Kapitel fünf

Von lähmendem Entsetzen gepackt und außerstande wegzusehen, erwiderte Joie den Blick der feuerroten Augen, die sie aus dem kleinen dunklen Tümpel anstarrten. Die Augen waren real, sie beobachteten sie und gehörten zu irgendeiner grässlichen Erscheinung, die auf ihre Vernichtung aus war. Noch nie hatte sie so viel Bosheit oder solch abgrundtiefen Hass von irgendeinem Lebewesen ausgehen sehen. Joies Körper rebellierte, ihr wurde richtig übel von dem schieren Bösen, das dem dickflüssigen Schlick innewohnte.

Nach Traians Warnung versuchte sie, sich von dem Anblick loszureißen, aber es war unmöglich, merkte sie. Sie war in dem Blickkontakt mit diesen rot glühenden Augen gefangen und konnte ihn nicht unterbrechen. Ihre Luftröhre verengte sich langsam, als würde sie von einer unsichtbaren Schlinge zusammengedrückt. Instinktiv griff sie sich an die Kehle, als könnte sie unsichtbare Finger von ihrem Nacken lösen. Doch da war nichts. Als weiße Lichtpunkte vor einem schwarzen Hintergrund aufblitzten, begriff Joie, dass sie nur noch kostbare Sekunden hatte, um den unsichtbaren Griff um ihren Hals zu lösen. Sie zückte ihr Messer und schleuderte es in einer impulsiven, von purer Verzweiflung gesteuerten Bewegung in den Tümpel.

Die Klinge bohrte sich tief in das feurige linke Auge. Sofort brodelte das Wasser in einer schwärzlich roten Brühe hoch, und der Griff um ihre Kehle lockerte sich, sodass sie wieder atmen konnte. Ein fürchterliches Heulen erfüllte die Höhle und griff Joies Ohren an. Sie stolperte weg von dem giftigen Tümpel, sog tief Luft in ihre Lunge ein und hustete, als ihre wunde Kehle protestierte.

Die Blasen, die das trübe Wasser warf, schoben sich übereinander und formten eine übel riechende Pyramide. Der Gestank nach faulen Eiern und verdorbenem Fleisch zog durch die Kammer, ein scheußlicher grüner Dampf, der in solch dünnen Schwaden die Luft durchzog, dass Joie Angst hatte, ihn einzuatmen. Die Pyramide wuchs, bis sie etwa doppelt so hoch war wie der Tümpel lang. Dann kippte das Gebilde langsam, und die Blasen verlängerten sich und bildeten groteske Finger. Joie schnappte entsetzt nach Luft, als sie sah, dass diese Verlängerungen winzige Parasiten – Maden oder Würmer – waren, die aus dem Schleim hervortraten.

Erschaudernd wich sie einen Schritt zurück, beobachtete jedoch weiter aufmerksam den Tümpel, obwohl der Anblick ihr den Magen umdrehte. Irgendetwas Furchtbares würde geschehen. Die Geräusche in der Kaverne verstummten, als wartete alles mit angehaltenem Atem ab. Dann erzitterten die Blasen auf groteske Weise, und irgendetwas bewegte sich innerhalb der einzelnen Segmente und drängte an die Oberfläche, um sich zu befreien. Die Pyramide neigte sich in Joies Richtung, und vorsichtshalber trat sie noch einen weiteren Schritt zurück. Ihr Herz donnerte in der Stille, die so allumfassend war, dass selbst das unablässige Tröpfeln des Wassers aufhörte.

Die widerliche dicke Brühe brodelte; die Blasen verbanden sich zu einem unförmigen Klumpen, und was auch immer sich darin befinden mochte, drängte in die eine oder andere Richtung, wodurch die Blasenmasse sich verformte, als würde sie etwas gebären … Und Joie befürchtete sehr, dass es genau das war.

Beeil dich, Traian! Ich meine es ernst. Es gelang ihr nicht, die Furcht aus ihrer Stimme fernzuhalten.

Sie hatte sich schon in so manchen verzweifelten Situationen befunden und war nicht ein einziges Mal in Panik geraten, denn so war sie nicht gestrickt. Aber das hier – dieses Ding da – war definitiv gefährlich, und es hatte es auf sie abgesehen. Die dicke Substanz verzerrte sich nun wieder und brach an einer Stelle auf, unter der ein dünnes Häutchen irgendetwas schützte. Doch schon bohrten sich Zähne in die Membran und rissen sie auseinander. Der Kopf des Organismus schaute jetzt daraus hervor. Dann schlängelte die Kreatur sich aus dem Loch und ließ sich aus dem schleimigen Tümpel auf den vereisten Boden fallen. Winzige Würmer schossen aus der zurückgelassenen Öffnung, und während einige in den dicken Urschleim fielen, krochen andere aufgeregt um das etwa dreißig Zentimeter lange Tier herum.

Joie wollte nichts von alldem berühren, nicht einmal mit ihrer Ausrüstung. Das raupenähnliche Wesen öffnete das Maul, als fauchte es sie an. Seine dolchartigen Zähne sahen aus, als bestünden sie aus Eis, doch diese scharfen, spitzen Zähne waren leider sehr real. Aus zwei Eckzähnen, die krumm waren wie die Sense des Schnitters Tod, tropfte gelbes Gift und formte sich zu Schoten aus dickem, bernsteinfarbenem Schleim.

Wieder trat Joie einen Schritt zurück, um Abstand zwischen sich und das ekelhafte Ding zu bringen, als es näher kroch. Sie überlegte kurz, ob sie darüberspringen sollte, aber der Tümpel vergrößerte sich ständig, und nun schwärmten auch die winzigen Maden über das Eis in ihre Richtung aus.

Wo bist du, Traian?

Auf dem Rückweg.

Selbst die ruhige Zuversicht und Gelassenheit in Traians Stimme halfen nicht. Er würde zu spät kommen. Der seltsame Organismus hatte Joie schon fast erreicht. Sie musste schnell eine Entscheidung treffen. Den Eispickel in der Hand, überlegte sie fieberhaft, welche Körperstelle des Tieres die beste war, um es zu töten. Sollte sie ihm den Schädel spalten oder ihn besser gleich abtrennen? Eins jedoch wusste sie mit absoluter Sicherheit: dass sie nur eine einzige Chance bekommen würde.

Plötzlich warf die Kreatur den Kopf zurück, riss das Maul auf und entblößte die dolchartigen Zähne, die krummen, giftigen Eckzähne und noch mehr dieser gelblichen Schoten, die in seinem Rachen steckten. Für einen Moment starrte Joie in ein bodenloses schwarzes Loch, im nächsten stürzten sechs schlangenähnliche Köpfe auf sie zu, die in einem derartigen Tempo aus dem Maul hervorschossen, dass Joie zurücksprang, um den gefletschten Zähnen zu entgehen. Dabei brach das Eis um den Rand des Abgrunds ab, und sie stürzte ins Leere.

Geistesgegenwärtig schlug sie den Eispickel in die Wand und hielt mit den Armen ihr Gewicht, als sie abrupt zum Halten kam. Nach einem tiefen Atemzug blickte sie sich vorsichtig um. Was unter ihr war, konnte sie nicht erkennen, dazu ging es viel zu tief hinunter, doch an den Wänden des Abgrunds hingen dicke Eiskugeln – kein gutes Zeichen! Da sie noch keine Zeit gehabt hatte, die Steigeisen wieder an ihren Stiefeln zu befestigen, konnte sie auch keinen richtigen Halt an dieser Eiswand finden.

Ich bin in Schwierigkeiten, Traian.

Ein ominöses Scharren über ihrem Kopf schreckte sie auf, und als sie aufblickte, sah sie gerade noch Eis herunterfallen. Zu ihrem Entsetzen regnete es Schneeflocken auf sie herab. In Wahrheit aber waren es widerliche kleine Parasiten, die sich auf ihren Kopf und ihre Schultern fallen ließen. Sie musste sich zwingen, die Beherrschung zu bewahren, um nicht dem Impuls zu erliegen, die Dinger abzuschütteln. Das scharrende Geräusch weiter oben setzte sich fort und wurde jetzt sogar noch lauter. Schnell riskierte Joie einen weiteren Blick hinauf. Die raupenähnliche Kreatur schien sogar noch größer geworden zu sein, denn ihr Maul, das über den Rand hing, sah jetzt riesig aus, und die kalten roten Augen starrten Joie unvermindert böse an. Dann riss das Ding sein Maul weit auf und ließ sie seine scharfen Zähne und die giftigen, krummen Fänge sehen.

Joies Herz setzte einen Schlag aus, bevor es so hart zu pochen begann, dass es ihr schier die Brust zu sprengen drohte. Diese abscheulichen Schlangenköpfe würden sich jetzt jeden Augenblick auf ihr Gesicht stürzen und ihr Bisse zufügen, die sie ganz bestimmt nicht überleben würde. Sie würde ihre Rettungsleine – in diesem Fall ihren Eispickel – mit einer Hand loslassen und nach ihrem Messer greifen müssen. Falls das Ding da oben wirklich schnell war, würde sie nur eine einzige und auch nur sehr geringe Chance haben.

Joie schluckte krampfhaft. Ohne den Blick von den monströsen roten Augen abzuwenden, die mit solcher Bosheit zu ihr hinunterblickten, lockerte sie den Griff um den Eispickel und verlagerte ihr Gewicht auf einen Arm. Da sie praktisch von klein auf schon geklettert war, hatte sie die nötige körperliche Kraft dazu, doch durch die Kälte verlor sie immer mehr an Stärke. Um keinen Angriff des seltsamen Wesens auszulösen, achtete sie darauf, sich so langsam wie möglich zu bewegen, als sie die Finger um den Griff ihres Messers legte und es Zentimeter für Zentimeter aus dem Gürtel zog.

Doch dann drückten starke Arme sie plötzlich an eine harte Brust, und sie konnte Traians angenehmen maskulinen Duft wahrnehmen. Ich habe dich, flüsterte er ihr im Geiste zu.

Joie spürte die elektrisierende Empfindung großer Macht, als Energie sich um sie aufbaute. Erleichtert, aber dennoch außerstande, das Zittern zu beherrschen, das sie durchlief, lehnte sie sich an Traian. Flammen entsprangen seiner Hand, ein Feuerball, der in dem aufgerissenen Maul der Kreatur landete und tief in ihrer Kehle explodierte. Sie stieß einen lang gezogenen, gellenden Schrei aus, der Eiszapfen zersplittern ließ. Wie ein Strom von Lava aus einem Vulkan wurden brennende Parasiten aus der Kreatur herausgeschleudert, die wie Asche auf Joie und Traian niederregneten.

Joie drückte das Gesicht an seine Brust. »Sie sind überall in meinem Haar.«

»Keine Bange, ich befreie dich davon«, beruhigte er sie mit sanfter Stimme. »Durch deinen Helm sind sie nicht an deinen Kopf herangekommen.«

Sie spürte den angenehmen warmen Luftstrom, mit dem Traian sie von dem widerlichen Zeug befreite, das auf sie herabgeregnet war. Der Gedanke an die winzigen Maden, die über ihre Haut krochen, war schlimmer als das Gefühl der unzähligen Grillen, die in der Eisröhre über sie gekrabbelt waren. Joie atmete tief ein, um ihre Lunge mit Luft zu füllen, und zwang sich, die Hand nach ihrem Eispickel auszustrecken, um ihn nicht zurückzulassen.

»Bist du verletzt? Gebissen worden? Sind diese Parasiten unter deine Haut gelangt?«

Sie schüttelte den Kopf, klammerte sich an Traians starken Körper und versuchte nicht einmal zu verbergen, wie schwer das Erlebnis sie erschüttert hatte. Traian bewegte sich so schnell mit ihr durch die Luft, dass die Kälte ihr ins Gesicht biss, ihre Arme lähmte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Schutzsuchend barg sie das Gesicht wieder an Traians Brust und drückte sich ganz fest an die Wärme seines Körpers, um sich ein paar Momente der Erholung zu gönnen, bevor sie ihren Geschwistern gegenübertrat.

»Du lehrst mich, was es bedeutet, Angst zu haben«, bemerkte er.

»Wirklich? Und ich dachte, es sei umgekehrt. Ich glaube nämlich nicht, dass deine Welt die ruhige Umgebung ist, in der eine Frau wie ich sein sollte.« Es beschämte sie, wie ihre Stimme zitterte. »Denn ehrlich gesagt, Traian, ist dies hier ein überaus beängstigender Ort. Und ich bin nicht gerade bekannt dafür, Orte oder Situationen beängstigend zu finden. Deshalb will ich nicht, dass Gabrielle und Jubal mich so sehen. Und es ist mir auch vor dir ein bisschen peinlich.«

»Mutig zu sein bedeutet nicht, keine Angst zu haben.«

»Das ist wahr. Doch es muss ja nicht jeder wissen, dass mir buchstäblich die Knie zittern.«

»Ich bin nicht ›jeder‹, sondern dein Seelengefährte, die andere Hälfte deiner Seele. Wir verbergen unsere Gefühle nicht voreinander. Ich muss immer wissen, wie du dich fühlst oder ob du in irgendeiner Form verletzt bist.«

»Ich weiß nicht, was du damit sagen willst. Und ich verstehe auch nichts von deiner Art zu leben. Was war das vorhin?« Wieder durchlief sie ein Erschaudern. »Ich bin in Höhlen auf der ganzen Welt gewesen, und noch nie ist mir so etwas begegnet wie die Dinge, die wir hier vorfinden.«

»Keine Ahnung, was das war. Ich habe so etwas auch noch niemals gesehen. Ich war auf dem Weg in meine Heimat, als ich den Vampiren begegnete. Dass sie in Rudeln unterwegs waren, war so ungewöhnlich, dass ich mehr über sie herausfinden musste. Dummerweise waren sie in der Überzahl und wurden von drei Meistervampiren angeführt, was eine echte Katastrophe für mich war. Meistervampire sind nämlich sehr alte und erfahrene Vampire, die jüngere dazu benutzen, für sie zu jagen und die Beute zu schwächen und zu zermürben, bevor sie selbst zuschlagen.«

»Beute. Es gefällt mir nicht, wie sich das anhört.« Wieder erschauderte sie heftig. »Übrigens fliegen wir so schnell, dass man meinen sollte, wir hätten die andere Seite längst erreicht.«

»Mit Gabrielle und Jubal dauerte es etwas länger, weil wir jede Menge Fallen entlang des Weges entdeckten, der in einen Tunnel führt. Ich musste deine Geschwister tiefer in den Berg hineinbringen. Wir werden den Eingang bald erreichen, und er ist so schmal, dass es nicht leicht war, deinen Bruder hindurchzubekommen.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Joie öffnete die Augen und sah sich um. Die Brücke wirkte zerbrechlicher denn je, und rechts und links von ihr ging es schier endlos in die Tiefe. Das Eis an beiden Enden der Brücke sah relativ fest aus, aber etwa einen Meter fünfzig vom Rand entfernt konnte sie ein großes Loch im Brückenboden sehen. Joie schnappte entsetzt nach Luft, als sie es entdeckte. »Du hast versucht, sie dort abzusetzen, um mich zu holen.«

»Ja. Dein Bruder fiel hindurch. Zum Glück konnte ich ihn gerade noch am Arm packen und zurückziehen. Das Eis sieht nur so aus, als wäre es dick genug. Es ist eine Illusion wie fast die ganze Brücke.«

Joie schüttelte den Kopf. »Dieses Höhlensystem ist eine einzige große Todesfalle.«

Traian hielt vor dem Eingang zu dem Tunnel, und während er fast unmittelbar über der Schicht Eis schwebte, berührte er zärtlich Joies Gesicht. »Ich kann fast nicht glauben, dass du hergekommen bist, um mich zu suchen. Oder dass du real und nicht nur eine Illusion bist«, sagte er leise. Seine Lippen streiften ihre Wange leicht und sachte wie Schmetterlingsflügel, und trotzdem spürte Joie die Berührung bis in ihre Zehenspitzen. Die kleine Zärtlichkeit ließ das Blut durch ihre Adern rauschen und ihr Herz gleich schneller schlagen, und sie wärmte sie, wie nichts anderes es hier in dieser Eiseskälte könnte.

Joie schloss für einen Moment die Augen und genoss es, Traian so nahe zu sein. »Ich habe keine Ahnung, was zwischen uns abgeht, aber ich spüre es auch. Es fällt mir nur schwer zu glauben, dass irgendetwas davon real ist«, gab sie zu. »Und was ist mit dem Wolf? Telepathie, okay, das kann ich akzeptieren. Selbst deinen komischen kleinen Beißfetisch, aber meinst du nicht, dass es ein bisschen zu weit geht, dich in Tiere zu verwandeln und durch die Luft zu fliegen?« Sie wusste, wie flapsig sie klang, doch sie hatte das Gefühl, sich tatsächlich langsam am Rande des Wahnsinns zu bewegen. Es war, als wäre sie in einem Horrorfilm gefangen.

Traian schloss sie noch fester in die Arme. »Es macht dir keinen Spaß zu fliegen?«

»Mir macht gar nichts Spaß, wenn ich die Situation nicht unter Kontrolle habe.«

Einer seiner Arme, die sie so besitzergreifend umfingen, drückte gegen die Unterseite ihrer Brüste und löste ein wohliges Kribbeln darin aus. »Du wirst die Situation auch nicht beherrschen, wenn ich dich lieben werde, Joie«, erwiderte er leise.

Beim Klang seiner tiefen, weichen Stimme schloss sie die Augen. Sie waren umgeben von Gefahren, ihre Geschwister waren in der Nähe – aber all das schien bedeutungslos zu sein. Sie war sich Traians so stark bewusst, dass sie ein schon fast schmerzhaftes Verlangen nach ihm verspürte. Ein fiebriges Begehren und eine nie gekannte Sehnsucht erfüllten sie. Ihr Körper war aufgewühlt und unruhig, und eine schier unerträgliche Spannung baute sich in ihr auf.

Mir geht es genauso.

Sie hatte sich oft genug mit ihrem Bruder und ihrer Schwester auf telepathischem Weg verständigt, es war ein Geheimnis, dass sie alle teilten. Aber bei Traian war es sehr viel mehr als nur Verständigung. Ihre geistige Verbindung war von einer Intimität, die erotische Nächte und leidenschaftliches Begehren zu verheißen schien. Warum? Warum mit dir?

Weil ich deine andere Hälfte bin und wir zusammengehören. Ich habe die ganze Welt nach dir abgesucht und viele Lebenszeiten auf dich gewartet.

Joie umklammerte sein Hemd noch fester und drückte das Gesicht an Traians Herz. Sie war eine Frau, die sich sehr gut kannte. Sie war ein Adrenalinjunkie. Eine Feministin. Jemand, der an Gerechtigkeit glaubte. Und sie liebte ihr Leben, wie es war – die vielen Reisen von Land zu Land und die gefahrvollen Aufträge, die sie zu erfüllen hatte. Ihre Ferien verbrachte sie mit Höhlenklettern, Wildwasserrafting oder Fallschirmspringen. Sie war keine Frau, die einen Mann wollte oder brauchte, und schon gar keine, die sich an einen klammerte – und dennoch konnte sie sich schon nicht mehr vorstellen, jemals wieder ohne Traian zu sein.

Sie blickte zu ihm auf, sodass das Licht ihrer Helmlampe sein Gesicht erhellte. Er hatte ihr Leben unwiederbringlich verändert. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dich akzeptieren kann.«

Traian lachte. »Zum Glück ist deine Akzeptanz nicht unbedingt vonnöten. Seelengefährten sind Seelengefährten; darin haben wir keine Wahl. Wir sind wie zwei Magneten, die nicht auseinandergerissen werden können.«

»Na toll. Ich weiß nichts über dich, außer, dass ich dich eigentlich nicht mal mit nach Hause nehmen und meinen Eltern vorstellen kann. Und in meiner Familie stehen sich alle sehr, sehr nahe, sollte ich vielleicht hinzufügen.«

»Tatsächlich? Das war mir noch gar nicht aufgefallen«, spöttelte Traian.

Dann brachte er Joie in die schmale Öffnung eines Tunnels, der nach links führte und Traians ursprünglichem Plan entsprach, sich links zu halten, um einen Ausweg aus dem Labyrinth zu finden.

»Du kannst mich ruhig zu deinen Eltern mitnehmen«, sagte er in leisem, aufrichtigem Ton, während er Jubal und Gabrielle durch einen engen Tunnel folgte. »Ich würde dich nie in Verlegenheit bringen oder ihnen Angst einjagen. Und ich möchte sie wirklich sehr gern kennenlernen, denn jeder, der dir wichtig ist, ist es mir auch.«

Joie versuchte, ihr Herz davor zu bewahren durchzudrehen. Sie war kein junges Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau. Kein Mann dürfte eine solche Wirkung auf sie haben, aber Traian hatte sie. Seine Stimme war geprägt von einer Aufrichtigkeit und Offenheit, die sie zutiefst bewegten. Sie wusste so gut wie nichts über ihn, nicht einmal, was er wirklich war, und trotzdem wusste sie schon alles. Wie zum Beispiel, was für eine Art von Mann er war. Es war ein rein instinktives Wissen und das Einzige, dessen sie sich sicher war.

»Wo ist deine Familie?«, fragte sie.

»Ich habe nur mein Volk. Meinen Prinzen.« Traians Augen waren tiefschwarz im sanften Schein der Stirnlampe. »Meine Familie bist jetzt du. Und auch dein Bruder und deine Schwester sind meine Familie geworden.« Er zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. »Und dabei sind wir uns gerade erst begegnet. Für dich muss das ein sehr seltsames Konzept sein, doch für mich ist es etwas vollkommen Natürliches. Seelengefährten sind zwei Personen, die sich begegnen und zusammen sein müssen, zwei Hälften eines Ganzen – in deiner Welt würde man es verheiratet nennen, aber bei uns ist es viel mehr als das. Seine Seelengefährtin zu finden ist etwas, wovon jeder Karpatianer träumt. Er ersehnt es sich heiß, und deswegen kämpft er, um unsere Welt zusammenzuhalten. Doch leider erlangen nur wenige von uns je einen solchen Schatz. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein so weltbewegendes Erlebnis haben würde.«

»Bist du enttäuscht, weil ich nicht bin, was du erwartet hattest?«

Traian senkte den Blick auf sie. »Du verstehst das Konzept von Seelengefährten noch nicht. Ich bin überrascht, ja sogar schockiert von der Vorstellung, eine menschliche Seelengefährtin zu haben, aber enttäuscht? Oh nein, das könnte ich gar nicht sein. Wir sind füreinander geschaffen, Joie. Wir vervollständigen einander. Du bist faszinierend für mich und wirst es immer sein.«

Das hörte sie gern, weil auch sie sich nicht vorstellen konnte, seiner jemals müde zu werden. Sie brauchte das Auffinden und Entdecken neuer Orte, die es zu erforschen galt; es war ebenso lebensnotwendig für sie, wie es das Atmen war. Deshalb konnte sie auch nur mit einem Mann zusammen sein, der Herausforderungen begrüßen würde, und Traian hatte bereits bewiesen, dass er diesen Anforderungen mehr als nur gewachsen war.

Der schmale Gang verbreiterte sich und mündete in eine Kammer, die sich anscheinend zu einer weiteren Galerie erweiterte. Jubal und Gabrielle standen dort mit besorgten Mienen beieinander und warteten auf Joie. Als Traian sie vorsichtig auf festem Boden absetzte, kamen die beiden auf sie zugerannt, umarmten sie stürmisch und drückten sie erleichtert an sich.

»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte Jubal dann. »Ich wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, als wir eine sichere Öffnung suchten und Traian plötzlich so außer sich geriet, wie ich es bei jemandem wie ihm niemals erwartet hätte.«

»Aber er wollte uns nicht sagen, was los war«, fügte Gabrielle mit einem vorwurfsvollen Blick auf den Karpatianer hinzu.

Jubal tastete seine Schwester ab. »Bist du verletzt?«

Joie schüttelte den Kopf. »Nein, doch da drüben war eine scheußliche Kreatur mit Giftzähnen und parasitären Würmern.« Sie schaute ihre Schwester an. »Sie sahen aus wie Maden, nur viel schlimmer.«

Gabrielle wirkte mehr neugierig als erschrocken. »Hast du mir eine Probe mitgebracht?«

»Tut mir leid, aber daran habe ich nicht gedacht«, sagte Joie bedauernd. Nun, da sie der Kreatur entkommen war, konnte sie fast nicht glauben, dass sie keine Probe des Wurmes mitgenommen hatte. Sie alle trugen Behälter für diesen Zweck bei sich. Gabrielle begleitete sie auf ihren Höhlentrips mehr mit der Absicht, Proben zu sammeln, als des Kletterns wegen. Joie hasste es, sie nach allem, was geschehen war, enttäuschen zu müssen. »Ich hätte welche sammeln müssen …«

Gabrielles unerwartetes Lachen klang fast erschreckend laut in der stillen Höhle. »Sei nicht albern! Ich wäre auch um mein Leben gerannt. Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist.«

»Noch sind wir nicht in Sicherheit«, erinnerte Traian sie ernst. Alle fröstelten und schienen es nicht zu merken, doch trotz seiner Hilfe und ihrer speziellen Kleidung setzte die Kälte ihnen zu. »Wir müssen weiter.«

Joie hockte sich sofort hin, um die Steigeisen an ihren Stiefeln zu befestigen. Sie würde nicht wieder riskieren, ohne sie zu sein. »Lasst uns einen Ausweg aus diesen verfluchten Höhlen suchen«, sagte sie, als sie sich wieder erhob.

»Warte, Traian!«, warf Jubal ein. »Wir haben etwas gefunden – etwas wirklich Wichtiges. Du meintest doch, diese Vampire suchten irgendetwas, deshalb musst du dir ansehen, was wir entdeckt haben. Wir haben so etwas noch nie gesehen.«

Traian nahm Joies Hand, als sie ihren Geschwistern durch die Kammer zu der Galerie dahinter folgten. Es erschien ihr ein bisschen albern, Händchen zu halten – das hatte sie noch nie getan, nicht mal auf der Highschool, aber es hatte auch etwas erstaunlich Angenehmes und Beruhigendes, Traian so nahe zu sein.

Durch die Kammer gelangte man zu einer hohen Galerie, in der irgendjemand – oder irgendetwas – Räume und Nischen aus den Eiswänden herausgearbeitet hatte. Lampen schmückten diese Wände, doch sie befanden sich in einer Höhe, die es Traian und den anderen unmöglich machte festzustellen, wie oder ob sie überhaupt noch funktionierten. Joie runzelte die Stirn und blickte fragend zu Traian auf, in der Hoffnung, bei ihm die Antwort darauf zu finden, wie eine Eishöhle von jemandem bewohnt sein konnte. Es musste sehr viel Zeit gekostet haben, die mächtigen Eissäulen und all die Räume und Alkoven anzulegen.

Jubal ging auf eine nicht allzu tiefe Nische in der Wand zu und richtete die Stirnlampe auf das Eis. Eine jähe Stille entstand, als alle den Atem anhielten. Das in dem Eis eingeschlossene Wesen war ein riesiges Tier mit einem keilförmigen Kopf, einem schuppenbedeckten Körper mit schlangengleichem Nacken und einem langen Schwanz, der in einer scharfen Spitze endete. Dazu hatte er dicht am Körper anliegende Schwingen. Seine mächtigen Füße waren mit scharfen Krallen versehen, mit denen das Tier Beute reißen und zerfleischen konnte. Eines seiner Augen war geöffnet und starrte sie durch die mehr als drei Meter dicke Eiswand an, hinter der das Wesen irgendwie verzerrt aussah.

Joie ließ langsam den angehaltenen Atem aus. »Das ist kein Dinosaurier.«

»Es muss einer sein«, entgegnete Gabrielle. »Ein Drache kann es ja wohl nicht sein, oder? Erzählt mir das bitte nicht!« Fragend wandte sie sich Traian zu. »Und sag du mir bitte, dass wir wegen der schlechten Luft hier unten alle Halluzinationen haben. Dass es keine Vampire gibt. Dass du dich nicht in einen Wolf verwandeln kannst und dass Drachen nicht existieren.«

»Ich wünschte, ich könnte dir das sagen, Gabrielle«, erwiderte Traian sanft.

Sie schüttelte den Kopf und berührte mit einer behandschuhten Hand das Eis. »Das Tier ist wirklich schön. Aber das wird uns auch nie jemand glauben.«

»Ist es real, Traian?«, hakte Jubal in respektvollem, ja sogar ehrfürchtigem Ton nach.

»Ja, ist es. Ich hatte keine Ahnung, dass es hier unten ist.« Traian näherte sich der Eiswand und ließ den Blick über den großen Drachen gleiten. Wie Gabrielle legte er eine Hand an die Wand, doch bei ihm hatte die Geste etwas viel Intimeres. Mehr als Respekt und Ehrfurcht schien seine Berührung eine Art liebevoller Tribut an das in dem Eis eingeschlossene Tier zu sein. »Ich habe seit Hunderten von Jahren keinen Drachen mehr gesehen.«

Gabrielle sog scharf die Luft ein und trat von Traian zurück und neben ihren Bruder, als suchte sie bei Jubal Schutz. Sie wechselten einen langen Blick, den der Karpatianer allerdings nicht zu bemerken schien. Joie war einzig auf seinen schon fast andächtigen Gesichtsausdruck konzentriert.

»Denkst du, dass es das ist, was die Vampire suchen?«, fragte sie.

Traian schüttelte den Kopf. »Sie haben kein Interesse an den Überresten eines Drachen. Aber diese Höhle ist auf jeden Fall eine, die von Magiern benutzt wird oder früher einmal benutzt wurde. So viel hatte ich mir schon gedacht. Sie könnte eine wahre Fundgrube an Informationen für unser Volk sein. Magier verfügen über unglaubliche Macht und über ein immenses Wissen. Wahrscheinlich waren sie es, die diesen Drachen gefangen, getötet und konserviert haben. Grundsätzlich ist es so, dass die Drachen-Spezies alle Beweise ihrer Existenz vernichtete.«

»Warum sollten sie ein solch wunderschönes Tier töten?«, wollte Gabrielle wissen.

»Warum töten Menschen große Fledermäuse und Nashörner? Weil sie glauben, dass bestimmte Tiere magische Kräfte haben. Der Drache ist schon lange von dieser Erde verschwunden. Gestaltwandler können zwar seine Form annehmen, doch sie haben nicht die Weisheit und die Macht eines wahren Drachen. Es gibt allerdings eine Linie unseres Geschlechts, die Drachensucher, die nicht nur enorme Macht besitzen, sondern nach Ansicht vieler auch die Weisheit echter Drachen haben. Es heißt, vor langer Zeit habe es einen legendären Drachensucher gegeben, dessen Seelengefährtin ein gestaltwandelnder Drache war. Niemand weiß jedoch, wie wahr diese Geschichte ist.« Traian zuckte mit den Schultern. »Vielleicht stimmt sie ja sogar.«

»Wenn es wahr ist, dass die Magier Drachen wegen ihrer Macht benutzten, wäre es dann nicht vorstellbar, dass Vampire auf die gleiche Idee kommen könnten?«, überlegte Gabrielle.

»Das sollte man meinen«, gab Traian zu. »Und es ist ein schrecklicher Gedanke, dass Vampire etwas von der Macht erlangen könnten, die die Magier hatten. Aber zum Glück wären sie nicht in der Lage, eine solche Macht wie ein echter Drache zu verwenden. Das Talent dazu muss man von Natur aus haben – also schon als Magier auf die Welt gekommen sein.«

»Du bist doch auch zu unglaublichen Dingen fähig«, wandte Joie ein.

»Ich bin erdgeboren, und die Erde gewährt mir gewisse Gaben, doch die Dinge, von denen wir sprechen, sind etwas völlig anderes. Die Macht kann ebenso gut vom Bösen wie vom Guten kommen.«

»Kannst du den Drachen dort herausholen?«, fragte Joie.

»Nicht, ohne möglicherweise Tonnen von Eis auf uns herabzubringen. Das Beste ist, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.« Traian drehte sich um, als Jubal sich von der Wand entfernte und durch die Galerie auf eine Nische zuschlenderte, die mit etwas gefüllt war, das wie knorriges altes Holz aussah.

»Fass nichts an!«, warnte Traian ihn scharf. »Wir müssen äußerst vorsichtig sein. Die Magier benutzten Zauber und Fallen, um ihr Eigentum zu schützen.«

»Das meintest du vorhin also, als du sagtest, die Brücke könnte eine Falle sein. Du dachtest, die Magier hätten sie gemacht«, sagte Jubal.

»Ihr habt gesehen, dass an der Böschung eine Falle war. Das war nichts Natürliches, die Illusion einer soliden Wand aus Eis war viel zu gut. Sie sind Meister in solchen Dingen.«

Gabrielle hob die Hand. »Mensch, wir reden hier über Dinge, die man in Fantasy-Romanen liest! In Legenden, Mythen. Es hat nie einen Beweis dafür gegeben, dass Drachen jemals existierten. Nicht mal, als noch Dinosaurier die Welt durchstreiften. Und trotzdem stehen wir hier vor einem. Wie unwirklich das alles ist!«

»Unwirklich oder nicht, wir müssen hier heraus – aber Vorsicht«, wiederholte Traian.

Er zog Joie dichter an sich heran, weil ihm nur zu gut bewusst war, wie sich die Kälte auf ihre Körper und Gehirne auswirkte. Sie nahm ihnen die Kraft, und im Inneren der Höhle zu sein war sehr desorientierend. Traian konnte jetzt auch den subtilen Einfluss einer Kraft spüren, die ihnen allen zusetzte, um ihre Energie zu erschöpfen und sie in dem Höhlenlabyrinth gefangen zu halten.

»Ich muss diesen Bereich versiegeln, die Vampire verlangsamen und euch aus der Höhle herausbringen«, sagte Traian.

»Ich habe es gar nicht so eilig damit«, erwiderte Joie, die den mächtigen Körper des Drachen betrachtete. »Das hier ist ein Schatz. Es muss noch andere faszinierende Dinge hier unten geben.«

»Ihr werdet gejagt«, entgegnete Traian streng. »Ich bringe euch jetzt sofort hier heraus. Später werde ich dann zurückkehren und suchen, was auch immer die Vampire so dringend haben wollen.«

»Wenn du allein bist«, erriet Joie.

»Wenn ich allein bin«, bestätigte Traian und drängte sie alle auf den schmalen Tunnel zu. »Ihr dürft nichts anfassen, egal, wie interessant es aussieht«, fügte er vorsichtshalber hinzu.

Jubal sah Joie an. »Es sieht dir gar nicht ähnlich, so schnell nachzugeben, Joie. Bist du sicher, dass er dich nicht irgendwie verzaubert hat?« Dann stöhnte er und griff sich an den Kopf. »Gott, wie melodramatisch und absurd das klingt! Ich kann nicht glauben, was ich da gesagt habe.«

»Ich bin eine Expertin, Jubal, und brauche mir nichts zu beweisen. Dies hier ist Traians Fachgebiet, nicht meins.«

Der Gang führte in eine weitere riesige Galerie. Hohe gotische Säulen waren an den Wänden in das Eis geschnitzt. Auch die domartige Decke war ungemein beeindruckend. Eis- und Kristallpfeiler verliefen in zwei langen Reihen durch den Raum, und jede Reihe wies mehrere Kugeln aus verschiedenen Farben auf. Als sie den gewaltigen, ballsaalgroßen Raum betraten, flammten Lichter auf. Flammen tanzten unter von Menschenhand geschaffenem Glas, das an den Seiten der dicken Eiswand hinauflief.

Traian hob warnend eine Hand, damit alle stehen blieben. »Passt auf, wohin ihr eure Füße setzt! Es muss einen Weg geben, der aus dieser Galerie hinausführt. Ein mächtiger Magier hat sich hier niedergelassen, oder zumindest irgendwann einmal, und er muss einen Weg gehabt haben, um schnell herauszukommen. Schwärmt aus und seht euch um, doch fasst um Himmels willen nichts an.«

Wie ihre Geschwister wurde auch Joie wie magnetisch von den beiden Reihen bunter Kugeln angezogen. Sie überquerte das Eis mit Vorsicht und ging, gefolgt von Jubal und Gabrielle, langsam an der Reihe verschieden großer Kugeln entlang. Mit schmalen Augen spähte sie in eine der größten, die aus milchig blauem, natürlichem Saphir bestand. Während sie sie noch bestaunte, vertiefte und verdunkelte sich die Farbe, und die Kugel begann sich mit erschreckender Geschwindigkeit zu drehen. Fasziniert trat sie noch näher. Der Boden unter ihr schwankte und neigte sich, und sie verspürte einen seltsamen Sog, als riefe die wild rotierende Kugel sie.

Traian legte seine Hand über ihre Augen und zog sie von der Kugel weg. »Sieh sie nicht an. Gabrielle, komm weg da!« Eine ungewohnte Strenge lag in seiner sonst so angenehmen Stimme. »Zieh sie weg, Jubal! Ich kann die Aura der Macht all dieser Dinge spüren. Bis wir wissen, worin sie besteht, müssen wir einen großen Bogen darum machen.«

Joie war verblüfft, dass sie so schnell unter den Einfluss der Kugel geraten war. »Ich dachte, Magier wären nicht böse, sondern gut?«

»Absolute Macht verdirbt. Das lernt man in Hunderten von Lebensjahren.« Traian trat dicht an Joie heran und sorgte dafür, dass sein Körper zwischen ihr und den hohen Pfeilern blieb.

Joie lachte. »Lass das nur ja nicht Gabrielle oder Jubal hören! Wenn du ihnen sagst, dass du schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hast, überlegen sie es sich vielleicht noch anders mit uns.«

»Ich habe es schon gehört«, sagte Jubal, der hinter Gabrielle herging und sie durch den langen, großflächigen Raum scheuchte. »Und nach der Sache mit dem Drachen wundert es mich auch kaum noch. Ich finde es einfach bloß erstaunlich.«

Kleine Skulpturen mythischer Wesen aus durchsichtigem Kristall und blutrote steinerne Pyramiden befanden sich in aus der Wand herausgearbeiteten Bögen. Es war äußerst schwierig, die Edelsteine und vielen seltsamen Gegenstände nicht anzustarren, aber Traian war offensichtlich sehr besorgt um ihre Sicherheit, und auch sie waren sich der tödlichen Kreaturen, die sie verfolgten, nur allzu gut bewusst.

»Jubal?«, rief Joie.

Als er sich umdrehte, sah er, dass sie die Stirn runzelte, und auch Gabrielle und Traian starrten ihn verwundert an. »Was ist?«, fragte er.

»In jeder Nische, an der du vorbeigehst, gehen die Lichter an«, erwiderte Traian in argwöhnischem Ton.

Jubal zuckte mit den Schultern. »Vielleicht löse ich irgendeinen verborgenen Mechanismus oder so was aus.«

»Es sind nicht nur die Lichter, Jubal«, sagte Joie. »Auch die Gegenstände auf den Regalen reagieren auf dich. Sie neigen sich dir zu, und einige haben sich sogar erhoben, als versuchten sie, dich zu erreichen.« Ihr gefiel das jähe Misstrauen nicht, das sie in Traians Stimme gehört hatte und über ihre telepathische Verbindung zu ihm spürte.

Ganz bewusst trat er jetzt an eine Nische heran, in der Regale, die voller Waffen waren, die Wände säumten. Kein Licht erhellte den kleinen Raum, der von dem umliegenden Eis fast vollständig verborgen war, und die Waffen bewegten sich erst recht nicht auf ihn zu. Als er sich dessen sicher war, winkte er Jubal zu sich herüber.

Widerstrebend folgte der junge Mann seinem Ruf. Sofort erhellte sich der Alkoven, und die Waffen bewegten sich, als erwachten sie zum Leben. Ein merkwürdig aussehendes Gerät kam sogar von der Wand herab, an der es gehangen hatte. Es war sternförmig und mit gebogenen Klingen bestückt. Diese offensichtliche Waffe, die jedoch trotz allem nicht bedrohlich wirkte, schwebte!« durch die Luft geradewegs auf sie zu.

»Streck die Hand aus!«, befahl Traian Jubal.

»Nein!« Joie stürzte auf ihren Bruder zu, um ihn daran zu hindern.

Aber Traian packte sie, als sie an ihm vorbeieilte, und hielt sie in einem unerbittlichen Griff zurück. »Streck die Hand aus!«, befahl er wieder in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte.

Verwundert gehorchte Jubal. Die seltsame Waffe schwebte zielstrebig auf ihn zu, um sich im letzten Moment zu öffnen, als wäre sie in der Mitte mit einem Scharnier versehen, und um sein Handgelenk zu legen, wo sie sich mit einem leisen Klicken wieder schloss.

Gabrielle schnappte nach Luft und wollte zu ihrem Bruder eilen. Aber Traian hielt auch sie zurück. »Wer bist du?«, fuhr er Jubal an. »Nur ein Magier kann eine solche Waffe beherrschen.«

»Ich bin kein Magier!«, protestierte der junge Mann.

»Wir haben dieselben Eltern!«, fauchte Joie. »Er ist nicht adoptiert – Mom hat ihn zur Welt gebracht, und Dad ist sein Vater. Wenn er ein Magier ist, dann sind wir alle welche.«

»Wie zum Teufel werde ich das Ding jetzt wieder los?«, fragte Jubal und zerrte an dem metallenen Band. »Es ist so leicht, dass ich es fast nicht spüren kann. Und was das Beherrschen dieser Waffe anbelangt – ich habe keine Ahnung, wie das geht.«

»Er ist kein Magier«, wiederholte Joie, riss sich von Traian los und griff mit ihrer rechten Hand nach ihrem Messer.

Traian trat dicht an Jubal heran und nahm seinen Kopf zwischen die Hände, sodass seine Finger Jubals Puls berührten und er über ihr Blutsband seinen Geist mit Jubals verschmelzen lassen konnte.

Der Mann war äußerst intelligent, brillant sogar, aber Traian konnte nichts Maliziöses in ihm finden, keine Spur von Magie oder einer Ausbildung zum Magier

Langsam ließ er den angehaltenen Atem entweichen. »Du kannst das Messer von meinem empfindlichsten Teilen wegnehmen, Joie.« Er konnte die Gedanken seiner Seelengefährtin ebenso mühelos auffangen wie die ihrer Geschwister. Joie liebte ihren Bruder und ihre Schwester, und falls nötig, würde sie ihr eigenes Glück bereitwillig für sie opfern. Hätte er es gewagt, ihrem Bruder etwas anzutun, hätte sie ihn umgebracht.

»Alles in Ordnung, Jubal?«, fragte sie und zog das Messer vorsichtig von Traian zurück.

»Ja. Ich konnte Traian in meinem Bewusstsein spüren, aber ich empfand es nicht als bedrohlich, sondern eher als beruhigend. Was auch immer der Grund sein mag, dieser Ort reagiert auf mich – und ich habe keine Ahnung, warum es so ist. Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, was hier in dieser verfluchten Höhle vorgeht.«

Gabrielle schüttelte den Kopf. »Er hätte Jubal umbringen können. Bist du sicher, Joie, dass du mit diesem Mann etwas zu tun haben willst? Ich meine, wir kennen ihn doch gar nicht.«

Joie spürte das Besitzergreifende in Traians Berührung und seine Präsenz in ihrem Geist. Sie ergriff Gabrielles Hand und blickte gleichzeitig mit einem beruhigenden Lächeln zu Traian auf.

»Ich kenne ihn. Tief im Innern kenne ich ihn. Und das einzig Wichtige für mich ist die Familie. Ich hoffe, dass ich das Richtige tue, Gabrielle. Du weißt, dass ich mich immer auf meinen Instinkt verlassen habe, und diesmal spüre ich, dass das hier richtig ist – dass er der Richtige für mich ist. Ich verstehe zwar nichts von alldem, aber vielleicht habe ich mich mein Leben lang schon auf ihn vorbereitet. Ich passe zu ihm. Du hast recht, ich kenne ihn kaum, doch ich weiß, dass ich zu ihm passe.« Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und verschmierte Staub darauf. »Dass er so etwas wie das einzig Wahre für mich ist.«

Jubal stöhnte. »Ich hätte nie gedacht, dass du mal so gefühlsduselig werden könntest, Joie«, sagte er und legte einen Arm um Gabrielles Schultern. »Er ist schon in Ordnung, Liebes. Komisch, aber in Ordnung.«

Gabrielle wechselte einen langen Blick mit Jubal und wandte sich dann an Joie. »Nun ja, ich schätze mal, dass dein Leben mit ihm zumindest nie langweilig werden wird.«

»Ihr Mädchen habt mir schon graue Haare beschert«, sagte Jubal. »Ich werde es nicht überleben, auch noch Traian um mich haben und mitansehen zu müssen, wie er den Mond anheult und Joie in den Nacken beißt. Und damit eins klar ist, Traian – halte dich nur ja von meinem Hals fern! Dass eine Frau mich beißt, könnte womöglich sogar reizvoll sein – abartig vielleicht, doch ich könnte damit umgehen. Aber dass ein Mann an mir saugt, kommt nicht infrage. Das törnt mich überhaupt nicht an«, erklärte er trocken.

»Au. Das tut weh, Jubal. Und dabei hatte ich mich doch schon auf einen kleinen Snack gefreut«, scherzte Traian und senkte den Kopf, um mit dem Kinn über Joies Kopf zu streichen. Er musste sie berühren, sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie real war. Selbst als sie sich auf telepathischem Weg miteinander verständigt hatten, als er den Höhlenkomplex abgesucht hatte, um herauszufinden, woran die Vampire so wahnsinnig interessiert waren, hatte er angenommen, sie sei nur ein Produkt seiner überreizten Fantasie.

Gabrielle schaffte es, sich zu einem Grinsen durchzuringen. »Na ja, zumindest passt er zu unserer komischen Familie, Joie. Ich kann es kaum erwarten, Moms und Dads Reaktion auf ihn zu sehen.«

Jubal berührte die Waffe an seinem Handgelenk. »Glaubt ihr, dass die Vampire mich mit diesem Ding am Arm aufspüren können?«

»Da wir nicht wissen, wie wir es abnehmen können, ohne dir den Arm abzuhacken«, meinte Traian, »werden wir das wohl riskieren müssen.«

Ein dumpfes Dröhnen erschütterte das Netzwerk von Kavernen.

»Lauft!«, befahl Traian schnell. »Durch diese linke Kammer dort!«

Er verließ sich jetzt nur noch auf seine Instinkte, als er die Geschwister durch die schmalen Gänge scheuchte, die in eine Kammer nach der anderen mündeten. Schließlich gelangten sie durch ein Labyrinth von Gängen in einen weiteren sehr großen Raum, der auch wieder mit diesem merkwürdigen Lichtsystem versehen war. Hier liefen sie von einer Wand zur anderen und untersuchten sie, aber alle schienen aus solidem Eis zu sein.

»Es muss einen Ausweg geben«, beharrte Traian. »Magier können weder ihre Gestalt wandeln noch fliegen. Sie sind fast so menschlich wie ihr, nur leben sie viel länger und besitzen die Fähigkeit, Elemente miteinander zu verweben und sie sich zunutze zu machen. Es muss eine Öffnung geben, die an die Oberfläche führt. Seht euch nach etwas um, das irgendwie befremdlich wirkt. Es muss einen Tunnel geben, der zum Eingang hinaufführt.«

»Er ist hier«, sagte Jubal. »Ich kann es spüren.«

»Wie bei den Felsen vor der Höhle, bei denen du sofort gewusst hast, dass das Muster ganz verkehrt war«, stellte Joie fest. »Du kennst dich aus mit Mustern, Jubal. Also such die Öffnung, und beeil dich bitte. Jubal ist in unserer Familie für sein mathematisches Gehirn bekannt«, sagte sie zu Traian. »Er kann in fast allem ein Muster erkennen. Und damit verdient er übrigens auch sein Geld.«

Plötzlich konnten sie ein Kratzen hören, ein unheilvolles, schreckliches Geräusch, das von der Akustik des hohen, weiten Raumes noch verstärkt wurde. Es hörte sich an, als scharrten und buddelten sich riesige Krallen durch die Erde, um an sie heranzukommen. Die vier verteilten sich, gingen wieder an der Wand entlang und untersuchten sorgsam alle Oberflächen. Die ganze Zeit über konnten sie jedoch die sich blindwütig durch Schmutz und Eis hindurchgrabenden Vampire hören. Die Geräusche wurden lauter, kamen näher, und Traian fiel zurück und blieb vor der Wand stehen, aus der die Kreaturen mit ziemlicher Sicherheit hervorkommen würden.

»Ich hab’s!«, rief Jubal triumphierend. »Wir dachten, wir müssten über unseren Köpfen suchen, doch der Ausgang ist hier unten auf dem Boden. Siehst du dieses Muster, Joie?«, fragte er und zeigte auf den Boden.

»Öffne ihn«, sagte Traian knapp, ohne hinzusehen, weil seine ganze Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Wand gerichtet war.

Jubal sah sich die Rechtecke, Pyramiden und sternförmigen Muster in dem Stein unter der schmutzigen Schicht Eis genauer an. In der Mitte eines jeden Symbols befanden sich Hieroglyphen oder in den Stein geschnitzte Bilder. Er ließ sich Zeit und trat auf verschiedene, die er vorher sehr sorgfältig auswählte, und folgte so dem Muster, das er vor sich sehen konnte.

Endlich glitt eine große Steinplatte beiseite und gab ins Eis geschlagene Stufen frei. Jubal zögerte. »Bist du sicher, dass das der Weg ist?«

»Er muss es sein«, antwortete Traian. »Nimm deine Schwestern und geh!«

Jubal blieb jedoch vorsichtig und leuchtete zunächst einmal mit seiner Lampe die dunkle Treppe ab. Die Stufen schienen eine Art Brücke über einen tiefen dunklen Abgrund zu bilden. »Es ist eine weitere Brücke, Traian. Aber können wir uns darauf verlassen, dass es keine Falle ist?«

»Euch bleibt nichts anderes übrig. Es muss der Ausgang der Magier gewesen sein.«

Jubal holte tief Luft und trat auf die erste Stufe, merkte, dass sie fest war, und streckte die Hand aus, um Gabrielle zu helfen. »Beeil dich, Joie.«

»Komm mit uns, Traian!«, bat sie.

Wasser rauschte in einem trüben dunklen Strom von der Wand herab, und Insekten schwärmten in die Galerie. Die Wand zu Traians Linker fiel in einem Sturzbach dunklen Schlamms zusammen.

Zwei scheußliche Kreaturen, die in der kristallenen Vollkommenheit des Raumes völlig fehl am Platze wirkten, plumpsten auf den Boden der Kammer. Ihre ausgemergelten Körper waren von oben bis unten mit schwarzem Schlamm bedeckt, und sie starrten Traian hasserfüllt aus roten Augen an und fletschten ihre gezackten, scharfen Zähne.