Kapitel zwei

Jubal Sanders blickte zum Himmel auf, an dem sich schwere, dunkle Wolken türmten. Auch die Temperatur fiel in erschreckendem Maße, bemerkte er. »Es wird sehr schnell Nacht werden, wenn es so weit ist«, verkündete er. »Uns bleiben vielleicht noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Wenn wir nicht hier oben am Hang kampieren wollen, müssen wir den Abstieg beginnen.«

»Du bist verrückt, Joie, hier oben ist nichts.« Gabrielle Sanders ließ sich in einer anmutigen Bewegung auf dem Boden nieder, zog die Knie an und blickte aus kühlen grauen Augen zu ihrer Schwester auf. »Hör auf, dich verrückt zu machen, und genieß die Aussicht! Es ist atemberaubend schön hier oben. Du bist jetzt schon seit Stunden so nervös.« Gabrielle legte den Kopf zurück, um zum Himmel aufzuschauen. »Wir sind eine Ewigkeit geklettert. Wenn hier etwas zu finden wäre, hättest du es längst entdeckt.«

»Ich mache mich nicht verrückt, Gabrielle«, beharrte Joie. »Oder vielleicht bin ich es ja schon.«

Plötzlich trat Stille ein. Der Wind verstummte, und nur ein einsamer Habicht kreischte erbost, als er seine Beute nicht erwischte. Gabrielle wechselte einen langen Blick mit ihrem Bruder, und beide sahen ihre jüngere Schwester an, die völlig auf den Felsen konzentriert zu sein schien, den sie untersuchte.

»Nun, das beruhigt mich ja ungemein, nachdem ich die ganze Zeit gedacht hatte, ich sei es, die nicht normal ist«, erwiderte Gabrielle lachend.

Joie atmete langsam ein und wieder aus. Sie wusste, dass ihr Verhalten den anderen verrückt, ja fast schon durchgeknallt erscheinen musste. Aber was sollte sie Gabrielle und Jubal sagen? Dass sie in Wahrheit schon vor Wochen den Verstand verloren hatte und dies ein letzter verzweifelter Versuch war, sich ihre Zurechnungsfähigkeit zu bewahren? Dass sie nicht scherzte, sondern eigentlich irgendwo eingesperrt gehörte und mit Psychopharmaka behandelt werden müsste?

Sie war in diesem Krankenhaus in Österreich mit einem merkwürdigen Geräusch in ihrem Kopf erwacht, einer Art unaufhörlichem Gewisper, das die Stimme eines Mannes war, aber nicht irgendeines Mannes, sondern die ihres geheimnisvollen, sexy Fremden. Sie konnte sich nicht vorstellen, Gabrielle und Jubal zu erzählen, dass sie während einer ihrer Astralreisen einem superattraktiven Mann begegnet war. Oh ja, und nicht zu vergessen die Tatsache, dass er sich tief unter der Erde in einem Netzwerk unerforschter Höhlen in Rumänien befunden hatte. Sie würden sie einsperren und den Schlüssel wegwerfen.

Aber sie konnte einfach nicht mehr aufhören, an ihn zu denken, und war sicher, dass sie krankhaft besessen von einem Hirngespinst, einem bloßen Fantasiebild war. Wie könnte er auch real gewesen sein? Die Ärzte hatten ihr gesagt, sie sei sehr lange bewusstlos gewesen. Wer wusste schon, was im Kopf eines Menschen vorging, wenn er unter Narkose stand? Wenn sie ihren Geschwistern gestünde, dass sie weniger nach der perfekten Höhle als vielmehr nach einem Mann in einer suchte, würden sie sie zweifellos zu einem Psychiater schleppen. Es war einfach unmöglich, jemandem ihr dringendes Bedürfnis zu erklären, den Mann zu finden.

Joie war beurlaubt worden, wie es so üblich war, wenn ein Personenschützer bei der Arbeit verwundet wurde. Sie war gar nicht erst in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, aber als Gabrielle und Jubal gekommen waren, um sie zu besuchen und ihr bei der Physiotherapie zu helfen, hatte sie sie überredet, mit ihr in die Karpaten zu fahren, um Höhlen zu erforschen.

Anfangs hatte sie noch versucht, das intime Geflüster in ihrem Kopf zu ignorieren, doch irgendwann war sie dem unwiderstehlichen Reiz des Mannes erlegen. Sie hatte Unterhaltungen mit ihm geführt, manchmal alberne, manchmal philosophische, aber auch – Gott stehe ihr bei! – sexy, schon fast erotische Gespräche, von denen sie sich nicht vorstellen konnte, sie mit irgendjemand anderem zu führen. Die Stimme in ihrem Kopf war stärker geworden, seit sie in Rumänien war, als wäre sie ihm schon sehr viel näher.

Was tust du?

Die Männerstimme kam aus dem Nichts heraus, unerwartet wie immer und völlig überraschend. Sie war tief und sehr männlich, manchmal belustigt, manchmal spöttisch, jedoch stets verführerisch. Joie versuchte, sie nicht zu hören und auch nicht zu antworten. Aber sie konnte sich nicht helfen und sprach jedes Mal mit ihm. Lachte mit ihm und begehrte ihn.

Obwohl seine Stimme schön wie immer war, klang er diesmal unendlich müde und angestrengt, als hätte er Schmerzen. Diesen Ton hatte sie noch nie gehört in seiner Stimme, und er beunruhigte sie. War er verletzt? Konnte er überhaupt verletzt sein? Denn falls sie nicht verrückt war, bedeutete das, dass er real war und sie nicht ständig das Gefühl zu haben brauchte, wirklich durchgedreht zu sein. Oder im Moment vielleicht ja doch ein bisschen.

»Ach kommt, ich bin dem Eingang schon so nahe, dass ich ihn bald sehen müsste. Jubal«, appellierte Joie an ihren Bruder, »du weißt, dass ich recht habe. Ich habe immer recht. Hier ist ein Netzwerk von Höhlen, von denen die meisten sogar noch unerforscht sind, und wir befinden uns direkt darüber.«

Okay, sie war nicht nur ein bisschen verrückt. Joie war sicher, dass sie ihren Abstieg in den Wahnsinn schon begonnen hatte. Sie war lieber bei dieser Stimme in ihrem Kopf als bei irgendeinem realen Menschen auf der Welt. Sie lebte, um diese Stimme zu hören, dachte Tag und Nacht an diesen Mann, war vollkommen beherrscht von ihm.

Joie schob trotzig das Kinn vor und versuchte, eine Verbindung zu ihm herzustellen – zu diesem imaginären Freund, der auf dem besten Wege war, ein imaginärer Liebhaber zu werden.

Ich werde beweisen, dass es dich nicht gibt, damit ich über dich hinwegkommen kann. Ich habe eine ellenlange Liste von Möchtegern-Lovern und hätte zur Abwechslung ganz gern auch mal ein bisschen Spaß.

Du bist zu nah. Ich kann dich spüren. Du musst von hier verschwinden. Dieser Berg ist gefährlich.

Joie runzelte die Stirn, als sie die schneebedeckte Felswand musterte. Sie war dem verborgenen Eingang schon so nahe! Der Berg musste atmen, und wenn er den leisesten Luftzug ausstieß, würde sie den Eingang finden.

Das war ja klar, dass du das sagen würdest. Weil ich nicht wissen soll, dass du nicht real bist. Joie wandte sich nach links und ging um eine Felszunge herum. Sie konnte den Eingang jetzt schon spüren. Ihr ganzer Körper reagierte mit Aufregung und Eifer. Und es hatte nichts mit diesem Mann zu tun. Hör mal, Süßer, es hat Spaß gemacht, aber jetzt müssen wir uns trennen. Ich kann keinen erfundenen Geliebten brauchen, selbst wenn du ein fabelhafter Liebhaber in meinen Träumen bist. Eine Frau will hin und wieder auch mal was Echtes. Und es ist ja auch nicht so, als könnte ich dich meiner Familie vorstellen. Hey, Leute, das ist mein unsichtbarer Freund Traian. Er hat einen Namen wie eine Lokomotive, aber auch der ist nur meiner eigenen absurden Fantasie entsprungen.

Traian ist ein sehr alter und angesehener Name.

Ein Anflug von Belustigung schwang in seiner Stimme mit, doch sie war trotzdem noch sehr angespannt, und eine furchtbare Eile, ihn schnell zu erreichen, krampfte Joie das Herz zusammen.

Geh von hier fort, Joie! Einen Kommentar zu deinem Namen werde ich mir ersparen, da er ausgesprochen rüde klingen würde.

Nur zu, Traian! Du bist nicht real, und diese Unterhaltung ist es auch nicht, also beleidige mich ruhig so viel, wie du willst.

»Du hast immer nach unten geschaut, wenn du nach oben blicken solltest, Joie«, bemerkte Gabrielle seufzend. »Vielleicht könntest du sogar eine Wolke einfangen, wenn du die Hand mal nach oben streckst. Hast du je die Blumen bemerkt? Sie sind wunderschön. Ich wünschte, ich wüsste, wie sie heißen. Denk doch ausnahmsweise mal an etwas anderes als an Höhlen!«, bat sie und deutete mit einer vielsagenden Handbewegung auf die Landschaft um sie herum. »Dies ist Dracula-Land. Wenn du deinen Höhlenfimmel mal vergessen würdest, könnten wir uns zur Abwechslung vielleicht auch mal die alten Burgen ansehen.«

Die rosafarbenen Blumen, die in der Mitte gelb sind, nennen sich Tratina. Die weißen sind Margeriten. Ich kann dir nicht aus dem Stegreif sagen, wie die blauen heißen, aber es wird mir schon noch einfallen.

Belauschst du etwa unsere Unterhaltung?

Du denkst laut – und verleugnest meine Existenz, was neuerdings eine Angewohnheit von dir zu sein scheint.

Joie zog die Nase kraus. Er war zwar nur ein Produkt ihrer Fantasie, aber er kannte die Namen der Blumen. Sie blickte sich nach ihrer Schwester um.

»Gabrielle, die pinkfarbenen Blumen sind Tratina und die weißen Margeriten. Wie die blauen heißen, weiß ich nicht.«

»Wow, du bist ja ein wandelndes Lexikon«, sagte Gabrielle beeindruckt.

»Das sollte dich lehren, mir nicht vorzuwerfen, ich hätte an nichts anderem Interesse als an Höhlen«, antwortete Joie. Sie fröstelte, obwohl sie der Kälte entsprechend angezogen war. Irgendetwas stimmte nicht an diesem Ort, und ein Teil von ihr hatte das Gefühl, als müssten sie tatsächlich schnellstens von dem Berg herunter. Prüfend blickte sie zum Himmel auf. Vielleicht nahte ja ein Sturm.

Jubal betrachtete die wilde Landschaft um sie herum und unter ihnen. Es gab hier viele tiefe Schluchten und mehrere Höhlen. Grüne Täler und Hochebenen boten eine atemberaubende Aussicht. Unter ihnen, in den Niederungen, waren durch das in die Erde eingedrungene Schmelzwasser der Berge Torfmoore entstanden. Strahlend grüne Moosflächen und zahlreiche flache Teiche schlängelten sich um Birken- und Kieferngruppen herum. Die Gegend war zauberhaft, und trotzdem fühlte sich Jubal gar nicht wohl in seiner Haut. Die Luft war frisch und kalt, aber obwohl der Himmel klar zu sein schien, bedeckte ein eigenartiger Nebel die Berge über ihnen. Hin und wieder hatte Jubal sogar das Gefühl, dass sich in dem Dunst etwas bewegte, etwas Lebendiges und Furchterregendes.

Nachdenklich blickte er zu den hoch aufragenden Gipfeln über ihnen auf. Sie befanden sich auf halbem Weg den Berg hinauf, und der Nebel schien langsam zu ihnen herabzusinken. Für den Fall, dass er sie erreichte und sie hier im Freien kampieren mussten, hatten sie die nötige Ausrüstung dabei, doch es würde eine ungemütliche Nacht werden.

»Gib es auf, Joie, und lass uns hier verschwinden!«, sagte er. »Dieser Ort ist mir unheimlich. Ich mag die Schwingungen hier nicht.«

Gabrielle wandte sich ihrem Bruder zu. »Ach, wirklich, Jubal?«, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue. »Das ist komisch, weil ich nämlich genau das gleiche Gefühl habe – als sollten wir nicht hier sein oder als störten wir an diesem Ort irgendwie. Glaubst du, dass es die vielen Vampirgeschichten waren, die wir gestern Abend in dem Gasthof hörten, die uns so nervös gemacht haben? Normalerweise finde ich gruselige Geschichten ja ganz lustig, aber heute bin ich richtig ängstlich.« Sie erhob die Stimme, um von ihrer jüngeren Schwester gehört zu werden, die um die Felszunge herumgegangen war und einen weiteren aus dem Berg hervorstehenden Kalksteinfelsen untersuchte. »Was ist mit dir, Joie? Ist dir dieser Ort nicht auch unheimlich?«

»Wir sind hierhergekommen, um die Höhlen zu erforschen«, gab Joie entschieden zurück. »Wir sind immer sehr respektvoll im Gebirge und lassen nie etwas zurück, also besteht kein Anlass, so nervös zu sein. Die Berggötter haben keinen Grund, sich über uns zu ärgern, falls es überhaupt so etwas gibt. Ich weiß, dass hier der Eingang ist. Ich kann spüren, dass ich schon ganz in der Nähe bin.«

Aufmerksam strich sie einen langen Riss im Fels nach, bevor sie wieder um die Felszunge zurückging und über die ausgestreckten Beine ihres Bruders stieg, ohne ihm auch nur einen Blick zu gönnen. Ihr immer heftigeres Herzklopfen war ein sicheres Anzeichen, dass sie der Öffnung nahe war. Sie schloss die Augen und versuchte, sie sich vorzustellen und den Weg im Geiste zu »ertasten«. Ihre Besessenheit nahm zu und mit ihr die Überzeugung, dass dies der richtige Ort war.

»Der Eingang ist hier, ich weiß, dass er hier ist«, murmelte sie vor sich hin.

Die anderen spüren die Bedrohung durch die Vampire. Ihr müsst gehen, Joie, drang Traians leise, warnende Stimme in ihr Bewusstsein und brachte eine Unheil verkündende Kälte mit.

Oh, jetzt wirst du mir auch noch erzählen, du glaubtest an Vampire! Du bist nicht real, also sei still, und hör auf, mich abschrecken zu wollen. Ich gehe nicht eher, bis ich mir sicher bin. Sie dachte nicht daran, ihm Vampirgeschichten abzukaufen. Damit wollte er sie nur vertreiben.

Du weißt es schon; du kannst dir die Wahrheit nur nicht eingestehen. Ich sitze in dieser Höhle fest und werde dich nicht retten können, falls ihr ihnen begegnen solltet.

»Mich retten?« Joie schrie fast, und ihre grauen Augen blitzten vor Empörung. Als es ihr bewusst wurde, wandte sie sich schnell mit einem beruhigenden Lächeln zu ihrem Bruder und ihrer Schwester um.

Gabrielle und Jubal, die an Joies Selbstgespräche gewöhnt waren, wenn sie auf der Spur einer neuen Höhle war, wechselten einen langen amüsierten Blick. Nur wenige Leute waren so geschickt darin wie ihre jüngste Schwester, magische Welten unter der Erdoberfläche zu entdecken.

Mich retten?, zischte sie im Geiste. Du kannst mich ruhig beißen, Traian. Hast du eine Ahnung, wie ärgerlich es für jemanden wie mich ist, wie ein dummes kleines Ding behandelt zu werden, das sich nicht selbst zu helfen weiß? Da debattierte sie schon wieder mit der Stimme in ihrem Kopf! Dabei versuchte Joie immer noch zu entscheiden, ob alles nur Einbildung war oder real.

Ich hätte nichts dagegen, dich zu beißen. Diesmal lag eine eindeutige sexuelle Anspielung in seiner Stimme. Aber ein andermal wäre besser. Und jetzt mal ganz im Ernst, Joie, ich bin in Schwierigkeiten, und falls es dir durch irgendeinen Zufall tatsächlich gelingen sollte, zu mir zu gelangen, bin ich nicht sicher, ob ich dich und deine Begleiter hinreichend vor Schaden bewahren könnte.

Joie fröstelte unwillkürlich, obwohl gleichzeitig eine wohlige Wärme in ihrem Innersten erwachte. Wenn du so weitermachst, werden mein Bruder und meine Schwester mich für verrückt halten und einsperren lassen. Und wo wirst du dann sein? Zum Glück wehte der Wind ihr das dunkle Haar ins Gesicht und verbarg ihren Gesichtsausdruck vor ihren Geschwistern.

Und nur zu deiner Information, Sir Galahad – ich bin nicht der Typ, der gerettet werden muss, also schlag dir das am besten schnellstens aus dem Kopf. Du lieber Himmel! Zuerst sind es Vampire, und nun muss ich gerettet werden. Würdest du einfach mal die Klappe halten und mich meine Arbeit tun lassen? Denn vermutlich wirst du mir nicht den einen oder anderen Hinweis geben wollen, falls du tatsächlich da unten bist und weißt, wo der Eingang zu der Höhle ist.

Jubal legte sich im hohen Gras zurück, verschränkte die Arme im Nacken und beobachtete die Wolkenbildung. Der Nebel drang immer weiter vor und strömte in grauen, lang gezogenen Schwaden herab. Sie erinnerten an gigantische Hände, die sich nach ihnen ausstreckten. Einige der dichteren Nebelschleier reichten noch tiefer und schlängelten sich schon um Joies Beine, die jetzt wieder um das ausstreichende Gestein herumging, als würde sie wie magisch von der gleichen Stelle angezogen.

»Du bist wie ein Spürhund auf der Fährte eines Kriminellen«, sagte Jubal zu ihr, während er mit schmalen Augen die schlangenähnlichen Nebelfäden beobachtete. »Aus dir wäre ein prima Detektiv geworden.«

»Das stimmt«, pflichtete ihm Gabrielle mit einem kleinen Grinsen bei. Auch sie lag in dem hohen Gras, sah sich die strahlend blauen Blumen mit ihren symmetrischen Blüten an und wartete darauf, dass ihre Schwester für heute Schluss machte. Die Mengen von schönen Blumen waren ungewöhnlich, aber unter der Erde schien sich etwas Unheilvolles zu verbergen, eine obszöne, boshafte Präsenz, die nur Zentimeter weit entfernt war von den zarten Blüten.

Der Wind pfiff über den Hang. Die Blumen erzitterten, und einige schlossen sich sogar sehr schnell. Gabrielle schnappte nach Luft und zog die Beine an. Dann setzte sie sich auf und blinzelte verwirrt.

»Was ist?«, fragte Jubal.

»Ich weiß nicht. Für einen Moment glaubte ich zu sehen, wie sich unter der Erde etwas bewegte. Ich weiß, das klingt verrückt, Jubal, doch der Boden hob sich etwa einen Zentimeter an, als kröche etwas Lebendiges darunter durch.« Sie schaute sich um und bemerkte erst jetzt den Nebel, der auf sie zuströmte. »Dieser Ort ist mir wirklich nicht geheuer.«

»Komm schon, Joie! Wir verschwinden hier«, beschloss Jubal und begann, ihre Ausrüstung einzusammeln. »In zwei Stunden wird es sowieso schon dunkel.«

Joie war dabei, jeden Zentimeter des Felsvorsprungs und der Nischen rechts und links davon zu untersuchen. Der Fels war mit Gesträuch und Gräsern überwachsen, und in der Nähe erhoben Wildblumen ihre bunten Köpfe zu der schwächer werdenden Sonne, um die letzten Strahlen aufzufangen.

Mit schmalen Augen trat Joie so nahe wie möglich an die große Felszunge heran und konzentrierte sich voll und ganz auf die vorspringende Oberfläche und jeden Riss und Schatten. »Ich habe mich noch nie im Leben so getrieben gefühlt. Ich glaube nicht, dass ich gehen kann, ohne den Eingang gefunden zu haben«, gab sie ehrlich zu. »Tut mir leid – aber wenn ihr von hier verschwinden wollt, nur zu. Ich komme nach, sobald ich kann.«

Jubal und Gabrielle wechselten einen langen, vielsagenden Blick. »Na klar, Schwesterchen, wir werden dich einfach ganz allein hier oben lassen. So wie wir dich kennen, würdest du in einer Höhle verschwinden und dich mit einem Troll zusammentun«, sagte Gabrielle. »Wenn du so weitermachst, wird genau das passieren, was Mom dir immer prophezeit.«

»Ha, ha«, antwortete Joie, die noch immer stirnrunzelnd den Felsvorsprung abtastete.

»Wie heißt dieser Gebirgszug eigentlich?«, fragte Jubal wie nebenbei, aber sein Blick ruhte aufmerksam auf seiner Schwester, die nicht aufhörte, den Fels zu untersuchen. »Die Moore sind sogar recht schön. Wenn es nicht so gruselig hier wäre, könnte ich in dieser Gegend leben.« Als Gabrielle ihn mit erhobener Augenbraue ansah, lachte er. »Ehrlich. Ich muss nicht in einer Stadt wohnen. Ich habe die gleichen Gene wie ihr beide. Ich hab nur gern Geld, wisst ihr. Das brauche ich für euch beide, um euch aus all den Schwierigkeiten herauszuhelfen, in die ihr euch bringt.«

»Du Spinner«, sagte Joie liebevoll, doch ohne ihn anzusehen. »Du hast genug Geld, um deinen blöden Job zu kündigen und etwas Nützliches mit deinem Leben anzufangen. Etwas Humanitäres. Hier ist ein kleiner Sprung, der über die ganze Länge des Steins verläuft. Etwas daran ist komisch, Jubal, komm mal her und sieh ihn dir an! Du bist ja ungewöhnlich gut im Lösen von Rätseln.«

»Mein humanitärer Beitrag an die Welt ist, auf euch zwei Abenteuerlustige aufzupassen«, stellte Jubal klar, während er sich langsam aufrappelte. »Ohne mich, um euch zu bremsen, wäre die Welt ein beängstigender Ort.« Er blickte zu den seltsamen, sich immer tiefer herabbewegenden Nebelschleiern auf. »Ungefähr so beängstigend wie dieser hier«, sagte er und schlenderte zu Joie hinüber, um die Oberfläche des Felsvorsprungs zu untersuchen.

»Wir sind in den Apuseni Mountains, die zu den Karpaten gehören, du Banause«, klärte Gabrielle ihren Bruder auf. »Wenn du auch nur ein bisschen darauf achtgegeben hättest, was wir sagten, wüsstest du das. Und du könntest genauso wenig deine Luxuswohnung aufgeben und in den Bergen leben, wie du den englischen Kanal durchschwimmen könntest. Und vielleicht darf ich noch hinzufügen, dass wir es sind, die auf dich aufpassen.«

»Hier!«, sagte Joie triumphierend. »Ich kann den Atem der Höhle im Gesicht spüren. Der Eingang ist hier. Ich habe bloß keine Ahnung, wie wir hineinkommen sollen.«

»Hey! Jetzt tu mal nicht so, als könnte ich nicht schwimmen«, protestierte Jubal, der stirnrunzelnd mit der Hand über den Felsen fuhr. »Dass ich es nicht gern tue, heißt nicht, dass ich es nicht kann. Ich bin nur nicht mit Kiemen auf die Welt gekommen wie ihr beide. Joie hat etwas gefunden, Gabrielle. Es ist ein Muster, aber es muss …« Er beendete den Satz nicht, sondern griff mit den Fingern um mehrere der kleineren Steine herum und begann, sie neu zu ordnen.

»Na, das ist aber eine Überraschung«, murmelte Gabrielle und erhob sich ebenfalls. Die kühle Bergluft vibrierte förmlich vor Erregung. »Du könntest immer noch bei mir im Labor anfangen und gefährliche Viren mit mir erforschen«, scherzte sie und legte einen Arm um ihren Bruder.

»Ja, da sollte ich einsteigen, Gabrielle, weil ich ein Verrückter bin und einen elenden, aber noblen Tod sterben möchte«, sagte Jubal und zerzauste seiner Schwester das dunkle Haar. »Aber ich denke, ich halte mich lieber an meine Aktien und Fonds und lass dich deine verrückten Forschungen allein durchführen.«

»Fühl mal!« Joie drehte sich aufgeregt zu ihrem Bruder um. »Der Berg atmet durch den Höhleneingang aus.«

Jubal nickte zufrieden. »Na also. Du liebe Güte, seht euch das mal an! Wie üblich findet Joie den Eingang, und dieser hier ist wirklich ganz schön merkwürdig.«

Ein Zittern durchlief den Berg, und er knarrte, als Jubal den letzten Stein in der Reihe ablegte, die er als Muster sah. Der Spalt verbreiterte sich, und der Fels setzte sich laut knirschend in Bewegung. Eiskalte Luft schlug ihnen entgegen, als bliese der Berg ihnen tatsächlich seinen Atem ins Gesicht.

»Das hier ist von Menschenhand geschaffen und nichts Natürliches. Verdammt, Joie, geh da bloß nicht rein!« Jubal zog seinen Rucksack heran und nahm ein Notizbuch heraus, in dem er sorgfältig die Zeit eintrug. »Dies hier ist nur eine oberflächliche Untersuchung. Außerdem ist es schon kurz vor Sonnenuntergang, und niemand weiß, wo wir uns befinden.«

Zu spät. Joie war zu aufgeregt, um abzuwarten, und beachtete nicht die althergebrachten Regeln, die sie sicherheitshalber stets befolgt hatten. Sie quetschte sich schon durch den Spalt und schleifte ihre Ausrüstung hinter sich her.

Fluchend legte Jubal das Notizbuch neben die Spalte und beschwerte es mit zwei Steinen, um den Eingang für ein Rettungsteam zu kennzeichnen, falls sie sich in dem Netzwerk von Höhlen verirren sollten, in das sie im Begriff waren hinabzusteigen.

Gabrielle schulterte ihre Ausrüstung und folgte Joie. »Der Eingang ist sehr schmal, Jubal«, warnte sie. »Gib mir deinen Rucksack, sonst kommst du hier nicht durch.«

Jubal blickte ein letztes Mal zum Himmel auf und sah, dass die Wolken, die vorher noch so träge daran entlanggezogen waren, sich zu einer Unheil verkündenden, gewaltigen Masse zusammenballten. Die gesamte obere Hälfte des Berges war jetzt in Dunst gehüllt, der wie ein fantastischer weißer Schleier aussah, der langsam über das gesamte Bergmassiv gezogen wurde. Und Jubal und seine Schwestern befanden sich praktisch in den Wolken, vollkommen vom Tal und allem anderen abgeschlossen. Der Nebel war schon unter ihnen, breitete sich über den tieferen Feldern aus und machte den Geschwistern den Abstieg unmöglich, während auch das aufziehende Unwetter sich ihnen sehr schnell näherte.

Entschlossen schob sich Jubal in den ausgezackten Spalt, wo er mit der Brust an der Kalksteinwand entlangschrammte, als er seinen viel größeren Körper in den schmalen Tunnel zwängte.

Hinter ihm verstärkte sich der Wind mit einem jähen Heulen und peitschte über den Berg, während seltsame, gespenstische Schreie von den Gipfeln herunterschallten. Nebel umwogte die Bergspitze, angetrieben von einem kleinen Wirbelsturm, der Jubals Notizbuch unter den Steinen herausriss und es den Hang hinunterschleuderte, direkt in eines der vielen Torfmoore hinein, wo es in dem trüben Wasser langsam unterging.

Der Berg stöhnte, Felsen ächzten. Der Boden unter ihren Füßen erbebte, schwankte und wellte sich von jähem Leben.

»Festhalten!«, schrie Jubal seinen Schwestern zu. »Das ist ein Erdbeben.«

Alle griffen nach irgendetwas, um sich festzuhalten. Joie fand zwei Löcher im Fels, in die sie die Finger stecken konnte, und hoffte, dass das schreckliche Gefühl der Angst in ihrem Bauch nicht bedeutete, dass sich auch der Tunnel selbst verlagern und verengen würde. Gabrielle ballte eine Hand zur Faust und stützte sich mit der anderen, flachen Hand dagegen ab. Sie biss sich auf die Lippe vor Angst, dass die Decke einstürzen würde. Jubal musste einen Undercling benutzen, einen Bergsteigergriff, bei dem man mit der Hand von unten unter einen Vorsprung greift, und konnte nur hoffen, nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren, als der Boden erzitterte.

Draußen vor dem Tunnel rollten Steine von der Felszunge weg und blieben in einem harmlos aussehenden Haufen direkt am Fuß der sich langsam verengenden Spalte im Fels liegen. Das unheilvolle Knirschen von Gestein schallte durch die Höhle und hallte in dem engen Tunnel wider. Dunkelheit legte sich über den Eingang, und die Geschwister schalteten schnell die in ihren Helmen eingebauten Lampen ein.

Joie bewegte sich erstaunlich schnell durch den schmalen Gang und war ihrem Bruder und ihrer Schwester bald schon weit voraus. Da die Decke immer niedriger wurde, war sie gezwungen, sich vorzubeugen, und irgendwann auf allen vieren und schließlich sogar auf dem Bauch voranzukriechen.

»Es ist eng hier, Jubal!«, rief sie ihrem Bruder zu. Das Gefühl der Dringlichkeit, das sie vorantrieb, wurde nur von der wachsenden Anspannung in ihrem Magen gedämpft. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Höhle.

Normalerweise waren Höhlen ganz erstaunliche und wundervolle Orte. Faszinierend und geheimnisvoll, waren sie die letzte Grenze für jemanden wie Joie, die Wege gehen wollte, die noch niemand sonst gegangen war, um Dinge zu entdecken, die noch kein anderer zu erforschen gewagt hatte.

Die Kühle des Felsgesteins um sie herum gefiel ihr, und das stetige Geräusch des aus zahllosen Spalten herausströmenden Wassers und die jähen, in absolute Finsternis abfallenden Kluften verstärkten noch die unwirkliche Erfahrung, auf dem Bauch durch eine schmale Felsspalte zu kriechen. Sie schlängelte sich weiter, bis sie die kühle Luft spüren konnte, die aus einer unterirdischen Kammer kam.

Fast unmittelbar vor ihr befand sich ein weiterer Tunnel, eine Art Kanal, der in Hunderten von Jahren von dem stetig durch den Kalkstein hindurchrauschenden Wasser aus dem Fels herausgewaschen worden war. Sie betrat ihn ohne Zögern und ignorierte das ungute Gefühl in ihrem Magen, das ihr als Warnung vor kommenden Unheil hätte dienen sollen. Aber alles in ihr verlangte, dass sie weitermachte, selbst wenn sie sich nur mit den merkwürdigsten Verrenkungen durch den Tunnel schlängeln konnte.

»Nicht so schnell, Joie«, warnte Jubal. »Bleib in unserer Sichtweite.«

»Ihr Verhalten gefällt mir nicht«, flüsterte Gabrielle. »So habe ich sie noch nie erlebt. Sie hält sich sonst immer an die Sicherheitsvorschriften, das weißt du, Jubal. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.« Eine Welle der Übelkeit stieg in ihr hoch. Ihr drehte sich fast der Magen um, und eine schreckliche Beklommenheit erfüllte sie. »Etwas Furchtbares wird geschehen, wenn wir Joie nicht aufhalten.«

Jubal wartete, aber Gabrielle hielt in dem schmalen Tunnel inne und blockierte ihm den Weg. »Geh weiter, Gabrielle«, sagte er. »Wir werden sie einholen und zur Vernunft bringen. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit Höhlenforschung und wird nicht alles vergessen haben, was sie je gelernt hat.«

»Ja, aber seit sie in Österreich verletzt wurde, ist sie verändert«, gab Gabrielle zu bedenken. »Abwesend. Ruhelos. Getrieben.«

»Sie ist immer sehr konzentriert, wenn sie in eine Höhle geht. Und eine bisher noch unerforschte wie diese hier ist eine große Entdeckung. Wir haben keine Ahnung, was wir finden werden. Natürlich ist Joie aufgeregt.«

»Du weißt, dass es nicht nur das ist; sie war schon auf der ganzen Reise anders. Sogar vorher schon. Sie ist stiller. Und Joie war niemals still. Aber jetzt scheint sie die halbe Zeit mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Ich habe das Gefühl, als verlören wir sie, Jubal – als zöge sie irgendwas in eine andere Welt, in die wir ihr nicht folgen können.«

Jubal seufzte schwer. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, nicht zu wissen, was du meinst, doch all das ist genau der Grund, warum ich euch auf diese Reise begleitet habe. Auch ich bin sehr besorgt um sie gewesen.« Er streckte die Hand aus und stieß seine Schwester an. »Beweg dich! Ich kann sie jetzt nicht mal mehr hören.«

»Ich kann mich nicht bewegen, Jubal.« Gabrielle klang sehr verängstigt. »Ich kann es wirklich nicht.«

»Steckst du fest?« Nach außen hin blieb Jubal ganz ruhig, doch in Wahrheit beschlich ihn nun auch dieser heimtückische dunkle Schrecken.

»Nein«, flüsterte Gabrielle. »Ich kann mich nur einfach nicht bewegen. Hast du schon mal den Ausdruck ›wie gelähmt vor Furcht‹ gehört? Ich glaube, genau das passiert mir gerade.«

»Gabby«, sagte Jubal so ruhig und gefasst, wie er konnte. »Wovor hast du Angst?«

»Ich weiß es nicht. Joie verhält sich so unkontrolliert und … Kannst du es nicht spüren? Die Höhle will uns nicht in ihrem Innern. Hörst du das Geräusch des Wassers? Diese Höhle ist böse, Jubal.«

»Deine Fantasie geht mit dir durch, Gabrielle. Atme einfach mal tief durch. Du bist nicht klaustrophobisch und auch nicht abergläubisch. Falls Joie in Schwierigkeiten ist, müssen wir ihr helfen. Und das können wir nur, indem wir bei ihr bleiben und das hier mit ihr durchstehen.«

»Ich bemühe mich ja.« Gabrielle versuchte, die Zehen zu bewegen, um die merkwürdige Lähmung zu durchbrechen.

Joie drängte voran, als die Decke höher wurde und ihr das Gehen wieder ermöglichte. Irgendwann mündete der Gang in eine große Kammer.

»Hey, ihr zwei, hier drinnen ist es viel besser. Es ist wie eine große Galerie.« Sie leuchtete den Bereich mit ihrer Lampe aus und bemerkte die fingerähnlichen Gebilde um einen großen gähnenden Abgrund mitten in der Kammer. »Hier sieht es aus wie in einer Kathedrale. Überall haben sich Eiskugeln gebildet, und die unteren Schichten dieser Eisskulpturen sind in fantastischen Blau- und Grüntönen gefärbt.«

Joie blickte in den scheinbar bodenlosen Abgrund hinab, und ihr Herz hämmerte fast schmerzhaft hart vor Erwartung, nicht nur wegen der Entdeckung einer Höhle, die noch nie jemand betreten hatte, sondern auch wegen eines fiktiven Mannes, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

»Eisstalagmiten en masse, Gabrielle, sie sind überall auf dem Boden, aber das bedeutet, dass die Temperatur hier unter den Gefrierpunkt geht! Wir werden vorsichtig sein müssen!«, rief sie über die Schulter und starrte wieder in das tiefe dunkle Loch hinunter.

Sie war immer beherrscht vom Reiz des Unbekannten, wenn sie in eine Höhle kam. Die Vorstellung, irgendwo zu sein, wo vielleicht noch nie zuvor jemand gewesen war, war stets ein unbeschreibliches Gefühl, das sie auch nur selten in Worte zu fassen versuchte. Sie musste das Unbekannte erforschen, war geradezu davon besessen, es zu tun. Sie hatte sich einen guten Ruf erworben, und viele Länder erteilten ihr die Genehmigung, Höhlen zu erforschen und zu kartografieren. Oft brachte sie auch Proben für Wissenschaftler mit. Das war zwar Gabrielles Bereich und nicht der ihre, aber sie assistierte ihr, so oft sie konnte.

»Es liegen auch ein paar Eisbrocken um die Öffnung herum, die ich entfernen werde. Wir können so etwas Gefährliches nicht über uns hängen lassen, wenn wir hinuntersteigen.« Sie benutzte ihren Eispickel, um so viele der Brocken loszulösen, wie sie konnte. Gelegentlich hörte sie das Knacken und Knirschen, das ihr verriet, dass das Eis von seinem eigenen Gewicht heruntergedrückt wurde und der Druck ein großes Stück wie eine Rakete hervorbrechen und mit genügend Kraft durch den leeren Raum schießen lassen könnte, um einen von ihnen zu töten.

»Beeilt euch, Jubal!«, rief sie. »Warum dauert das so lange?«

»Gabby braucht einen Moment. Entspann dich, Joie, und gönn dir eine Atempause, während ich mit ihr rede.«

Aber sie konnte nicht warten. Jede Faser ihres Körpers drängte sie dazu, sich zu beeilen. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Das Gefühl der Dringlichkeit vereinte sich mit dieser quälenden Angst in ihr, die sie nicht zum Verstummen bringen konnte. Sie stieg in ihr Gurtzeug, während sie mit aller Kraft versuchte, an der Realität festzuhalten. Traian brauchte sie. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste zu ihm, so schnell es ging.

»Gabrielle! Jubal! Ich beginne schon mal mit dem Abstieg!« Joie überprüfte ihr Geschirr und blickte sich nach dem Kanal um. »Gabrielle! Jubal! Seid ihr okay?«

»Warte auf uns!«, befahl ihr Bruder. »Gabrielle hat ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache, und mir geht es genauso. Ich finde, wir sollten uns ein paar Minuten zusammensetzen und darüber reden. Das Ganze könnte uns mehr in Schwierigkeiten bringen, als wir wollen.«

Joie spürte das hysterische Lachen, das in ihr aufstieg, und unterdrückte es schnell. »Besprechen? Niemand steckt in größeren Schwierigkeiten als ich, Jubal. Ich kann nicht mehr zurück. Ich muss diesen Abstieg machen oder den Rest meines Lebens in einer Gummizelle verbringen. Und glaubt nur ja nicht, dass ich euch veräppele.«

Jubal griff nach Gabrielles Bein. »Sie scherzt nicht, Gabby; sie klingt überreizt, als stünde sie am Rande der Hysterie.«

»Ich kann nicht.« Gabrielle begann zu weinen.

»Beweg dich, Gabby, und zwar auf der Stelle!«, befahl er und erhob die Stimme, um sicherzugehen, dass seine jüngste Schwester ihn hören konnte. »Joie, untersteh dich, diesen Abstieg ohne uns zu machen! Du bleibst, wo du bist, bis wir dich erreichen! Wenn du nicht auf mich hörst, hole ich dich wieder hinauf und bring dich hier heraus!«

Jubal schlug diesen Ton nur selten bei seinen selbstständigen Schwestern an, doch er hatte die gewünschte Wirkung. Angespornt von der Tatsache, dass ihr Bruder ihre zunehmenden Ängste um Joie ganz offensichtlich teilte, kroch Gabrielle weiter.

Erschrocken und schockiert über sich selbst, dass sie den Abstieg ohne Gabrielle und Jubal begonnen hätte, trat Joie von dem Abgrund zurück. Sie war eine erfahrene Bergsteigerin und Höhlenforscherin, für die Sicherheit stets an erster Stelle stand. Deswegen ergab ihr verrücktes Verhalten überhaupt keinen Sinn. Sie befand sich auf gefährlichem Terrain. Eine unerforschte Eishöhle konnte jederzeit zu einer Katastrophe werden für jemanden, der unüberlegt handelte.

Joie presste die Fingerspitzen an die Augen, atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte, das richtige Maß zu finden. Sie durfte das Leben ihrer Geschwister nicht gefährden. Sie wusste, dass sie mitgekommen waren, weil sie sich Sorgen um sie machten. Und sie selbst sorgte sich ebenfalls um ihren Verstand.

Joie, du musst auf mich hören. Ihr seid in Todesgefahr hier unten. Es ist etwas Böses hier, und ihr müsst von hier verschwinden, bevor es zu spät ist.

Joie sog scharf den Atem ein. Da war er wieder, ihr nicht realer Mann. Seine Stimme war gebieterisch, entschieden, sein Ton geprägt von absoluter Überzeugung. Aber es lag auch Schmerz darin. Er war irgendwo dort unter ihr und litt. Sie konnte spüren, wie nahe er ihr war. Er brauchte sie, ob er es zugeben wollte oder nicht. Sie war viele Male mit Rettungstrupps unterwegs gewesen, hatte einige sogar selbst geführt, doch das hier war etwas ganz anderes. Was auch immer Traians Verletzungen waren, er hatte sie sich nicht bei einem Kletterunfall zugezogen.

Seine Angst um sie – um sie alle – setzte ihr zu und ließ sich nicht mehr ignorieren. Joie saß am Rand des Abgrunds und starrte in die dunkle Tiefe. Die nach außen gewölbten Eiswände machten den Kontakt unmöglich, sodass sie beim Abseilen frei in der Luft hängen würden und es schwierig sein würde, ihr Tempo abzubremsen. Sie würden ihre liebe Mühe haben, an einem vereisten Seil die Geschwindigkeit zu kontrollieren. Jubal und sie konnten sehr gut mit einer Abrollspule umgehen, aber für Gabrielle könnte es ein bisschen schwieriger werden. Joie blickte nicht auf, als ihre Geschwister zu ihr traten.

Jubal legte Joie die Hände auf die Schultern. Dann blickte er sich aufmerksam in der großen Kammer um, ließ den Strahl seiner Lampe über die gewölbten Wände gleiten und sah sich die Ränder des Abgrunds an, um die Gefahren für sie einzuschätzen, falls sie sich entschließen sollten, sich in die dunkle Tiefe abzuseilen.

»Joie«, sagte er dann so sanft wie möglich. »Du wirst mit uns reden müssen. Wir müssen wissen, was mit dir los ist. Höhlenforschung ist etwas, was uns allen immer Freude gemacht hat, und wir haben viele Jahre lang Höhlen untersucht, seit Mom und Dad uns schon als Kinder mit Ausrüstungen versorgten. Aber das hier ist nicht lustig. Es ist nicht mal sicher, und ich denke, das weißt du. Wir sind bereit, dir zu folgen und dich zu unterstützen, so gut wir können, doch dazu müssen wir verstehen, was mit dir los ist.«

Gabrielle setzte sich vorsichtig neben Joie und nahm ihre Hand. »Also sag es uns bitte. Wir halten doch immer zusammen. Es besteht kein Grund, irgendetwas vor uns zu verbergen.«

Ein kurzes Schweigen entstand. Dann seufzte Joie und ließ die Schultern hängen. Sie musste es jemandem erzählen. Ihre Geschwister hatten recht; sie war ihnen eine Erklärung schuldig. »Liegt Wahnsinn bei uns in der Familie?« Joie fuhr fort, in das schwarze Loch hinabzustarren. »Denn falls es so ist, hätte uns jemand warnen sollen.«

»Du glaubst, du bist verrückt?« Jubal versuchte zu verstehen. Joie war diejenige, die ständig lachte und so gut wie nie ihren Humor verlor. Sie erhellte die Welt mit ihrem Lächeln, und er hatte noch niemals das Gefühl gehabt, dass sie unter Depressionen leiden könnte.

»Ich höre Stimmen. Oder vielmehr …« Sie zögerte. »Eine Stimme. Immer dieselbe Stimme. Meistens nachts oder in den frühen Morgenstunden. Und wir führen Gespräche. Lange Gespräche. Manchmal sehr ernste und manchmal auch humorvolle.« Sie konnte die Röte spüren, die ihr in die Wangen stieg, und war froh, dass es in der Galerie so dunkel war. »Und hin und wieder auch erotische. Ich ertappe mich dabei, dass ich die ganze Nacht aufbleibe, nur um seine Stimme zu hören und mit ihm zu reden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat sogar einen Namen. Traian Trigovise. Wie könnte ich mir einen solchen Namen ausdenken? Bisher hatte ich einen Namen wie diesen noch nicht einmal gehört. Traian hat einen Akzent – einen europäischen, sehr reizvollen Akzent. Er ist altmodisch und charmant, und ich kann nicht aufhören, mich wie zwanghaft mit ihm zu beschäftigen.«

Gabrielle umfasste Joies Hand noch fester. »Wann hat das begonnen? Wann hast du diese Stimme zum ersten Mal gehört?«

Joie zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Auch Jubal und Gabrielle schwiegen und warteten, bis sie bereit war. Schließlich seufzte sie wieder, weil sie es hasste, zugeben zu müssen, wann die Stimme begonnen hatte, zu ihr zu sprechen. Sie wusste, was ihre Geschwister denken würden, aber für sie war Traian real, und er war in Schwierigkeiten. Und deshalb musste sie ihn finden.

»Nachdem ich in Österreich angeschossen worden war. Ihr wisst ja, wie ich Krankenhäuser hasse. Als sie mich dorthin brachten, zog ich meine kleine Astralnummer ab.« Sie sah ihren Bruder und ihre Schwester kurz an und wandte den Blick dann wieder ab. »Denkt nicht, ich hätte nicht bedacht, dass ich vielleicht nur träumte, als ich ihn das erste Mal sah. Oder dass es die Nebenwirkungen der Narkose sein könnten oder so – doch es war und ist viel mehr als das.«

Wieder warf sie ihren Geschwistern einen raschen Blick zu. Sie hatte ihre volle Aufmerksamkeit, und offensichtlich bemühten sie sich zu verstehen.

»Ich habe schon seit langer Zeit Astralreisen unternommen. Erinnert ihr euch an all die Geschichten übers Fliegen, die ich euch als Kind erzählte?«

»Das waren doch nur Träume«, sagte Gabrielle.

Jubal schüttelte warnend den Kopf. »Sprich weiter, Joie.«

»Nun, ich schätze, es ist mir tatsächlich gelungen. Es ist wirklich so passiert. Das hier muss real sein. Ich glaube, dass der Kontakt zwischen Traian und mir dadurch zustande kam, weil wir beide in einem Sturm und in einem Kampf waren und zur gleichen Zeit verwundet wurden.« Sie zog hilflos die Schultern hoch. »Das ist für mich die einzige vernünftige Erklärung. Und dann ist er nicht mehr weggegangen. Ich konnte ihn in Gedanken zu mir sprechen hören. Er hat etwas Bedeutsames in den Höhlen gefunden. Und da ich ohnehin schon eine Reise mit euch hierher plante, dachte ich, dann könnte ich sie auch nutzen, um zu sehen, ob es ihn wirklich gibt.«

»Joie«, sagte Jubal mit leisem Tadel in der Stimme, »du sprichst von Gedankenübertragung? Mit jemand anderem? Ich weiß, dass wir über telepathische Fähigkeiten verfügen, aber wir sind noch niemand anderem begegnet, der sie hat.«

»Ist das wirklich so weit hergeholt? Ich kann mich an einen anderen Ort versetzen. Ich weiß, wann ich in Gefahr bin. Du bist unheimlich gut mit Mustern, und Gabrielle hat alle möglichen merkwürdigen Fähigkeiten. Wir alle können uns auf telepathischem Weg miteinander verständigen. Ist es so schwer zu glauben, dass auch andere es können? Ich muss dort runter, Jubal. Ich muss wissen, ob Traian real ist und ob er hier an diesem Ort ist. Denn ich spüre ihn. Ich kann es nicht erklären, doch es ist, als wäre er irgendwie in mich hineingekrochen, und ich brauche ihn. Ich muss mir Klarheit verschaffen. Und ich befürchte, dass er verletzt ist.«

»Warum hast du uns das nicht gleich erzählt, Joie?«, fragte Jubal.

»Weil ich die Stimme nicht verlieren wollte«, gab Joie unumwunden zu. »Ich war bei einem Psychologen. Er meinte, ich hätte einen Realitätsverlust erlitten, eine Art Schizophrenie, wahrscheinlich verursacht von der traumatischen Erfahrung, angeschossen zu werden. Ich wollte ihn nicht darauf hinweisen, dass ich mir nicht zum ersten Mal eine Kugel eingefangen hatte – dass es nicht meine schlimmste Verwundung war und auch nicht meine letzte sein wird. Ich habe die Medikamente nicht genommen, die der Seelendoktor mir verschrieb. Ich dachte, vielleicht wäre es gar nicht mal so schlecht, einen Teil meiner Zeit in einer Fantasiewelt zu verbringen. Schließlich funktioniere ich noch und mache meinen Job.« Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab, weil ihr Sinn für Humor sich selbst jetzt nicht unterdrücken ließ. »Glaubt ihr, viele Leute würden einen schizophrenen Bodyguard engagieren? Immerhin bekämen sie dann zwei zum Preis von einem.«

»Komm schon, Joie, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass du verrückt wirst! Du bist …« Gabrielle unterbrach sich, um nach dem richtigen Wort zu suchen. »Du bist du. Du kannst alles und bist überragend gut in allem. Du kannst keine Stimmen hören. Du bist der gefestigtste Mensch, den ich kenne. Ein bisschen durchgeknallt, weil du diese Art von Unternehmungen liebst, doch immer noch sehr … umsichtig und überlegt.«

Joie blickte lächelnd zu ihrer Schwester auf. »Ich höre definitiv eine Stimme. Im Moment sagt er mir gerade, wir sollten von hier verschwinden. Er sagt, es sei gefährlich und dass wir uns alle in Todesgefahr bringen. Genau dieses Wort hat er gebraucht, ein Wort, das ich selbst niemals benutze. Glaubt ihr, dass ich eine gespaltene Persönlichkeit bin? Ich habe immer männliche Tätigkeiten vorgezogen und bin stets ein richtiger Wildfang gewesen. Vielleicht ist das ja bloß meine männliche Seite, die hervorkommt. Und nur, damit ihr wisst, wie verkorkst mein Kopf tatsächlich ist – dieser Mann ist sexier, als ich es bin.«

»Vielleicht rät dir deine Intuition, diesen Abstieg nicht zu machen, Joie«, warnte Jubal. »Wir haben die Sache auch nicht ausreichend vorbereitet.«

»Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte Joie traurig. »Diesmal nicht. Wir haben die Ausrüstung und den nötigen Proviant. Wir sind alle warm genug angezogen. Ich kann mich abseilen und mich dort unten umsehen. Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, könnt ihr Hilfe holen.«

»Du hast mich nicht ausreden lassen. Falls dieser Mann nicht real ist, sollten wir es herausfinden, und sollte er es sein, dann müssen wir ihm helfen, wenn er verletzt ist. Außerdem sind wir eine Familie, und wie Dad immer sagt: ›Wer A sagt, muss auch B sagen‹.«

Gabrielle schüttelte den Kopf. »Wir gehen alle hinunter. Wir bleiben zusammen, Joie. Wenn du es tun musst, tun wir es zusammen, wie immer.«

»Dann sollten wir aufhören zu reden und uns in Bewegung setzen«, warf Jubal entschieden ein.

Joie würde es sich nicht anders überlegen. Was immer sie in diesen dunklen Abgrund trieb, war zu stark, um dagegen anzukämpfen. Und das Grauen in ihm nahm sogar noch zu, als Jubal in das dunkle Loch hinunterblickte. Etwas Übles, Böses lauerte in der Nähe, und er hatte das Gefühl, dass sie schon sehr bald damit konfrontiert werden würden.