Kapitel sieben

Die Nachtluft war kühl, sauber und so frisch, dass Joie sie tief in ihre Lunge sog. Ihre Furcht verflüchtigte sich jetzt, da sie draußen im Freien war und wusste, dass ihre Geschwister sich in Sicherheit befanden. Sie nahm den Helm ab, um sich den frischen Wind durchs Haar wehen zu lassen, streckte die Arme zum Mond am Himmel aus und lachte leise. »Ich liebe die Nacht. Ich liebe alles daran. Egal, ob sie stürmisch ist oder nicht.«

Sie wandte den Kopf, um Traian anzusehen. Sein Gesicht war im Schein des Mondes von klassischer Schönheit. »Wie ein griechischer Gott«, murmelte sie, erstaunt über die Tiefe und Stärke ihrer Gefühle und ihre innige Verbundenheit mit ihm. Sein Haar fiel ihm wie glänzende schwarze Seide auf die Schultern, und er hatte nicht einmal den kleinsten Schmutzfleck im Gesicht. Auch alle Blutspuren waren von seiner Brust verschwunden, sodass nur noch die frischen Schnittwunden in seinem Fleisch zu sehen waren.

Kopfschüttelnd trat Joie zurück, um Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. Sie brauchte Raum, um ihr seelisches Gleichgewicht zu finden. »Schönen Dank auch, dass du mich nass und verschmutzt hier stehen lässt, während du dich schon herausgeputzt und hübsch gemacht hast. Ich werde nicht mal fragen, wie du das zustande gebracht hast.«

Seine Zähne blitzten im Mondschein, als er wieder ein Lächeln aufsetzte, das mehr das eines Wolfes als das eines Mannes war. »Ich habe meine kleinen Geheimnisse. Aber du zitterst ja. Gib mir deine Ausrüstung und nimm diese Jacke«, sagte er und hüllte sie in die Wärme eines Jacketts ein.

Joie beschloss, ihn weder zu fragen, woher er die Jacke hatte, noch wie er sich gesäubert hatte. »Wie hast du den Weg ins Freie gefunden? Ich konnte überhaupt nichts sehen.« Sie setzte sich, weil sie plötzlich unerträglich müde war und den Erdboden unter sich fühlen wollte. Traian hatte ihr ganzes Leben im Handumdrehen verändert, und sie wollte nicht allzu viel über die bizarre Welt nachdenken, in der er lebte.

»Es gibt Anzeichen, wenn man weiß, wonach man suchen muss. In früheren Zeiten waren Karpatianer und Magier keine Feinde. Wir lebten nebeneinanderher und profitierten von den Vorzügen beider Rassen. Oft benutzten wir auch die gleichen Glyphen. Und genau die sah ich, als wir durch die Gänge liefen. In jenen alten Zeiten arbeiteten und studierten wir zusammen, waren Freunde und Verbündete und teilten auch unser Wissen miteinander.«

»Und wodurch veränderte sich das alles?«

Traian seufzte. »Magier sind sehr langlebig, aber nicht unsterblich. Wir Karpatianer können getötet werden, doch es ist nicht einfach. Der große Magier Xavier, dem wir alle vertrauten und an den wir glaubten – er unterrichtete unsere begabteren Kinder in den Künsten …«

»Begabter, als du es bist?«, warf Joie mit erhobener Augenbraue ein. »Du kannst doch beinahe alles. Wie viel begabter können eure Kinder denn noch sein?«

Statt zu lächeln, machte er ein trauriges Gesicht. »Wir haben keine Kinder mehr. Unsere Spezies ist im Aussterben begriffen. Wir haben kaum noch Frauen, und unsere Kinder überleben oft nicht. Was für Schätze uns verloren gingen!« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Netzwerk von Höhlen könnte sehr gut einmal Xavier gehört haben, und es ist möglich, dass einer seiner Nachkommen sie jetzt benutzt – wenn er nicht sogar selbst noch am Leben ist.«

»Ich kann Abscheu und Verachtung in deiner Stimme hören.«

»Weil Xavier die Freundschaft unseres Volkes verraten hat und einen Krieg anzettelte, der jahrhundertelang dauerte und unsere beiden Völker zugrunde richtete.«

Joie blickte zu ihm auf. Es war kein Hass in seinem Gesicht, nur Kummer, der ihn mit tiefer Traurigkeit erfüllte. Für sie war Traian ein sehr gut aussehender Mann, zeitlos, elegant und kultiviert, eine Art ehrenhafter Krieger. Die Linien in seinem Gesicht machten ihn in ihren Augen nur noch attraktiver. »Das tut mir schrecklich leid, Traian«, sagte sie leise, weil sie sich nicht einmal eine Vorstellung davon machen konnte, wie sein Leben war.

Traian hockte sich neben sie und berührte sanft ihr Kinn. »Lass mich dich zu dem Gasthof zurückbringen, in dem ihr abgestiegen seid. Du bist müde und hungrig und möchtest sicher duschen. Außerdem bist du sehr besorgt um deinen Bruder und deine Schwester. Aber das ist nicht nötig. Ich habe Jubal schon gesagt, dass wir außer Gefahr sind, und sie warten in der gemütlichen Wärme der Pension auf dich.«

»Danke, Traian. Ich weiß, sie sind in Sicherheit, doch nach allem, was geschehen ist, muss ich sie sehen und anfassen, um mich selbst davon zu überzeugen. Ich weiß, dass beide erfahrene Kletterer sind und niemals in Panik geraten, doch wir hatten es ja auch noch nie …«, sie brach ab und schwenkte die Hände, »… mit Vampiren und Fallen zu tun«, schloss sie und schlug für einen Moment die Hände vors Gesicht. »Wie verrückt das alles klingt! Die Welt hat keine Ahnung, dass es diese Dinge wirklich gibt. Es ist verrückt.«

»Und sie darf es auch nicht wissen. Im Laufe der Jahrhunderte kam es immer wieder vor, dass eine Gesellschaft Alarm schlug und eine massive Hexenjagd begann. Das kann auch heute noch geschehen, und dann bringen sie jeden um, den sie verdächtigen, Menschen, Karpatianer oder einfach nur Leute, die sie nicht mögen. Soweit ich weiß, haben sie es bisher jedoch noch nie geschafft, einen Vampir wirklich zu töten.«

Joie warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Du willst, dass wir niemandem etwas erzählen?«

»Wir kümmern uns um das Problem«, sagte er, »wie wir es jahrhundertelang getan haben.«

Joie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und strich es sich aus dem Gesicht. »Ich bin müde, Traian. Mir ist, als könnte ich einen ganzen Monat schlafen.«

Er zog sie hoch, nahm sie so mühelos auf die Arme, als wäre sie ein Kind, und drückte sie an seine Brust.

Joie lachte laut heraus. »Wie altmodisch! Mann trägt kleine Frau über den Berg. Oh, wie demütigend das alles ist!«, stöhnte sie, schlang die Arme aber sogar noch fester um seinen Nacken, damit er gar nicht erst auf den Gedanken kam, sie abzusetzen. Dann legte sie den Kopf zurück und ließ den Blick über den dunklen Himmel gleiten. »Ich kann dir nur raten, keiner Menschenseele zu erzählen, dass ich dir erlaubt habe, mich zu tragen. Sonst müsste ich dir nämlich wehtun. Das wollte ich nur klarstellen. Du wirst kein Wort darüber verlieren, hörst du?«

Traian schaute auf ihr Gesicht herab. Sie versuchte, tapfer zu sein, obwohl sie offensichtlich vollkommen erschöpft war. Er wollte sie küssen. Plötzlich erschien es ihm noch dringender als alles andere, den Kopf zu senken und Joies Mund mit seinem zu bedecken. Nur für einen kleinen Vorgeschmack von ihr. Um seinen Anspruch geltend zu machen. »Und wie denkst du übers Küssen?«

Joies Blick glitt zu seinem Mund und der sinnlichen Verheißung seiner schön geschnittenen Lippen. »Ich werde es mir überlegen«, versprach sie. »Wenn ich mich jetzt von dir küssen lasse, werde ich nicht mehr aufhören können und vor Wonne buchstäblich zerfließen. Das kenne ich nämlich schon, und es ist mir furchtbar peinlich. Mehr noch, als herumgetragen zu werden, als wäre ich ein zerbrechliches, schwaches Bündel Frau.«

»Kann sein. Doch wäre es das nicht wert?«, gab er völlig ernsthaft zu bedenken.

Joie seufzte und legte die Hand an sein Gesicht, um mit den Fingerspitzen seine sündhaft schönen Lippen nachzustreichen. »Ja. Aber ich muss auch noch etwas anderes bedenken, Traian.« Nun war sie es, deren Stimme ernst wurde, als sie ihm in die Augen sah. »Ich würde geradezu süchtig nach dir werden. Und dann könnte ich dich nicht mehr aus meinen Gedanken verbannen und würde heulen, wenn wir uns trennen müssen. Und wegen irgendeines verrückten Mannes zu weinen ist mehr, als ich ertragen könnte. Verstehst du, wie kompliziert das alles für mich ist?«

Traians Herz zog sich zusammen. »Ich verstehe schon, dass es ein Problem sein könnte, wenn wir uns je trennen müssten, doch da wir Seelengefährten sind und keine andere Wahl haben, als zusammen zu sein, halte ich das nicht für so wichtig. Im Gegenteil. Unter den gegebenen Umständen wäre es sogar von Vorteil, wenn du süchtig wärst nach meinen Küssen.« Er konnte sich nicht verkneifen, den Kopf zu senken und ihren Finger in die Wärme seines Mundes zu nehmen.

»Siehst du? Die Sache mit den Seelengefährten ist ein Teil meines Problems, weil ich nämlich eine Frau bin, die ihr Schicksal selbst bestimmen will. Ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin, eine Seelengefährtin zu sein, falls das eine Beziehung mit sich bringt, die sein muss. Ich bin die Art von Frau, die eine Beziehung wollen muss, und das ist ein großer Unterschied.«

»Nein, das ist gut, Joie. Ich sehe da überhaupt keine Probleme, weil es so offensichtlich ist, dass wir sehr ähnlich denken. Ich bin auch ein Mann, der etwas wollen muss, um es zu tun – und jetzt will ich dich küssen«, erklärte er mit einem mutwilligen Grinsen, dem sie unmöglich widerstehen konnte. Und wer wollte das auch schon? Als sein Mund sich auf den ihren senkte, hob Joie ihr Gesicht, um ihm entgegenzukommen – weil dieser Kuss ihre eigene Entscheidung war und Traian das wissen sollte.

Ihre Lippen waren weich und nachgiebig, und sie öffneten sich sogar unter den seinen. Nach all den Jahrhunderten des Alleinseins hatte Traian das Gefühl, endlich heimgekommen zu sein. Egal, wo sie waren oder in wessen Welt sie sich befanden, diese Frau würde immer sein Zuhause sein. Die Erde hörte auf, sich zu drehen, wie er es erwartet hatte, und ein wahres Feuerwerk von Sternen regnete auf sie herab. Die in seinen Lenden schwelende Glut loderte auf und brachte sein Blut zum Kochen. Sein Körper kannte diese Frau schon fast so gut wie seine Seele, obwohl sie noch nicht intim miteinander gewesen waren.

Joie konnte nicht mehr denken und nicht mehr atmen, und sie vergaß, ob es Tag war oder Nacht. Es war unmöglich, ihr Gehirn zum Arbeiten zu bringen; sie konnte nur noch fühlen. Durch nichts war sie auf die Spannung vorbereitet, die sich so rasend schnell in ihrem Körper aufbaute, oder die Hitze, die in ihr aufstieg, ihre Haut zum Prickeln brachte und ein Inferno tief in ihrem Innersten erzeugte. Eine nahezu unerträgliche sinnliche Anspannung, wie eine Feder, die zu bersten drohte. Ihre Brüste wurden schwer und schmerzten vor Verlangen. Ihre Finger glitten zu Traians seidigem Haar und schlossen sich um die langen Strähnen.

»Du dürftest mir gar nicht so nahegehen«, flüsterte sie an seinen Lippen. »Ich lasse niemanden so nahe an mich heran.«

»Wir sind Seelengefährten«, erwiderte er schlicht. »Ich bin schon in dir.« Immer wieder ergriff sein Mund Besitz von ihrem, und die langen, berauschenden Küsse erschütterten sie beide bis ins Mark.

»Es muss der Gefahrenfaktor sein«, sagte sie. »Das ist die einzig logische Erklärung.«

»Was ist Logik? Ich kann mich nicht erinnern.« Er konnte einfach nicht genug von ihr bekommen. Der Schmutz an ihrem Gesicht übertrug sich auf das seine, ihre noch nassen Kleider durchnässten auch die seinen, und seine Wunden brannten, aber er spürte kaum den Schmerz, weil sein Körper so hart und heiß war vor Verlangen.

Seine raue, besitzergreifende und überaus verführerische Stimme ging ihr durch und durch. Es war Joie, die den Kuss schließlich beendete, Traians Gesicht zwischen ihre Hände nahm und die Stirn an seine legte. »Ich brauche eine Minute, um Luft zu schöpfen. Ich kann nicht atmen, nicht denken oder irgendetwas anderes wollen als dich.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Sagst du das, damit ich aufhöre?«

Ihr Blick glitt prüfend über sein Gesicht, und er konnte die Verwirrung sehen, die in ihren schönen grauen Augen stand. »Warum fühle ich mich so, wie ich mich fühle, Traian? Kannst du das verstehen? Ich bin nicht der Typ, der sich so schnell auf eine Beziehung einlässt. Aber das Einzige, woran ich denken kann, ist, Sex mit dir zu haben. Wilden, hemmungslosen Sex. Ich bin schmutzig, erschöpft und besorgt um meine Familie – doch ich will nichts anderes, als dich in mir zu spüren.«

Traian lächelte noch breiter. »Ich glaube, dich zu küssen war die beste Idee, die ich je hatte.«

Sie konnte gar nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. Er machte sie in einer Weise glücklich, wie sie es noch nie zuvor gewesen war – und ließ sie sich vollständiger fühlen. Dabei hatte sie nicht einmal gewusst, dass ihr etwas fehlte. »Warum gerade du? Du bist nicht einmal menschlich, Traian.« Sie verzog ein wenig das Gesicht. »Du komplizierst mein Leben, weißt du.«

»Deine ganze Familie hat telepathische Fähigkeiten. Bist du sicher, dass du ein Mensch bist?«

Sie schüttete sich fast aus vor Lachen. »Bitte frag das nur ja nie meinen Vater! Er ist unmöglich und wird dir irgendeine schreckliche und völlig unwahre Geschichte erzählen, die uns alle sehr beschämen wird.«

Ihr liebevoller Tonfall verriet Traian jedoch, dass die verrückten Geschichten ihres Vaters sie nie wirklich beschämten und sie ihren Dad von ganzem Herzen liebte. »Das gibt mir Hoffnung, Joie. Zumindest weiß ich, dass du vorhast, mich deinen Eltern vorzustellen, auch wenn die Liste dessen, was ich tun und lassen soll, immer länger wird. Ich frage nur aus Neugier, doch drehten die verrückten Geschichten deines Vaters sich je um Drachen oder Magier?«

»Aber sicher. Als wir Kinder waren, erzählte er uns immer Märchen, und die Magier darin waren Zauberer mit hohen Hüten, die alle möglichen Zaubersprüche ersannen.«

»Waren es gute oder böse Zauberer?«, hakte Traian nach.

»Sowohl als auch natürlich. Was ist ein gutes Märchen ohne Gut und Böse?« Sie erhob wieder das Gesicht zu ihm. »Glaubst du, ich wüsste nicht, worauf du damit hinauswillst? Alle Eltern erzählen ihren Kindern Märchen. Mein Vater ist ein unbestrittenes Genie und besitzt wie mein Bruder Jubal ein überdurchschnittliches Talent für Zahlen und Muster. Gabrielle hat eine Menge davon mitbekommen. Sie ist Forscherin und arbeitet mit gefährlichen Viren. Sie hat wirklich schon unheimlich viel Gutes bewirkt, indem sie Stränge entschlüsselte und mögliche Wege fand, die Viren zu bekämpfen. Aber wir sind durch und durch menschlich. Wir wurden in Krankenhäusern geboren, gehen regelmäßig zur Untersuchung zu Ärzten, zahlen Steuern und ernähren uns von richtigem Essen.«

»Ich zweifle nicht daran, dass es so ist. Das beweist jedoch nicht, dass dein Vater kein Magier ist. Wir fügen uns sehr gut in die Gesellschaft ein, und Magier können das noch viel besser als wir Karpatianer. Sie schlafen nicht in der Erde und ernähren sich auch nicht von Blut.«

Joie blinzelte ihn verwundert an. »Du schläfst unter der Erde?«

»In der Erde. Sie verjüngt uns.«

Joie schloss die Augen. »Oh Gott. Ich weiß nicht mal, was ich dazu sagen soll.«

Er senkte den Kopf, um ihr schnell noch einen Kuss zu stehlen. »Dann halt dich fest, denn jetzt fliegen wir los.«

Sie gab einen Laut von sich, der wie ein ersticktes Lachen klang, doch ihre Lippen wurden weich und nachgiebig und erwiderten den Kuss. Für einen Moment gönnte Traian sich das Vergnügen, sie zu küssen, weil ihr Mund so ein süßer, warmer Zufluchtsort war, in dem er sich verlieren könnte. Als er schließlich den Kopf hob, sah sie ein klein wenig benommen aus.

Traian lächelte sie an. »Du bist sehr tapfer.«

»Du schummelst. Und ich bin nicht tapfer. Hast du noch nie daran gedacht, dass ich Angst vorm Fliegen haben könnte?«

»Als ich dich zum ersten Mal sah, warst du auf einer Astralreise«, widersprach er.

»Ich dachte, ich stünde unter Drogen«, gab sie zu. »Ich hatte mit Astralreisen herumexperimentiert, aber ich glaubte nie wirklich, dass es mir gelingen könnte. An jenem Tag nahm ich an, ich hätte mich nur irgendwie selbst hypnotisiert. Ich wäre nie so offen zu dir gewesen, wenn ich dich für real gehalten hätte.« Joie legte den Kopf an seine Schulter und wandte das Gesicht dem Himmel zu.

»Dann bin ich ja froh, dass du dachtest, ich sei nur deiner Fantasie entsprungen. Ich glaube nämlich, dass ich deine Familie sehr gern haben werde, ob sie nun Magier sind oder nicht.«

»An deiner Stelle würde ich keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor du meine Mutter kennenlernst. Sie liebt uns und unseren Vater über alles, doch andere mag sie überhaupt nicht. Meine Lehrer – besonders die männlichen – hassten es, wenn sie an Elternabenden zur Schule kam.«

»Trotzdem bin ich fest entschlossen, sie zu bekehren. Ich habe so viele Jahre keine Familie mehr gehabt, dass mir nicht einmal der Gedanke kam, eine zu haben. Aber jetzt macht es mich fast neidisch, wenn ich dich mit deinem Bruder und deiner Schwester sehe und deine Liebe zu ihnen spüre.«

Joies Herz verkrampfte sich angesichts der Sehnsucht, die in seiner Stimme lag. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal so intensiv für einen Mann empfinden könnte. Allein der Ton, den er jeweils benutzte, konnte sie zum Erschauern bringen wie eine Liebkosung seiner Finger oder sich um ihr Herz legen wie eine Faust.

»Hattest du Geschwister? Und standet ihr euch nahe?«

Er rieb das Kinn an ihrem Scheitel, um ihr seidiges Haar an seiner Haut zu spüren. »Ja, ich hatte eine Schwester, Elisabeta. Sie war sehr viel jünger als ich. Karpatianische Kinder werden in der Regel mit fünfzig bis hundert Jahren Abstand zwischen ihnen geboren, doch das gilt natürlich nicht für alle. Sie war noch sehr jung, als ich aus den Karpaten fortgeschickt wurde. Ich habe mich überall nach ihr umgehört, doch niemand scheint zu wissen, was aus ihr geworden ist. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie barfuß und mit wehendem Haar über die Felder lief und es so schien, als drehten sich alle Pflanzen nach ihr um, um sie vorbeilaufen zu sehen. Unsere Gärten wurden verrückt, nachdem sie geboren war. Sie war eine freiheitsliebende Seele.« Er schloss die Augen und schwelgte in Erinnerungen an ein kleines Mädchen, das kaum älter als sechs Sommer war und sein Herz zum Singen brachte, obwohl er eigentlich gar nichts hätte spüren dürfen. Er war länger daheim geblieben, als es gut für einen Krieger war, und hatte sich in der Gegenwart des Kindes gesonnt.

»Die meisten der alten Krieger, die ihre Emotionen schon verloren hatten und zu lange gekämpft und zu oft getötet hatten, zog es zu uns nach Hause, um in Elisabetas Nähe sein zu können. Sie konnte längst verlorene Emotionen wiedererwecken und war ein richtiges kleines Wunder.«

Er schüttelte den Kopf und richtete blinzelnd den Blick auf Joies Gesicht. »Ich habe seit Jahrhunderten nicht mehr an sie gedacht. Viel zu lange nicht mehr. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass sie für unser Volk verloren war.«

»Und für dich«, sagte Joie leise. »Das tut mir furchtbar leid, Traian. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich meinen Bruder und meine Schwester verlöre. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen.«

»Es ist viele Jahre her, Joie … obwohl ich, wenn ich ehrlich sein will, zugeben muss, dass ich meine Emotionen damals schon verloren hatte und der Kummer deshalb leichter zu ertragen war. Allerdings erwacht er jetzt erneut mit den Erinnerungen, nachdem meine Seelengefährtin mir die Möglichkeit gegeben hat, wieder etwas zu empfinden.«

»Das alles ist für mich schwer zu verstehen«, gab Joie zu. »Ich habe noch nie den Wunsch gehabt, mich voll und ganz auf jemanden einzulassen«, gestand sie und blickte zu ihm auf. »Niemand sollte alles von mir haben oder gar in mich hineinsehen können. Aber du tust das ja schon, nicht?« Sie suchte seinen Blick. »Du siehst mich, wie mich noch niemand sonst gesehen hat.«

»Ja.« Traian hielt sie fest umfangen, als er sich mit ihr in die Luft erhob.

Der Nachthimmel, über den sie schwebten, war so dunkel, dass er fast schon etwas Violettes hatte. Tausende von Sternen glitzerten über ihnen, und die wenigen verbliebenen Sturmwolken türmten sich nicht mehr am Himmel, sondern zogen nur noch ruhig dahin. Tief unter ihnen erstreckten sich Berge und Täler, Wälder und Seen, die Geheimnisse bargen, die besser für alle Zeit verborgen blieben. Die Szenerie unter ihnen war eine Mischung aus Alter und Neuer Welt.

Joie konnte vereinzelte Bauernhöfe sehen mit mächtigen Heuhaufen und Gärten, die ums Überleben rangen. An den Berghängen wimmelte es von Schafen, Ziegen und auch Rindern, die das karge Gras dort fraßen. Schäferhütten standen hier und da an höher gelegenen Stellen, und mehr als einmal sah Joie streunende Hunde, die auf der Suche nach Futter an den staubigen Straßen entlangliefen.

Die Ruinen einer Burg und eines Klosters, aber auch zahlreiche Kirchen kamen nach und nach in Sicht. Die ländliche Umgebung war reizvoll und interessant. Die Pferdekarren, die Joie sah, waren in vielen Fällen nichts anderes als mit Geländern und Autoreifen versehene Pritschenwagen. Joie war ebenso überwältigt von der Schönheit dieser Landschaft wie von der Schlichtheit ihrer Dörfer.

Es gefällt mir hier sehr gut, bemerkte sie. Du hast Glück gehabt, in einer solch schönen Umgebung aufzuwachsen.

Als sie lächelnd zu Traian aufblickte, verschlug es ihr den Atem. Sie war halb bestürzt, halb fasziniert von der Gestalt, die er inzwischen angenommen hatte. Er flog mit den gewaltigen Schwingen einer riesigen Eule, doch es waren menschliche Arme, die sie an die weich gefiederte Brust drückten. Die Federn kitzelten Joies Haut und sandten einen Schauder über ihren Rücken, als sie merkte, wie real dies alles war. Sie versuchte, ihren jagenden Herzschlag zu beruhigen, weil sie sicher war, dass Traian andernfalls den Unterschied bemerken würde. Ihr war jeder seiner Atemzüge derart stark bewusst, dass sie sich nicht vorstellen konnte, es könnte für ihn anders sein.

Ich war schon lange nicht mehr fähig, die Schönheit meiner Umgebung wahrzunehmen, sagte Traian, als er sich umblickte. Aber du hast recht, es ist wirklich wunderschön hier. Und ich danke dir für das große Geschenk, das du mir machst.

Joie blickte sich vorsichtig um, als ihr Herz ein wenig ruhiger schlug. Sie flog durch die Luft mit einem Mann, der seine Gestalt verändern konnte. Astralreisen waren cool, ganz ohne Zweifel, doch das hier – das war mehr als nur fantastisch: das Gefühl des Windes in ihrem Gesicht, die Leichtigkeit, mit der Traian sich herabfallen lassen und so dicht über Seen und Schluchten dahinfliegen konnte, dass alles, sogar die Blätter an den Bäumen, erstaunlich klar zu sehen war.

Du hast mir auch ein Geschenk gemacht, Traian. Ich hätte nie gedacht, so etwas einmal zu erleben. Es ist noch viel besser, als aus einem Flugzeug zu springen.

Sie konnte spüren, dass sein Herz einen Schlag aussetzte.

Du springst aus Flugzeugen?

Mit einem Fallschirm natürlich. Ich springe nicht einfach nur heraus und bete, dass ich eine weiche Landung haben werde. Ein leises Lachen sprudelte aus ihr heraus. Traian flog über den Nachthimmel, kämpfte mit Vampiren und verwandelte sich in Vögel, aber ihr Faible für Fallschirmspringen missbilligte er offenbar. Wie verrückt war das denn?

Du bist ein wenig altmodisch, nicht wahr?

Vielleicht. Es lag nichts Entschuldigendes in seinem Ton. Dein Bedürfnis, gefährliche Dinge zu tun, muss gezügelt werden, Joie. Du hast ja keine Ahnung, wovor du mich gerettet hast. Ich kann dir nicht einmal ansatzweise erklären, wie wichtig es für mich ist, dass du lebst.

Joie runzelte die Stirn. Er war sehr ernst, und sie konnte die absolute Aufrichtigkeit in ihm spüren. Traian machte einen Umweg und flog nicht direkt zu dem Gasthof, nur um ihr das fantastische Gefühl des Fliegens zu vermitteln und ihr einen großartigen Ausblick auf sein Heimatland zuteilwerden zu lassen. Er war vielleicht ein bisschen altmodisch, doch er war auch ausgesprochen liebevoll und aufmerksam.

Er kehrte sie gleichsam von innen nach außen, und ihr blieb im Grunde nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken, was mit ihr geschah. Sie ließ sich einfach nur von seiner außerordentlichen Maskulinität und Sinnlichkeit übermannen, von seiner starken Persönlichkeit und der Tatsache, dass er ein Kämpfer war wie sie. Traian war stark genug, um sich ihr gegenüber zu behaupten, und das konnte sie respektieren – das und ihn, weil sie wusste, dass auch sie eine starke Persönlichkeit war, die in fast jeder Lage automatisch die Kontrolle übernahm.

Jubal dagegen war mehr wie ihr Vater und viel gelassener als sie. Er würde sich nie Hals über Kopf in einen Kampf stürzen, sondern blieb immer ruhig und besonnen, bevor er tat, was nötig war. Gabrielle war eine leidenschaftliche Wissenschaftlerin und abenteuerlustig genug, um mit ihren Geschwistern und Eltern hohe Berge zu besteigen und tiefe Höhlen zu erforschen, aber sie war nicht in gleicher Weise kämpferisch, wie Joie es war.

Ich werde dich verrückt machen, gestand sie Traian.

Das ist mir nur zu gut bewusst, erwiderte er mit unverhohlener Belustigung, die langsam ihren ganzen Kopf ausfüllte.

Jetzt konnte auch sie sich ein Lachen nicht verkneifen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich in meinem Geist haben will, erwiderte sie, und ihr Lachen verstummte jäh. Du weißt, dass ich drauf und dran war, mich in eine Klinik einweisen zu lassen, weil ich ständig deine Stimme hörte. Es hat mich wirklich sehr verstört, sie nicht zum Schweigen bringen zu können.

Traian runzelte die Stirn. So fremd war dir das? Obwohl du doch auch auf telepathischem Weg mit deinem Bruder und deiner Schwester sprichst?

Das ist etwas anderes. Wir konnten uns schon immer so miteinander verständigen, aber noch nie zuvor mit jemand anderem. Wir dachten, es läge in der Familie, weil Mom und Dad es auch können.

Es könnte als Arroganz betrachtet werden zu glauben, nur eure Familie sei imstande, sich auf telepathischem Weg zu verständigen.

Joie musste wieder lachen. Wahrscheinlich hast du recht. Auf jeden Fall ist es etwas, das ich stets für selbstverständlich hielt in unserer Familie. Weil wir schon immer so gewesen sind.

Beide Elternteile?

Joie versuchte, das Misstrauen in seiner Stimme zu überhören und es auch selbst nicht zu spüren. Er hatte wirklich Vorurteile gegen Magier. Ja, beide Elternteile. Und wir sind zu hundert Prozent Menschen. Ich kann dir meine Geburtsurkunde und all meine fürchterlichen Schulaufnahmen zeigen.

Ich würde sehr gern deine fürchterlichen Schulaufnahmen sehen, weil mich alles an dir interessiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwann nicht hübsch warst, besonders nicht als kleines Mädchen. Aber wie dem auch sei – du bist auf jeden Fall zu einer schönen Frau herangewachsen.

Er sagte es so beiläufig, dass Joie nicht protestieren konnte. Wie die meisten Frauen hielt sie sich keineswegs für schön, doch es war erfreulich, dass sie es in seinen Augen war. Danke. Schön, dass du so denkst.

Die Lichter des Gasthofs erhellten jetzt schon den Boden unter ihnen, und Traian landete in einiger Entfernung, wohin das Licht nicht mehr reichte. Musik drang aus dem zweistöckigen Gebäude und wurde vom Wind in alle Richtungen getrieben. Auf der Veranda, die das ganze Haus umgab, und den meisten Balkonen wimmelte es von Menschen, von denen einige tanzten, andere plauderten und wieder andere die Ungestörtheit dunkler Ecken suchten und sich küssten.

»Das Festival!«, sagte Joie und schlug sich an die Stirn. »Das hatte ich total vergessen. Und sieh mich an – ich sehe schrecklich aus!«

»Für mich bist du bezaubernd«, wandte Traian ein. »Welches Zimmer ist deins?«

»Erster Stock, dritter Balkon links.« Sie grinste ihn an. »Fliegen wir dorthin?«

»Ist die Balkontür abgeschlossen?«

»Das würde mich nicht aufhalten. Ich bin nicht nur geübt im Fassadenklettern, sondern kann auch Schlösser knacken.«

Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Ich bin beeindruckt. Diese Fähigkeiten könnten einem Jäger wie mir noch sehr gelegen kommen.«

Sie sah ihn aus schmalen Augen an und verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. »Sie kommen auch einem Bodyguard gelegen. Ich habe ein Geschäft, wie du weißt, und gelte als eine der Besten in der Branche.«

»Ich bezweifle nicht, dass du das bist.« Er schwang sich blitzschnell mit ihr in die Luft auf und genoss es, wie sie sich an ihn klammerte.

Lach mich nicht aus, Traian!

Ich lache dich nicht aus.

Ich kann dein Lachen spüren. Aber was findest du überhaupt so lustig? Es ist nicht normal, durch die Luft zu fliegen, weißt du.

Für mich schon.

Kaum hatte sie den festen Balkonboden unter ihren Füßen, löste sie sich schnell von Traian. »Na prima. Musstest du das mit hundert Leuten in der Nähe tun?«, murmelte sie vor sich hin.

»Sie können dich nicht sehen. Ich habe dich vor ihren Augen abgeschirmt.«

Sie warf einen Blick über seine Schulter. »Wir sind unsichtbar? Wow. So leicht hätte ich es auch gern mal. In meinem Job wäre es ein großes Plus, sich unsichtbar machen zu können. Kein Wunder, dass dich sogar Vampire fürchten.«

»Sie können auch fliegen und ihre Gegenwart vor anderen verbergen.«

Joie stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf. »Wie schön für sie. Wo kommen diese Monster eigentlich her?«

Traian folgte ihr ins Zimmer, und sie drehte sich zu ihm um, als sie seinen schweren Seufzer hörte. Er sah aufrichtig besorgt aus und schien ihre Frage nur sehr ungern zu beantworten.

»Die Antwort wird mir nicht gefallen, was?«

»Vampire sind Karpatianer, die sich dafür entschieden haben, für einen kurzen Moment der Macht und den Nervenkitzel des Tötens – für einen Rausch, wenn du so willst – ihre Seelen aufzugeben. Nach den ersten zweihundert Lebensjahren etwa verlieren unsere Männer ihre Emotionen und können keine Farben mehr sehen. Einige früher, andere später, aber wir alle verlieren irgendwann alles, was uns heilig ist, falls wir nicht unsere Seelengefährtin finden. Nur eine Frau, das Licht in unserer Dunkelheit, kann uns das Empfindungsvermögen und die Fähigkeit, Farben zu sehen, zurückgeben. Seit mehreren Jahrhunderten hat unsere Rasse jedoch nur noch wenige Frauen und noch weniger Kinder. Wir sind dem Aussterben nahe. Es gibt kaum noch Hoffnung, und immer mehr unserer Männer verwandeln sich.«

Joie versuchte, die Ungeheuerlichkeit dessen, was er sagte, zu begreifen. »Es gibt nur eine Frau für jeden Mann, die ihm Farben und Empfindungen zurückgeben kann? Nur eine?«

Traian nickte. »Nur eine. Wir können jahrhundertelang nach ihr suchen, und wenn wir sie nicht finden oder zu lange jagen und töten, wird das Bedürfnis nach Emotionen zu verführerisch, und viele erliegen der Versuchung. Wir Karpatianer haben dann nur die Wahl, entweder zum Vampir zu werden oder in die Sonne zu treten und uns von ihr töten zu lassen.«

Was für ein grausames Schicksal! Joie nahm den Rucksack ab und legte die Kletterausrüstung auf den Boden neben dem Schrank. Als sie ihre Steigeisen abnahm und die Stiefel auszog, verzog sie das Gesicht über den Schmutz, den sie mit hereingebracht hatte. Sie brauchte die kurze Zeit, um zu verarbeiten, was Traian ihr erzählt hatte, bevor sie ihm wieder in die Augen sehen konnte.

»Wie furchtbar traurig für euch alle!«, sagte sie mit aufrichtigem Mitgefühl im Blick. »Du und die anderen Jäger seid also gezwungen, mit den Vampiren aufzuräumen. Selbst wenn sie einmal Jugendfreunde waren … oder zu eurer eigenen Familie gehörten.«

Traian nickte, erstaunt über die Tiefe des Verständnisses, das er in Joies Ausdruck las. Offensichtlich hatte sie sofort erkannt, was andere nicht sahen: Tief im Innersten hatte jede Vernichtung eines Jugendfreundes oder Cousins ein Stück aus seiner Seele herausgerissen, bis er hatte befürchten müssen, dass kaum noch etwas davon übrig war. Doch Joies Verständnis und das Mitgefühl, das sie ihm entgegenbrachte, veränderten etwas in ihm. Er fühlte es, verspürte in aller Deutlichkeit die erste heilende Berührung und die Macht, die eine Seelengefährtin ausübte.

Mit ihren verschmutzten Kleidern und ihrem ebenso schmutzigen Gesicht stand sie vor ihm und war einfach wunderschön für ihn. Ein dicker, heißer Klumpen stieg in seiner Kehle auf, und um Joie nicht die Ergriffenheit sehen zu lassen, die ihn zu ersticken drohte, wandte er sich von ihr ab. Denn wie könnte sie auch nur ansatzweise verstehen, was sie ihm bedeutete?

»Es tut mir leid, Traian. Ich weiß, dass ich nicht einmal annähernd verstehen kann, wie das gewesen sein muss, doch ich kann spüren, wie sehr es dich belastet.«

Mehr als das noch fühlte sie, wie allein er gewesen war, und war erschüttert von der Intensität der Qualen, die er ausgestanden hatte. Sein Leben war hart gewesen, hässlich, leer und öde, sah sie, als sie erschreckende Einblicke in Szenen aus seiner Vergangenheit erhielt: grauenhafte Kämpfe, die Stunden angedauert hatten, und schwerwiegende Verwundungen. Tod. Überall war nur Tod um ihn herum gewesen und niemand da, um ihn zu trösten. Niemand, der ihn liebte und sich um ihn sorgte.

Von Sehnsucht und dem Bedürfnis überwältigt, ihn in die Arme zu schließen und einfach nur zu halten, schloss Joie für einen Moment die Augen. Sehr langsam zog sie ihre dicke Daunenjacke aus, denn obwohl das Zimmer nicht geheizt war, war ihr nach der Kälte des Berges schon fast zu warm darin. Ihre Handschuhe warf sie auf die Jacke.

»Es ist kurz vor Morgengrauen, Joie, und ich werde bald in die Erde gehen müssen. Ich habe zu viel Blut verloren, und die Wunden an meinem Körper müssen heilen. Es gibt keine andere Möglichkeit, sie schnell heilen zu lassen, und die Trennung von mir könnte schwierig für dich werden. Du wirst in diesem Zimmer bleiben müssen, wo du sicher bist.«

»Was soll das heißen, es könnte schwierig werden?« Joie konnte das Misstrauen nicht aus ihrer Stimme heraushalten. Was Traian sagte, war nicht nur so dahergeredet, um alles noch dramatischer zu machen. Nein, für sie war offensichtlich, dass er sie vor etwas warnen wollte, das sie erst noch erfahren musste.

»Die Anziehungskraft zwischen Seelengefährten ist sehr stark. Du wirst mich auf telepathischem Weg nicht erreichen können, und doch wird dein Geist nicht aufhören, die Verbindung zu meinem zu suchen. Wärst du unvorbereitet, könntest du auf den Gedanken kommen, ich sei gestorben. Mein Herz wird aufhören zu schlagen, und auch meine Lunge wird ihre Arbeit einstellen, während die heilsame Erde meiner Heimat meine Wunden heilt und mich verjüngt. Das Beste wäre, wenn du einfach den ganzen Tag verschlafen würdest. Du bist genauso erschöpft wie deine Geschwister, die es übrigens kaum erwarten können, dich zu sehen.«

»Ich glaube nicht, dass es mir schwerfallen wird, den ganzen Tag zu schlafen«, versicherte ihm Joie. »Ich bin fast zu müde, um zu duschen, obwohl ich im Moment nichts dringender brauche.« Die Erschöpfung holte sie nun wirklich ein.

»Das kann ich dir abnehmen.«

Joie wusste nicht, was sie erwarten sollte – dass er einen Eimer Wasser über ihr ausleerte vielleicht? –, aber er schwenkte nur die Hand, und sie war sauber. Es war nicht so befriedigend oder entspannend wie eine heiße Dusche, doch zumindest fühlte sie sich jetzt genauso sauber, als hätte sie geduscht. Erleichtert sank sie auf das Bett und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Tu, was du tun musst, Traian. Ich werde es schon überleben.«

»Bevor ich gehe, werde ich starke Schutzschilde an deiner Tür, dem Fenster und dem Balkon anbringen. Niemand wird diese Schutzzauber überwinden können, wenn du ihm nicht selbst die Tür öffnest«, warnte er.

»Ich dachte, Vampire könnten kein Tageslicht vertragen.«

»Das stimmt, aber mach nie den Fehler zu glauben, sie arbeiteten allein. Sie erschaffen sich menschliche Marionetten, Diener, die ihren Anordnungen Folge leisten. Sie versprechen ihnen Unsterblichkeit, doch am Ende verlieren diese Marionetten den Verstand und leben von dem Fleisch von Sterblichen. Sie sind widernatürliche Monster mit verrottendem Fleisch und Hirn, die nicht gerettet werden können und nur das tun, was ihre Herren ihnen befehlen. Du darfst nicht riskieren, dass du oder deine Geschwister ihnen in die Hände fallen.«

Joie wollte ihm schon eine schnippische Antwort geben, aber dann besann sie sich doch eines Besseren und hielt den Mund. Traians Welt war mit so vielen Gefahren befrachtet. Und ständig von Gefahr umgeben zu sein, war zu einer Lebensart für ihn geworden. Er sah sie an, als wäre sie sein Ein und Alles, und obschon das ein erhebendes Gefühl und sogar ein bisschen sexy war, war es doch auch beängstigend. Denn wie könnte sie seinen Erwartungen je gerecht werden?

»Kannst du nicht auch an Gabrielles und Jubals Türen Schutzzauber anbringen?«

»Natürlich.« Er blickte aus dem Fenster. »Aber ich kann wirklich nicht viel länger bleiben. Ich werde hier sein, wenn du erwachst. Gib mir dein Wort, dass du in deinem Zimmer bleibst und auf mich wartest.«

Joie nickte. »Wenn es dich beruhigt, Traian. Ich bin müde. Ich will nur meinen Bruder und meine Schwester sehen, um mich zu überzeugen, dass es ihnen gut geht.«

Traian kam zu ihr und zog sie an sich. »Ich weiß, dass dich das, was zwischen uns ist, ängstigt. Und ehrlich gesagt kann ich das sogar voll und ganz verstehen. Für uns Karpatianer sind Seelengefährten etwas ganz Natürliches, doch für dich wahrscheinlich nicht. Versprich mir also, dass du nicht versuchen wirst, davor davonzulaufen, falls du ohne mich erwachst. Es ist ziemlich überwältigend für dich, und ich würde zu gern bei dir bleiben, um dir über die Angst vor einer solch bleibenden und festen Bindung hinwegzuhelfen. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als zu gehen. Ich muss in die Erde, bevor die Sonne aufgeht.«

Joie nickte. »Ich werde nirgendwohin gehen, Traian. Ich bin ziemlich gut darin, Dingen, die mich ängstigen, ins Gesicht zu sehen. Außerdem sind Jubal und Gabrielle bei mir. Wir werden schon zurechtkommen.«

Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und senkte seine Lippen auf die ihren. Sein Mund war ungemein verführerisch, heiß, maskulin und fordernd. Joie spürte, wie alle Kraft aus ihrem Körper wich und ihr ganzes Sein nach ihm verlangte, während sie seine Küsse mit gleicher Leidenschaft erwiderte. Mit einem sehnsuchtsvollen kleinen Seufzer schlang sie einen Arm um Traians Nacken und lehnte sich an seinen starken Körper, noch immer ein wenig schockiert darüber, wie hemmungslos sie auf diesen Mann reagierte, den sie im Grunde noch so gut wie gar nicht kannte.

Sivamet – meine Liebste, flüsterte er. Endlich habe ich dich gefunden!

Als er den Kopf hob und sein dunkler Blick über ihr Gesicht glitt, lachte sie leise. »Genau genommen habe ich dich gefunden.«

Bei seinem Lächeln wurde ihr ganz warm ums Herz. »Das hast du.«

Joie!, ertönte Jubals gebieterische Stimme in ihrem Geist. Gabby und ich kommen jetzt herein.

Joie fing lauthals an zu lachen. »Ich werde noch verrückt von all diesen Stimmen, die in meinem Kopf herumgeistern! Ich muss meinen Bruder und meine Schwester hereinlassen, und du kannst gehen. Wenn ich erwache, bist du wieder da?« Es war eindeutig mehr eine Frage als eine Feststellung. Ihr Herz geriet sogar ein wenig ins Stottern bei dem Gedanken, dass Traian ging. Sie war keine Frau, die klammerte, doch die Vorstellung, ohne ihn zu sein, bewirkte eine physische Reaktion bei ihr. Trotzdem zwang sie sich, das Lächeln aufrechtzuerhalten. Sie würde sich nicht wie ein Kind benehmen und ihn anbetteln zu bleiben. Außerdem würden Gabrielle und Jubal jeden Moment hereinkommen.

Traian küsste sie erneut. »Verlass auf keinen Fall ohne mich das Zimmer, und vergiss nicht, dass ich wiederkommen werde, um dich abzuholen!«

Joie schluckte den unerwarteten Protest, der in ihr aufstieg, herunter und neigte zustimmend den Kopf. Ihr Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt, und das Herz lag ihr schwer wie ein Stein in der Brust. »Pass auf dich auf!«, bat sie ihn mit rauer Stimme.

Traian warf einen Blick durchs Fenster zu der ersten Morgenröte, die den Himmel überzog, küsste Joie noch einmal und schlüpfte auf den Balkon hinaus. Dort hob er beide Hände und begann mit konzentrierter Miene, einen Schutzzauber zu weben. Dabei murmelte er leise vor sich hin.

Ich werde auch die Zimmer deiner Geschwister absichern, und dann muss ich wirklich gehen. Dein Bruder und deine Schwester stehen vor der Tür. Du wirst ihnen öffnen müssen.

Joie blickte sich gerade nach der Zimmertür um, als dort jemand klopfte. Als sie sich wieder umwandte, war Traian schon fort. Nach einem tiefen, zitternden Atemzug ließ sie ihre Geschwister herein. Jubal zog sie in eine stürmische Umarmung, und Gabrielle legte ihre Arme um sie beide. Eine ganze Weile hielten sich alle drei nur fest umschlungen. Erst nach dieser langen gemeinsamen Umarmung erinnerte sich Joie daran, die Tür zu schließen.

Dann ließ sie prüfend den Blick über ihren Bruder und ihre Schwester gleiten und suchte nach Abschürfungen und Prellungen. »Ihr seid beide unversehrt herausgekommen.«

»Wir haben mit einem Vampir gekämpft«, berichtete Gabrielle mit leuchtenden Augen. »Jubal hat ihn getötet, aber mein Eispickel ist bei dem verdammten Ding zurückgeblieben.« Ein leises Zittern durchlief sie. »Nicht, dass ich ihn etwa zurückhaben möchte, nachdem Jubal ihn dem Scheusal in den Kopf getrieben hat.«

»Ach du liebe Güte! Ihr habt gegen eine dieser Bestien gekämpft und es sogar geschafft, sie ohne Traians Hilfe zu vernichten?« Joie war fassungslos. »Es schien doch so, als wären sie unbesiegbar.«

Gabrielle ließ sich in einem Sessel nieder und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Es war Jubals Armband. Es mag anscheinend keine Vampire.«

Jubal streckte Joie den Arm hin, damit sie es sich ansehen konnte. Zu den Jeans und dem T-Shirt, die er jetzt trug, sah das dicke Metall an seinem nackten Arm nur wie ein ganz normales Armband aus. »Dieses Ding trägt unser Familienwappen, Joie. Und es hat mich in den Höhlen nicht nur warm gehalten und uns den Weg erhellt, sondern auch dem Vampir das Herz herausgeschnitten und es verbrannt. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu kam. Ich habe es nicht gelenkt. Die Klingen sprangen einfach heraus und drehten sich, und das Metall erhitzte sich, als sich das Armband öffnete und von meinem Arm absprang.«

Joie schaute sich das harmlos aussehende Band genauer an. Es erforderte einen großen Mann mit kräftigen Armen, um so etwas tragen zu können, und es sah so aus, als wäre es auf Jubal zugeschnitten.

»Die Treppe, die wir hinunterstiegen, war lang und kurvig und aus dem Eis herausgeschlagen«, fuhr er fort. »An ihrem Ende befand sich eine Wand mit Symbolen und Sternen. Und weißt du was? Das geheime Passwort, um die Tür darin zu öffnen, war die Draco-Konstellation.«

Überrascht sah Joie ihn an. »Was sagst du da, Jubal?«

»Ich weiß nicht, Joie, aber es ist doch ein ziemlich großer Zufall, dass der Armreif zu mir kam, dass er unser Wappen trägt und dass das Geheimnis des Ausgangs auf der Draco-Konstellation beruhte.«

Jubals Ton war ruhig und nüchtern. Er geriet so selten aus der Fassung oder regte sich auf, dass Gabrielle und Joie oft Scherze darüber machten, dass er wohl nie einen Herzanfall bekommen würde.

»Glaubst du, Dad und seine Familie könnten Nachkommen von Magiern sein?« Joie brachte es kaum über sich, die Frage auszusprechen. Hätten sie nicht die Vampire und all die anderen außergewöhnlichen Dinge gesehen, die ihnen in dieser langen Nacht begegnet waren, wäre dieser Gedanke auch wirklich lächerlich gewesen.

»Möglich wäre es«, räumte Jubal ein. »Wir fühlten uns schon immer zu dieser Gegend hier hingezogen, und Dad wollte nie, dass wir hierherkamen. Ich denke, dass er seine Geheimnisse hat und dass die Geschichten, die er uns erzählte, vielleicht wahrer waren, als wir dachten.«

»Das Gleiche sagt auch Traian. Er traut Magiern überhaupt nicht, und ich bezweifle, dass andere wie er viel von ihnen halten. Vielleicht sollten wir vorsichtig mit solchen Spekulationen sein und sie höchstens unter uns dreien anstellen«, gab Joie zu bedenken. »Zumindest, bis wir Gelegenheit bekommen, mit Dad zu reden.«

»Einverstanden.« Gabrielle gähnte wieder. »Und jetzt gehe ich ins Bett.«

»Das sollten wir alle tun«, stimmte Jubal zu.

»Bleibt tagsüber in euren Zimmern«, riet Joie und berichtete ihnen, was Traian über Vampire und menschliche Marionetten gesagt hatte. »Wir können alles andere heute Abend besprechen, wenn er wieder da ist, und uns dann überlegen, wie es weitergehen soll.«