10.
MITARBEITERPARKPLATZ
NORDWESTKRANKENHAUS
19. Juli 2004, 09:32 Uhr
Alexander Marinin trat die Bremse so fest durch, dass die Reifen blockierten und der Wagen über den Schotter des Krankenhausparkplatzes rutschte - mitten in David Rothe hinein, der ihm entgegenlief, als wäre der Tod selbst sein Verfolger.
Doch der Junge entging dem Unfall mit einem Sprung. Marinin sah ihn einen Moment lang auf seiner Motorhaube, dann hörte er hämmernde Schritte auf dem Dach. Metall verformte sich, in der Windschutzscheibe bildete sich ein langer Riss.
Marinin drehte sich im Sitz um. Hinter ihm sprang David auf den Boden und lief ohne auf den Verkehr zu achten über die Straße. Es war beinahe ein Wunder, dass ein Motorrad ihn verfehlte.
„Scheiße!"Ein weiß gekleideter Pfleger lief an Marinin vorbei. Ein zweiter, der ein blutiges Taschentuch unter seine Nase presste, folgte ihm etwas langsamer. Die beiden rannten aus der Ausfahrt und über die Straße, allerdings mit deutlich größerer Vorsicht.
Marinin sah ihnen nach. Durch das geöffnete Wagenfenster hörte er die Rufe einiger Patienten, die so klangen, als würden sie den Jungen anfeuern.
„Was ist denn hier los?", fragte er leise, ohne eine Antwort zu erwarten. Einen Moment dachte er daran, auszusteigen und das Personal nach den Hintergründen dieser Verfolgungsjagd zu fragen, doch dann legte er stattdessen den Rückwärtsgang ein. Es war wichtiger, David zu finden und ins nächstbeste Flugzeug nach Deutschland zu setzen. So lange der Junge hier war, schwebte er in Gefahr, dessen war sich Marinin sicher.
Der Lada rumpelte über die schlechte Straße. Rechts auf dem Feld sah Marinin die Pfleger als weiße Flecke. David hatte die Baumgrenze bereits erreicht, aber die beiden Männer holten auf. Er war ihnen so nahe, dass sie ihn kaum verlieren würden.
Marinin schaltete herunter und bog in einen Feldweg ein. Er schätzte, dass der Rand der Zone weniger als einen Kilometer entfernt lag. Hier hatte das Militär keine Zäune gezogen, sondern begnügte sich mit Hubschrauber- und Geländewagen-Patrouillen. Es gab weder genügend Material noch Personal, um die Zone vollständig von der Außenwelt abzutrennen.
Ein Warnschild bestätigte seine Einschätzung. TSCHERNOBYL-SPERRZONE, stand in roten Buchstaben darauf. Und: VORSICHT - SCHUSSWAFFENGEBRAUCH!
Marinin blickte durch die beschädigte Windschutzscheibe nach oben, sah aber keinen Helikopter, nur den grauen wolkenverhangenen Himmel. Er hoffte, dass sich daran nichts änderte.
Zweige kratzten über den Unterboden des Lada. Marinin hatte David und die beiden Pfleger längst aus den Augen verloren, doch das bereitete ihm keine Sorge. Der Junge kannte sich hier nicht aus, würde also in möglichst gerader Linie auf die Zone zulaufen. Marinin zweifelte nicht daran, dass das sein Ziel war. Kein anderer Ort hätte einen Sinn ergeben.
Wie zum Beweis für seine Gedanken blitzten die weißen Kittel der Pfleger hinter den Sträuchern auf. Die beiden Männer waren stehen geblieben. Einer von ihnen sagte etwas, der andere nickte zustimmend.
Marinin hielt den Lada an, stieg aus und bahnte sich seinen Weg durch das Unterholz. Vor ihm lag eine Lichtung, an deren äußerstem Rand David stand. Rote Wimpel flatterten von den Ästen der fast blattlosen sterbenden Bäume, Holzschilder warnten zusätzlich vor dem Beginn der Zone.
„Mach keinen Scheiß, Junge", sagte der Pfleger mit der gebrochenen Nase nuschelnd. Er und sein Kollege standen auf der anSeite der Lichtung, so weit wie möglich vom Rand der Zone entfernt. „Die Soldaten knallen dich da drinnen ab."
David antwortete nicht. Sein Blick glitt von den Pflegern zu den Wimpeln und wieder zurück. Er wirkte unsicher, aber nicht verängstigt.
„Komm jetzt mit." Der zweite Pfleger machte einen Schritt nach vorne. David wich zurück.
„Nein", antwortete er, „ich lass mich nicht ausfliegen."
Darum geht es also, dachte Marinin und blieb halb hinter einem Baum verborgen stehen. Seine offensichtliche Anwesenheit hätte den Jungen nur noch stärker unter Druck gesetzt.
„Damit haben wir nichts zu tun." Beide Pfleger gingen jetzt auf David zu. Sie schlugen einen Bogen und breiteten die Arme aus, als wollten sie ihn einfangen wie ein durchgegangenes Pferd.
David wich noch weiter zurück. „Haut ab. Lasst mich in Ruhe."
„Tut mir Leid, aber das geht nicht." Die beiden Pfleger nickten einander zu. Sie waren ein sichtlich eingespieltes Team und es gewohnt, Irre und Betrunkene unter Kontrolle zu bringen. Jetzt schlössen sie von beiden Seiten zu David auf, nahmen ihn in die Zange.
Doch der Junge erahnte die Gefahr. Blitzschnell tauchte er unter dem Griff der beiden hindurch. Marinin fluchte durch zusammengebissene Zähne, als er sah, dass jetzt nichts mehr zwischen David und dem dichten Wald lag, dem er die ganze Zeit entgegengelaufen war. Wenn er ihn erreichte, war die Jagd verloren.
Die beiden Pfleger schienen das auch zu begreifen. Mit kraftvollen Schritten rannten sie hinterher. David war dicht vor ihnen. Er stolperte, wäre beinahe gestürzt, fing sich aber im letzten Moment.
Marinin lief jetzt auch los, kam von der Seite auf ihn zu und hoffte, dass allein das plötzliche Auftauchen eines weiteren Verfolgers den Jungen so unter Stress setzen würde, dass er Fehler beging. Doch der schien ihn nicht einmal zu bemerken. Sein Blick war nach vorne gerichtet, in die Zone hinein. Er ließ die roten Warnwimpel hinter sich.
Die Pfleger steigerten das Tempo und waren jetzt so dicht hinter David, dass sie ihn fast berühren konnten. Marinin hörte ihren keuchenden Atem, sah ihre roten, verschwitzten Gesichter. Sie würden nicht mehr lange durchhalten.
Vor ihnen schlug David plötzlich einen Haken. Die Pfleger wurden von der Bewegung überrascht und konnten nicht so schnell folgen. Marinin sah, wie sie vorwärts stolperten, während der Junge die Arme schützend über den Kopf hob, als befürchtete er, von etwas getroffen zu werden.
Es klickte. Einer der Pfleger blieb stehen und blickte nach unten. Seine Arme schienen länger zu werden, sein Bauch blähte sich auf. Er schrie. Der zweite Pfleger fiel zu Boden. Sein Gesicht wölbte sich hervor, die Haut platzte auf.
Marinin spürte, wie etwas an ihm zog und drückte. Er stolperte zurück, unfähig den Blick von den beiden Männern zu nehmen, die vor ihm auseinander gerissen wurden. Die wenigen Sekunden ihres Todeskampfes dehnten sich zur Ewigkeit.
Der Druck verging, die Schreie verstummten. David stand auf und sah zu Marinin herüber.
Bitte folge mir nicht, stand in seinem Blick, dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
Marinin atmete tief durch. Mit zitternden Knien ging er auf die beiden zerfetzten Körper zu, die vor ihm im blutbespritzten Gras lagen. Sie sahen aus, als wären sie von Riesen entzwei gerissen worden. Weder Metallfragmente, noch andere Geschosse verrieten den Grund ihres Todes.
Eine Mine, dachte Marinin. Jemand hat das Gebiet vermint.
Aber es gab weder eine Explosion noch liegt Pulvergeruch in der Luft.
Einen Augenblick überlegte er, ob die Armee vielleicht dafür verantwortlich sein könnte, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Solche Waffen besaßen weder die Ukrainer noch die Russen.
Aber wer dann?
Vor seinem geistigen Auge sah er David, der Sekunden vor der Explosion einen Haken geschlagen und die Hände über den Kopf gerissen hatte. Wieso hatte er gewusst, welche Gefahr drohte?
Marinin blickte in den Wald, in dem David verschwunden war. Die verwachsenen, halb kahlen Bäume bildeten eine schweigende Wand, die zwischen ihm und der Antwort auf seine Fragen stand.
Was ist los mit dir, David?, fragte er sich. Was ist mit dir passiert?