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ABTEILUNG FÜR SCHWERKRIMINALITÄT, 06. APRIL 2006, 17:00 UHR

Die Polizeistation, in der sich auch Marinins Büro befand, war ein tristes graues Gebäude aus stalinistischer Zeit. Unter dem paranoiden Diktator waren Hunderte in den Kellergewölben gefoltert und getötet worden. Selbst heute noch beobachtete Marinin aus seinem Bürofenster manchmal alte Menschen, die draußen die Straßenseite wechselten und sich bekreuzigten. Niemand, der einen solchen Terror erlebt hatte, konnte ihn je vergessen.

Marinin parkte den Lada zwischen zwei Streifenwagen und nickte dem Uniformierten zu, der auf einer Motorhaube hockte. Auf seinen Knien lag eine Boulevard-Zeitung, neben ihm stand eine Teetasse, deren Henkel abgebrochen war.

„Schlimme Sache", sagte der Uniformierte. Marinin war sich nicht sicher, ob er mit sich selbst sprach, blieb aber trotzdem stehen.

„Was meinen Sie?", fragte er.

Der Mann sah auf. Er war ein älterer Beamter mit rotem Gesicht und dicken Tränensäcken. Marinin kannte ihn nicht und vermutete, dass er zu der Verstärkung gehörte, die man angefordert hatte, um Reporter und Sensationstouristen unter Kontrolle zu bringen.

„Die verdammten Mutanten", antwortete der Uniformierte. Sein Zeigefinger strich über die Schlagzeile der Zeitung. „Hiersteht, dass die CIA zu Sowjetzeiten Mutanten gezüchtet hat, die man rund um Tschernobyl ausgesetzt hat, um ..." Er runzelte die Stirn und blickte wieder auf die Zeitung. „Wie war das noch? Also, die CIA."

Marinin schüttelte den Kopf. „Ich will es gar nicht hören. Außerirdische, CIA-Mutanten ... haben denn hier alle den Verstand verloren?"

Er wandte sich ab und ging zur Tür.

„Wenn Sie alles besser wissen, dann sagen Sie mir doch mal, was da draußen passiert", rief der Beamte ihm nach. Es gab nichts, was Marinin darauf hätte antworten können, also schwieg er und betrat die Polizeistation. Um diese Zeit war auf den Linoleum belegten Gängen und in den dunklen Büros kaum etwas los. Die Nachtschicht hatte längst von der Tagschicht übernommen, die meisten Zivilbeamten waren bereits zuhause bei ihren Familien - dort, wo auch Marinin hätte sein sollen. Seine Frau würde nicht mit dem Essen auf ihn warten, dafür kannte sie ihn zu gut, wusste, wie sehr er sich an seinen Fällen festbeißen konnte. Er war froh, dass sie seine Besessenheit tolerierte, auch wenn er sich manchmal fragte, wie sehr sie darunter litt. Gefragt hatte er sie nie danach, vielleicht wollte er es auch gar nicht wissen.

„Major Marinin?" Die Stimme von lakovlev Guba riss Marinin aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und blickte in das kleine Büro, an dem er gerade vorbeigegangen war. Es gehörte eigentlich einem Leutnant der Sitte, doch auf dem Schreibtischstuhl saß der junge übergewichtige Sergeant Guba.

„Lass dich nicht beim Porno Lesen erwischen, lakovlev", sagte Marinin grinsend.

Guba schüttelte den Kopf. Er hatte ein bartloses Babygesicht und dichtes schwarzes Haar. „Bin nicht zum Vergnügen hier, Alexander", antwortete er. „Ich brauche dringend einen Offizier, der zu einem Hof rausfährt, um die Streifenbeamten zu unterstützen. Aber wenn ich von vorne anrufe, geht keiner ans Telefon. Die sehen wohl die Nummer und können sich denken, dass sie arbeiten sollen. Also wollte ich sie von hier anrufen. Die Nummer kennen sie bestimmt nicht."

Marinin lehnte sich gegen den Türrahmen und zündete sich eine Zigarette an. „Hast du schon jemanden gefunden?"

„Nein."Guba sah ihn an. „Außer dir natürlich."

„Vergiss es, ich will auch mal nach Hause." Marinin zog ein Kaugummi aus seiner Jackentasche. Seit vier Monaten und zwölf Tagen rauchte er nicht mehr. Dabei sollte es auch bleiben. „Aber viel Glück bei der Suche."

Drei Schritte weit kam er, bevor Gubas Stimme ihn erneut aufhielt. „Der Hof liegt direkt an der Sicherheitszone."

Marinin blieb stehen.

„Es geht um Mord", fuhr Guba fort. „Und zwar nicht nur um ei."

Marinin trat zurück in das kleine Büro. Der Sergeant lehnte grinsend am Schreibtisch und wedelte mit einem Zettel. „Interesse?"

Beinahe widerwillig nahm Marinin ihm den Zettel aus der Hand und warf einen Blick darauf. „Mann, lakovlev, was hast du nur für eine Sauklaue. Was soll das heißen?"

Gubas Grinsen ließnicht nach. „Sudakov-Hof, liegt direkt neben der alten Kolchose. Weißt du, wo das ist?"

Marinin nickte langsam. Natürlich wusste er, wo das war. Er kannte jeden Quadratmeter rund um das verminte Gebiet, in das sich kein Mensch mehr wagen konnte.

Als die Scheinwerfer des Lada über Scheune und Haupthaus strichen, erkannte Marinin bereits zwei Dinge: zum einen, dass Wassily Sudakov nicht mit weltlichen Reichtümern gesegnet war, zum anderen, dass er aus dem Wenigen, das er besaß, versucht hatte, das Maximale zu machen.

Es war ein alter Bauernhof, Marinin schätzte aus dem neunzehnten, vielleicht sogar achtzehnten Jahrhundert. Das Haupthaus war ein gedrungener einstöckiger Bau, der zwischen hohen alten Kirschbäumen stand. Alle Fenster waren erleuchtet. Ihr Lichtschein erhellte einen gepflasterten Hof, einen Streifenwagen und ein offen stehendes Scheunentor. Darin sah Marinin einen alten, aber gepflegt wirkenden Traktor und sauber eingeordnetes Werkzeug. Sudakov schien seinen Besitz zu pflegen.

Marinin stieg aus und ging auf die Haustür zu. Sie war angelehnt. Dahinter hörte er leise Stimmen. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf, um nicht mögliche Spuren an Rahmen und Klinke zu verwischen. Der Tatort war noch nicht gesichert worden, sonst hätte mehr als nur ein Streifenwagen im Hof gestanden.

Er trat in eine schmale Diele. Holzbohlen knarrten unter seinen Sohlen, an der Wand an einer selbst gemachten Garderobe hingen Mäntel und Kinderdaunenjacken. Darunter standen Gummistiefel und Turnschuhe in unterschiedlichen Größen. Der Geruch von gekochtem Kohl und Zwiebeln lag in der Luft, in ihn mischte sich jedoch etwas Schärferes, Beißendes.

Marinin ging auf die einzige Tür am Ende der Diele zu. Links von ihm führte eine Treppe nach oben, rechts ein offener Durchgang in ein Wohnzimmer. Eine Stehlampe, die neben einem alten Sofa stand, erhellte den Raum. Ein kleiner Fernseher lief ohne Ton, zeigte Eiskunstläufer, die stumm Pirouetten drehten. Ab und zu verschwanden sie hinter den dunklen Spritzern auf der Mattscheibe.

Die Leiche einer Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppichboden, die Arme zum Fernseher ausgestreckt, als hätte sie dort hineinfliehen wollen. Eine Blutlache rahmte Kopf und Schultern ein. Der Hinterkopf war eingedrückt, die langen blonden Haare glänzten blutverschmiert. Marinin schätzte die Frau auf Mitte Dreißig.

Er wandte sich ab und ging zum Ende der Diele, zu der Tür, hinter der er die Stimmen hörte.

„Du perverses Schwein", hörte er ein dunkles Männerorgan sagen. „Was hast du dir dabei gedacht? Aufhängen sollte man dich, du Drecksau!"

„Boris, lass ihn in Ruhe. Ich hab keine Lust auf Stress." Die zweite Stimme klang heller und jünger als die erste.

„Recht hat er, Boris." Marinin kickte auch diese Tür mit dem Fußauf. „Hier hat keiner Lust auf Stress."

Mit einem Blick erfasste er die Situation. Vor ihm lag eine kleine Wohnküche. Im Zentrum stand ein großer, roh gezimmerter Holztisch, an dem mit gesenktem Haupt ein Mann saß. Er war groß und kräftig. Die Hände, die er vor sich wie zum Gebet gefaltet hatte, waren die Hände eines Arbeiters, mit rauer Haut und schwarz umrandeten Nägeln. Blutspritzer bedeckten sie und die nackten Unterarme bis zu den Ellbogen. Das T-Shirt, das der Mann trug, hing schwer und blutig an seinem Körper. Unter dem Stuhl hatte sich eine kleine Lache gebildet. Es roch nach Fäkalien.

Die beiden Polizisten rechts und links neben dem Stuhl nahmen Haltung an. Der Jüngere war wohl noch keine Zwanzig, der Ältere deutlich unter Dreißig. Beide wirkten unbeholfen und irgendwie verloren in ihren schlecht sitzenden Uniformen.

„Major!", sagte Boris.

Marinin nickte ihm zu. „Stehen Sie bequem", sagte er. „Ist das der Verdächtige?"

„Ja, Major, sein Name ist Wassily Sudakov." Boris trat mit dem Stiefel gegen das Stuhlbein. „Los, steh auf!"

Der Mann erhob sich mit immer noch gesenktem Kopf. Er zitterte.

„Ist die Spurensicherung informiert?"

„Nein, Major, wir wollten Ihnen nicht vorgreifen. Aber die Tatsind unverändert."Boris sah Sudakov angewidert an. „Das Schwein hat seine ganze Familie umgebracht."

„Wie viele?"

Der jüngere Polizist meldete sich zu Wort. „Eine Frauenleiche im Wohnzimmer, zwei Kinderleichen oben im Flur."

„Zwei?", hakte Marinin nach. Die beiden nickten.

„Ja, Major", antworteten sie fast gleichzeitig.

„Hat sie mit der Schaufel erschlagen und anschließend ins Bett gelegt und zugedeckt", fügte Boris hinzu. Er nahm den Blick nicht von Sudakov. „Abartiges Schwein!"

Marinin ignorierte ihn, wandte sich stattdessen an den stumm zwischen den Polizisten stehenden Sudakov.

„Sieh mich an, Wassily", sagte er. Der Bauer reagierte nicht. Nur seine Hände schlössen und öffneten sich in einem ständig gleichen Rhythmus.

„Sieh mich an", wiederholte Marinin.

„Ich kann dafür sorgen, dass er Sie ansieht, Major." Boris trat näher an Sudakov heran.

„Sorgen Sie lieber dafür, dass die Spurensicherung kommt und sichern Sie den Eingang."

„Ja, Major."Boris salutierte und verließ den Raum. Der jüngere Polizist wollte ihm folgen, aber Marinin hielt ihn zurück.

„Du bleibst hier. Wie ist dein Name?"

„FedorVolosheninov, Major."

„Gut, Fedor."Marinin ging zum Küchenschrank, zog ein Taschentuch aus der Jacke und öffnete damit den Schrank. Wie erstanden mehrere Glasflaschen mit selbst beschrifteten Etiketten darin und einige Wassergläser.

„Ich werde dir jetzt einen Ratschlag geben", fuhr Marinin fort, während er eine Wodkaflasche und ein Glas herausnahm. „Achte stets darauf, was Boris tut und wie er seine Arbeit erledigt, und wenn du in eine vergleichbare Situation kommst, machst du exakt das Gegenteil. Verstanden?"

Volosheninov runzelte einen Moment lang die Stirn, dann grinste er. „Ja, Major."

Marinin setzte sich an den Küchentisch. Er schüttete Wodka in ein Glas und schob es Sudakov hin. „Setz dich", sagte er. „Trink etwas."

Der Bauer setzte sich. Seine Finger schlössen sich um das Glas. Er wollte es anheben, aber seine Hand zitterte so stark, dass er es wieder absetzen musste. Schließlich hielt er es mit beiden Händen fest und nahm einen tiefen Schluck. Das Licht der Deckenlampe erhellte sein Gesicht. Es war ledrig braun, wie das eines Mannes, der fast sein ganzes Leben draußen verbracht hatte. Seine Oberlippe war aufgeplatzt, ein Auge fast zugeschwollen. Boris hatte seinem Unmut offenbar bereits Luft gemacht.

Sudakov setzte das Glas erst ab, als es leer war.

„Noch einen?", fragte Marinin, aber Sudakov schüttelte den Kopf.

„Ich möchte dich etwas fragen, Wassily."

Sudakov sah ihn an. Er hatte klare blaue Augen, nicht blutunterlaufen und wässrig wie die Säufer, die manchmal in einem Wutanfall ihre Frauen und Kinder erschlugen.

Marinin beugte sich vor, nagelte Sudakov mit seinem Blick fest.

„Wo sind die anderen?", fragte er dann leise.

„Die anderen?"Volosheninovs Frage klang wie ein Echo. „Welche anderen?"

„Die drei Kinder, die ihr noch nicht gefunden habt." Marinin nahm den Blick nicht von Sudakov. „Ich habe die Schuhe unter der Garderobe gezählt. Fünf Paar Turnschuhe in fünf verschiedenen Größen. Wo sind die Kinder, Wassily?"

„Weg."Die Antwort klang emotionslos wie die eines Roboters. „Sie sind weg."

„Was heißt das? Hast du dafür gesorgt, dass sie weg sind?"

„Nein."Sudakov schüttelte heftig den Kopf, die erste Gefühlsregung, die er seit Marinins Ankunft zeigte. „Nein, das hätte ich nie gemacht. Ich hab doch versucht, sie zu beschützen."

„Wovor wolltest du sie beschützen? Wollte ihnen jemand etwas tun?"

Sudakov drehte den Kopf zum Fenster und starrte in die schwarze Nacht. „Da draußen ... etwas hat sie gerufen, und sie sind ihm gefolgt. Zuerst Maria, dann Uliana, dann Petr."

Er brach ab. Marinin beugte sich weiter vor. „Etwas in der Zone hat sie gerufen?"

„Ja, es ging ihnen genauso wie diesem deutschen Jungen, der sich schon wieder hier rumtreibt. Der kann auch nicht anders. Der wird auch von etwas getrieben."

„David Rothe ist zurück?", fragte Marinin verblüfft. „Bist du sicher? Hast du ihn selbst gesehen?"

„Nein."Sudakov schüttelte müde den Kopf. „Aber einige der anderen Bauern. Manche geben ihm sogar zu essen, weil sie glauben, dass er das Böse fern hält. Ich nicht. Ich habe kaum genug, um meine eigene Familie zu ernähren."

„Deine Kinder", erinnerte Marinin. „Sie sind also in die Sperrgelaufen?"

„Ja. Ich bin ihnen gefolgt, um sie zurückzuholen. Ihre Mutter hat so geweint, den ganzen Tag über hat sie in der Küche gesessen und geweint."

! Seine Hand strich über die Tischplatte, als wolle er ihre Tränen [ wegwischen. „Also bin ich gegangen, in die Zone hinein. Sie waren da, ich hab sie gesehen ..." Sein Blick begann zu flackern, l seine Mundwinkel zuckten. „Sie standen im Gras, Maria, Uliana und Petr. Aber sie waren es nicht, nicht wirklich. Ihre Augen waren so leer, so furchtbar leer."

Volosheninov tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe und schüttelte den Kopf. Marinin ging nicht darauf ein.

„Und dann bist du zurückgegangen?", fragte er.

Sudakovs Blick kehrte in die Gegenwart zurück. „Ja. Die Zone wollte mich nicht, aber sie wollte die anderen, Gridia und die Jungs. Sie standen in der Tür, als ich zurückkam."

Er sah Marinin flehend an. „Das konnte ich ihnen doch nicht antun. Ich musste sie doch beschützen."

Sudakov bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Sein ganzer Körper zitterte.

„Deshalb hast du die Schaufel genommen, nicht wahr?" Marisprach leise und ruhig. „Du hast zuerst Gridia erschlagen, weil sie die Stärkste war und sie dich geschlagen hat."

Innerlich entschuldigte sich Marinin bei Boris. Er hatte die Spuren der Schläge falsch gelesen.

„Als sie sah, dass du stärker warst, hat sie versucht durch das Wohnzimmer zu fliehen. Und da hast du zugeschlagen."

Sudakov nickte hinter seinen Händen. „Sie wollte durchs Fenster."

„Währenddessen sind die Kinder nach oben gelaufen. Wieso nach oben, wieso nicht durch die Tür nach draußen?"

Die Fragen schienen Sudakov zu beruhigen. „Ich hatte den Riegel vorgeschoben. Sie waren zu klein, um ranzukommen."

Marinin unterdrückte ein Schaudern, als er an die Kinder dachte, die ihre Hände nach der unerreichbaren Freiheit ausstreckten, während ihr Vater ein Zimmer entfernt die Mutter erschlug.

„Sie wollten durch das Fenster in ihrem Zimmer am Kirschbaum herunterklettern. Das haben sie nicht zum ersten Mal gemacht."

„Aber du hast sie vorher erwischt, Wassily, nicht wahr?"

„Ja."Sudakov nahm die Hände vom Gesicht. Seine Wangen wagerötet und tränennass. „Es ging so schnell. Sie hätten längst schlafen sollen, also hab ich sie ins Bett gebracht."

Er machte eine Pause. „Das war das Einzige, was ich für sie tun konnte."

„Sie ins Bett bringen?", hakte Marinin nach, aber der Bauer schüttelte den Kopf.

„Sie töten. Nur so konnte ich sie vor der Zone beschützen. Es war der einzige Weg." Sein Blick fand sein Gegenüber. „Es war doch der einzige Weg, oder?"

In seiner Stimme lag ein Flehen, dem sich Marinin nicht entziehen konnte.

„Ja, Wassily, es war der einzige Weg."

Marinin lehnte rauchend an der Eingangstür, als die uniformierte Verstärkung Sudakov wenig später abführte. Sie hatten ihm eine Zwangsjacke und Fußfesseln angelegt.

„Immer mehr Irre", hörte Marinin einen älteren Sergeanten namens Ruslan sagen. „Das ganze Land verfällt dem Wahnsinn."

Marinin kannte Ruslan seit Jahren. Der Sergeant war streng gläubiger Christ und Antialkoholiker. Zu Sowjetzeiten hatten seine Vorgesetzten ihn misstrauisch beäugt und kalt gestellt. Jetzt war er zu alt, um noch Karriere zu machen. Die Verbitterung hatte tiefe Falten in sein Gesicht gegraben.

„Was ist los?", fragte Marinin, als Ruslan die Türen des Gefanschloss. „Viel Ärger in letzter Zeit?" Er versuchte nicht zu neugierig zu klingen. Ruslan war vorsichtig. Wenn er glaubte, man wolle ihn aushorchen, sagte er gar nichts.

Doch der Sergeant schien keinen Verdacht zu hegen, denn er winkte nur ab und verzog die Mundwinkel. „Gott straft dieses Land, Alexander. Der Wodka, die Sowjets und der Reaktor, das sind die Plagen, die er über uns gebracht hat. Seit '86 ist es hier doch immer schlimmer geworden, und jetzt auch noch all diese merkwürdigen Himmelsphänomene. Kein Wunder, dass die Menschen verrückt werden. Sie haben keinen Halt in Gott und müssen alles allein durchstehen."

„Scheint doch niemandem zu schaden, wenn der Himmel leuch", sagte Marinin so beiläufig wie möglich.

Ruslan schnaufte und lehnte die angebotene Zigarette mit knappem Kopfschütteln ab. „Das glaubst du vielleicht, aber ich hab allein in den letzten zwei Tagen fast ein Dutzend Leute abtransportiert. Einer saß am Rand der Zone und riss sich mit den Zähnen das Fleisch aus dem Arm. Ein anderer hatte sich die Zunge abgebissen, ein dritter seine Frau erstochen, weil er sie nicht mehr erkannte ... und so weiter. Ich sag dir, Alexander, der Teufel ist über das Land gekommen."

„Nicht der Teufel ...", begann Marinin, doch im gleichen Moment unterbrach ihn ein Schrei aus dem Gefangenenbus. Hinter den vergitterten Heckscheiben tauchte Sudakov auf. „Lasst mich raus!", schrie er. „Ich muss hier raus!"

Sein Blick war starr in die Dunkelheit gerichtet, sein Gesicht eine Grimasse. Einen Moment lang zerrte er hilflos an seiner Zwangsjacke, dann senkte er den Kopf und warf sich gegen die Hecktür. Es knallte, der Bus wackelte, aber die Tür hielt. Der Bus wurde auch bei Razzien eingesetzt und war speziell verstärkt. Sudakov verschwand kurz unterhalb des Fensters, dann kam er vor Wut schreiend wieder hoch. Blut lief über sein Gesicht.

„Scheiße!", brüllte Ruslan. „Wieso ist er nicht angeschnallt?!"

„War er doch", rief ihm Boris vom Beifahrersitz des Streifenzu. „Der muss sich losgerissen haben."

„Unmöglich."Ruslan schüttelte den Kopf und lief auf den Bus zu. Im Inneren nahm Sudakov Anlauf und rammte die Tür mit Kopf und Schultern. Sein Blut spritzte gegen die Scheibe, dann sackte er auch schon benommen zusammen.

Marinin trat die Zigarette auf den Pflastersteinen aus und blickte in die Richtung, in die Sudakov so verzweifelt hatte laufen wollen. In einiger Entfernung kreisten Hubschrauber mit Suchscheinwerfern über dem Gebiet.

Es war die Zone.