26.

12. April 2006

Schweigend fuhren sie die lange Strecke nach Kiew. Als sie das Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte erreichten, zeichnete sich im Osten bereits der erste rötliche Schimmer der Dämmerung ab. Doch Alexander stoppte nicht, sondern fuhr weiter, bis er in einer Seitenstraße ein kleines Cafe entdeckte. Er parkte und zog die Handbremse an.

„Wir werden frühstücken", sagte er, „dann reden wir mit General Simak."

„Frühstücken?"David sah ihn an, als habe er den Verstand ver.

Alexander nickte. „Führungsoffiziere schätzen es nicht besonders, wenn man sie aus dem Schlaf reißt. General Simak wird wesentlich aufgeschlossener sein, wenn wir warten, bis er ausgeschlafen hat."

David widersprach ihm nicht, obwohl Alexander damit gerechnet hatte. Stattdessen öffnete er ohne ein weiteres Wort die Beifahrertür und stieg aus. Er schien nicht mehr unter Schock zu stehen, sondern wirkte wie jemand, der so tief in seine eigenen Gedanken abgetaucht war, dass er seine Umwelt kaum mehr wahrnahm.

Sie frühstückten ebenso schweigend, wie sie gefahren waren. Es gab Tee und süßes fettiges Gebäck, das nach Erdbeeren schmeckte. Die Arbeiter, die müde und mit gekrümmtem Rücken auf Plastikstühlen an der Theke saßen, beachteten die beiden Neuankömmlinge nicht. Alexander war das recht. Er brauchte Ruhe, um über die Dinge nachzudenken, die er Simak erzählen musste.

„Niemand wird uns glauben", sagte David plötzlich.

Alexander nickte. „Ich weiß."

Geistesabwesend tastete er in seiner Jackentasche nach Zigaretten, fand jedoch nur einen Kaugummistreifen.

„Aber wir müssen es versuchen", fuhr er fort und warf einen Blick auf die schmutzig weiße Wanduhr, die über der Theke hing. „Komm, es ist Zeit."

Sie verließen das Cafe und gingen zu Fuß durch die kalte Morgenluft. Einzelne Schneeflocken wurden vom Wind durch die Straßen geweht. Der Himmel war ebenso grau wie der Asphalt.

General Simak kannte Alexander, weshalb er und David ohne Probleme einen Termin bekamen. Im spartanisch eingerichteten Büro des Generals setzten sie sich zusammen mit ihm an einen Holztisch und erzählten ihre Geschichte. Hauptsächlich berichtete Alexander über die Ereignisse, David äußerte sich nur, wenn er direkt angesprochen wurde.

Stunden verbrachten sie in dem kleinen Büro, sprachen mit dem General und einigen eilig herbeigerufenen Physikern und Psychologen. Die ganze Zeit über wirkte David, als interessiere ihn kaum, was um ihn herum geschah.

„Ich werde Oberst Pynsenyk hierher bestellen", sagte Simak, als sie wieder allein waren. „Er soll sich zu den Vorwürfen äußern."

„Heißt das, Sie glauben uns?", fragte Alexander.

Der General lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Er hatte schütteres graues Haar. Seine Uniform spannte sich über seinem Bauch. „Sie wissen, dass ich Ihre Arbeit immer geschätzt habe, Major", begann er, „aber dieses Mal haben Sie sich vielleicht übernommen."

Er deutete mit unmissverständlicher Geste auf die Tür. „Ich muss ein paar Telefonate führen."

„Wir warten draußen." Alexander stand auf und verließ mit Dadas Büro. Der Gang, in dem sie standen, war leer. Hinter einigen Türen hörte man das Klicken von Computertastaturen und leise Stimmen. Es gab keine Stühle, also setzte sich Alexander auf den Linoleumfußboden.

„Danke für die Unterstützung", sagte er sarkastisch. „Du hast mir da drinnen wirklich sehr geholfen."

David zog die Knie an und schlang seine Arme darum, als wolle er sich wärmen. Alexander bereute seine Worte, als er den verlorenen Ausdruck in Davids Gesicht sah. „Hör zu", sagte er leiser, „ich weiß, dass du dir große Sorgen um deine Eltern machst. Aber du musst dich an die Vorstellung gewöhnen, dass sie tot sein könnten."

Oder Schlimmeres, fügte er in Gedanken hinzu.

David schüttelte den Kopf. „Ich weiß, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie die ganze Zeit über in der Zone überlebt haben könnten, aber ich habe immer gefühlt, dass sie noch dort sind."

„Und jetzt glaubst du, dass sie sich verändert haben, dass sie wie der Lehrer geworden sind?", fragte Alexander.

„Ja ... vielleicht." David fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. „Was weiß ich ..."

Wenn man wie Marinin seit über zwanzig Jahren bei der Polizei war, spürte man, wenn jemand etwas zurückhielt. So stark David das Ungewisse Schicksal seiner Eltern auch mitnehmen mochte, seine Gedanken kreisten um etwas anderes.

„Was ist los?", fragte Alexander leise. „Was beschäftigt dich so?"

„Nichts."Davids Stimme verriet die Lüge. Er stand auf und begann unruhig im Gang auf und ab zu gehen. „Wieso sollen wir hier eigentlich warten? Die werden uns doch nur verhaften, wenn sich rausstellt, dass wir Recht haben."

Vor Simaks Bürotür blieb er stehen. „Und gegen das, was in der Zone passiert, kann ein General sowieso nichts machen."

„Wieso nicht?"Alexander blieb sitzen und sprach betont gelassen. „Gegen das ukrainische Militär haben auch die Wissenmit ihren Zombie-Wächtern keine Chance, oder?"

David schwieg.

Alexander stand auf und trat neben ihn. „Oder? ", wiederholte er schärfer.

„Es geht um mehr als diese Experimente." David atmete tief durch. „Wenn ich in der Zone bin, kann ich es spüren. Etwas durchsetzt dieses Gebiet, etwas Fremdes und ... Unbegreifliches."

Er zögerte, suchte nach den richtigen Worten. „Es ist wie ein Virus, das alles infiziert. Die Bäume, das Gras, sogar die Luft. Es kriecht in den Körper und vergiftet den Geist. Wenn man sich darauf konzentriert, beginnt man durch die Welt hindurchzublicken und das zu sehen, was hinter ihr lauert."

Er schluckte. Alexander wagte es nicht, nachzuhaken, wollte den plötzlichen Redefluss nicht bremsen.

David räusperte sich. „Letzte Nacht, als wir Hagenbeck trafen, sah ich dieses Etwas in ihm. Es sah aus wie ein dunkler Schemen, der ihn umgab. Und als ich an mir selbst hinunterblickte, sah ich es auch ... so als wären Hagenbeck und ich ein und dasselbe."

Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht erklären."

„Du machst das gut", sagte Alexander. Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Davids Schilderung verunsicherte.

Der Junge starrte auf die geschlossene Bürotür, aber sein Blick ging weit darüber hinaus.

„Als der Bus verschwand", fuhr er fort, „hat die Zone uns beührt. Mich, Hagenbeck, meine Eltern. Wir gehören jetzt dorthin."

Sein Blick richtete sich auf Alexander; etwas Verzweifeltes und Gehetztes lag darin. „Und ich glaube nicht, dass wir jemals wieder gehen können."

„Was du fühlst", widersprach Alexander rasch, „muss nicht die Realität sein. Du -"

Er unterbrach sich, als er Stiefelsohlen rhythmisch auf das Linoleum knallen hörte. Als er sich umdrehte, sah er einen Soldaten, der mit einem Funkgerät in der Hand auf ihn zu rannte. Alexander wich instinktiv zurück, aber der Mann beachtete ihn nicht, sondern riss ohne anzuklopfen die Tür zum Büro des Generals auf.

„Es gab eine Explosion in Tschernobyl", rief er nach Atem rinin den Raum. „Die Zone hat sich ausgedehnt. Tausende sind tot."

„Was?"Alexander schob sich an dem Mann vorbei ins Büro. „Was genau ist passiert?"

Der Soldat warf einen Blick auf seinen Vorgesetzten. Simak, der bereits aufgestanden war und nach seiner Uniformjacke gegriffen hatte, nickte knapp.

„Wir wissen noch nicht viel", erklärte der Soldat. „Augenzeugen sprechen von einem unerträglich hellen Lichtblitz und von einem Erdbeben. Alle, die sich im Randgebiet der Zone aufgehalten haben, sind tot. Wir wissen noch nicht, ob sie radioaktiv verseucht wurden oder ob etwas anderes sie getötet hat. Die Rettungskräfte sind erst auf dem Weg dorthin."

„Sie dürfen das Randgebiet nicht betreten." Marinin fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Sonst werden sie wahrscheinlich auch sterben."

„Sorgen Sie dafür, dass das verhindert wird", wies Simak seiUntergebenen an. Dann nickte er Alexander zu. „Marinin, Sie kommen mit mir."

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern verließ mit langen Schritten das Büro. Der Soldat folgte ihm wie ein Schatten, Alexander ließ sich etwas mehr Zeit. Er blieb im Gang stehen und sah sich suchend nach David um, doch der Junge war nirgendwo zu sehen. „David?", rief er.

Keine Antwort. Nur Simak drehte sich um und sagte: „Kommen Sie schon, Major. Der Hubschrauber wartet."

Alexander fluchte leise, dann folgte er den beiden Soldaten. Die Suche nach David musste warten.

Die nächsten zwei Monate kam Alexander kaum zur Ruhe. Seine Vorgesetzten hatten ihn auf unbestimmte Zeit an das Militär ausgeliehen, nachdem Simak um seine Versetzung gebeten hatte. So demokratisch man sich in der Ukraine auch gab, wenn ein General etwas wollte, schlugen Zivilisten ihm das nicht aus.

Alexander kam die Versetzung mehr als gelegen. Seit er vor der Katastrophe gewarnt hatte, sah man in ihm einen Experten für all die seltsamen Dinge, die in der erweiterten Zone und ihrer Umgebung geschahen.

Die Frage nach dem Grund für die Erweiterung tauchte immer wieder auf. War es wirklich ein fehlgeschlagenes Experiment, das die Katastrophe ausgelöst hatte oder steckte eine Absicht dahinter, die man außerhalb der Zone nicht begriff?

Darüber dachte Alexander seit Wochen nach. Er wünschte, er hätte mit David über seine Ideen sprechen können, doch der Junge blieb verschwunden. Die Bauern in der Umgebung behaupteten zwar ab und zu, ihn gesehen zu haben, aber Alexander begegnete ihm kein einziges Mal. David schien ihm aus dem Weg zu gehen.

Warum vertraut er mir nicht?, fragte er sich, bevor er seine Gedanken zurück in die Gegenwart zwang.

„... habe mir gestern zwei Häuser in der Nähe von Kiew ange", sagte seine Frau gerade über das Handy. „Beides sehr gute Angebote."

„Und sehr teuer, nehme ich an", antwortete er. Sein Blick richtete sich auf die Stadt, die draußen in Zeitlupe an ihm vorbeizog. Der Abendverkehr von Kiew war berüchtigt, jedoch erträglich, seit Simak Alexander eine Limousine mit Chauffeur zur Verfügung gestellt hatte. Es hatte Vorteile, als wichtig zu gelten.

„Wir können uns das doch leisten, jetzt, wo du so gut verdienst", sagte Alina.

„Fragt sich nur, wie lange noch." Er wusste, wie sehr sich seine Frau den Umzug nach Kiew wünschte. Seit der Erweiterung der Zone sprach sie von nichts anderem mehr. Zwei Kinder, die in die gleiche Klasse wie sein jüngster Sohn gingen, waren dabei ums Leben gekommen. Sie hatte Angst.

Alexander erzählte ihr nur noch wenig von seiner Arbeit. Sie hätte sich nur noch größere Sorgen gemacht, wenn sie gewusst hätte, wie oft er sich am Zonenrand aufhielt.

„Versprich mir, dass du dir das Angebot wenigstens ansiehst, wenn du heute Nacht nach Hause kommst", sagte seine Frau. „Ich lege es dir auf den Schreibtisch."

„Ja, ist gut."Alexander war froh, dass er die Diskussion auf einen späteren Zeitpunkt verschieben konnte.

„Aber guck dir bitte alles an, bevor du auf den Preis achtest."

Draußen begann es zu nieseln. Der Chauffeur schaltete die Scheibenwischer ein.

Alexanders Gedanken waren bereits bei der Besprechung, zu der man ihn gerufen hatte.

„Schon gut", sagte er abwesend ins Telefon. „Wir reden morgen früh darüber."

„Na gut, aber wenn -"

Ein schriller Pfeifton unterbrach sie und stach so schmerzhaft in Alexanders Ohr, dass er erschrocken das Handy zur Seite riss.

„Scheiße!", stieß er hervor.

„Alles in Ordnung, Major?", fragte der Chauffeur mit einem Blick in den Rückspiegel.

Alexander beachtete ihn nicht. Ein Knoten begann sich in seinem Magen zu bilden. Durch den kleinen Lautsprecher des Handys hörte er, wie der Pfeifton plötzlich abbrach.

Vorsichtig hielt er sich das Telefon wieder ans Ohr.

„Alina?", sagte er.

Keine Antwort, kein Rauschen, nur Stille.

„Alina, bist du noch da?"

Sein Daumen schwebte über der Kurzwahltaste, mit der er seinen Hausanschluss erreichen konnte. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, die jetzige Verbindung zu unterbrechen.

Sein Herz begann schneller zu schlagen. Der Knoten in seinem Magen wurde zu einem dumpfen Druck. Er lauschte in die Stille hinein, die ihm so anders erschien, als alles, was er jemals wahrgenommen hatte.

Es ist wie ein Virus, das alles infiziert, flüsterte Davids Stimme in seinem Inneren. Die Bäume, das Gras, sogar die Luft. Es kriecht in den Körper und vergiftet den Geist. Wenn man sich darauf konzentriert, beginnt man durch die Welt hindurchzublicken und das zu sehen, was hinter ihr lauert...

„Wenden Sie den Wagen." Alexander nahm das Handy immer noch nicht herunter. Der Chauffeur, ein älterer Soldat mit Halbglatze, sah nervös in den Rückspiegel.

„Ich kann hier nicht wenden, Major", sagte er. „Das ist eine vierspurige Straße."

Er hatte Recht. Die Limousine war eingekeilt zwischen Lastwagen und Ladas.

Alexander fluchte. „Rufen Sie im Hauptquartier an. Wir brauchen einen Hubschrauber."

„Ja, Herr Major."

Der Soldat fragte nicht, weshalb Alexander nicht selbst die Nummer wählte. Er hätte es ihm auch schwerlich erklären können. In der Stille am anderen Ende der Leitung lag so etwas wie Hoffnung. So lange die Verbindung offen war, so lange konnte die Stimme seiner Frau zurückkehren und vom Hauskauf und der normalen Welt sprechen. Das war immer noch möglich ... so lange die Stille anhielt.

Er zuckte zusammen, als er plötzlich ein Besetztzeichen hörte. Im gleichen Moment klingelte vorne das Autotelefon, das der Soldat gerade aus der Halterung nehmen wollte.

„Major Marinins Wagen", meldete sich der Mann. Er hörte einen Moment zu. Alexander ließ das Handy sinken. Das Blut wich aus seinem Gesicht.

„Major?"Der Soldat legte das Telefon zurück. Seine Stimme zitterte. „Man schickt Ihnen einen Hubschrauber. Etwas ist mit der Zone passiert. Sie hat sich ausgedehnt. In der Stadt, da sind ..."

Alexander schloss die Augen. Er spürte, wie Tränen über seine Wangen liefen.

„... alle tot", beendete er flüsternd den abgebrochenen Satz seines Fahrers. „Dort sind alle tot."