Kapitel 8

Mein Name ist Zufall

Artemis Fowls Gehirn, Sekunden bevor Holly Short zum zweiten Mal auf ihn schießt

Artemis saß gefangen in einem Winkel seines Gehirns und verfolgte alles über den Bildschirm in seinem imaginären Büro. Das Szenario war interessant, ja geradezu faszinierend und lenkte ihn sogar beinahe von seinen eigenen Problemen ab. Jemand hatte beschlossen, Foalys Marssonde zu entführen und sie direkt auf Atlantis zu richten. Und es konnte kein Zufall sein, dass die Sonde einen Zwischenstopp in Island eingelegt hatte, um Commander Vinyáya mitsamt ihrer besten Elite-Einheit auszuschalten, ganz zu schweigen vom durchtriebensten − und einzigen − oberirdischen Verbündeten des Erdvolks: Artemis Fowl.

Das ist nicht nur eine Reihe von zufälligen Ereignissen, sondern ein sorgfältig ausgeklügelter Plan.

Es war nicht so, dass Artemis nicht an Zufälle glaubte, aber eine ganze Reihe davon ließ ihn stutzig werden.

Soweit er sehen konnte, gab es eine zentrale Frage: Wer profitierte davon?

Wer profitiert davon, wenn Vinyáya stirbt und Atlantis bedroht wird?

Vinyáya war bekannt dafür, dass sie Verbrechern keinerlei Toleranz entgegenbrachte, somit würden eine Menge Krimineller froh sein, wenn sie aus dem Weg war − aber warum Atlantis?

Natürlich, das Gefängnis! Es muss Opal Koboi sein, sie versucht zu entkommen. Die Sonde löst eine Evakuierung aus, und dadurch gelangt sie aus der Kuppel hinaus.

Opal Koboi, die größte Feindin des Erdvolks. Die Wichtelin, die die Kobolde zum Aufstand angestachelt und Julius Root ermordet hatte.

Es muss Opal sein.

Artemis korrigierte sich: Wahrscheinlich ist es Opal. Keine voreiligen Schlüsse.

Es war äußerst frustrierend, in seinem eigenen Gehirn festzusitzen, während da draußen in der Welt so viel passierte. Sein Prototyp, der Ice Cube, war zerstört worden, und, was noch viel schlimmer war, eine Raumsonde steuerte auf Atlantis zu, die die Stadt vernichten oder zumindest einer mörderischen Wichtelin die Flucht ermöglichen würde.

»Lass mich gefälligst hier raus!«, brüllte Artemis den Bildschirm an, woraufhin sich die schimmernden Vieren zu Quadraten anordneten und ein Gitter funkelnder Energieblitze über den Bildschirm jagten.

Artemis begriff.

Ich bin durch Elektrizität hier gelandet, und genau die versperrt mir jetzt den Weg.

Er wusste, dass es überall auf der Welt immer noch angesehene Institutionen gab, die zur Behandlung diverser psychischer Erkrankungen Elektroschocks einsetzten. Als Holly mit ihrer Neutrino auf ihn geschossen hatte, war Orion, sein anderes Ich, offenbar durch den Stromstoß verstärkt worden und hatte die Herrschaft übernommen.

Zu schade, dass Holly kein zweites Mal auf mich schießt.

Holly schoss ein zweites Mal auf ihn.

Artemis stellte sich vor, wie zwei zuckende Blitze durch die Luft schossen und den Bildschirm weiß aufglühen ließen.

Normalerweise dürfte ich keinen Schmerz spüren, sagte sich Artemis optimistisch, da ich technisch gesehen im Moment bewusstlos bin.

Doch bewusstlos oder nicht, Artemis verspürte ebenso viel Schmerz wie Orion.

Etwas anderes war an diesem Tag auch nicht zu erwarten, dachte er, als seine virtuellen Beine unter ihm nachgaben.

Nordatlantik, Gegenwart

Eine Weile später kam Artemis mit dem Geruch von versengtem Fleisch in der Nase zu sich. Er wusste, dass er sich wieder in der wirklichen Welt befand, weil er die Gurte spürte, die gegen seine Schultern drückten, und den nicht unbeträchtlichen Seegang, von dem ihm übel wurde.

Als er die Augen öffnete, sah er Foalys Rumpf vor sich. Das eine Hinterbein des Zentauren zuckte heftig, während er im Traum gegen irgendwelche Dämonen kämpfte. Irgendwo spielte Musik. Vertraute Musik. Artemis schloss die Augen und dachte: Ich kenne die Musik, weil ich sie komponiert habe. »Sirenengesang« aus meiner unvollendeten 3. Sinfonie.

Und warum war das wichtig?

Es ist wichtig, weil ich es in meinem Handy als Klingelton für Mutter eingerichtet habe. Sie ruft mich an.

Artemis tastete nicht suchend seine Taschen ab, weil er sein Handy immer in derselben Tasche hatte. Er ließ seinen Schneider sogar bei jedem Jackett einen verdeckten Reißverschluss in die Brusttasche einnähen, damit er sein Handy nicht verlieren konnte. Denn wenn Artemis Fowl sein Spezialhandy verlor, war das ein wenig dramatischer, als wenn irgendein Schuljunge sein neuestes Modell mit Touchscreen verlor − es sei denn, in dem Handy dieses Schuljungen befanden sich die nötigen technischen Extras, um sich in jeden beliebigen Regierungsserver einzuhacken, ein netter kleiner Laserpointer, den man so einstellen konnte, dass er auch durch Metall schnitt, und der erste Entwurf von Artemis Fowls Memoiren, die brisanter waren als irgendwelche intimen Enthüllungen.

Artemis’ Finger waren kalt und taub, aber nach ein paar Versuchen gelang es ihm, den Reißverschluss aufzuziehen und sein Handy herauszufummeln. Auf dem Display lief eine Diashow mit Fotos von seiner Mutter, während die Anfangstakte des »Sirenengesangs« aus dem winzigen Lautsprecher erklangen.

»Handy«, sagte er laut, um die Stimmsteuerung zu aktivieren.

»Ja, Artemis?«, meldete sich die Stimme von Lily Frond, die Artemis nur ausgewählt hatte, um Holly zu ärgern.

»Nimm den Anruf an.«

»Natürlich, Artemis.«

Einen Augenblick später stand die Verbindung. Der Empfang war schlecht, aber das war nicht weiter schlimm, da Artemis’ Handy mit einer automatischen Sprachergänzung ausgestattet war, die zu fünfundneunzig Prozent korrekt arbeitete.

»Hallo, Mutter. Wie geht es dir?«

»Arty, kannst du mich hören? Bei mir ist ein Echo in der Leitung.«

»Nein, hier nicht. Ich höre dich sehr gut.«

»Irgendwie klappt das mit der Videofunktion nicht, Artemis. Du hast mir versprochen, dass wir uns sehen können.«

Sein Handy hatte natürlich eine Videooption, aber Artemis hatte sie deaktiviert, weil er annahm, dass seine Mutter nicht gerade begeistert sein würde, wenn sie ihren Sohn zerzaust in den Sicherheitsgurten einer ramponierten Rettungskapsel hängen sah.

Zerzaust? Schön wär’s. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Kriegsflüchtling, was ich in gewisser Weise ja auch bin.

»Hier in Island gibt es kein Videonetzwerk. Das hätte ich vorher überprüfen sollen.«

»Hmmm«, machte seine Mutter, und Artemis kannte diesen Ton nur allzu gut. Sie vermutete, dass er etwas angestellt hatte, wusste aber nicht, was.

»Du bist also wirklich in Island?«

Artemis war froh, dass es keine Videoverbindung gab, denn von Angesicht zu Angesicht fiel es ihm schwerer zu lügen.

»Natürlich. Warum fragst du?«

»Weil das GPS dich mitten im Nordatlantik ortet.«

Artemis runzelte die Stirn. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er eine GPS-Funktion in seinem Handy einrichtete, wenn er allein verreisen wollte.

»Das ist wahrscheinlich nur ein Fehler im Programm«, sagte Artemis, während er schnell die GPS-Funktion aufrief und seine Position von Hand nach Reykjavík verschob. »Manchmal spinnt der Signalgeber ein bisschen. Versuch’s einfach noch mal.«

Einen Moment herrschte Stille, bis auf das Klappern von Tasten, dann kam ein weiteres Hmmm.

»Ich nehme an, es ist überflüssig, dich zu fragen, ob du irgendwas im Schilde führst? Artemis Fowl führt immer irgendwas im Schilde.«

»Das ist unfair, Mutter«, protestierte Artemis. »Du weißt, woran ich arbeite.«

»Oh ja, das weiß ich. Meine Güte, Arty, du redest über nichts anderes als dein Großes Projekt.«

»Es ist wichtig.«

»Das weiß ich, aber Menschen sind auch wichtig. Wie geht es Holly?«

Artemis sah zu Holly hinüber, deren Körper um den Fuß einer Sitzbank gerollt war und die leise schnarchte. Ihre Uniform war ziemlich mitgenommen, und aus ihrem einen Ohr rann Blut.

»Oh … äh … bestens. Sie ist ein bisschen müde von der Reise, aber sie hat alles im Griff. Ich bewundere sie wirklich, Mutter. Vor allem die Art, wie sie alles bewältigt, womit sie konfrontiert wird, ohne jemals aufzugeben.«

Angeline Fowl holte überrascht Luft. »Nun, Artemis Fowl der Zweite, ich glaube, das war die längste nicht wissenschaftliche Rede, die ich je aus deinem Mund gehört habe. Holly ist bestimmt froh, einen Freund wie dich zu haben.«

»Nein, das ist sie nicht«, erwiderte Artemis unglücklich. »Niemand ist froh, mich zu kennen. Ich kann niemandem helfen. Ich kann nicht mal mir selbst helfen.«

»Das stimmt nicht, Arty«, widersprach Angeline energisch. »Wer hat Haven City vor den Kobolden gerettet?«

»Mehrere Leute. Gut, ich war wohl auch nicht ganz unbeteiligt.«

»Und wer hat seinen Vater in der Arktis gefunden, als alle anderen ihn bereits für tot hielten?«

»Das war ich.«

»Na bitte. Sag nie wieder, dass du niemandem helfen kannst. Du hast den größten Teil deines Lebens damit zugebracht, anderen zu helfen. Ja, du hast auch ein paar Fehler gemacht, aber dein Herz sitzt am rechten Fleck.«

»Danke, Mutter. Jetzt geht’s mir schon besser.«

Angeline räusperte sich − ein wenig nervös, wie Artemis fand.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, natürlich. Da ist nur etwas, das ich dir sagen muss.«

Nun wurde auch Artemis nervös. »Worum geht es, Mutter?«

Ihm schossen ein Dutzend Möglichkeiten durch den Kopf. Hatte seine Mutter etwas über seine nicht ganz so edelmütigen Unternehmungen herausgefunden? Über seine diversen unterirdischen Abenteuer wusste sie Bescheid, aber es gab noch jede Menge oberirdische Aktivitäten, von denen er nichts gesagt hatte.

Das ist das Problem, wenn man ein halbbekehrter Verbrecher ist: Man ist nie frei von Schuldgefühlen. Ein Anruf genügt, und alles fliegt auf.

»Um deinen Geburtstag.«

Erleichtert ließ Artemis die Schultern sinken. »Meinen Geburtstag? Ist das alles?«

»Ich habe etwas … Ungewöhnliches für dich, aber ich möchte, dass du es bekommst. Es würde mich sehr glücklich machen.«

»Wenn es dich glücklich macht, macht es bestimmt auch mich glücklich.«

»Aber, Arty, du musst mir versprechen, dass du es auch benutzt.«

Artemis fiel es von Natur aus schwer, irgendetwas zu versprechen. »Was ist es denn?«

»Versprich es mir, Schatz.«

Artemis sah durch die Scheibe nach draußen. Er hockte in einer kaputten Rettungskapsel, die mitten im Atlantik trieb. Entweder gingen sie unter, oder irgendein skandinavisches Militärschiff würde sie für Aliens halten und abschießen.

»Also gut, ich verspreche es. Jetzt sag schon, was hast du für mich?«

Angeline zögerte kurz. »Jeans.«

»Was?«, krächzte Artemis.

»Und ein T-Shirt.«

Artemis wusste, dass er sich unter den gegebenen Umständen nicht über so etwas aufregen sollte, aber er konnte nicht anders. »Mutter, du hast mich ausgetrickst.«

»Ich weiß, du magst keine Freizeitkleidung, aber −«

»Das stimmt nicht. Neulich bei dem Kuchenverkauf habe ich beide Ärmel hochgekrempelt.«

»Du schüchterst die Leute ein, Arty. Vor allem die Mädchen. Du bist fünfzehn Jahre alt und trägst einen Maßanzug, obwohl niemand gestorben ist.«

Artemis atmete ein paarmal tief durch. »Ist das T-Shirt bedruckt?«

Geraschel knisterte durch den Hörer. »Ja. Und zwar richtig toll. Da ist ein Bild von einem Jungen, der aus irgendeinem Grund keinen Hals und nur drei Finger an jeder Hand hat, und dahinter stehen in einer Art Graffiti-Stil die Worte Mein Name ist Zufall. Ich habe keine Ahnung, worauf das anspielt, aber ich finde, es klingt unglaublich cool.«

Mein Name ist Zufall, dachte Artemis. Es ist wohl eher ein Zufall, dass ich noch lebe, und ihm war fast zum Weinen zumute. »Mutter, ich −«

»Du hast es versprochen, Arty.«

»Ja, das habe ich, Mutter.«

»Und ich möchte, dass du mich Mama nennst.«

»Mutter! Jetzt übertreibst du aber. Ich bin nun mal, wie ich bin. T-Shirts und Jeans passen einfach nicht zu mir.«

Angeline Fowl spielte ihre Trumpfkarte aus. »Tja, weißt du, mein lieber Arty, manchmal sind die Menschen nicht so, wie sie zu sein glauben.«

Das war eine nicht sonderlich subtile Anspielung darauf, dass Artemis seine eigenen Eltern mit dem Blick hypnotisiert hatte, was Angeline erst bewusst geworden war, nachdem Opal Koboi ihren Körper in Besitz genommen hatte und sie, wenn auch nicht ganz freiwillig, von Artemis in die Geheimnisse der unterirdischen Welt eingeweiht worden war.

»Das ist nicht fair.«

»Fair? Warte, das muss ich den Herren von der Presse mitteilen. Artemis Fowl hat gerade das Wort fair benutzt.«

Offenbar war seine Mutter ihm wegen der Sache mit dem Blick immer noch böse.

»Also gut. Ich erkläre mich bereit, die Jeans und das T-Shirt zu tragen.«

»Wie bitte?«

»Ich werde die Jeans und das T-Shirt tragen … Mama.«

»Damit machst du mir wirklich eine große Freude. Sag Butler, er soll zwei Tage in der Woche dafür reservieren. Freitzeitkleidung und Freizeitbeschäftigung. Daran wirst du dich jetzt gewöhnen müssen.«

Was kommt als Nächstes?, fragte sich Artemis. Baseballkappen mit dem Schirm nach hinten?

»Ich hoffe doch, Butler passt gut auf dich auf?«

Artemis errötete. Noch mehr Lügen. »Ja. Du solltest sein Gesicht bei diesem Meeting sehen. Der ganze wissenschaftliche Kram langweilt ihn zu Tode.«

Angelines Stimme veränderte sich, wurde wärmer, gefühlvoller. »Ich weiß, es ist wichtig, was du tust, Arty. Wichtig für den Planeten, meine ich. Und ich glaube an dich, mein Sohn. Deshalb behalte ich dein Geheimnis auch für mich und erlaube dir, mit irgendwelchen Elfen durch die Weltgeschichte zu reisen, aber du musst mir versprechen, dass du in Sicherheit bist.«

Artemis kannte den Ausdruck sich schofelig vorkommen, aber jetzt verstand er, was damit gemeint war. »Ich bin der sicherste Mensch auf der Welt«, sagte er munter. »Ich werde besser beschützt als ein Präsident. Und besser bewaffnet bin ich auch.«

Wieder ein Hmmm. »Das ist deine letzte Solo-Mission, Arty. Das hast du mir versprochen. ›Ich muss die Welt retten‹, hast du gesagt, ›und dann habe ich mehr Zeit für die Zwillinge.‹«

»Ich erinnere mich«, sagte Artemis, was genau genommen keine Bestätigung war.

»Dann bis morgen früh. Der Anbruch einer neuen Zeit.«

»Bis morgen früh, Mama.«

Angeline legte auf, und ihr Bild verschwand von seinem Display. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er es bedauerte.

Neben ihm warf Foaly sich plötzlich auf den Rücken.

»Nicht die Gestreiften«, rief er. »Die sind doch noch ganz klein.« Dann öffnete er die Augen und sah, dass Artemis ihn beobachtete. »Habe ich das gerade laut gesagt?«

Artemis nickte. »Ja. Die Gestreiften sind noch ganz klein, oder so was in der Art.«

»Eine Kindheitserinnerung. Darüber bin ich aber mittlerweile hinweg.«

Artemis streckte die Hand aus, um dem Zentauren auf die Hufe zu helfen.

»Von dir lasse ich mir nicht helfen«, stöhnte Foaly und schlug die Hand weg, als wäre es eine Wespe. »Ich habe genug von dir. Wenn du den Ausdruck edles Geschöpf auch nur denkst, verpasse ich dir einen Tritt in die Kauleiste.«

Artemis löste die Sicherheitsgurte und streckte die Hand noch weiter vor. »Das alles tut mir sehr leid, Foaly, aber der Spuk ist vorbei. Ich bin’s, Artemis.«

Nun akzeptierte Foaly die helfende Hand. »Den Göttern sei Dank. Dieser andere Typ ging mir wirklich auf die Nerven.«

»Nicht so hastig«, sagte Holly, die plötzlich hellwach zwischen den beiden auftauchte.

»He«, rief Foaly und ging vor Schreck auf die Hinterbeine. »Ächzst und stöhnst du nicht einmal ein bisschen, bevor du wieder zu dir kommst?«

»Nein. ZUP-Ninja-Training. Und der Kerl hier ist nicht Artemis. Er hat Mama gesagt, ich hab’s selbst gehört. Artemis Fowl sagt nicht Mama, Ma oder Mutti. Das hier ist Orion, der uns auszutricksen versucht.«

»Mir ist klar, wie das geklungen haben muss«, sagte Artemis. »Aber ihr müsst mir glauben. Meine Mutter hat mir diesen Kosenamen abgenötigt.«

Foaly tippte sich an sein langes Kinn. »Kosename? Abgenötigt? Das kann nur Artemis sein.«

»Danke übrigens für den zweiten Schuss«, sagte Artemis und betastete vorsichtig die verbrannten Stellen an seinem Hals. »Der Stromstoß hat mich fürs Erste von den Vieren befreit. Und ich bedaure den ganzen Unsinn, den Orion von sich gegeben hat. Ich habe keine Ahnung, wo das herkam.«

»Darüber müssen wir noch mal in aller Ruhe reden«, sagte Holly und schob sich an ihm vorbei zum Schaltpult. »Aber nicht jetzt. Erst muss ich versuchen, ob ich eine Verbindung nach Haven kriege.«

Foaly drückte ein Icon auf dem Display seines Handys. »Schon geschehen, Captain.«

Nach all dem Drama der vergangenen Stunden erschien es unmöglich, dass sie einfach die Nummer des Polizeipräsidiums wählen und tatsächlich durchkommen könnten, aber genau das geschah.

Commander Trouble Kelp nahm beim ersten Klingeln ab, und Foaly schaltete die Videoverbindung auf Lautsprecher.

»Holly, sind Sie das?«

»Ja, Commander. Foaly ist bei mir und Artemis Fowl.«

Trouble schnaubte. »Artemis Fowl. Wieso überrascht mich das nicht? Wir hätten diesem Menschenjungen das Hirn aus den Ohren saugen sollen, als wir Gelegenheit dazu hatten.«

Er saß kerzengerade an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium, in seinem blauen Commander-Overall mit dem funkelnden Eichelabzeichen auf der Brust. Sein dunkles Haar war sehr kurz geschnitten, so dass die eindrucksvollen spitzen Ohren gut zur Geltung kamen, und seine dunkelvioletten Augen blickten streng unter den Brauen hervor, die wie Blitze zuckten, während er sprach.

»Hallo, Commander«, sagte Artemis. »Freut mich, dass Sie mich so sehr schätzen.«

»Ich schätze Achselhöhlenläuse mehr, als ich Sie jemals schätzen werde, Fowl. Finden Sie sich damit ab.«

Sofort fielen Artemis ein halbes Dutzend schneidender Entgegnungen darauf ein, aber er verkniff sie sich um der Sache willen.

Ich bin jetzt fünfzehn, Zeit, mich wie ein Erwachsener zu verhalten.

Holly unterbrach das männliche Imponiergehabe. »Commander, ist Atlantis in Sicherheit?«

»Im Großen und Ganzen, ja«, sagte Trouble. »Einige EV-Shuttles haben ganz schön was abgekriegt. Eins ist direkt getroffen und in den Meeresboden gerammt worden. Es wird Monate dauern, die Reste zusammenzusetzen.«

Holly ließ die Schultern sinken. »Gab es Tote?«

»Ja. Wir wissen noch nicht genau, wie viele, aber es sind Dutzende.« Troubles Stirn war gefurcht von der Last der Verantwortung. »Es ist ein schwarzer Tag für das Erdvolk, Captain. Erst Vinyáya und ihre Leute, und jetzt das.«

»Was ist eigentlich passiert?«

Troubles Blick wanderte zu einem Punkt neben dem Bildschirm, während seine Finger etwas in ein V-Board tippten. »Einer von Foalys Technikern hat eine Simulation erstellt. Ich schicke sie Ihnen rüber.«

Sekunden später blinkte das Nachrichten-Icon auf dem Schaltpult der Kapsel. Holly klickte es an, und auf dem Bildschirm erschien ein einfaches 2-D-Video, das zeigte, wie der Umriss einer Raumsonde oberhalb von Island in die Erdatmosphäre eintrat.

»Können Sie es sehen, Captain?«

»Ja, wir haben es auf dem Bildschirm.«

»Gut, dann werde ich das Ganze kommentieren. Foalys Marssonde taucht also kurz unterhalb des nördlichen Polarkreises auf. Dafür haben wir nur Ihr Wort, da wir sie dank unserer eigenen Tarntechnik nicht bemerkt haben. Was beweist, dass alles, Sichtschild, Tarnstahl und so weiter, auch gegen uns gerichtet werden kann. Was danach passiert ist, brauche ich Ihnen ja nicht zu schildern.«

Auf dem Display zielte die Sonde mit einem Laserstrahl auf einen kleinen Punkt an der Erdoberfläche und stieß dann ein paar Bots aus, die sich um die Überlebenden kümmern sollten. Ohne nennenswert abzubremsen, bohrte sich die Sonde durch das Eis und nahm südwestlichen Kurs, Richtung Atlantik.

»Auch dieser Teil der Simulation wurde ohne Computerdaten erstellt. Wir sind von Ihren Informationen ausgegangen und haben parallel dazu eine Rückberechnung, anhand unserer eigenen Aufzeichnungen, vorgenommen.«

»Aufzeichnungen?«, unterbrach Artemis ihn. »Ab wann hatten Sie denn Aufzeichnungen?«

»Das Ganze war äußerst merkwürdig«, sagte Trouble und runzelte die Stirn. »Nach Captain Shorts Warnung haben wir einen Scan durchlaufen lassen. Nichts. Dann, fünf Minuten später, erscheint die Sonde plötzlich auf unseren Bildschirmen. Ohne Sichtschild, ohne alles. Ihre Triebwerke haben so viel Hitze ausgestrahlt, dass wir sie nicht übersehen konnten. Sie hatte sogar ihre Dämmschilde verloren. Das Ding hat heller geleuchtet als der Polarstern. Und obendrein haben wir noch einen Hinweis bekommen, und zwar kurioserweise aus einer Bar in Miami. Wir hatten also genug Zeit für die Evakuierung.«

»Aber nicht genug, um sie zu stoppen«, bemerkte Artemis nachdenklich.

»Genau«, sagte Trouble Kelp, was er sicher nicht getan hätte, wäre ihm bewusst gewesen, dass er mit dem Erzverbrecher Artemis Fowl einer Meinung war. »Wir konnten nur noch die Wasserkanonen vollpumpen, die Stadt räumen und warten, bis die Sonde in Reichweite kam.«

»Und was war dann los?«, fragte Artemis.

»Dann habe ich ein paar Übungsschüsse durchführen lassen. Normalerweise hätte dabei nichts passieren können, weil die Sonde noch relativ weit weg war und die Wasserbomben mit der Entfernung an Kraft verlieren, aber eine von ihnen muss ziemlich viel Fahrt gehabt haben, denn die Sonde wurde von ihrem Kurs abgebracht und krachte mitsamt einem Shuttle in den Meeresboden.«

»In dem Shuttle war Opal Koboi, nicht wahr?«, fragte Artemis drängend. »Sie hat das alles eingefädelt. Es riecht förmlich nach Opal.«

»Nein, Fowl, wenn es überhaupt riecht, dann nach Ihnen. Das Ganze hat mit Ihrer Konferenz in Island angefangen, und jetzt sind ein paar von unseren besten Leuten tot, und wir haben eine Unterwasser-Rettungsaktion am Hals.«

Artemis’ Gesicht glühte. »Vergessen Sie mich mal für einen Moment. War Opal in dem Shuttle?«

»Nein, war sie nicht«, donnerte Trouble, dass die Lautsprecher der Kapsel vibrierten. »Aber Sie waren in Island, und jetzt haben Sie schon wieder die Finger im Spiel.«

Holly mischte sich ein, um ihren Freund in Schutz zu nehmen. »Artemis hat mit alldem nichts zu tun, Commander.«

»Das mag sein, aber mir gibt es hier zu viele Zufälle, Holly. Ich will, dass Sie den Menschenjungen festhalten, bis ich Ihnen ein Rettungsshuttle raufschicken kann. Das kann allerdings ein paar Stunden dauern, also nehmen Sie Ballast auf und gehen Sie ein wenig tiefer. Sie dürfen von der Oberfläche aus nicht zu sehen sein.«

Mit diesen Anweisungen war Holly nicht sehr glücklich. »Sir, Commander, wir wissen, was passiert ist. Aber Artemis hat recht − wir müssen versuchen herauszufinden, wer dafür gesorgt hat, dass es passiert ist.«

»Darüber können wir später im Polizeipräsidium reden. Fürs Erste ist meine oberste Priorität, das Leben der Leute zu schützen. Rund um Atlantis sitzen immer noch Unterirdische fest. Ich habe alles, was wir hier entbehren können, rübergeschickt. Die Theorien des Menschenjungen müssen bis morgen warten.«

»Vielleicht können wir ja ein Biwak aufschlagen, wo wir schon dabei sind«, murmelte Holly.

Trouble Kelp war nicht bereit, seiner Untergebenen diese Aufmüpfigkeit durchgehen zu lassen. Er beugte sich so dicht vor die Kamera, dass sein Gesicht durch das Weitwinkelobjektiv grotesk verzerrt wurde. »Haben Sie etwas gesagt, Captain?«

»Wer auch immer dahintersteckt, das Ganze ist noch nicht vorbei«, sagte Holly und beugte sich ihrerseits vor. »Das hier ist Teil eines größeren Plans, und Artemis festzuhalten ist das Schlimmste, was Sie tun können.«

»Ach, wirklich?« Trouble lachte spöttisch. »Komisch, dass Sie das sagen, denn in der Nachricht, die Sie uns vorhin geschickt haben, hieß es, Artemis Fowl hätte den Verstand verloren. Ihre genauen Worte waren −«

Holly sah Artemis schuldbewusst an. »Es ist nicht nötig, den genauen Wortlaut zu wiederholen, Sir.«

»Jetzt heißt es also wieder Sir, ja? Ihre genauen Worte waren − ich zitiere: Artemis Fowl ist verrückter als ein Salzwasser trinkender Troll mit Ringwürmern.«

Artemis warf Holly einen vorwurfsvollen Blick zu.

Doch Holly ließ sich nicht beirren. »Das war vorhin. Seither habe ich Artemis eine zweite Ladung verpasst, und jetzt geht es ihm wieder gut.«

Trouble grinste. »So, so, eine zweite Ladung. Das klingt doch schon besser.«

»Der Punkt ist«, drängte Holly, »wir brauchen Artemis, damit er uns hilft, die Sache aufzuklären.«

»So wie er geholfen hat, Julius Root und Commander Raine Vinyáya auszuschalten?«

»Das ist nicht fair, Trouble.«

Kelp blieb unerbittlich. »Trouble bin ich für Sie nur am Wochenende im Offiziersclub. Bis dahin bleibt’s bei Commander. Und ich befehle Ihnen, den Menschenjungen Artemis Fowl festzuhalten. Wir verhaften ihn nicht, ich will ihn nur hier unten haben, um ein wenig mit ihm zu plaudern. Was ich nicht will, ist, dass jemand auf seine wilden Vermutungen hin irgendetwas unternimmt. Verstanden?«

Hollys Gesicht verschloss sich, und ihre Stimme klang dumpf. »Verstanden, Commander.«

»Ihre Kapsel hat gerade noch genug Saft, um den Positionsgeber am Laufen zu halten, also kommen Sie ja nicht auf die Idee, Land anzusteuern. Und so totenbleich, wie Sie aussehen, Captain, nehme ich mal an, dass Sie auch keine Magie für den Sichtschild mehr haben.«

»Totenbleich? Besten Dank, Trubs.«

»Trubs, Captain? Trubs?«

»Verzeihung − Commander.«

»Schon besser. Alles, was ich von Ihnen will, ist, dass Sie auf den Menschenjungen aufpassen, ist das klar?«

»Vollkommen klar«, sagte Holly mit zuckersüßer Stimme. »Captain Holly Short, staatlich geprüfte Babysitterin, stets zu Ihren Diensten.«

»Hmmm«, machte Trouble in einem Tonfall, den Angeline Fowls Sohn nur allzu gut kannte.

»Ganz recht − hmmm«, sagte Holly.

»Ich bin froh, dass wir uns einig sind«, erwiderte Trouble mit einem Zucken des einen Augenlids, das man als Zwinkern interpretieren konnte. »Als Ihr Vorgesetzter befehle ich Ihnen zu bleiben, wo Sie sind, und keinerlei Versuch zu unternehmen, diesen Vorfall aufzuklären, erst recht nicht mit Hilfe eines Menschenwesens, und schon gar nicht mit Hilfe dieses speziellen Menschenwesens. Haben Sie mich verstanden?«

»Voll und ganz, Commander«, erwiderte Holly, und Artemis begriff, dass Trouble Kelp Holly gar nicht verbot, die Sache weiter zu untersuchen − er sicherte sich nur auf Video ab, für den Fall, dass Hollys Vorgehen zu einer Untersuchung führte, was häufiger vorkam.

»Ich habe Sie auch voll und ganz verstanden, Commander«, sagte Artemis. »Falls es Sie interessiert.«

Trouble schnaubte. »Erinnern Sie sich an die Achselhöhlenläuse, Fowl? Deren Meinung interessiert mich mehr als Ihre.«

Und damit kappte er die Verbindung, bevor Artemis eine seiner vorbereiteten Entgegnungen loswerden konnte. Jahre später, als Professor J. Argon seine Artemis-Fowl-Biographie Allein unter Elfen herausbrachte, die sofort zum Bestseller avancierte, wurde dieser Wortwechsel als besonders bedeutsam bezeichnet, weil es eines der wenigen Male war, wo jemand gegenüber Artemis Fowl dem Zweiten das letzte Wort gehabt hatte.

Holly stieß einen frustrierten Seufzer aus.

»Was ist?«, fragte Foaly. »Das ist doch ganz gut gelaufen. Wenn ich nicht völlig schiefliege, hat uns dein Freund grünes Licht gegeben, die Sache auf eigene Faust zu untersuchen.«

Holly funkelte ihn aus ihren verschiedenfarbigen Augen an. »Erstens ist Commander Trouble Kelp nicht mein Freund − wir sind ein einziges Mal zusammen ausgegangen, und das habe ich dir im Vertrauen erzählt, weil ich dachte, du würdest es für dich behalten und nicht bei der erstbesten Gelegenheit ausplaudern.«

»Das hier ist nicht die erstbeste Gelegenheit. Bei der netten Teeparty letztens habe ich kein Sterbenswort davon gesagt.«

»Das ist doch jetzt völlig egal!«, brüllte Holly wütend.

»Keine Sorge, Holly, es bleibt unter uns«, sagte Foaly, da er es für unklug hielt zu erwähnen, dass er diesen Tratsch bereits auf seiner Website www.horsesense.gnom veröffentlicht hatte.

»Und zweitens«, fuhr Holly fort, »mag es ja durchaus sein, dass Trouble mir unter der Hand grünes Licht gegeben hat, aber was nützt uns das hier mitten im Atlantik, in einer ramponierten Metallkiste?«

Artemis blickte zum Himmel. »Tja, was das betrifft, kann ich dir vielleicht helfen. Einen Moment noch.«

Mehrere Sekunden vergingen, ohne dass irgendetwas Bemerkenswertes geschah.

Holly sah ihn auffordernd an. »Und?«

Nun war Artemis doch ein wenig genervt. »Nimm das doch nicht so wörtlich. Es kann auch ein oder zwei Minuten dauern. Vielleicht sollte ich ihn anrufen.«

Neunundfünfzig Sekunden später pochte etwas gegen die Luke der Kapsel.

»Aha«, sagte Artemis in einem Tonfall, der in Holly den Drang weckte, ihm einen Kinnhaken zu verpassen.

Über dem Atlantik, zwei Stunden zuvor

»So schlecht ist die Kiste gar nicht«, sagte Mulch Diggums und drückte versuchsweise ein paar von den Knöpfen des gestohlenen Shuttles, um zu sehen, was dann passierte. Als nach einem Knopfdruck der Inhalt des Abwassersammelbehälters auf einen ahnungslosen schottischen Fischkutter niederging, beschloss der Zwerg, doch lieber damit aufzuhören.

(Einer von den Fischern filmte zufällig gerade ein Video von den Möwen für sein Medienseminar an der Universität und zeichnete dabei auf, wie die gesamte Ladung Unrat von oben herabprasselte. Für jeden, der sich das Ganze am Bildschirm anschaute, sah es so aus, als würde die stinkende Masse einfach aus dem Nichts auftauchen und auf die unglückseligen Matrosen niedergehen. Sky News sendete das Video mit der Schlagzeile: Scheiße aus heiterem Himmel. Die meisten Zuschauer hielten das Ganze jedoch für einen Studentenstreich.)

»Da hätte ich eigentlich draufkommen können«, sagte Mulch ohne ein Anzeichen von schlechtem Gewissen. »Auf dem Knopf ist eine kleine Toilette abgebildet.«

Juliet saß vornübergebeugt auf einer der beiden Passagierbänke, die am Rand des Frachtraums angebracht waren, vorsichtig darauf bedacht, nicht mit dem Kopf gegen die Decke zu stoßen, und Butler lag lang ausgestreckt auf der anderen, da das für ihn die praktischste Art war, auf so beengtem Raum zu reisen.

»Artemis hat dich also von allem ausgeschlossen?«, fragte Juliet ihren Bruder.

»Ja«, antwortete Butler niedergeschlagen. »Ich glaube, er traut mir nicht mehr. Er traut nicht einmal mehr seiner eigenen Mutter.«

»Angeline? Wie könnte irgendjemand Mrs Fowl nicht trauen? Das ist doch lächerlich.«

»Ich weiß«, sagte Butler. »Aber damit nicht genug: Artemis traut auch den Zwillingen nicht mehr.«

Juliet fuhr hoch und stieß sich prompt den Kopf an der Metalldecke. »Autsch! Madre de dios. Artemis traut Myles und Beckett nicht mehr? Ich fasse es nicht. Was für schreckliche Sabotageakte sollen zwei Dreijährige denn seiner Meinung nach verüben?«

Butler zog eine Grimasse. »Unglücklicherweise hat Myles eine von Artemis’ Petrischalen mit Bakterien verseucht, als er eine Probe für seine eigenen Experimente haben wollte.«

»Das läuft aber kaum unter Industriespionage. Und was hat Beckett angestellt?«

»Er hat Artemis’ Hamster gegessen.«

»Was?!«

»Na ja, er hat zumindest eine Weile an seinem Hinterbein genagt.« Butler bewegte sich vorsichtig. Die Fluggeräte der Unterirdischen waren nicht darauf ausgerichtet, riesige, kahlköpfige menschliche Leibwächter zu transportieren. Nicht dass die Frisur da noch einen Unterschied gemacht hätte.

»Artemis war völlig außer sich und behauptete, es sei eine Verschwörung gegen ihn im Gange. Er hat ein Zahlenschloss an der Tür zu seinem Labor anbringen lassen, damit seine Brüder nicht mehr hineinkommen.«

Juliet konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Und, hat es funktioniert?«

»Nein. Myles hat drei volle Tage an der Tür gehockt und so lange Zahlen eingetippt, bis er die richtige Kombination gefunden hatte. Er hat mehrere Rollen Klopapier aufgebraucht, um die verschiedenen Möglichkeiten zu notieren.«

Juliet traute sich kaum zu fragen. »Und Beckett?«

Nun musste auch Butler grinsen. »Der hat im Garten eine Grube ausgehoben, und als Myles hineinfiel, hat er ihn so lange darin schmoren lassen, bis er ihm die Kombination verraten hat.«

Juliet nickte beifällig. »Genau das hätte ich auch gemacht.«

»Ich auch«, sagte Butler. »Vielleicht wird Beckett ja später mal Myles’ Leibwächter.« Doch dann wurde er wieder ernst. »Artemis nimmt meine Anrufe nicht an. Stell dir das mal vor. Ich glaube, er hat sich eine neue SIM-Card besorgt, damit ich ihn nicht finden kann.«

»Aber wir finden ihn doch, oder?«

Butler warf einen Blick auf das Display seines Handys. »Oh ja. Artemis ist nicht der Einzige, der Foalys Telefonnummer hat.«

»Was hat dieser durchtriebene Zentaur dir denn gegeben?«

»Ein Isotopen-Spray. Wenn man etwas damit einsprüht, kann man es mit einem von Foalys Apps aufspüren.«

»Äps?«

»Mini-Programme. Dieses zum Beispiel benutzt Foaly, um ein Auge auf seine Kinder zu haben.«

»Was hast du denn damit eingesprüht?«

»Artemis’ Schuhe.«

Juliet kicherte. »Stimmt, er mag’s, wenn sie glänzen.«

»Allerdings.«

»Du denkst allmählich schon wie ein Fowl, Bruderherz.«

»Das fehlte gerade noch«, rief Mulch Diggums aus dem Cockpit herüber. »Das Letzte, was die Welt braucht, sind noch mehr Fowls.«

Das Gyroshuttle folgte mit nahezu doppelter Concorde-Geschwindigkeit dem Golfstrom Richtung Norden bis zur irischen Küste und flog dann in einem weiten nordwestlichen Bogen auf den offenen Atlantik zu, dorthin, wo Butlers Handy die Schuhe seines Arbeitgebers geortet hatte.

»Funktioniert das eigentlich auch über den Geruch?«, fragte Mulch und lachte glucksend.

Die Butlers teilten seinen Heiterkeitsausbruch nicht, was aber nicht daran lag, dass sie keinen Spaß verstanden, sondern vielmehr daran, dass sie Mulch nicht verstanden; der hatte sich nämlich gleichzeitig den gesamten Inhalt der Kühlbox in den Mund geschoben.

»Bitte sehr, dann eben nicht«, sagte Mulch mit vollem Mund und besprühte bei seinen Worten die Innenseite der Windschutzscheibe mit halbgekauten Maiskörnern. »Da bemühe ich mich schon mal, einen Scherz zu machen, und ihr beiden Hochnasen lacht nicht mal.«

Die Kapsel schoss mit zwei Metern Abstand über den Wellenkämmen dahin, wobei ihr Anti-Schwerkraft-Strahl in regelmäßigen Abständen zylindrische Löcher in die Meeresoberfläche grub. Das Motorengeräusch war so leise, dass man es für das Rauschen des Windes hätte halten können, und für die intelligenten Meeressäuger, die es trotz des Sichtschilds sehen konnten, sah es aus wie ein sehr schneller Buckelwal mit besonders breitem Schwanz und Laderampe.

»Die Kiste ist wirklich nicht übel«, bemerkte Mulch, als sein Mund glücklicherweise wieder leer war. »Sie fliegt quasi von allein − ich habe nur Ihr Handy in die Halterung gesteckt, das Programm gestartet, und schon ging’s los.«

Die Kapsel verhielt sich wie ein Spürhund. Manchmal blieb sie abrupt in der Luft stehen, wenn sie die Spur verloren hatte, und suchte dann hektisch rechts und links, bis sie das gesuchte Isotop wieder auf der Anzeige hatte. Einmal tauchte sie sogar ins Meer, immer tiefer, bis der Rumpf unter dem Druck zu knacken begann und sie eine Platte der Stahlverkleidung verloren.

»Keine Sorge«, beruhigte Mulch sie. »Alle unterirdischen Gefährte sind so konstruiert, dass sie auch unter Wasser funktionieren. Wenn man unter der Erde lebt, bietet sich das an.«

Doch Juliet ließ sich dadurch nicht beruhigen. Soweit sie sich erinnern konnte, war eine Behauptung von Mulch Diggums ungefähr so glaubwürdig wie die Versicherung eines Trolls, er ernähre sich ausschließlich vegetarisch.

Zum Glück dauerte der Unterwasserabstecher nicht lange, und bald flitzten sie wieder oberhalb der Wellen dahin − ohne weitere Zwischenfälle, abgesehen davon, dass Mulch es nicht lassen konnte und doch noch mal einen von den Knöpfen drückte. Prompt wären sie beinahe erneut ins Wasser gestürzt, denn dummerweise hatte er die Not-Bremsfallschirme erwischt.

»Der Knopf hat mich so angelächelt«, gab Mulch als Entschuldigung an. »Da konnte ich einfach nicht widerstehen.«

Durch den abrupten Halt rutschte Butler über die gesamte Länge der Bank bis zur Cockpit-Abtrennung. Und nur seine blitzschnelle Reaktion verhinderte, dass er mit dem Kopf gegen das Gitter krachte.

Er rieb sich den Schädel, den er sich an einer Querstrebe aufgeschrammt hatte. »Immer schön sachte, sonst gibt’s Konsequenzen. Wie Sie vorhin so treffend sagten: Wir brauchen Sie nicht, um diese Kapsel zu fliegen.«

Mulch lachte schallend, was ihnen einen wenig einladenden Blick auf seine geräumige Nahrungsmittelverarbeitungsanlage bot. »Das mag sein, mein gruselig-großer Menschenfreund. Aber Sie brauchen mich auf jeden Fall für die Landung.«

Daraufhin hallte auch Juliets übermütiges Lachen von den runden Metallwänden wider.

»Ich weiß gar nicht, was daran so komisch ist«, sagte Butler vorwurfsvoll.

»Komm schon, Brüderchen. Du lachst bestimmt auch, wenn Mulch uns das Video vorführt.«

»Hier gibt’s Kameras?«, fragte Butler entgeistert, woraufhin die beiden sofort wieder anfingen zu lachen.

Bei aller Heiterkeit wusste Butler, dass er bald seinem Schützling, Artemis Fowl, gegenüberstehen würde. Einem Schützling, der ihm nicht mehr vertraute, der ihn allem Anschein nach belogen, Juliet als Vorwand benutzt und ihn ans andere Ende der Welt geschickt hatte.

Ich habe geglaubt, meine kleine Schwester wäre in Gefahr. Wie konnten Sie so etwas tun, Artemis?

Artemis würde sich einigen harten Fragen stellen müssen, wenn er ihn gefunden hatte. Und Butler hoffte, dass er gute Antworten parat hatte, denn sonst könnte es sein, dass zum ersten Mal in der seit Jahrhunderten verbundenen Geschichte ihrer beiden Familien ein Butler kündigte.

Artemis ist krank, sagte sich Butler. Er kann nichts dafür.

Trotzdem würde er ihn nicht ohne Erklärung und Entschuldigung davonkommen lassen.

Schließlich hielt das Shuttle mit einem Ruck kurz oberhalb des sechzigsten Breitengrads mitten über dem offenen Meer. Die Stelle sah kein bisschen anders aus als die grauen Quadratmeilen, die sich rundherum bis zum Horizont erstreckten – bis der Anti-Schwerkraft-Strahl sich durch zwei Meter Wasser pflügte und die pfeilförmige Spitze der Rettungskapsel sichtbar wurde.

»Ich liebe diese Kiste«, rief Mulch begeistert. »Sie lässt mich schlauerer wirken, als ich bin.«

Die umgebenden Wassermassen wogten und brodelten, als unsichtbare Impulse die Oberfläche abtasteten und die Wellen so weit komprimierten, dass das Gyroshuttle genau auf der Stelle verharrte. Für die Insassen der Rettungskapsel mussten die Impulse, die auf die Stahlverkleidung trafen, klingen wie das Läuten einer Glocke.

»Hallo«, rief Mulch. »Wir sind hier oben.«

Butler reckte Kopf und Schultern ins Cockpit; mehr von ihm passte nicht hinein. »Können wir sie nicht anfunken?«

»Anfunken?«, entgegnete der Zwerg. »Sie haben nicht viel Erfahrung als Flüchtling, oder? Wenn man ein ZUP-Shuttle klaut, reißt man als Erstes alles heraus, was ein Signal ans Polizeipräsidium senden könnte. Jedes Mikro, jedes Kabel, jede Kamera. Ich kenne Leute, die geschnappt worden sind, weil sie die Lautsprecher dringelassen haben. Das ist ein alter Trick von Foaly. Er weiß, wie sehr böse Jungs laute Musik lieben, also baut er in jeden ZUP-Vogel einen Satz High-End-Lautsprecher ein, die er mit Ortungsgel bestreicht. In der Kiste hier ist kaum noch Technik drin.«

»Und?«

»Und was?«, sagte Mulch, als wüsste er nicht, wovon Butler sprach.

»Wie kommunizierten wir mit der Kapsel da unten?«

»Sie haben doch ein Handy, oder?«

Butler senkte den Blick. »Artemis nimmt nicht ab, wenn ich ihn anrufe. Er ist nicht er selbst.«

»Das ist übel«, sagte Mulch. »Aber meinen Sie, die haben da unten was zu essen? Einige von diesen Rettungskapseln sind mit Notrationen ausgestattet. Ein bisschen zäh, das Zeug, aber mit einer Flasche Bier lässt sich’s runterspülen.«

Butler überlegte noch, ob er diesen Themenwechsel mit einer Kopfnuss quittieren sollte, als sein Handy klingelte.

»Es ist Artemis«, sagte er, und er wirkte schockierter als bei seiner Begegnung mit den Luchador-Zombies.

»Butler?«, sagte Artemis’ Stimme in sein Ohr.

»Ja, Artemis?«

»Wir müssen reden.«

»Und ob«, erwiderte Butler und legte auf.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, einen Rettungssitz zur Kapsel hinunterzulassen, und ein paar Minuten später waren alle Insassen an Bord des Gyroshuttles geholt. Holly kam als Letzte, und bevor sie sich hochziehen ließ, öffnete sie sämtliche Luken und die Schleusen der Ballasttanks, um die Kapsel zu versenken.

Und kaum hatte sie den Ellbogen über den Rand der Tür geschoben, begann sie, Befehle zu erteilen.

»Sofort Funk auf ZUP-Kanäle schalten«, bellte sie. »Wir müssen herausfinden, wie weit die Untersuchung fortgeschritten ist.«

Mulch grinste ihr vom Pilotensitz aus zu. »Tja, in Anbetracht der Tatsache, dass dies ein gestohlenes Shuttle ist, könnte das ein bisschen schwierig werden. Hier gibt’s nämlich nichts mehr, womit man senden oder empfangen könnte. Und hallo übrigens. Mir geht’s gut, danke der Nachfrage. Und es war mir ein Vergnügen, Ihnen das Leben zu retten. Von welcher Untersuchung ist überhaupt die Rede?«

Holly kletterte ins Innere und warf einen bedauernden Blick auf die Rettungskapsel, die mitsamt ihrer bis eben noch funktionierenden Kommunikationsanlage in die Tiefe sank.

»Na gut«, seufzte sie. »Dann müssen wir eben mit den begrenzten Ressourcen auskommen, die wir haben.«

»Schönen Dank auch«, erwiderte Mulch pikiert. »Haben Sie wenigstens was zu essen mitgebracht? Ich habe seit mindestens einer Viertelstunde nichts mehr gegessen.«

»Nein, habe ich nicht«, sagte Holly. Sie umarmte Mulch innig − sie war eine von vielleicht vier Personen auf der Welt, die den Zwerg freiwillig berührten −, dann schubste sie ihn aus dem Pilotensitz und übernahm selbst das Steuer. »Das muss jetzt erst mal reichen. Später besorge ich Ihnen einen kompletten Barbecue-Fresskorb.«

»Mit echtem Fleisch?«

Holly schüttelte sich. »Natürlich nicht. Allein die Vorstellung …«

Butler begrüßte Holly mit einem kurzen Nicken, dann wandte er seine ganze Aufmerksamkeit Artemis zu, der wieder ganz der Alte zu sein schien, nur ohne die gewohnte Großspurigkeit.

»Nun?«, sagte Butler, und die eine Silbe war bedeutungsschwer. Wenn mir nicht gefällt, was ich gleich höre, könnte unser gemeinsamer Weg hier zu Ende sein.

Artemis wusste, dass die Situation eigentlich mindestens eine Umarmung erfordert hätte, und eines fernen Tages, nach Jahren des Meditierens, würde er sich vielleicht dazu in der Lage fühlen, Menschen spontan zu umarmen, aber in diesem Moment konnte er nichts anderes tun, als die eine Hand auf Juliets Schulter zu legen und die andere auf Butlers Arm.

»Es tut mir wirklich sehr leid, meine Freunde, dass ich euch belogen habe.«

Juliet legte ihre Hand auf seine, denn das entsprach ihrer Natur, doch Butler zog seinen Arm weg, als wollte ihn jemand verhaften.

»Juliet hätte sterben können, Artemis. Wir mussten erst gegen eine Horde hypnotisierter Wrestling-Fans kämpfen und dann gegen eine Shuttleladung mordlüsterner Zwerge. Wir waren beide in großer Gefahr.«

Artemis zog sich zurück, der Augenblick der Gefühle war vorbei. »In echter Gefahr? Dann hat mich jemand ausspioniert. Jemand, der alle unsere Schritte kannte. Wahrscheinlich derselbe Jemand, der die Sonde losgeschickt hat, um Vinyáya zu töten und Atlantis anzugreifen.«

Während Holly einen Systemcheck durchlaufen ließ und die Route zur Absturzstelle der Sonde plante, brachte Artemis Butler und Juliet auf den aktuellen Stand der Dinge, wobei er sich die Diagnose seiner Krankheit für den Schluss aufhob.

»Ich habe eine gesundheitliche Störung. Die Unterirdischen nennen sie den Atlantis-Komplex. Das ist ähnlich wie eine Zwangsstörung, manifestiert sich jedoch auch in Wahnvorstellungen und einer Persönlichkeitsspaltung.«

Butler nickte langsam. »Ich verstehe. Als Sie mich weggeschickt haben, standen Sie also unter dem Einfluss dieses Atlantis-Komplexes.«

»Genau. Zu dem Zeitpunkt befand ich mich im ersten Stadium, zu dessen Hauptsymptomen eine kräftige Portion Paranoia gehört. Das zweite Stadium haben Sie verpasst.«

»Worüber Sie froh sein sollten«, rief Holly vom Cockpit herüber. »Dieser Orion war ein bisschen zu freundlich für meinen Geschmack.«

»Mein Unterbewusstsein hat diese Persönlichkeit namens Orion als mein Alter Ego erschaffen. Wie ihr euch gewiss erinnert, war Artemis die Göttin der Jagd. Der Legende zufolge war Orion ihr größter Feind, deshalb entsandte sie einen Skorpion, der ihn töten sollte. Mein innerer Orion war frei von der Schuld, die ich mir durch meine diversen Unternehmungen aufgeladen hatte, vor allem dadurch, dass ich Holly entführt, meine Eltern mit dem Blick hypnotisiert und miterlebt habe, wie meine Mutter buchstäblich von Opal Koboi besessen war. Hätte ich nicht mit der Magie herumexperimentiert, hätte ich vielleicht eine leichte Persönlichkeitsstörung bekommen oder sogar das Wunderkind-Syndrom, aber aufgrund der gestohlenen Magie, die meine Nervenbahnen umhüllte, hat sich das Ganze unausweichlich zu einem Atlantis-Komplex entwickelt.« Artemis senkte den Blick. »Was ich getan habe, war schändlich. Ich war schwach, und das werde ich für den Rest meines Lebens bedauern.«

Butlers strenge Miene wurde weicher. »Sind Sie denn jetzt wieder gesund? Hat der Stromstoß Sie geheilt?«

Foaly hatte es allmählich satt, dass Artemis den ganzen Vortrag alleine hielt, deshalb räusperte er sich und ließ seinerseits einige Informationen einfließen. »Laut der Lexikon-App auf meinem Handy ist die Behandlung mit Elektroschocks veraltet und selten von dauerhafter Wirkung. Der Atlantis-Komplex ist heilbar, aber nur durch eine gründliche Therapie und den vorsichtigen Einsatz von Psychopharmaka. Artemis’ Zwangsstörungen werden bald wiederkehren, und er wird den unwiderstehlichen Drang verspüren, seine Mission zu vollenden, alles zu zählen und der Zahl Vier aus dem Weg zu gehen, offenbar weil sie auf Chinesisch so ähnlich klingt wie das Wort für Tod.«

»Artemis ist also nicht geheilt?«

Auf einmal war Artemis froh, dass außer ihm noch fünf weitere Personen in dem Shuttle waren. Ein gutes Omen für ihren Erfolg.

»Nein, ich bin noch nicht geheilt«, seufzte er.

Omen? Es geht schon wieder los.

Artemis rang tatsächlich die Hände, ein körperliches Anzeichen seiner Entschlossenheit.

Ich lasse mich davon nicht so schnell wieder unterkriegen.

Und zum Beweis sagte er absichtlich einen Satz mit vier Wörtern: »Ich komme schon klar.«

»Huuhh«, sagte Mulch, der noch nie einen Sinn für den Ernst der Lage gehabt hatte. »Vier Worte − wie unheimlich.«

Als Erstes mussten sie hinunter zu der Absturzstelle, da es allen außer Mulch nicht einleuchten wollte, dass die Raumsonde erst punktgenau durch Atmosphäre, Eis, Felsen und Meerwasser gesteuert war, um dann versehentlich mit einem Gefangenenshuttle zusammenzustoßen. Mit Holly im Cockpit schoss das gestohlene Shuttle wenig später durch die Tiefen des Atlantiks, tanzende Linien aus Luftblasen im Kielwasser.

»Da ist etwas im Gange«, sagte Artemis nachdenklich und hielt die Finger seiner linken Hand fest, damit sie aufhörten zu zittern. »Erst wird Commander Vinyáya getötet, um die ZUP zu schwächen, dann gibt die Sonde ihre Position preis, und die ZUP bekommt per Telefon einen Tipp, so dass die Behörden in Atlantis gerade genug Zeit haben, die Stadt zu evakuieren, und dann landet die Sonde auf einem Shuttle. Pech für die Insassen?«

»Ist das eine von diesen rhetorischen Fragen?«, wollte Mulch wissen. »Die kapier ich nie. Und wo wir schon dabei sind: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Metapher und einem Vergleich?«

Holly schnippte mit den Fingern. »Jemand wollte, dass alle in dem Shuttle sterben.«

»Jemand wollte, dass wir glauben, alle in dem Shuttle wären tot«, berichtigte Artemis sie. »Was für eine Art, seinen eigenen Tod zu inszenieren. Es wird Monate dauern, bis die ZUP die Überreste identifizieren kann, falls überhaupt. Das ist ein hübscher Vorsprung für einen Entflohenen.«

Holly wandte sich an Foaly. »Ich muss wissen, wer in dem Shuttle war. Hast du irgendeinen Insiderkontakt im Polizeipräsidium?«

Butler sah sie überrascht an. »Insiderkontakt? Ich dachte, Sie wären ein Insider?«

»Im Moment bin ich eher Outsider«, gab Holly zu. »Ich soll Artemis beaufsichtigen.«

Juliet grinste. »Hast du denn schon jemals einen Befehl befolgt?«

»Es war nicht direkt ein Befehl, und überhaupt befolge ich Befehle nur, wenn sie sinnvoll sind. In diesem Fall wäre es idiotisch, in einer kaputten Rettungskapsel herumzusitzen, während unser Feind, wer immer das nun sein mag, bestimmt mit dem zweiten Teil seines Plans weitermacht.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Artemis.

»Wie können wir denn sicher sein, dass es einen zweiten Teil gibt?«, fragte Butler.

Artemis lächelte grimmig. »Natürlich gibt es einen zweiten Teil. Unser Gegner ist teuflisch klug, und so eine Gelegenheit kommt doch nie wieder. Jetzt oder nie. Ich hätte den Zeitpunkt vor ein paar Jahren bestimmt genutzt.« Für einen Moment verlor er seine ruhige Gefasstheit und fuhr den Zentauren an: »Ich brauche diese Liste, Foaly. Wer war an Bord des Gefangenenshuttles?«

»Schon gut, schon gut, Menschenjunge. Ich bin ja dabei. Ich komme nur auf Umwegen dran, damit Trouble nichts von meiner Anfrage mitkriegt. Das ist kompliziert und hochtechnisch.«

Der Zentaur hätte niemals zugegeben, dass er in Wirklichkeit einfach seinen talentierten Neffen Mayne gebeten hatte, sich in den ZUP-Server einzuhacken und ihm die Namen per SMS zu schicken. Im Gegenzug hatte er ihm ein extragroßes Eis versprochen, sobald er wieder zu Hause war.

»Okay, ich habe sie. Meine … äh … Quelle hat sie mir gerade geschickt.«

»Dann her damit.«

Foaly projizierte das Display seines Handys an die Shuttlewand. Neben jedem Namen befand sich ein Link zu einer Datenbank, in der man alles über den Gefangenen erfahren konnte, bis hin zur Farbe seiner Unterhose, falls man die denn wissen wollte. Übrigens vertraten die unterirdischen Psychologen immer häufiger die Ansicht, dass die Farbe der Unterwäsche einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit hat.

Mulch entdeckte einen Namen, den er kannte, allerdings war es nicht der eines Verbrechers.

»He, seht mal. Der gute alte Vishby hat die Kiste geflogen. Wie’s aussieht, haben sie ihm seinen Pilotenschein zurückgegeben.«

»Sie kennen diesen Vishby, Mulch?«, fragte Holly scharf.

Für einen so harten Exverbrecher hatte Mulch ein ganz schön weiches Herz. »Warum denn so giftig? Ich versuche doch nur zu helfen. Klar kenne ich ihn. Sonst würde ich doch wohl nicht sagen: He, seht mal, der gute alte Vishby hat seinen Pilotenschein zurückgekriegt, oder?«

Holly holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, wie man mit Mulch umgehen musste. »Natürlich, Sie haben recht. Und woher kennen Sie den guten alten Vishby

»Ach, das ist eine ziemlich schräge Geschichte«, erwiderte Mulch und spitzte mit einem genüsslichen Schnalzen die Lippen. Zu schade, dass er keine Hähnchenkeule zum Knabbern dahatte, die hätte gut dazu gepasst. »Ich bin ihm vor ein paar Jahren ausgebüxt, als Sie unter Anklage standen, Julius ermordet zu haben. Das hat er nie verwunden. Er hasst mich immer noch, und die ZUP bestimmt auch, weil sie ihm den Pilotenschein entzogen haben. Ab und an schickt er mir Drohmails. Ich schicke ihm dann als Antwort kleine Kurzvideos von mir, wie ich lache. Das macht ihn völlig kirre.«

»Jemand mit einem Groll gegen die ZUP«, sagte Artemis nachdenklich. »Interessant. Der perfekte Insider. Aber für wen?«

Holly studierte ebenfalls die projizierte Liste. »Dieser Feenmann, Unix. Den habe ich verhaftet. Er ist einer von Turnball Roots Kumpanen. Ein kaltblütiger Killer.« Sie wurde blass. »Bobb Ragby ist auch dabei. Und Turnball selbst. Alle diese Typen gehören zu Turnball. Wie um alles in der Welt sind die zusammen in ein Shuttle gekommen? Normalerweise hätten auf dem Computer sofort alle Alarmlämpchen blinken müssen.«

»Es sei denn …«, sagte Artemis und wanderte die Liste auf Foalys Display hinunter. Dann klickte er auf den Link neben Bobb Ragbys Namen. In einem zweiten Fenster erschienen sein Foto und sämtliche Informationen über ihn. Artemis überflog sie rasch. »Seht ihr? Turnball Root wird nirgends erwähnt. Laut dieser Akte ist Ragby wegen Postbetrug verurteilt worden und hat keinerlei bekannte Kontakte oder Komplizen.« Er klickte auf einen weiteren Link und las vor: »Daten aktualisiert durch … Mister Vishby.«

Holly war schockiert. »Also steckt Turnball Root dahinter. Er hat das alles eingefädelt.«

Sie selbst hatte Julius’ Bruder damals bei ihrer Aufnahmeprüfung für die Aufklärung gefasst. Holly hatte die Geschichte Foaly schon viele Male erzählt.

»Es sieht ganz so aus, als wäre Turnball unser Gegner, was keine gute Nachricht ist. Doch selbst in Anbetracht seiner Intelligenz und des Einflusses, den er offenbar auf diesen Vishby hat, stellt sich die Frage, wie er es geschafft hat, eine Raumsonde umzuprogrammieren.«

»Das ist völlig unmöglich«, sagte Foaly und unterstrich diese Aussage, obwohl er sie selbst nicht glaubte, mit einem indignierten Schnauben.

»Ob möglich oder nicht, damit können wir uns später beschäftigen«, sagte Holly und neigte das Shuttle knapp unter die Waagerechte. »Wir sind an der Absturzstelle.«

Alle waren erleichtert, dass das gestohlene Shuttle in einem Stück unten angekommen war. Die Zwerge hatten alles herausgerissen, was sie nicht brauchten, um Gewicht zu sparen, und sie waren dabei vermutlich nicht gerade zimperlich mit der Brechstange umgegangen. Eine lose Niete oder aufgeplatzte Schweißnaht hätte ausgereicht, um ein wenig Luft entweichen zu lassen, und dann wäre das Shuttle zerquetscht worden wie eine Coladose in der Hand eines sehr starken Riesen, der keine Cola mag.

Doch das Shuttle hielt stand, trotz einiger ominöser Dellen, die sich plötzlich in der Wandverkleidung abzeichneten.

»Na, und wenn schon«, sagte Mulch, der wie üblich nur das Naheliegende sah. »Die Kiste gehört doch nicht mal uns. Glaubt ihr vielleicht, die Zwergenbande verklagt uns?« Doch noch während er sprach, verspürte er eine leise Wehmut.

Ich kann mich nie wieder im »Beschwipsten Papagei« blicken lassen, ging ihm auf. Dabei gibt’s da so ein leckeres Curry. Und sogar mit echtem Fleisch.

Überall im Umkreis der Absturzstelle schwirrten atlantische Rettungsshuttles umher und versuchten, eine Druckkuppel aufzubauen, damit die Zauberersanitäter die Verletzten aus den umliegenden Evakuierungsshuttles mit Magie versorgen konnten. Arbeiter in Druckschutzoveralls entfernten mit schwerem Gerät Felsen und Trümmer, um die Schaumgummidichtung zu verlegen, auf der die Kuppel errichtet werden sollte. Um die eigentliche Absturzstelle kümmerte sich im Moment niemand, denn zuerst mussten die Lebenden versorgt werden.

»Ich sollte unsere Turnball-Root-Theorie melden«, sagte Holly. »Commander Kelp würde bestimmt sofort etwas unternehmen.«

»Darauf können wir nicht warten«, wandte Artemis ein. »Es dauert mindestens eine Stunde, bis die Shuttles aus Haven City hier sind, und dann ist es zu spät. Wir müssen Beweise finden, damit Trouble das Ganze vor den Rat bringen kann.«

Zögernd schwebten Hollys Finger über Foalys Handy. Jetzt war keine Zeit für eine Strategiediskussion mit dem Commander. Sie kannte Troubles Vorgehensweise zur Genüge. Wenn sie ihn jetzt anrief, würde er ihnen befehlen zu warten, bis er an Ort und Stelle war, und ihnen womöglich befehlen, ein Biwak aufzuschlagen.

Sie verzichtete auf den Anruf und schickte ihm stattdessen eine kurze SMS, für die sie Turnball Roots Namen auf der Passagierliste markierte, die sie eigentlich gar nicht haben sollten. Dann schaltete sie das Handy aus.

»Er ruft garantiert zurück«, erklärte sie. »Ich schalte es wieder ein, wenn wir etwas haben, das wir ihm erzählen können.«

Foaly sah sie finster an. »Dann verpasse ich die neuesten Ergebnisse der Crunchball-Liga«, murrte er. »Ich weiß, das klingt kleinlich, aber ich zahle schließlich für das Abo.«

Artemis hatte andere Probleme. Er war damit beschäftigt, dem Netz aus glitzernden Vieren zu entkommen, das ihm von seinem inneren Bildschirm gefolgt war und ständig um ihn herumschwebte.

Alles Einbildung, sagte er sich. Konzentrier dich auf die Houdini-Nummer.

»Wie hat Turnball es geschafft, rechtzeitig lebend aus dem Shuttle herauszukommen?«, fragte er in die Runde. »Foaly, kommen wir irgendwie an die Aufzeichnungen der hiesigen Überwachungskameras heran?«

»Nicht mit dieser Kiste. Das hier war mal ein wunderbares Notfallshuttle. Ich habe selbst an dem Entwurf mitgearbeitet. Alles vom Feinsten − mit dem Schätzchen konnte man früher mal einen kompletten Katastropheneinsatz erledigen, ohne dass auch nur ein Staubkorn übrig blieb. Aber jetzt ist gerade mal genug Technik vorhanden, um uns nicht gegen die Wand zu fahren.«

»Es gibt also keine Möglichkeit zu überprüfen, ob das Gefangenenshuttle sich mit irgendwelchen anderen Tauchfahrzeugen getroffen hat?«

»Nicht von hier aus«, sagte Foaly.

»Ich muss wissen, wie Turnball entkommen konnte«, brüllte Artemis, der erneut die Fassung verlor. »Wie soll ich ihn sonst finden? Versteht das denn keiner außer mir? Bin ich allein im Universum?«

Butler veränderte seine Position, bis er mit gebeugten Schultern vor Artemis saß und ihn fast mit seinem massigen Körper umschloss. »Sie sind derjenige, der die Dinge versteht, Artemis. Das ist Ihre Gabe. Wir folgen Ihnen, so gut es geht.«

»Das gilt vielleicht für Sie«, brummte Mulch. »Ich muss immer vorneweg. Und wenn wir dann ankommen, gefällt’s mir nie, vor allem wenn Artemis das Ziel ausgesucht hat.«

In den beiden Grübelfalten zwischen Artemis’ Augen hingen Schweißtropfen. »Ich weiß, alter Freund. Ich muss einfach arbeiten − das ist das Einzige, was mich retten kann.« Er dachte einen Moment angestrengt nach. »Können wir einen Ionenscan durchführen, um zu überprüfen, ob ein anderes Shuttle Spuren hinterlassen hat?«

»Natürlich«, sagte Foaly. »Selbst diese ausgeweidete Kiste kommt nicht ohne Omnisensor aus.« Er öffnete ein Programm auf dem Bildschirm, und kurz darauf senkte sich ein dunkelblauer Filter vor die Windschutzscheibe. Die Ionenspuren der Rettungsshuttles waren als Spektralstrahlen zu sehen, die sich wie Lichterketten hinter den Motoren herzogen. Einer dieser Strahlen führte aus der Richtung von Atlantis direkt zur Absturzstelle, und eine weitere, sehr viel massivere Lichtsäule hatte sich von oben durchs Wasser gepflügt.

»Das ist das Gefangenenshuttle und das die Sonde. Sonst ist nichts zu sehen. Wie hat er es nur gemacht?«

»Vielleicht hat er es gar nicht gemacht«, meinte Juliet. »Vielleicht ist sein Plan schiefgegangen. In letzter Zeit gab es ja noch mehr Genies, die Bockmist gebaut haben, wenn du verstehst, was ich meine.«

Artemis brachte ein halbes Lächeln zustande. »Ja, ich verstehe, was du meinst, du hast es ja klar und unmissverständlich formuliert, ohne Rücksicht auf meine Gefühle.«

»Nichts für ungut, Artemis«, entgegnete Juliet, »aber wir sind um ein Haar von einer Horde hypnotisierter Wrestling-Fans zerquetscht worden, da finde ich, du solltest ein bisschen Stichelei schon abkönnen. Außerdem arbeite ich nicht für dich, also kannst du mir auch nicht befehlen, den Mund zu halten. Du könntest Butlers Gehalt kürzen, nehme ich an, aber damit kann ich leben.«

Artemis wandte sich an Holly. »Ihr zwei seid nicht zufällig miteinander verwandt, oder?« Dann sprang er auf und hätte sich beinahe den Kopf an der niedrigen Decke gestoßen. »Foaly, ich muss da runter.«

Holly tippte auf die Tiefenanzeige. »Kein Problem. Ich kann um das Riff da herumfahren, dann sind wir außer Sichtweite der Rettungsshuttles. Und selbst wenn uns jemand sieht, wird er annehmen, dass wir von Haven geschickt worden sind. Schlimmstenfalls befehlen sie uns, die Absturzstelle zu verlassen.«

»Ich meine, ich muss raus ins Wasser«, präzisierte Artemis. »In dem Schrank da ist ein Druckschutzoverall, und ich brauche Foalys Handy. Ich werde auf die altmodische Art nach Spuren suchen.«

»Auf die altmodische Art«, spottete Mulch. »Mit einem Druckschutzoverall und einem Hightech-Handy.«

Ein Chor von Proteststimmen erhob sich.

»Kommt gar nicht in Frage, das ist viel zu gefährlich.«

»Du bleibst hier. Ich gehe.«

»Warum ausgerechnet mit meinem Handy?«

Artemis wartete, bis sich der Aufruhr gelegt hatte, dann antwortete er knapp und herablassend, wie es seine Art war. »Ich muss da rausgehen, weil der nächste Teil von Turnballs Plan mit Sicherheit weitere Unterirdische das Leben kosten wird, und das Wohl der vielen wiegt mehr als das Wohl des Einzelnen.«

»Den Spruch kenne ich aus Star Trek«, bemerkte Mulch.

»Diesen Einsatz muss ich übernehmen«, fuhr Artemis fort, »weil wir nur einen Druckschutzoverall haben, und zwar ungefähr in meiner Größe. Und wenn ich mich nicht irre − was höchst selten vorkommt −, ist die passende Größe bei einem Druckschutzoverall äußerst wichtig, wenn man nicht als Flunder enden will.« Hätte jemand anders das gesagt, hätte man es für einen Scherz halten können, um die Stimmung aufzulockern, doch aus dem Mund von Artemis Fowl war es eine schlichte Feststellung.

»Und, Foaly, es muss Ihr Handy sein, denn wie ich Ihre Konstruktionsnormen kenne, ist es so gebaut, dass es auch hohem Druck standhält. Stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Foaly und akzeptierte das Kompliment mit einem Nicken seines langen Kopfes. »Und das mit der Größe des Overalls stimmt ebenfalls. Die Dinger schließen noch nicht einmal richtig, wenn ihnen der Körper darin nicht passt.«

Butler war nicht glücklich mit der Entscheidung, aber letzten Endes war er nur ein Angestellter, auch wenn Artemis diese Karte nicht ausspielte. »Ich muss da rausgehen, Butler«, sagte Artemis entschlossen. »Mein Verstand treibt mich noch in den Wahnsinn. Ich nehme an, das Hauptproblem sind die Schuldgefühle. Also muss ich tun, was immer ich kann, um es wiedergutzumachen.«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Butler skeptisch.

Artemis streckte die Arme aus, damit Foaly ihm die Ärmel des Overalls drüberziehen konnte. »Indem ich mich von diesem intriganten Elf nicht überlisten lasse.«

»Turnball und elegant?«, fragte Mulch, der wieder mal nur mit einem Ohr zugehört hatte. »Der hat doch noch nie eine gute Figur gemacht.«

Genau genommen, bestand der Druckschutzoverall aus zwei Anzügen. Innen war eine nahtlose Membran mit Sauerstoff- und Thermofunktion, außen eine Art Ganzkörperpanzer mit interaktiver Oberfläche, die den Wasserdruck aufnahm und ihn in Strom für die eingebauten Steuersysteme umwandelte. Sehr clever, wie man es von einem Produkt der Firma Koboi Laboratorien erwarten konnte.

»Koboi«, murmelte Artemis bestürzt, als er das Logo sah. Selbst jemand, der nicht an Vorzeichen glaubte, wäre ein wenig irritiert gewesen, wenn er auf dem Anzug, der ihm das Leben retten sollte, den Namen seines Erzfeinds entdeckte. »Das gibt mir nicht gerade Auftrieb.«

»Das soll es auch nicht«, sagte Foaly und setzte Artemis den kugelförmigen, transparenten Helm auf. »Was du brauchst, ist Druckausgleich.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr beide gerade einen richtig schlechten Witz gemacht habt«, nuschelte Mulch, der schon wieder auf irgendetwas herumkaute. »Aber leider habt ihr mir mit eurer ganzen Dramatik den Witzradar blockiert.«

Mulchs Bemerkungen waren inzwischen wie ein Hintergrundgeräusch: wenig beachtet, aber seltsam beruhigend.

Foaly klickte sein Handy in den Omnisensor an der Vorderseite des Helms. »Da müsste schon ein Schlag mit einer Walflosse kommen, um das loszureißen. Es hält die Tiefe und den Druck, mit dem du es zu tun bekommst, problemlos aus, und wenn du etwas sagst, wandelt es die Vibrationen in Schallwellen um. Aber versuch deutlich zu sprechen.«

»Bleiben Sie dicht am Riff«, sagte Butler und legte die Hände auf den Helm, um sicherzugehen, dass Artemis ihm zuhörte. »Und falls etwas schiefgeht, entscheide ich, wann wir Sie wieder raufziehen, nicht Sie. Haben Sie verstanden, Artemis?«

Artemis nickte. Der Overall war über einen speziellen elektromagnetischen Strahl mit einem Dock an der Unterseite des Shuttles verbunden, und im Notfall zog dieser Strahl den Anzug zurück zur Basis.

»Sie checken kurz das Gelände mit Foalys Handy, und dann kommen Sie sofort zurück. Ich gebe Ihnen zehn Minuten, mehr nicht. Sonst müssen Sie sich eben etwas anderes überlegen. Verstanden?«

Wieder nickte Artemis, doch diesmal sah es eher so aus, als würde er sich abkapseln, statt auf Butlers Worte zu hören.

Butler schnippte mit den Fingern. »Konzentrieren Sie sich, Artemis! Für Ihren Atlantis-Komplex ist später noch Zeit. Da draußen wartet der atlantische Graben auf Sie, und darüber zehn Kilometer Wasser. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, müssen Sie hellwach sein.« Er wandte sich zu Holly um. »Das wird nichts. Ich blase das Ganze ab.«

Holly presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Marinegesetz, Butler. Sie befinden sich auf meinem Schiff, also befolgen Sie meine Befehle.«

»Soweit ich mich entsinne, habe ich Ihnen das Schiff überhaupt erst gebracht.«

»Ja, und vielen Dank auch dafür, aber es ist und bleibt mein Schiff.«

Artemis nutzte diesen Wortwechsel dazu, sich in die Schleuse zu begeben, die zu eng war, als dass Butler ihm hätte folgen können.

»Zehn Minuten, alter Freund«, sagte er, und seine Stimme klang durch den Helmlautsprecher wie die eines Roboters. »Dann können Sie mich wieder einholen.«

Plötzlich musste Butler daran denken, wie Angeline Fowl reagieren würde, wenn sie von dieser neuesten Eskapade erfuhr. »Warten Sie, Artemis. Es muss auch einen anderen Weg geben …«

Doch seine Worte prallten an einer Wand aus Plexiglas ab, als das Schleusenschott mit dem Geräusch eines schlecht austarierten Kugellagers hinunterglitt.

»Dieses Geräusch gefällt mir gar nicht«, sagte Mulch. »Klingt nicht sehr wasserdicht.«

Niemand widersprach. Denn sie alle wussten, was er meinte.

Jenseits des Schotts wurde Artemis ebenfalls von bösen Vorahnungen heimgesucht, wenn auch anderer Art. Er hatte gerade den Namen entdeckt, den die Zwergenbande dem Shuttle gegeben hatte. Er war an der Innenseite des zweiten Schotts aufgemalt, mit einer Farbe, die wie Blut aussehen sollte, aber keines sein konnte, denn das wäre längst abgewaschen worden.

Wahrscheinlich irgendeine Lösung auf Gummibasis, dachte Artemis, doch der Hauptteil seines Gehirns war nicht mit der Frage der Zusammensetzung der Farbe beschäftigt, sondern mit dem Namen selbst, und der lautete Plünderer, natürlich auf Gnomisch. Das Verb plündern wurde ffürfir ausgesprochen, und das Suffix -er, das aus dem Verb ein Substantiv machte, klang im Gnomischen wie fer. Dadurch klang das gnomische Wort für Plünderer mehr oder weniger wie Vierviervier.

Vier vier vier, dachte Artemis und wurde unter dem Helm leichenblass: Tod Tod Tod.

In dem Moment glitt, ebenfalls mit lautem Geklapper, das zweite Schott auf, und das Meer sog ihn in seine dunklen Tiefen.

Reiß dich zusammen, ermahnte sich Artemis, während die äußere Schicht des Overalls zu vibrieren begann und die Lichtkreise an seinen Schläfen, Fingerspitzen und Knien aktivierte. Zähl nicht, grüble nicht, tu einfach nur das, was Butler dir gesagt hat: Konzentrier dich.

Es fühlte sich gar nicht an wie unter Wasser, obwohl er es natürlich war. Sein Körper spürte nicht den erwarteten Widerstand, seine motorischen Fähigkeiten waren in keiner Weise eingeschränkt, und er hatte den Eindruck, dass er sich ebenso flüssig bewegen konnte wie sonst auch, wobei Butler vermutlich Zweifel daran geäußert hätte, ob seine Bewegungen jemals flüssig gewesen waren.

Das Ganze hätte eine wunderbare Erfahrung sein können, hätte nicht der Riesenkrake, in dessen Revier er gerade eingedrungen war, ihn mit seinen dicken Armen gepackt und ihn in seine Höhle geschleppt.

Ah, der mythische Riesenkrake. Gattung Enteroctopus, dachte Artemis, der nun, da er tatsächlich mit einer ernstzunehmenden Gefahr konfrontiert war, erstaunlich ruhig wurde. Nicht mehr ganz so mythisch.