bin bei dir. Fühl mit deinem Geist, wie es ein Karpatianer tun muss. Ich weiß, dass es Zeit braucht, unsere Lebensweise zu erlernen, doch ich kann nicht zulassen, dass du trauerst, obwohl ich wohlauf bin und jederzeit mit dir Kontakt aufnehmen kann.

Fest entschlossen, gegen den wachsenden Kummer anzukämpfen, für den es keinen echten Grund gab, setzte Joie sich wieder auf. Es ist erstaunlich, wie intensiv dieses Gefühl ist. Und es ist ein etwas beängstigender Gedanke, dass Emotionen stärker sein können als Vernunft. Ich weiß, wo du bist, und trotzdem habe ich das überwältigende Verlangen, dich anzufassen – und dich in meinem Kopf zu spüren. Das ergibt doch keinen Sinn, oder?

Diese schier unerträgliche Sehnsucht nach ihm verwirrte sie zutiefst. Joie hielt sich für eine durch und durch vernünftige Frau, und dieses alles beherrschende Gefühl, ein dunkles Grauen, das ihr den gesunden Menschenverstand und ihr logisches Denkvermögen raubte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Entschlossen reckte sie das Kinn und schüttelte den Kopf. Offenbar fanden Veränderungen in ihrem Geist und Körper statt, doch das hieß noch lange nicht, dass sie dieser Anwandlung von Melancholie nachgeben würde.

Ich komme schon zurecht, Traian. Sorg du dich um dich selbst. Ich werde bei Gabrielle und Jubal bleiben, bis du wiederkommst, versicherte sie ihm. Ich bin stark und kann es durchstehen. Mach dir keine Sorgen um mich, pass nur gut auf dich selbst auf!

Bleib auch in Garys Nähe! Er kennt sowohl die Untoten als auch mein Volk.

Joie ließ ihn das geistige Pendant zu einem Augenverdrehen sehen. Ach du meine Güte, Traian! Du wirst dir deine altmodische Einstellung Frauen gegenüber schnellstens abgewöhnen müssen. Wahrscheinlich liegt’s an deinem Alter. Gary ist hier derjenige, der beschützt werden muss. Er ist Wissenschaftler und lebt in einer anderen Welt, genau wie Gabrielle, das kann ich deutlich in ihm sehen. Er ist in einem Labor besser aufgehoben als in einem Kampf gegen Vampire.

Aber er kennt die Verhaltensweise der Untoten und weiß, wie man sie am besten bekämpft. Also halte dich in seiner Nähe.

Joie biss die Zähne zusammen. Sie würde nie die kleine, schwache Frau sein, die sich hinter dem großen, tapferen Mann verbarg. Wenn das die Art von Frau ist, die du willst, hast du dir die Falsche ausgesucht.

Sie spürte den Hauch einer Liebkosung an ihrer Wange, die sachte, federleichte Berührung von Fingern, obwohl Traian schon längst nicht mehr in der Nähe der Pension war.

Ich weiß genau, wer du bist und wozu du fähig bist, Joie. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, als glaubte ich nicht, dass du allein zurechtkommen kannst. Ich weiß, dass du nicht in Panik geraten wirst und dich den Untoten ohne Zögern entgegenstellen wirst. Ich meinte nur, dass du während meiner Abwesenheit vorsichtig sein und in der Nähe des Menschen bleiben sollst, der bei karpatianischen Jägern Erfahrungen gesammelt hat. Das ist doch nur vernünftig, nicht?

Natürlich war es vernünftig. Aber gefallen musste es ihr deswegen noch lange nicht, oder? Und sie wollte auch nicht von ihrem Ärger ablassen, nicht mit diesem seltsamen Kummer über die Trennung, der ihr keine Ruhe ließ.

Du hättest deine archaische Einstellung und Sturheit ruhig erwähnen können, als du vor ein paar Minuten noch so verdammt charmant gewesen bist.

Sein leises Lachen echote durch ihren Kopf. Und du hättest mich warnen können, dass ich es mit einer modernen Frau zu tun habe, die geradezu darauf versessen ist, sich in Gefahr zu begeben.

Sein neckender Tonfall erleichterte Joie und beruhigte sie. Sie holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Warum regte sie sich eigentlich auf? Sie wusste selbst sehr gut, dass Traian ohne sie in seinem Bewusstsein gehen musste, weil die Vampire ihn durch seine Verbindung mit ihr entdecken könnten.

Tu, was du tun musst, und komm wohlbehalten zu mir zurück!

Wieder spürte Joie eine federleichte Berührung an ihrer Wange und legte schnell eine Hand über die Stelle, um etwas von Traian bei sich zu behalten, als er die geistige Verbindung zu ihr abbrach. Sofort ergriff sie wieder ein erstaunliches Verlustgefühl, als läge er tot unter der Erde und eilte nicht in Form von Nebel über den Himmel auf die Höhlen zu. Sie war erstaunt über die Kraft der Empfindung, die ihr Bewusstsein überflutete, sowie er wirklich nicht mehr in geistiger Verbindung zu ihr stand.

Entschlossen, sich von dieser seltsamen Reaktion auf ihre Trennung nicht kleinkriegen zu lassen, ging Joie ins Bad und nahm eine lange, heiße Dusche. Es war fast unmöglich, unter dem herabstürzenden Wasser zu stehen, ohne an Traian zu denken. Aber sie konzentrierte sich darauf, ihn weit genug aus ihren Gedanken zu verbannen, um darüber nachdenken zu können, wie sie ihren Eltern beibringen sollte, dass sie gewissermaßen verheiratet war – und das auch noch mit jemandem, der nicht ganz menschlich war.

Ihr Vater war ein sehr toleranter Mann, der alle Entscheidungen seiner Kinder akzeptierte, ihre Mutter hingegen war schon fast übertrieben beschützerisch und liebte ihre Kinder sehr. Die Familie war ihr Ein und Alles. Es war auch ihre Mutter gewesen, die darauf bestanden hatte, dass alle drei Geschwister schon früh Selbstverteidigungskurse besuchten. Ihr Vater war der Bergsteiger in der Familie und erforschte heute noch die tiefsten Höhlen dieser Welt. Er hatte seine Kinder die Liebe zur Natur gelehrt.

Joie seufzte. Ihre Mutter würde Traian ganz sicher nicht mit offenen Armen willkommen heißen. Sie hatte ein ziemliches Problem mit Alphamännchen und reagierte ungehalten, sowie sie nur den Raum betraten – fast so, als hätte sie einen eingebauten Radar, um sie zu orten. Sie war besonders streng zu Jubal gewesen, als sie alle noch Kinder waren.

Joie merkte plötzlich, dass sie geflüsterte Gespräche in den umliegenden Zimmern hören und sogar Bewegungen im Aufenthaltsraum des Gasthofs wahrnehmen konnte. Es erforderte einige Übung, die Lautstärke zu regulieren, aber sie verringerte sie nicht eher, bis sie ihre Schwester und ihren Bruder über den Gang zu ihrem Zimmer kommen hörte. Das kurze Anklopfen überraschte sie keineswegs, doch das kratzende Geräusch eines Werkzeugs in dem Türschloss schon. Joie erschrak und streckte eine Hand aus der Dusche, um ihre Waffe zu ergreifen, bis sie den Duft ihrer Schwester erkannte, als Gabrielle den Kopf ins Badezimmer steckte.

»Was soll das, du verrücktes Frauenzimmer?«, fuhr Joie sie an. »Hattest du gehofft, einen Blick auf meinen Mann zu erhaschen? Das wäre ein Grund, dich zu erschießen.«

»Ha! Das würdest du doch niemals tun. Und jetzt beeilt euch, ja? Jubal und ich sind es langsam leid, auf euch zu warten. Und ihr solltet auch besser nichts Unanständiges in dieser winzig kleinen Duschkabine anstellen.« Letzteres klang jedoch mehr hoffnungsvoll als streng.

»Wie bist du überhaupt in mein Zimmer gekommen, du Voyeurin?« Mit tödlicher Zielgenauigkeit schleuderte Joie einen nassen Waschlappen nach ihrer Schwester.

Gabrielle kreischte auf, als der Lappen sie mitten im Gesicht traf. »Deine schlechten Angewohnheiten färben auf mich ab, und ich wollte bloß ein bisschen damit angeben«, erwiderte sie nicht ohne Spott. »Du bist nicht die Einzige, die ein Schloss knacken kann. Außerdem meinte Jubal, ich würde mich nicht trauen. Was blieb mir denn anderes übrig?«

»Du hättest dir zumindest den Anschein geben können, diskret zu sein, während ich mit einem Mann beschäftigt bin. Mensch, Gabby, er wird uns noch für einen Haufen Perverse halten. Du musst nicht alle kindischen Herausforderungen Jubals annehmen.«

»Das tust du doch auch«, gab Gabrielle ganz und gar nicht reumütig zurück.

»Er will damit nur Mom verrückt machen«, sagte Joie.

»Bist du allein da drin? Ich frage nur, weil ich keine nackten Körper sehen will.«

Joie rümpfte die Nase. »Und warum stehst du dann da und versuchst, durch den Wasserdampf zu linsen? Ich bin nackt, falls es dich interessiert, aber Traian ist schon zu den Höhlen zurückgekehrt.«

Gabrielle seufzte. »Dich habe ich schon nackt gesehen, und das war nicht besonders aufregend, aber dieser Mann, den du dir geangelt hast, ist einfach umwerfend. Ich weiß nicht, was ich von der Sache mit den Karpatianern halten soll. Er hält sich so gern unter der Erde auf, dass er auch durchaus ein Troll sein könnte. Was willst du eigentlich Mom und Dad erzählen?« Diesmal lag unverhohlene Schadenfreude in Gabrielles Stimme.

»Ich habe schon geübt«, gab Joie zu, als sie, in ein Badetuch gehüllt, aus der Duschkabine kam. »Und dann beschlossen, dass es das Beste ist, sie anzulügen. Komisch, doch ich dachte immer, du zögst hagere, asketische Wissenschaftlertypen vor. Und glaub ja nicht, dass ich nicht gesehen habe, wie du Gary gestern Abend angegafft hast.«

»Ich gaffe nicht.« Gabrielle rümpfte empört die Nase. »Nie. Ich fand ihn nur ganz süß. Und du hast nicht genau genug hingesehen, meine Liebe. Gary ist nicht dünn, er hat jede Menge Muskeln, sie stehen eben nur nicht überall hervor, wie ich es hasse.« Sie seufzte schwer und runzelte die Stirn. »Ich wünschte, ich wäre eines dieser schönen, spindeldürren Models, in die alle Männer sich vergucken. Aber selbst wenn ich mir die Haare blond färben und lernen würde, sie gekonnt über die Schulter zu werfen, würde ich die Kunst des Flirtens wahrscheinlich trotzdem nie beherrschen.«

Joie warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Du bist schön, du dummes Ding. Dein Problem ist nur, dass du verrückt bist. Und falls dieser Mann deinen Wert nicht erkennen kann, ist er nicht so klug, wie du zu glauben scheinst.«

»Ja, ja, bei mir dreht sich alles nur ums Köpfchen, und Gary wird wahnsinnig fasziniert sein von meinem Intellekt und hin und weg von meinem kuscheligen Körper.« Gabrielle verzog das Gesicht und versuchte zu lachen, aber sie sah so aus, als wäre sie den Tränen nahe.

»Was ist denn in dich gefahren, Gabby?«, fragte Joie und trat näher zu ihrer Schwester, die sie bisher nur selten so bedrückt gesehen hatte.

»Ach, es ist nur so, dass ich es jedes Mal vermassele, wenn ich mich wirklich mal zu einem Mann hingezogen fühle. Und das kommt nicht sehr oft vor. Mit den meisten langweile ich mich zu Tode und halte ihre Gesellschaft keine fünf Minuten aus. Doch wenn mal jemand auftaucht, der vernünftig ist, über Themen reden kann, die mich wirklich interessieren, und ich ihn auch noch körperlich attraktiv finde, stehe ich da wie ein Idiot – oder neben dir und Jubal wie die Jungfrau in Nöten, die gerettet werden muss.« Trotzig schob sie das Kinn vor. »Und das bin ich nicht, das weißt du.«

»Natürlich weiß ich das, Gabrielle. Du vergisst, dass Jubal und ich mit dir bergsteigen und in Höhlen gehen. Wir sind mit dir den Amazonas hinuntergefahren und im Regenwald gewesen. Es gibt nichts, was dich erschrecken kann.«

»In der Eishöhle schon.«

»Tja, dann habe ich Neuigkeiten für dich, Schwesterherz. Denkst du etwa, ich hätte mich nicht gefürchtet? Wer es an diesem Ort nicht mit der Angst zu tun bekommt, ist selbstmörderisch und nicht ganz bei Sinnen.«

»Wirklich?«, fragte Gabrielle erstaunt. »Weder du noch Jubal saht so aus, als wärt ihr beinahe ausgeflippt vor Angst wie ich.«

»Natürlich hatten wir Angst. Nur dürfen Bodyguards sich das eben niemals anmerken lassen, und du weißt, wie viel Jubal sich darauf einbildet, dass er nie ausflippt, weil wir ihn bis zum Tage seines Todes damit aufziehen würden – und vielleicht sogar danach noch.« Die beiden Schwestern grinsten sich an. »Hängt Jubal draußen im Schlafzimmer herum? Ich brauche nämlich was zum Anziehen.«

»Ich hol dir etwas Hübsches«, erbot sich Gabrielle und ging.

Dann hörte Joie sie kichern. Wie ungewöhnlich für Gabrielle! Schamlos lauschte Joie der gemurmelten Unterhaltung im Nebenzimmer. Gary hatte sich ihren Geschwistern angeschlossen, sodass nun alle drei in Joies Zimmer saßen. Gabrielle hatte offenbar vergessen, dass sie ihrer Schwester ein paar Kleidungsstücke bringen wollte.

Joie klopfte an die Badezimmertür. »Hallo! Ich störe wirklich nur sehr ungern, doch ich sitze hier splitterfasernackt im Badezimmer fest. Also räumt entweder mein Zimmer oder werft mir was zum Anziehen rein.«

Jubal stöhnte und hielt sich die Augen zu. »Du bist so was von krank, Joie! Erspar mir das Bild! Gary, du solltest mal die Erfahrung machen, mit zwei Schwestern zu leben, die nur darauf aus sind, dich zu quälen. Sie verbünden sich ohne Ende gegen mich, um mir das Leben schwer zu machen.«

Gabrielle warf ihm eine Kusshand zu. »Wir versuchen nur zu verhindern, dass dein Leben außerordentlich stumpfsinnig und abwechslungslos ist.«

»Glaub ihr kein Wort«, warnte Jubal Gary.

Joie fing das Bündel Kleider auf, das ihre Schwester ins Badezimmer warf. »Danke, dass du daran gedacht hast«, zischte sie.

»Hab ich doch«, erwiderte Gabrielle grinsend. »Deine Kleider zu holen erschien mir plötzlich nur nicht mehr so wichtig.«

Du bist wirklich ein Luder!, schimpfte Joie über ihre geistige Verbindung und schloss die Badezimmertür vor dem spitzbübischen Lachen ihrer Schwester. Ich weiß genau, was du vorhast. Der arme Kerl hat keine Ahnung, dass du deine Angel schon nach ihm ausgeworfen hast.

Ich werde ihm einen Liebestrank in seinem Drink verabreichen, versetzte Gabrielle.

Ihre Schwester war nur selten lange deprimiert oder verärgert. Von Natur aus war sie eher optimistisch und hatte ein sonniges Gemüt. Joie merkte, dass sie trotz des unguten Gefühls in der Magengegend lächeln musste. Bei ihrer Familie zu sein war jetzt genau das, was sie brauchte.

Weil sie auf alles vorbereitet sein wollte, zog Joie sich so sorgfältig an, als rüstete sie sich für einen Krieg. Sowohl im Schlafzimmer als auch im Bad hatte sie Waffen versteckt, von denen sie jetzt so viele anlegte, wie sie tragen konnte, ohne damit aufzufallen. Ihre Kleidung war weit genug, um die Waffen zu verbergen, und trotzdem würde sie sich schnell und unbehindert darin bewegen können, falls sie klettern musste oder es zu einem Handgemenge kam.

Gary erhob sich, als Joie ins Zimmer trat. »Guten Abend«, sagte er mit einer angedeuteten Verbeugung, einer Angewohnheit, die er von den Karpatianern übernommen hatte. »Ich nehme an, dass Traian schon gegangen ist? Ich dachte mir, dass er so früh wie möglich aufstehen würde. Es waren Wolken am Himmel, die das Sonnenlicht verdeckten. Um ihre empfindlichen Augen zu schützen, ändern die Karpatianer manchmal sogar das Wetter.« Mit einem Lächeln für Joie fügte er hinzu: »Er möchte, dass ich Sie dazu bringe, heute Abend etwas Saft zu trinken.«

Joie presste eine Hand auf ihren Magen. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte, doch Gabrielle und Jubal werden sicher hungrig sein.«

»Und wie!«, stimmte Jubal sofort zu. »Ich dachte schon, Joie würde ewig schlafen.«

»Sie werden sich an die anderen Zeiten gewöhnen, nach denen sie leben«, versicherte Gary. »Ich arbeite im Labor und vergesse selbst sehr oft die Zeit. Wenn ich bei etwas Vielversprechendem bin, scheine ich keinen Schlaf zu brauchen.«

»Mir geht es genauso. Manchmal blicke ich von der Arbeit auf, und zwei Tage sind verstrichen«, sagte Gabrielle und tauschte ein langes, verstehendes Lächeln mit Gary aus.

»Mann, ich verhungere!«, rief Jubal und warf die Hände in die Luft. »Ich brauche etwas zu essen, und ob du hungrig bist oder nicht, Joie, wir müssen auf jeden Fall zusammenbleiben. Also lasst uns zum Speisesaal hinuntergehen.«

Joie verdrehte die Augen. »Dass du verhungerst, ist für mich keine große Überraschung, Jubal. Ich bin überzeugt, dass du schon ausgehungert zur Welt gekommen bist. Seid ihr bewaffnet?« Joie stieg in ihre Stiefel und schob ein Messer in die innen eingebaute Lederscheide.

Gary zog eine Augenbraue hoch, doch Gabrielle zuckte nur mit den Schultern und sagte schmunzelnd: »Wir sind daran gewöhnt. So ist sie nun mal, unsere Joie.«

»Natürlich bin ich bewaffnet.« Jubals Lächeln verblasste, und er wandte sich mit ernster Miene Gary zu. »Bist du es?«

Ein kleines Schweigen entstand. Gabrielle presste die Lippen zusammen. Joie und Jubal warteten gespannt auf Garys Antwort. Falls er auch nur ein klein wenig an ihrer Schwester interessiert war, wäre es besser für ihn, wenn er sie zu schützen wüsste.

In keinster Weise eingeschüchtert, grinste Gary in die Runde. »Ich trage immer Waffen. Da ich bei den Karpatianern arbeite, bleibt mir gar nichts anderes übrig. Sie schlafen tagsüber, und falls die Untoten menschliche Marionetten losschicken, um ihre Ruheplätze ausfindig zu machen, müssen sie beschützt werden.«

»Na prima«, murmelte Gabrielle. »Wir müssen uns also nicht nur um Vampire sorgen, die uns umbringen wollen, sondern auch noch um andere Monster.«

Gary nickte. »Das ist traurig, aber wahr. Und vergesst nie den Geheimbund menschlicher Vampirjäger, die viele Leute jagen und zum Tode verurteilen, sie foltern und töten. Dies ist ein gefährlicher Teil der Welt, um darin zu leben, deshalb müsst ihr, wenn ihr bleibt, so viel wie möglich darüber lernen, euch jederzeit zu schützen – und grundsätzlich immer nur das Schlimmste erwarten.«

Jubal öffnete die Zimmertür. »Ich brauche mir keine Sorgen mehr über Ghule oder verrückte Vampirjäger zu machen, wenn ich nicht bald etwas esse. Also kommt schon!«, fauchte er seine Schwestern an.

Beide lachten ihn aus, folgten ihm jedoch gehorsam auf den Gang hinaus und die Treppe hinunter.

Gabrielle beugte sich zu Gary vor. »Jubal ist immer so grantig, wenn er Hunger hat«, flüsterte sie so laut, dass ihr Bruder es unmöglich überhören konnte. »Wir nennen ihn heute noch ›Brummbärchen‹.«

Jubal stöhnte. »Nur, damit du es weißt, Gary – schaff dir niemals Schwestern an.«

»Und nur damit du es weißt«, konterte Joie, die wie Jubal den Blick auf die wenigen Leute gerichtet hielt, die sich im Speisesaal befanden. »Du vergötterst deine Schwestern, und jeder weiß das.«

»Ja, das mache ich euch glauben, weil ihr sonst nicht meine Wäsche waschen würdet«, hielt Jubal dem entgegen.

Joie bemerkte, dass Gary genauso aufmerksam und wachsam war wie sie selbst und Jubal. Zum Abendessen gab es ein Buffet, was gut war, weil sich so jeder schnell die Gerichte holen konnte, die er wollte. Während Jubal sich einen großen Teller gesunder Speisen zusammenstellte, begnügte Joie sich mit einem Glas Saft und setzte sich an einen Tisch gleich neben der Tür, um notfalls schnell hinauszukommen.

Sie runzelte die Stirn, als sie sah, wie genussvoll ihre Geschwister aßen, die nach der Tortur in den Eishöhlen die Kalorien brauchten. Ihr dagegen drehte sich schon der Magen um, wenn sie nur an Essen dachte. Sie spürte, dass Gary sie beobachtete, und nahm ihr Glas in die Hand, damit er ihre Geschwister nicht darauf aufmerksam machte, dass sie nichts aß.

»Leben Sie immer hier, Gary?«, fragte sie ihn.

Er nickte. »Die Karpatianer brauchen mich. Meine Arbeit ist sehr wertvoll für sie und überaus befriedigend für mich. Diese Spezies ist zu außergewöhnlich, um sie aussterben zu lassen. Es muss einen Weg geben, das Problem des Geburtenrückganges zu lösen. Glauben Sie mir, Joie, es zerreißt einem das Herz, unter ihnen zu leben, sie kennenzulernen und dann mitansehen zu müssen, wie ihre wenigen Frauen entweder Fehlgeburten erleiden oder ihr kostbares, geliebtes Kind schon kurz nach der Geburt verlieren.«

»Ich kann mir vorstellen, wie schmerzlich das sein muss«, sagte Gabrielle mit aufrichtigem Mitgefühl in der Stimme. »Falls Sie nichts dagegen haben, würde ich mir gern ansehen, woran Sie arbeiten, wenn ich schon einmal hier bin. Vielleicht kann ich ja irgendwie helfen.«

»Normalerweise löschen Karpatianer alle Erinnerungen an eine Begegnung mit einem der ihren«, sagte Gary. »Ich war überrascht, dass Traian das nicht getan hat.«

Jubal blickte auf und machte ein finsteres Gesicht. »Nein, das hat er nicht. Und er braucht auch gar nicht erst auf die Idee zu kommen.«

Joie trat ihn unter dem Tisch. »Er wird euch niemals die Erinnerung nehmen, Jubal. Denn dann würde ich ihn erschießen, und das weiß er. Sei nicht so ein Trottel, Mann.« Als sie sah, dass Gary sie beobachtete, hob sie schnell ihr Glas an die Lippen und trank einen kleinen Schluck daraus. Fast augenblicklich verkrampfte sich ihr Magen, und sie stellte das Glas sehr vorsichtig wieder zurück. »Reisen Sie viel, Gary?«

Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Das wäre zu gefährlich, da ich schon eine ganze Weile auf einer Todesliste stehe. Die Karpatianer beschützen mich, und um ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass ich sowieso viel zu stark auf meine Arbeit fokussiert bin.«

»So geht es mir auch, wenn ich in einem Labor bin. Die Zeit vergeht, und manchmal bin ich dort tagelang, ohne auch nur ein Auge zuzumachen«, pflichtete Gabrielle ihm bei.

Joie konnte den genauen Moment bestimmen, in dem die Sonne unterging. Sie sah zwar nicht die Orange- und Rottöne am Himmel, aber mitten in der angeregten Unterhaltung um sie herum bemerkte sie es plötzlich. Sie spürte auch den jähen Ruck, der durch die Erde ging, als die Vampire sich erhoben, und ihr Herz begann vor Furcht verrücktzuspielen.

Traian! Sie versuchte, eine Verbindung zu ihm herzustellen, indem sie seinen Geist anrührte, und spürte seine sofortige Bestätigung. Er hatte den Schlafplatz der Vampire nicht gefunden. Diesmal hatten sie nicht in der Höhle der Magier Unterschlupf gesucht.

»Joie?« Gabrielle berührte ihre Hand. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Jubal legte die Gabel hin und blickte sich aufmerksam in dem Speisezimmer um. Der Armreif erhitzt sich wieder. Bisher ist er bloß warm, aber das ist kein gutes Zeichen.

Über das Gebäude zog ein dunkler Schatten, der sich so schnell voranbewegte, dass sich für einen Moment absolute Stille über den Speisesaal legte und die Gäste beklommene Blicke wechselten.

Gary reagierte augenblicklich, indem er Gabrielles Handgelenk ergriff und so ruckartig aufsprang, dass sein Stuhl umkippte. »Komm mit, sofort!« Er riss Gabrielle regelrecht vom Stuhl und zog sie mit sich, als er sich hastig einen Weg um die Tische herum bahnte.

Jubal besah sich noch bedauernd sein Essen, als Joie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte. »Es könnte deine letzte Mahlzeit sein, wenn du noch länger trödelst«, warnte sie.

»Es könnte so oder so mein letztes Essen sein«, moserte er. Aber er war immerhin schon aufgesprungen und eilte Gary und Gabrielle nach, wobei er mit einer Hand sein Handgelenk mit dem Armband bedeckte, von dem inzwischen ein schwaches Licht ausging.

Jetzt wird es richtig heiß, informierte er seine Schwestern. Als Nächstes werden die Klingen herausspringen.

»Ruf ihn zurück, Joie!«, rief Gary ihr über die Schulter zu. »Ruf Traian und bring ihn her! Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Joie zögerte keine Sekunde angesichts der Dringlichkeit in Garys Stimme. Traian! Sie sind hier. Die Untoten sind im Gasthof. Gary meint, du müsstest so schnell wie möglich kommen.

Tut, was Gary sagt. Er wird wissen, wie ihr euch zu verhalten habt, bis ich kommen kann. Sie dürfen keinen von euch zu fassen bekommen. Zielt auf das Herz, falls ihr euch verteidigen müsst. Sie sind hervorragende Täuscher und Gestaltwandler.

Traians sachliche Stimme beruhigte Joie. Jubals Armband wird heiß. Beim letzten Mal, als das geschah, sprangen die Klingen heraus. Gary wird sie sehen, es gibt keine Möglichkeit, sie vor ihm zu verbergen.

Wir haben keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen. Ich weiß auch nichts über eure Herkunft, aber ihr seid meine Familie und steht unter meinem Schutz. Das wird er wissen. Sollte irgendein Karpatianer euch bedrohen, weil diese Magierwaffe zu sehen ist, sagt ihr ihnen, dass ihr alle zu mir gehört. Diesmal lag eine stählerne Härte in seiner Stimme.

Gary stieß die Tür zu seinem Zimmer im Erdgeschoss auf, weil es am schnellsten zu erreichen war und eine ausgezeichnete Fluchtmöglichkeit bot, falls sie eine brauchen sollten. »Kommt rein, und stopft alles, was ihr finden könnt, in die Ritzen um die Türen und Fenster!« Er warf Gabrielle schon Hemden zu, als er zu der Tür lief, die auf die Veranda führte. »Wir müssen uns hier drinnen verbarrikadieren. Sie werden versuchen, uns mittels Suggestivkraft aus diesem Zimmer zu locken. Jubal, auf dem Schreibtisch steht ein kleiner CD-Player. Such irgendeine grässliche Musik heraus, und stell sie richtig laut. So laut es geht.«

Joie schloss die Tür hinter sich ab. »Das Schlüsselloch, Gabrielle – verstopf es auch mit irgendwas!« Falls auch Vampire in der Lage waren, in Form von Dunst durch winzige Öffnungen zu schlüpfen, wie sie es bei Traian gesehen hatte, wusste sie nicht, wie sie die Monster draußen halten sollten. »Wieso sind sie hier, Gary?«

»Höchstwahrscheinlich deinetwegen«, antwortete er. »Der sicherste Weg, einen karpatianischen Mann herbeizulocken, ist, seiner Seelengefährtin nachzustellen. Sie werden versuchen, einen von euch dazu zu bringen, sie hereinzulassen. Falls ihr also eine einschmeichelnde Stimme hört, ist es eine Täuschung. Steckt euch Watte in die Ohren und haltet sie euch zu. Tut alles, um nicht zuzuhören. Falls einer von euch einen anderen zur Tür gehen oder sogar reden und jemanden hereinbitten sieht, haltet ihn auf, selbst wenn ihr ihn dazu niederschlagen müsst.«

»Sie sind auf jeden Fall schon hier.« Jubal zog den Ärmel seines Hemdes hinauf, sodass sein magischer Armreif Licht im Zimmer verbreitete. Die todbringenden Klingen traten jetzt nur allzu deutlich in Erscheinung.

Gary schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich werde besser nicht mal fragen, Jubal.«

Schatten tauchten hinter dem Fenster auf und zogen auf und ab, als suchten sie etwas. Der Wind frischte so stark auf, dass die Äste der Bäume mit beängstigendem Knarren gegen die Mauern des Gasthofs schlugen. Dunkle Wolken ballten sich zusammen und bildeten gespenstische Erscheinungen vor dem Mond. Ein Fleck breitete sich am Himmel aus, wo er nach und nach die Sterne auslöschte und auf heimtückische Weise weiterkroch, bis nahezu jedes Licht erloschen war. Der Wind, der heulend gegen die Fenster und die Verandatür schlug, brachte Stimmen mit. Sanfte, raffinierte, honigsüße und verführerische Stimmen. Oder flehende, die um Hilfe riefen. Eine Frau, die direkt vor der Zimmertür zu stehen schien, bettelte um Einlass.

»Joie?« Gabrielle sah ihre Schwester Rat suchend an.

Gary, der neben Gabrielle stand, legte beschützend seinen Arm um sie. »Traian wird bald hier sein. Bis dahin können wir durchhalten.«

Jubal stellte den CD-Player so laut, dass die Musik ihnen in den Ohren dröhnte. Jemand ergriff die Türklinke und rüttelte so hart daran, dass das Holz klapperte und splitterte. Jubal rannte hinüber und stellte sich zwischen die Tür und seine Schwestern. Aber Joie trat neben ihn.

»Gary, bring Gabby hier heraus!«, drängte sie mit wild pochendem Herzen. Jubal hatte eine dieser Bestien mit seinem Armreif getötet. Vielleicht würde es ihm wieder gelingen, hoffte sie und schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel.

»Glaubt mir, im Moment sind wir in diesem Zimmer sicherer als woanders. Und die Gefahr ist geringer, wenn wir zusammenbleiben«, sagte Gary und stellte sich an ihrer Seite auf. »Jubal, du bewachst die Fenster. Falls du irgendetwas siehst, das wie Rauch oder Nebel aussieht und durch eine Ritze einzudringen versucht, musst du sie mit einem Hemd, den Decken oder was auch immer abdichten, damit es draußen bleibt.«

Wieder wurde gegen die Tür geschlagen, hart genug jetzt, um sogar den Rahmen zu erschüttern. Gabrielle presste sich die Hand auf den Mund, um einen entsetzten Schrei zu unterdrücken.

»Ihr könnt nicht herein«, sagte Gary, ohne seine Stimme zu erheben. »Ihr seid nicht eingeladen, und ihr könnt euch keinen Zugang zu diesem Zimmer verschaffen.«

Ein irres Gelächter antwortete ihm. Etwas sehr Schweres polterte dumpf gegen die Tür und übte einen so starken Druck auf das Holz aus, dass es sich nach innen wölbte.