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SPERRGEBIET TSCHERNOBYL, GEFAHRENZONE 1

16. Juli 2004, 16:43 Uhr (Z + 6 Stunden und 11 Minuten)

Armee und Polizei hatten schnell reagiert und das Gebiet rund um die Stille Stadt weiträumig abgeriegelt. Schwere Helikopter beherrschten den Luftraum. Immer wieder rasten die Mi-24 im Tiefflug vorbei. Stählerne Kampfmaschinen im Flecktarnanstrich, die nur darauf lauerten, dass sich irgendein vorwitziger Pressevertreter einen Fußbreit zu weit vorwagte.

Drei Meter hohe Metallstangen, an deren Spitzen rote Wimpel flatterten, markierten das Gebiet, das den autorisierten Sicherheitskräften vorbehalten war. Bewaffnete Infanteristen, die in Sichtweite zueinander patrouillierten, vervollständigten die lückenlose Abschirmung.

Die ukrainische Armee legte sich stets mächtig ins Zeug, um die örtliche Polizei bei Vorfällen rund um die Gefahrenzone zu unterstützen. Alexander hielt den Eifer der Generäle für äußerst verdächtig, obwohl er sich hütete, diese Einschätzung offen auszusprechen.

Routiniert folgte er dem Weg zum Kraftwerk bis zu einem Kontrollposten, der die Straße mit einer doppelten Drahtbarriere und einigen quer gelegten Nagelschlitten blockierte. Zwei MG-Nester links und rechts der Sperre flankierten die Maßnahme, als stünde ein Bürgerkrieg bevor und nicht, als gelte es, ein Unglück zu klären.

Alexander ließseinen Lada Niva langsam ausrollen, um nicht aus einem Missverständnis heraus vielleicht mit einem Kugelhagel begrüßt zu werden. Der linke MG-Schütze nahm ihn trotzdem frontal ins Visier.

Arschloch.

Ein am Straßenrand postierter Unteroffizier wartete auf den Zehen wippend, bis der Wagen vollkommen still stand. Danach kam er an die Fahrertür, bedeutete Alexander mit einer Geste, die Scheibe herunterzukurbeln und verlangte in forschem Ton nach einer gültigen Legitimation. Der uniformierte Polizist, der den Bezirk Tschernobyl vertrat, hielt sich dagegen bescheiden im Hintergrund. So viel dazu, wer auf diesem Posten das Sagen hatte.

Alexander zog einen abgewetzten Dienstausweis hervor. Einen von der alten Sorte, noch mit genietetem Passbild. Auf dem Foto war er mit halblangem, bis über die Ohren gehendem Haar zu sehen.

Der Feldwebel ließseinen Blick fünf Mal von ihm zum Ausweis und wieder zurück wandern, bevor er zu einem Soldaten ging, der ein Funkgerät auf den Rücken geschnallt hatte und ein furchtbar wichtiges Gespräch mit einem Vorgesetzten führte.

Alexander nutzte die Zeit, um seinen rechten Zeigefinger auszustrecken und einige pantomimische Schüsse auf das linke MG-Nest abzugeben. Der Soldat hinter den aufgeschichteten Sandsäcken verzog keine Miene.

Humorloser Typ. Immerhin krümmte er nicht den Zeigefinger. Das musste man ihm wohl schon hoch anrechnen.

Nach über dreiminütigem Funk-Palaver kehrte der Feldwebel zurück und händigte Alexander den Ausweis aus. Seinem verkniffenen Gesicht nach zu urteilen war er maßlos enttäuscht, dass er aufgrund des veralteten Fotos keine standrechtliche Erschießung anordnen durfte.

„Oberst Pynsenyk wünscht Sie sofort zu sprechen", erklärte er salutierend. „Sie finden ihn im Führungsstab, zwei Kilometer die Straße hinunter."

Um den Aufenthalt nicht unnötig in die Länge zu ziehen, behielt Alexander für sich, was ihn Oberst Pynsenyk mal kreuzweise konnte. Stattdessen bedachte er den Leutnant mit einem kühlen Nicken und wartete, bis einige Soldaten die Metallplatten mit den aufgeschweißten Stahlspitzen von der Straße gezogen hatten. Danach umrundete er die seitlich versetzt angeordneten Drahtverhaue und fuhr weiter in Richtung Stille Stadt.

Die Landschaft nahe des Kraftwerks war öde und verlassen. Hohe Grasmeere erstreckten sich zu beiden Seiten der Straße; die Ähren wogten wie Wellen im Wind. Einzeln Birken boten den einzigen Blickfang in diesem trostlosen Areal. Manchmal standen sie in Gruppen zu zweit oder zu dritt, hin und wieder bildeten zwei Dutzend von ihnen sogar einen kleinen Hain. Ansonsten gab es nur niedrige Sträucher und vereinzelte Bretterverschläge, die von Bauern zur Heulagerung oder als Unterstand bei schlechtem Wetter genutzt wurden.

Nervös auf das Lenkrad trommelnd fuhr Alexander weiter, bis rechts der asphaltierten Straße einige Militärfahrzeuge auftauchten. Zwischen ihren Aufbauten ragte die Spitze eines großen dunkelgrünen Zeltes hervor.

Oberst Pynsenyks Hauptquartier.

Alexander lächelte der am Straßenrand auf ihn wartenden Ordonanz freundlich zu und rollte weiter. Er verschaffte sich gerne selbst einen Überblick, bevor ihm so genannte Experten vorzuschreiben versuchten, was laut offizieller Lesart am Tatort geschehen war.

Als links von ihm das Gelände anstieg, drosselte er die Geschwindigkeit und bog von der Straße ab. Lange Grashalme schlugen prasselnd gegen die Wagenfront und schleiften am Blech entlang, während sich der Lada die Anhöhe emporwühlte.

Alexander wurde kräftig auf dem Sitz durchgerüttelt. Einmal, als der linke Vorderreifen in einem Kaninchenbau oder einer anderen Vertiefung landete, gab es einen heftigeren Ruck, doch der Nova war für noch wesentlich härtere Belastungen ausgelegt.

Oben auf der Kuppe angekommen, hielt Alexander an und stieg aus. Wie erwartet, konnte er die Umgebung von diesem Punkt aus gut überblicken. Die trostlosen Ruinen der Stillen Stadt lagen nur noch drei Kilometer entfernt.

Sein verschlissenes Lederholster drückte gegen den rechten Hüftknochen, als er sich aus dem Sitz quälte. Alexander trug immer noch die alte russische PMM, die ihn seit Beginn seiner Dienstzeit begleitete. Die meisten seiner Kollegen waren bereits auf die Fort 12 umgestiegen, ein ukrainisches Fabrikat, das nach und nach als neues Standardmodell eingeführt wurde. So sehr er auch die Unabhängigkeit seines Landes befürwortete, in diesem Punkt war Alexander konservativ. Die alte Makarov war ihm wohl vertraut und hatte sich stets - selbst in brenzligen Situationen - als zuverlässige Waffe erwiesen.

„Warum etwas Bewährtes austauschen?", fragte er, wenn ihn jemand darauf ansprach.

Eine kühle Brise ließ ihn frösteln, während er die Wagentür ins Schloss warf. Alexander schlug den Kragen seiner Windjacke hoch. In Momenten wie diesen vermisste er den alten Armee-Filzmantel, den er auf Betreiben seiner Frau nicht mehr trug.

Beim Gedanken an Alina musste er lächeln.

Ihr hatte er es zu verdanken, dass die Mode der letzten Jahre nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Fast alles, was er trug, hatte sie für ihn ausgesucht. Das feste Schuhwerk, die Jeans, den Pullover und die Trekking-Jacke. Die Sachen waren allesamt funktionell und hielten warm, das konnte er nicht leugnen. Alina verstand etwas von westlichen Markenprodukten.

Alexander zog eine Schachtel russische Zigaretten hervor. Das einzige verbliebene Laster, dem er aber auch nur noch im Dienst frönte. Seinen beiden Jungs zuliebe, denen er daheim mit gutem Beispiel vorangehen wollte.

„Hey! Sind Sie verrückt geworden? Das ist ein Tatort! Sie dürfen hier nicht rauchen!"

Alexander verzog das Gesicht.

Verdammtes US-Fernsehen. Seitdem Satellitenschüsseln für jedermann erschwinglich waren, glaubte jeder ukrainische Provinzbulle, er würde für die CSI Miami arbeiten. Aus halb gesenkten Augenlidern blickte er sich zu der Stimme um, die ihn zurecht gewiesen hatte. Als er sah, dass die auf ihn zulaufende, leicht untersetzte Person zu seiner eigenen Dienststelle gehörte, steckte er die Filterlose grinsend zwischen die Lippen.

„Nur die Ruhe, Leo. Ich pass schon auf. Kennst mich doch."

„Oh! Sie sind's, Major Marinin."

Schnaufend hielt Leonid Smeschko inne. Von wo auch immer er gerade gelaufen kam, die überflüssigen Pfunde auf seinen Hüften raubten ihm beinahe den Atem. „Ich dachte schon, Kiew hätte uns irgendeinen neuen Schlaumeier geschickt, der alles durcheinander bringt."

„Nur keine Sorge." Alexander ließ das Feuerzeug aufschnapund setzte den Tabak knisternd in Brand. „Die hohen Herren werden sich vorläufig aus der Sache heraushalten. Wir sollen uns erst mal schön die Nase blutig schlagen, damit sie uns dann als große Retter in der Not zu Hilfe eilen können."

Um den Uniformierten ruhig zu stellen, hob er seine linke Handfläche auf Hüfthöhe, um zu zeigen, dass er die Asche sicher zu deponieren gedachte. Smeschko achtete aber schon gar nicht mehr auf die Zigarette, die zu Marinin gehörte wie die Flasche Wodka zur Geburtstagsfeier.

„Wirklich unglaublich, was?", fragte er und sah die Straße hinunter, die nach mehreren hundert Metern eine scharfe Linkskurve beschrieb. Dort unten parkte ein Streifenwagen der Bezirkskommandantur Tschernobyl, den Alexander zuvor übersehen hatte.„Diese Gegend ist mir ja schon länger nicht mehr ganz geheuer. Achtundzwanzig Vermisste in knapp vier Jahren, dass ist kaum noch als normal zu bezeichnen. Aber ein kompletter Reisebus, der spurlos vom Erdboden verschwindet? Das hat es selbst in Tschernobyl noch nicht gegeben."

Alexander nutzte die Gelegenheit, um Asche von der Zigarettenspitze zwischen die Gräser zu schnippen. Angesichts des mehrere Quadratkilometer großen Areals würde die Spurensicherung deshalb kaum durcheinander geraten.

„Ist das die Stelle, an der die Soldaten den Jungen gefunden ha?" Er deutete auf einen mit Trassierband abgegrenzten Bereich nahe des Streifenwagens.

„Genau!"Leonid Smeschko nickte eifrig. „Sah schlimm aus, der Bengel. Seine Sachen waren völlig zerfetzt und angesengt, als wäre er aus einem brennenden Auto geschleudert worden. Es gibt aber keine Anzeichen für einen Unfall. Keine Brems- oder Schleuderspuren. Nichts. Der Bus ist wie vom Erdboden verschwunden. Alles, was wir entdecken konnten, war ein lang gezogener Brandfleck nahe des Rathauses. Wenn Sie mich fragen, hat sich da der Grundriss eines Busses in den Teer gebrannt. So ähnlich wie bei dem Bauern im Frühjahr, der mitsamt seinem Traktor verschwand."

Alexander erinnerte sich an den Fall, auf den Smeschko anspielte. „Abgesehen von dir hat damals niemand den Grundriss eines Fahrzeugs erkannt", erinnerte er.

„Ja, sicher", gab der Uniformierte verärgert zurück. „Und wahrscheinlich hat auch diesmal wieder nur ein Blitz eingeschlagen."

Mit kritischem Blick aus zusammengekniffenen Augen musterte er seinen Vorgesetzten, demonstrierte so seine Skepsis. Schließlich konnte bis heute niemand die unheimlichen Wetterphänomene, die diese Gegend immer wieder heimsuchten, schlüssig erklären. Zumindest niemand, der den Ruf eines seriösen Wissenschaftlers genoss.

Im Reich der Scharlatane und Ufologen gab es natürlich genügend Erklärungen, die sich alle mehr oder weniger um die Theorie drehten, dass diese Gegend ein bevorzugtes Landegebiet von Außerirdischen war.

„Und der Junge kann sich an nichts erinnern?", fragte Alexander, um das Gespräch in ernsthaftere Bahnen zu lenken.

„Er wusste nur noch, dass er den Bus verlassen hat", antwortete Smeschko. „Danach ist seine Erinnerung wie ausgelöscht. Aber sie kann ja wiederkehren, sobald der Schock abgeklungen ist."

Das war zweifellos wünschenswert.

„Konnte er sich gegenüber den Soldaten überhaupt verständlich machen?", fragte Alex. „Im ersten Bericht hieß es, er sei Deutscher."

„Ja, aber er spricht unsere Sprache recht gut. Seine Mutter stammt aus dieser Gegend."

„Und der Bus? Kann der nicht einfach ohne ihn weitergefahren sein?"

„Das erklärt aber nicht die Verletzungen des Jungen. Außerdem ist der Bus nicht aufzutreiben. Nicht mal mit Hubschrauber-Unterstützung. Er ist einfach fort, wie weggebeamt..."

Alexander bedachte Smeschko mit einem warnenden Funkeln, denn er verspürte wenig Lust, dass sich der untersetzte Streifenbeamte wieder mal in eine seiner gefürchteten Alien-Entführungstheorien verstieg.

Ein Lautsprecherknacken im Lada bot den willkommenen Anlass, das Gespräch zu unterbrechen.

„Ladka Eins an Marinin!", drang es aus dem Funkgerät.

Alexander beugte sich durch die offene Seitenscheibe und nahm das Handmikrofon aus der Halterung. Wie nicht anders zu erwarten, verbarg sich hinter Ladka Eins der Stab von Oberst Pynsenyk, der ihn dringend ersuchte, zur Lagebesprechung zu erscheinen.

„Verstanden", behauptete Alex, „ich bin schon unterwegs." Dann wandte er sich zu Leonid um. „Los, steig ein. Ich fahre."

„Ich soll mit zu Pynsenyk?", fragte der Uniformierte erstaunt.

„Quatsch, was sollen wir bei dem Kommisskopf?" Alexander ließ sich in den Lada fallen und drückte seine Zigarette im Frontaschenbecher aus. „Du zeigst mir jetzt die mysteriösen Brandspuren, von denen du gerade erzählt hast."