Kapitel 3
Auftritt Orion
Vatnajökull, Island, Gegenwart
Artemis riss es zwischen seinen Psychosen hin und her.
»Dich gibt es gar nicht!«, rief er der herabstürzenden Raumsonde zu. »Du bist nur eine Halluzination!«
Dann wechselte er wieder nahtlos über zur Paranoia. »Du hast das alles geplant«, fauchte er Holly an. »Wer sind deine Partner? Foaly, klar. Butler? Hast du meinen treuen Leibwächter gegen mich aufgehetzt? Hast du ihm den Verstand geraubt und ihm Lügen eingetrichtert?«
Von ihrem Platz auf dem Dach konnte Holly über ihren angeschlagenen Helmlautsprecher nur jedes zweite Wort verstehen, aber das genügte, um ihr klarzumachen, dass Artemis nicht mehr der nüchterne Denker war, den sie kannte.
Wenn der alte Artemis den neuen Artemis sehen könnte, würde er vor Verlegenheit sterben.
Genau wie Butler in Cancún hatte auch Holly Mühe, in ihrer düsteren Situation ihren rebellischen Sinn für Humor im Zaum zu halten.
»Geh in Deckung!«, rief sie. »Die Sonde ist echt!«
»Ja, das hättest du gern, dass ich das denke. Aber diese Sonde ist nichts weiter als ein Teil eurer geheimen Verschwörung …« Artemis hielt inne. Wenn die Sonde ein Teil der Verschwörung war, und wenn die Verschwörung echt war, dann musste auch die Sonde echt sein. »Fünf!«, stieß er plötzlich aus, nachdem er die Zahlen einen Moment lang völlig vergessen hatte. »Fünf, zehn, fünfzehn.«
Er richtete alle seine Finger auf die Sonde und wedelte hektisch damit.
Ein Zehn-Finger-Gruß. Der wird diese Vision verschwinden lassen.
Und tatsächlich schien das Fingergewedel Wirkung zu zeigen. Die vier scheibenförmigen Triebwerke, die hinter der eigentlichen Sonde hergezerrt worden waren wie hilflose Welpen hinter ihrem durchgeknallten Herrchen, drehten sich plötzlich um und begannen, Antigravitationsladungen auszustoßen, die in dicken Blasen Richtung Erde wallten und den Sturz der Sonde schneller abfingen, als man es bei einem Raumschiff von so wuchtigen Ausmaßen für möglich gehalten hätte.
»Ha!«, krähte Artemis. »Ich kontrolliere meine eigene Wirklichkeit. Hast du das gesehen, Holly?«
Holly war klar, dass Artemis keineswegs auch nur irgendetwas kontrollierte, sondern lediglich dem Landemanöver einer unterirdischen Raumsonde beiwohnte. Und sie wusste genau, dass es lebensgefährlich war, unter einem solchen Koloss zu stehen, wenn er im Landeanflug war. Mit den Fingern zu wedeln wie ein drittklassiger Bühnenzauberer änderte nichts an dieser Erkenntnis.
Ich muss irgendwie hochkommen, dachte sie.
Doch der Schmerz in ihren Beinen drückte sie nieder wie eine Bleidecke.
Ich glaube, mein Becken ist gebrochen. Und vielleicht auch der eine Knöchel.
Holly verfügte über eine ungewöhnlich starke Magie, dank einer Energiespritze von ihrem Freund, dem Dämon Nr. 1, der, wie sich herausgestellt hatte, der mächtigste Zauberlehrling war, den die Akademie je gesehen hatte, und diese Magie arbeitete auch bereits an der Heilung ihrer Verletzungen, aber offenbar nicht schnell genug. Artemis blieben nur noch wenige Sekunden, bis eine von den Antigravitationsblasen ihn in Stücke riss und die Sonde buchstäblich auf seinem Kopf landete. Man musste kein Genie sein, um sich ausmalen zu können, was dann mit ihm geschehen würde − und das war gut so, denn Artemis war offensichtlich kein Genie mehr.
»Hilfe«, rief sie schwach in ihr Helmmikro. »Hallo, ist da noch irgendwer?«
Es kam keine Antwort. Diejenigen, die im Shuttle gesessen hatten, waren jenseits aller Magie, und Foaly steckte immer noch in der Schneewehe fest.
Selbst wenn da noch jemand ist, jetzt ist es zu spät.
Gewaltige Risse bildeten sich im Eis, als die Antigravitationsladungen auf die Oberfläche trafen. Mit einem trockenen Knacken zogen sie sich durch den Gletscher und öffneten große Krater zu den darunterliegenden Felshöhlen.
Die Sonde, die so groß war wie ein Getreidesilo, schien sich gegen den bremsenden Zug ihrer Außentriebwerke zu stemmen, denn sie stieß Dampfwolken und Flüssigkeitsstrahlen aus.
Artemis bekam eine Dusche aus Raketentreibstoff ab, was es schwierig machte, die Existenz des Raumschiffs zu leugnen. Doch eins hatte Artemis nicht verloren, nämlich seine Sturheit, und so blieb er trotzig, wo er war, ohne sich dem verzweifelten Aufschrei seines letzten Rests von gesundem Menschenverstand zu beugen.
»Wen kümmert’s?«, murmelte er.
Zufällig hörte Holly die Worte, und sie dachte: Mich kümmert’s.
Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen.
Wir haben ja nichts zu verlieren, dachte Holly, tastete nach dem Holster an ihrem Oberschenkel und zog mit einer etwas weniger schnittigen Bewegung als sonst ihre Waffe. Die Neutrino war mit ihrem Visier synchronisiert, aber Holly blieb keine Zeit, die Einstellungen zu überprüfen. Sie drückte einfach den Hauptschalter und sprach klar und deutlich in ihr Helmmikro.
»Waffe aktivieren. (Pause für Piepton.) Nicht tödlich. Fächerstrahl, volle Kraft.«
»Tut mir leid, Artemis«, murmelte sie und feuerte eine satte Drei-Sekunden-Ladung auf ihren oberirdischen Freund ab.
Artemis steckte bis zu den Knöcheln im Schneematsch und schwadronierte wie ein Besessener, als Holly auf den Abzug drückte.
Der Strahl traf ihn wie der Schlag eines riesigen, elektrisch geladenen Aals. Sein Körper wurde hochgerissen und durch die Luft geschleudert, und keine Sekunde später krachte die Sonde mit markerschütternder Wucht genau auf die Stelle, an der er gestanden hatte.
Wie ein Sack Feuerholz fiel Artemis in einen Krater und verschwand aus Hollys Blickfeld.
Das ist nicht gut, dachte sie. Dann sah sie ihre eigenen Magiefunken vor ihren Augen schweben wie neugierige, bernsteinfarbene Glühwürmchen.
Sendepause. Meine Magie schickt mich schlafen, damit sie mich heilen kann.
Aus dem Augenwinkel sah Holly noch, wie sich im Rumpf der Raumsonde eine Tür öffnete und eine hydraulische Gangway herausgefahren kam. Jemand − oder etwas − folgte.
Hoffentlich wache ich wieder auf, dachte Holly. Ich hasse Eis, und ich will nicht in der Kälte sterben.
Dann schloss sie die Augen und spürte nicht mehr, wie ihr schlaffer Körper vom Dach rollte und in eine darunterliegende Schneewehe fiel.
Kaum eine Minute später schlug Holly die Augen wieder auf. Das Aufwachen fühlte sich wirr und unwirklich an, wie Dokumentaraufnahmen aus einem Kriegsgebiet. Sie konnte sich nicht erinnern, aufgestanden zu sein, doch plötzlich war sie auf den Beinen und wurde von einem völlig derangierten Foaly mitgeschleift. Seine sorgfältig gepflegte Stirnlocke war angekokelt, und die Überreste sahen aus, als wäre ein Vogelnest zwischen seinen Ohren gelandet. Vor allem aber wirkte er deprimiert.
»Kommen Sie, Captain!«, rief Foaly, und seine Stimme schien nicht ganz zu den Mundbewegungen zu passen. »Wir müssen von hier verschwinden.«
Holly hustete goldgelbe Funken, und ihre Augen fingen an zu tränen.
Bernsteinfarbene Magie? Ich werde alt.
Foaly packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Reißen Sie sich zusammen, Captain. Hier gibt’s genug zu tun.«
Der Zentaur wandte Trauma-Psychologie an. Das wusste Holly, denn sie erinnerte sich an die entsprechende Fortbildung im Polizeipräsidium.
Im Fall einer Stresssituation appellieren Sie an die Professionalität der Soldaten. Rufen Sie ihnen wiederholt ihren Rang ins Gedächtnis. Bestehen Sie darauf, dass sie ihre Pflicht tun. Das wird die seelischen Wunden zwar nicht dauerhaft heilen, aber vielleicht reicht es aus, um Sie und Ihre Truppe zurück zur Basis zu bringen.
Commander Vinyáya hatte den Kurs geleitet.
Holly versuchte sich zusammenzureißen. Ihr Unterschenkel fühlte sich kraftlos an, und in ihrem Beckenbereich machte sich der Nachheilungsschmerz bemerkbar, auch bekannt unter dem Namen Magiebrennen.
»Lebt Artemis noch?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Foaly knapp. »Ich habe die Dinger gebaut, verstehst du. Ich habe sie entworfen.«
»Welche Dinger?«
Foaly zerrte sie zu einer eisüberzogenen Vertiefung im Gletscher, glatter als jede Profi-Rodelbahn.
»Die, die uns auf den Fersen sind. Die Amorphoboter. Die Dinger, die aus der Sonde gekommen sind.«
Leicht vornübergebeugt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, ließen sie sich hinuntergleiten.
Holly hatte das Gefühl, einen Tunnelblick bekommen zu haben, obwohl ihr Helm ein Panoramavisier hatte. An den Rändern ihres Sichtfelds funkelte es bernsteinfarben.
Die Heilung ist noch nicht abgeschlossen. Ich sollte mich besser nicht bewegen. Weiß der Himmel, welche Schäden ich mir sonst zufüge.
Foaly schien ihre Gedanken lesen zu können, doch wahrscheinlich war es einfach nur unterirdisches Einfühlungsvermögen.
»Ich musste dich da rausholen. Einer von meinen Amorphobotern steuerte auf dich zu und sog dabei alles auf, was ihm über den Weg lief. Die Sonde ist nach unten verschwunden, keine Ahnung, wohin. Versuch mal, dich auf mich zu stützen.«
Holly nickte, dann musste sie erneut husten. Zum Glück reinigte sich ihr Helmvisier automatisch.
Mühsam rutschten sie übers Eis zu dem Krater, in dem Artemis lag. Er war leichenblass, und vom Mundwinkel zum Haaransatz zog sich ein Rinnsal aus Blut. Foaly beugte sich zu ihm hinunter und versuchte, ihn mit einer energischen Ermahnung aus seiner Bewusstlosigkeit zu holen.
»Komm schon, Menschenjunge«, sagte er und stupste Artemis in den Unterarm. »Jetzt ist nicht der richtige Moment, um dir einen lauen Lenz zu machen.«
Artemis’ einzige Reaktion darauf war ein kaum merkliches Zucken seines Armes. Das beruhigte Holly − immerhin war er noch am Leben.
Sie stolperte über den Kraterrand und wäre beinahe gefallen.
»Von lauem Lenz kann hier ja wohl kaum die Rede sein«, entgegnete sie.
Foaly versetzte Artemis erneut einen Stupser. »Das war bildlich gemeint. Und solltest du nicht längst dabei sein, diese Roboter mit deinem Stift zu töten?«
Hollys Augen leuchteten auf. »Geht das denn?«
Foaly schnaubte. »Klar. Sofern dein Stift statt einer Graphitmine einen supertollen Dämonen-Magiestrahl hat.«
Holly fühlte sich immer noch angeschlagen, aber trotz der körperlichen und seelischen Strapazen sah sie deutlich, wie ernst die Lage war. Ein seltsames metallisches Klicken erklang, begleitet von tierähnlichen Lauten, fast wie ein Zwitschern, erst leise, dann immer lauter und schneller.
Der Lärm kratzte an Hollys Stirn, als versuche jemand, ihr die Haut abzuziehen.
»Was ist das?«
»Die Amorphoboter kommunizieren«, flüsterte Foaly. »Sie tauschen Terabytes an Informationen aus, und zwar drahtlos. Was einer weiß, das wissen innerhalb von Nanosekunden alle.«
Mit dem Omnisensor in ihrem Handschuh überprüfte Holly Artemis’ Vitalfunktionen. Die Anzeigen teilten ihr mit, dass er leichte Herzgeräusche hatte und dass der Scheitellappen seines Gehirns ungewöhnlich aktiv war. Davon abgesehen, konnte ihr Helmcomputer lediglich feststellen, dass Artemis nicht tot war. Wenn sie also dieses neue Unglück überlebte, dann bestand zumindest eine Chance, dass er es auch schaffen würde.
»Wonach suchen die, Foaly?«
»Wonach die suchen?«, wiederholte der Zentaur mit einem hysterischen Grinsen.
Plötzlich spürte Holly, wie ihre Sinne wieder voll funktionsfähig wurden. Die Magie hatte die Heilung ihrer Verletzungen beendet. Ihr Becken schmerzte immer noch ein wenig, und das würde vermutlich auch noch ein paar Monate anhalten, aber sie war wieder einsatzbereit und somit vielleicht auch imstande, sie in die unterirdische Zivilisation zurückzubringen.
»Reiß dich zusammen, Foaly. Sag mir, was diese Dinger können.«
Der Zentaur schien verärgert zu sein, dass jemand ihn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit Fragen belästigte, wo es doch so viel wichtigere Dinge zu klären gab.
»Also wirklich, Holly! Muss das sein?«
»Verdammt noch mal, Foaly, jetzt rück schon raus damit!«
Foaly seufzte mit flatternden Lippen. »Das sind Bio-Sphären. Amorphoboter. Dumme, hauptsächlich aus Plasma bestehende Maschinen. Sie sammeln Proben von Pflanzen und analysieren sie in ihrem Plasma. Ganz einfach. Und völlig harmlos.«
»Harmlos?«, entgegnete Holly. »Ich glaube, jemand hat deine Amorphoboter umprogrammiert.«
Das Blut wich aus Foalys Wangen, und seine Finger begannen zu zucken. »Nein. Unmöglich. Diese Raumsonde sollte auf dem Weg zum Mars sein und dort nach Mikroorganismen suchen.«
»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass deine Sonde entführt worden ist.«
»Es gibt noch eine andere Erklärung«, meinte Foaly. »Es könnte sein, dass ich das alles nur träume.«
Holly ließ sich nicht beirren.
»Wie können wir sie stoppen, Foaly?«
Angst flackerte über Foalys Gesicht wie ein Sonnenstrahl über einen See. »Sie stoppen? Die Amorphoboter sind dafür konstruiert, einen längeren Aufenthalt im All zu überstehen. Du könntest einen von denen auf die Oberfläche eines Sterns fallen lassen, und er würde lange genug überleben, um Informationen an seine Sonde zu senden. Natürlich habe ich einen Vernichtungscode eingebaut, aber ich vermute mal, der ist deaktiviert worden.«
»Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben. Können wir sie nicht erschießen?«
»Auf keinen Fall. Sie lieben Energie. Die nährt ihre Zellen. Wenn du auf sie schießt, werden sie nur noch größer und mächtiger.«
Holly legte die Hand auf Artemis’ Stirn, um seine Temperatur zu überprüfen.
Ich wünschte, du würdest aufwachen, dachte sie. Wir könnten jetzt gut einen von deinen genialen Plänen gebrauchen.
»Foaly«, fragte sie besorgt, »was machen die Amorphoboter jetzt? Wonach suchen sie?«
»Leben«, erwiderte der Zentaur knapp. »Sie suchen das Gebiet systematisch ab, vom Landeplatz ausgehend. Jede Lebensform, die ihnen begegnet, wird in den Beutel gesaugt, analysiert und wieder freigegeben.«
Holly spähte über den Kraterrand. »Und was sind ihre Suchkriterien?«
»Die Grundeinstellung ist Wärme. Aber man kann sie auf alles Mögliche programmieren.«
Wärme, dachte Holly. Deshalb bleiben sie so lange bei dem brennenden Shuttle.
Die Amorphoboter waren wie auf einem unsichtbaren Raster angeordnet und bewegten sich langsam von den rauchenden Überresten des Shuttles weg. Sie sahen eigentlich ganz harmlos aus, rollende Kugeln aus Gel mit zwei rotglühenden Sensoren im Kern. Wie Slimy-Kugeln von einem Kindergeburtstag. Ungefähr so groß wie ein Crunchball.
So gefährlich können diese trägen kleinen Biester doch nicht sein.
Doch ihre Einschätzung änderte sich rasant, als einer der Amorphoboter seine Farbe wechselte, von sanft schimmerndem Grün zu einem giftigen, grellen Blau, und alle anderen sofort die Farbe übernahmen. Aus dem unheimlichen Zwitschern wurde ein anhaltendes, schrilles Wimmern.
Sie haben etwas gefunden.
Die gesamte Einheit von etwa zwanzig Bots sammelte sich an einer Stelle. Einige von ihnen vermischten sich miteinander, so dass größere Klumpen entstanden, die sich mit einer ungeahnten Geschwindigkeit und Geschicklichkeit übers Eis bewegten. Der Bot, der die Nachricht an die anderen weitergeleitet hatte, ließ eine elektrische Ladung durch seine Hülle zucken, die er dann in eine Schneewehe jagte. Ein unglückseliger Schneefuchs sprang mit rauchendem Schwanz aus der Dampfwolke und ergriff die Flucht.
Es ist beinahe komisch. Beinahe.
Die Amorphoboter hüpften auf und ab, als würden sie lachen, und schickten dem armen Fuchs noch ein paar blaue Energieblitze hinterher, die schwarze Furchen in den Boden rissen und das völlig verängstigte Tier aus dem Schutz des Restaurants vertrieben. Trotz seiner angeborenen Schnelligkeit und Gewandtheit sahen die Bots jede seiner Bewegungen mit unglaublicher Genauigkeit voraus und ließen den Fuchs mit weit aufgerissenen Augen und hängender Zunge im Kreis laufen.
Dieses Katz-und-Maus-Spiel konnte nur auf eine Weise enden: Der größte Amorphobot stieß in ungeduldigem Bass einen Befehl aus und wandte sich abrupt ab, um seine Suche wieder aufzunehmen. Die anderen folgten ihm, bis auf den einen, der mit der Fuchsjagd angefangen hatte. Doch der wurde seinen Sport bald leid und erledigte den Fuchs mitten im Sprung mit einem Energieblitz, der wie ein Speer aus seiner Mitte hervorschoss.
Mörder, dachte Holly, eher wütend als entsetzt. Das hat Foaly ganz bestimmt nicht programmiert.
Plötzlich tauchte der Zentaur vor ihr auf. »Du hast wieder diesen Blick in deinen Augen, Holly.«
»Welchen Blick?«
»Den, von dem Julius Root immer gesprochen hat. Den Ich-bin-kurz-davor-etwas-unglaublich-Dummes-zu-tun-Blick.«
Für solches Geplänkel war jetzt keine Zeit. »Ich muss irgendwie an Artemis’ Kiste herankommen.«
»Das geht nicht. Was rät das ZUP-Handbuch in so einem Fall?«
Holly knirschte mit den Zähnen. Ihre beiden Genies waren nutzlos. Sie musste die Sache selbst in die Hand nehmen.
»Das Handbuch − an dem du mitgeschrieben hast − würde mir raten, mich in sichere Entfernung zurückzuziehen und ein Biwak aufzuschlagen, aber, bei allem Respekt, diese Anweisungen sind ein Haufen Trollköttel.«
»Aha. Nette Art von Respekt. Weißt du überhaupt, was das Wort ›Respekt‹ bedeutet? Ich bin zwar kein Sprachgelehrter, aber ich gehe jede Wette ein, dass der Vergleich meines Handbuchs mit einem dampfenden Haufen Trollköttel kein Zeichen von Respekt ist.«
»Von dampfend habe ich nichts gesagt«, entgegnete Holly, dann beschloss sie, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Entschuldigen konnte sie sich auch später noch. »Hör zu, Foaly. Ich habe keinerlei Verbindung zum Polizeipräsidium, wir haben einen Haufen mordlustiger Glibberkugeln an den Hacken, und die beiden einzigen Leute, die möglicherweise eine Lösung für dieses Problem finden könnten, sind entweder bewusstlos oder einfallslos. Also muss ich an Artemis’ Kiste herankommen, und ich brauche dich, um mir Deckung zu geben. Meinst du, das schaffst du?«
Holly gab dem Zentauren ihre Reservewaffe. Foaly fasste die Waffe so vorsichtig an, als wäre sie radioaktiv − was sie bis zu einem gewissen Grad auch war.
»Okay. Ich weiß, wie das Ding hier funktioniert. Zumindest theoretisch.«
»Gut«, sagte Holly und warf sich bäuchlings auf das Eisfeld, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.
Holly spürte, wie ihr Körper sich versteifte, während sie über den Gletscher glitt. Vor ihr erstreckte sich das Eis, vom steten Wind zu eleganten Schwüngen und Kurven geformt. Dank dieses Windes, der sie von hinten anschob, kam sie auch relativ gut vorwärts, wenn man bedachte, dass sie erst ein paar Minuten zuvor noch mehrere Knochenbrüche gehabt hatte.
Wieder einmal von der Magie gerettet.
Doch nun hatte sie keinen einzigen Funken mehr übrig.
Der tote Fuchs lag rauchend auf einem Bett aus Schnee und schmolz sich selbst ein Grab.
Holly riss den Blick von den traurigen Augen des Tieres los, die sie aus dem verkohlten Kopf anschauten, und sah zu dem Ice Cube hinüber, der ein Stück entfernt stand, zwar unbeachtet von den Amorphobotern, aber hinter ihrer Suchlinie.
Ich muss irgendwie die Linie durchbrechen, ohne dass sie mich bemerken. Ihre Sensoren reagieren auf Wärme. Also kriegen sie ein bisschen Wärme, mit der sie sich beschäftigen können.
Holly schaltete die Klimaanlage in ihrem Anzug ein, die laut Helmanzeige noch fünf Minuten Laufzeit hatte, und wählte bei ihrer Neutrino die Leuchtraketen-Einstellung. Versehentlich aktivierte sie dabei mit ihrem Blinzeln auch den Musikplayer in ihrem Helm. Zum Glück war der Ton abgestellt, und es gelang ihr, Grazen McTortoors Metal-Ballade »Troll Sundown« abzuschalten, bevor die Bots die Vibrationen bemerkten.
Das wäre das erste Mal, dass Grazen McTortoors Musik jemanden tötet. Er wäre bestimmt begeistert.
Holly rollte sich auf den Rücken und sah hinauf in einen Himmel aus Pech und Granit, dessen mächtige Wolken wie von Flammen umzüngelt waren.
Wärme.
Sie stützte ihre Hand auf, richtete die Waffe gen Himmel und schoss eine Fontäne von Leuchtraketen in die Luft.
Wenn doch nur jemand da wäre, der sie sieht und uns zu Hilfe kommt.
Das entspannte Gezwitscher der Amorphoboter steigerte sich zu einem lauten Wimmern. Es war Zeit, sich in Bewegung zu setzen.
Bevor ihr gesunder Elfenverstand einsetzen konnte, war Holly auf den Beinen und rannte los, direkt auf Artemis’ Kiste zu, die Neutrino immer im Anschlag.
Ist mir egal, was Foaly sagt. Wenn eins von diesen rotäugigen Monstern mir zu nahe kommt, werde ich ausprobieren, was eine Plasmagranate mit seinen Innereien anstellt.
Sämtliche Bots hatten ihre Sensoren auf die herabschwebenden Leuchtraketen gerichtet, die sich wie die Flammen eines Schweißbrenners durch die Wolken schnitten. Sie fuhren Gel-Periskope aus und verfolgten den Flug der Leuchtraketen wie ein Haufen unförmiger Erdmännchen. Vielleicht hätten sie die bewegliche Wärmequelle bemerkt, die über den Gletscher schlidderte, doch sie waren darauf programmiert, immer nur der stärksten Quelle zu folgen.
So clever sind sie also doch nicht.
Holly lief so schnell, wie ihre geschwächten Knochen es zuließen.
Das Gelände war eben, aber tückisch. Der frische Septemberschnee hatte sich über die Vertiefungen gelegt, und Holly wäre beinahe in einer Traktorfurche ausgerutscht. Ihr Knöchel knackte, brach jedoch nicht. Zum Glück.
Bisher lief alles gut: Die Bots waren völlig gebannt von den Leuchtraketen und schienen sich nicht für die Wärmestrahlung zu interessieren, die Holly aussandte. Sie schlug einen Bogen um das Shuttlewrack und versuchte, weder das Ächzen des verkohlten Metallrumpfs noch das Brustteil der Pilotenuniform zur Kenntnis zu nehmen, das mit der Windschutzscheibe verschmolzen war. Hinter dem Shuttle lag Artemis’ großes Experiment: die Schneekanone.
Genau das, was wir jetzt brauchen.
Holly kniete sich vor den Ice Cube. Das Bedienfeld war schnell gefunden, und glücklicherweise hatte es einen Omnisensor, so dass es kein Problem war, den Ice Cube mit ihrem Helmcomputer zu synchronisieren. Jetzt konnte sie Zeitpunkt und Ziel der Kanonenschüsse nach Belieben steuern. Sie stellte einen Countdown ein und machte sich umgehend wieder auf den Rückweg, dorthin, woher sie gekommen war.
Unterwegs fiel ihr auf, dass die Leuchtraketen sehr lange brannten, und sie nahm sich vor, Foaly zu den neuen Modellen zu gratulieren − woraufhin sie prompt erloschen.
Kaum waren die hübschen Lichter am Himmel verschwunden, wandten sich die Amorphoboter wieder ihrer methodischen Suche nach Lebenszeichen auf der Erde zu. Einer von ihnen wurde losgeschickt, den einzelnen Wärmefleck zu erkunden, der sich durch ihren Suchbereich bewegte. Gehorsam rollte der Bot über die Eisfläche, überprüfte den Boden, sammelte nebenbei mit Gel-Tentakeln Müll ein und schnappte sich mit seiner langen Froschzunge eine tief- fliegende Lachmöwe. Hätte es einen Soundtrack dazu gegeben, wäre es dum-di-dum-di-dum gewesen − alles in bester Ordnung. Dann kreuzte sein Vektor den von Holly, und es kam zu einem virtuellen Zusammenstoß. Die Scanneraugen des Bots leuchteten auf, und durch seinen kugelförmigen Körper zuckten Blitze.
Gib mir nur noch ein paar Sekunden, dachte Holly und verpasste dem Bot einen konzentrierten Strahl in seine Eingeweide.
Der Strahl durchdrang die Hülle des wabbeligen Körpers, doch bevor er die Steuerungszentrale in der Mitte treffen konnte, wurde er abgelenkt. Wimmernd machte der Bot einen Satz nach hinten, wie ein Ball, dem jemand einen Tritt versetzt hat, und alarmierte seine Freunde.
Holly hielt nicht inne, um zu sehen, wie die darauf reagierten. Das war auch nicht nötig − ihre feinen Elfenohren gaben ihr die nötigen Informationen: Sie waren hinter ihr her, und zwar alle.
Die Glibberwesen schossen über das Eis wie Bowlingkugeln, das Ganze untermalt von dem grässlichen Gezwitscher.
Ein Bot, der genau auf sie zusteuerte, trudelte plötzlich, von einem Neutrinostrahl getroffen, zur Seite. Offenbar nahm Foaly seine Aufgabe ernst, für ihre Deckung zu sorgen, auch wenn er natürlich wusste, dass er diese Dinger mit seiner Waffe nicht töten konnte.
Danke, großer Technikmeister.
Rülpsend und zwitschernd rollten die Bots von allen Seiten auf sie zu.
Wie Figuren aus einem Kinder-Comic.
Was Holly jedoch nicht davon abhielt, so viele von den kleinen Kerlen abzuschießen, wie sie erwischen konnte. Aus dem Hintergrund rief Foaly ihr zu, sie möge doch bitte nur dann schießen, wenn es unbedingt nötig sei, oder um ihn wörtlich zu zitieren: »Holly, bei allen Göttern, hör auf, Wesen, die nur aus Energie bestehen, mit weiterer Energie zu beschießen. Wie blöd bist du eigentlich?«
Die Bots erbebten und vermischten sich miteinander, so dass sie immer größer und aggressiver wurden.
»D’Arvit«, fluchte Holly, die allmählich ins Keuchen kam. Ihr Helm teilte ihr fröhlich mit, ihre Herzfrequenz läge bei über 240 Schlägen pro Minute, was bei einer Fee kein Problem war, bei einer Elfe aber schon. Normalerweise brachte ein Vollgas-Sprint Holly nicht aus der Fassung, aber hier rannte sie um ihr Leben, und das unmittelbar nach einer größeren Heilung. Sollte sie nicht jetzt eigentlich in einem Krankenhaus liegen und einen Cocktail aus Verjüngungsschlamm trinken?
»Noch zwei Minuten bis zum Herzstillstand«, verkündete ihr Helm munter. »Es wäre nicht unklug, jedwede körperliche Aktivität sofort einzustellen.«
Trotz ihrer Atemnot gönnte Holly sich ein verächtliches Schnauben. Die verhasste Stimme ihres Helms gehörte Corporal Frond, der glamourösen ZUP-Vorzeigeelfe mit den blonden Locken und den knallengen Overalls, die vor kurzem herausgefunden hatte, dass sie eine Nachfahrin des Elfenkönigs Frond war und sich seither als Prinzessin bezeichnete.
Foaly tauchte aus dem Krater auf und packte Holly am Ellbogen. »Los, komm. Wir haben nur noch ein paar Sekunden, bis diese gefräßigen Kugeln, die du direkt zu unserem Versteck geführt hast, uns vernaschen wie Hamster.«
Holly rannte, so schnell es ihre knirschenden Knochen erlaubten. »Ich habe einen Plan.«
Schliddernd liefen sie und Foaly über das Eis zurück zu der Kuhle, in der Artemis immer noch bewusstlos dalag. Die Amorphoboter folgten ihnen wie Murmeln, die eine Schüsselwand hinunterrollten.
Foaly sprang kopfüber in die Kuhle, was nicht sehr elegant aussah. Zentauren sind keine guten Taucher, deshalb nehmen sie auch nie an Kunstspring-Wettbewerben teil.
»Ich weiß nicht, was das für ein Plan ist, aber er funktioniert nicht«, rief er.
Holly hechtete ebenfalls in die Kuhle und schützte Artemis, so gut sie konnte, mit ihrem Körper.
»Drück dein Gesicht gegen das Eis«, befahl sie. »Und halte die Luft an.«
Doch Foaly reagierte nicht, sondern beobachtete gebannt Artemis’ Ice Cube, der sich auf seinem Fuß zu drehen begann.
»Sieht aus, als würde Artemis’ Kanone gleich schießen«, sagte er. Seine wissenschaftliche Neugier war offensichtlich stärker als die Angst vor dem schrecklichen Tod, der ihnen drohte.
Holly packte ihn bei der Mähne und zog seinen Kopf grob Richtung Boden. »Gesicht runter und Luft anhalten. Drücke ich mich so unklar aus?«
»Oh«, sagte Foaly. »Ich verstehe.«
Irgendwo musste eine Wärmequelle aufgetaucht sein, denn die Bots hielten einen Moment inne und berieten sich. Doch ihr Gezwitscher wurde alsbald von einem lauten, tiefen Knall übertönt, gefolgt von einem langgezogenen Pfeifen.
»Ooooh!«, machten die Amorphoboter und fuhren ihre Gel-Periskope aus.
Foaly schloss ein Auge und spitzte die Ohren. »Mörser«, verkündete er. Dann, als das Pfeifen lauter wurde, beschloss er, doch lieber die Luft anzuhalten und möglichst viele Körperöffnungen zu verschließen.
Das könnte verdammt weh tun, dachte er und kicherte aus unerfindlichen Gründen wie ein vierjähriges Wichtelmädchen.
Dann wurde die gesamte Kuhle von einer geballten Ladung Nanoplättchen ausgefüllt, die sich in jede Ritze setzten, alles vollständig bedeckten und jegliche vorhandene Wärmestrahlung auslöschten.
Die Amorphoboter wichen vor der geheimnisvollen Substanz zurück. Sie suchten noch eine Weile nach den Wesen, denen sie gefolgt waren, zuckten dann die wabbeligen Schultern und trollten sich zu ihrer Raumsonde, die sich durch den Gletscher zu den darunterliegenden Vulkanen hindurchgefräst hatte.
Unter dem klebrigen Haufen aus Nanoplättchen lagen zwei Unterirdische und ein Menschenjunge reglos da und ließen Atemblasen aufsteigen.
Kleine Elfe, rühr dich nicht
Sitz ganz still, mach keinen Wind
Und das dumme Menschenkind
Denkt, du bist ein Spielzeugwicht
Holly ging der Kinderreim nicht aus dem Kopf, mit dem ihre Mutter sie immer hatte zur Ruhe bringen wollen.
Wenn du denkst,
Du bist ein Baum
Sieht dich kein Mensch
Nicht mal im Traum
»Es hat funktioniert«, japste Holly schließlich.
»Halt die Klappe«, entgegnete Foaly barsch.
Holly befreite sein Gesicht von der weißen Masse. »Wie bitte?«
»Nimm’s nicht persönlich«, sagte Foaly. »Mir war nur gerade danach, jemanden anzupfeifen. Hast du eine Ahnung, was das für eine Arbeit wird, dieses Zeug aus meiner Mähne zu kriegen? Caballine verpasst mir bestimmt einen Bürstenschnitt.«
»Einen Wüstenritt?«
»Bürstenschnitt. Bist du taub?«
»Nein, aber meine Ohren sind verstopft.«
Mühsam rollte Holly sich und Artemis aus der Kuhle, dann überprüfte sie erneut den Puls des Jungen.
Er lebt.
Sie neigte seinen Kopf ein wenig zurück, damit er frei atmen konnte.
Komm zu uns zurück, Artemis. Wir brauchen dich.
Die Amorphoboter waren verschwunden, und der einzige Hinweis darauf, dass sie dem Vatnajökull einen Besuch abgestattet hatten, waren die Rollspuren im Schnee. Das Gezwitscher war zu ihrer großen Erleichterung verstummt, obwohl es sie vielleicht vom Knacken und Knistern des immer noch brennenden ZUP-Shuttles abgelenkt hätte – und damit von der Erinnerung.
Als Holly sich von Artemis löste, gab es ein schmatzendes Geräusch, als würde ein sehr großes Pflaster von einer nässenden Wunde gerissen.
Was für ein Desaster, dachte sie und ließ den von Helm und Nanoplättchen beschwerten Kopf hängen. Was für eine absolute Katastrophe.
Sie sah sich um und versuchte, eine Art Bilanz zu ziehen. Commander Vinyáya war tot, und der gesamte Verstärkungstrupp ebenfalls. Eine Marssonde der ZUP war von unbekannten Kräften entführt worden und schien Richtung Erdkern unterwegs zu sein. Die Sonde blockierte ihre Verbindung mit Haven City, und es war nur eine Frage der Zeit, bis Oberirdische auftauchten, um nachzusehen, was es mit den Explosionen und Leuchtraketen auf sich hatte. Und sie hatte keinen Funken Magie mehr, um ihren Sichtschild zu aktivieren.
»Komm schon, Artemis«, sagte sie mit leiser Verzweiflung in der Stimme. »Unsere Lage ist schwieriger als je zuvor. Du magst doch solche unlösbaren Probleme. Es tut mir leid, dass ich auf dich geschossen habe.«
Holly zog die Handschuhe aus und musterte ihre Finger, in der Hoffnung, vielleicht doch noch irgendwo einen Funken zu entdecken.
Nichts. Keine Magie. Vielleicht war es auch besser so. Das Gehirn war ein empfindliches Organ, und Artemis’ Versuche, sich die besonderen Fähigkeiten des Erdvolks anzueignen, hatten den Atlantis-Komplex vermutlich überhaupt erst ausgelöst. Wenn Artemis wieder gesund werden wollte, würde er es auf die altmodische Weise tun müssen, mit Tabletten und Elektroschocks.
Den ersten Elektroschock habe ich ihm ja schon verpasst. Trotz ihres schlechten Gewissens musste Holly grinsen.
Artemis bewegte sich auf dem Eis und versuchte, unter der klebrigen Schicht aus Nanoplättchen zu blinzeln.
»Hmpf«, ächzte er. »Chkrieekeineluff.«
»Warte«, sagte Holly und wischte ihm mit ihrem Ärmel das Zeug aus dem Gesicht. »Ich helfe dir.«
Artemis’ eigene Erfindung tropfte ihm aus Mund und Nase. Irgendetwas an seinen Augen war anders. Sie sahen genauso aus wie sonst, wirkten aber sanfter.
Unsinn, das bilde ich mir ein.
»Artemis?«, sagte Holly und rechnete halb mit einer schnippischen Entgegnung à la Natürlich bin ich’s. Wen hast du denn erwartet? Doch stattdessen kam nur ein schlichtes »Hallo«.
Was Holly vollkommen zufriedenstellte, bis er fragte: »Und wer sind Sie?«
Oooh, d’Arvit.
Holly nahm den Helm ab. »Ich bin’s, Holly.«
Artemis lächelte erfreut. »Ach ja, natürlich. Artemis denkt andauernd an Sie. Wie peinlich, dass ich Sie nicht erkannt habe. Aber es ist das erste Mal, dass wir uns so nah sind.«
»Äh … Artemis denkt an mich. Und du nicht?«
»Oh doch, unablässig. Und wenn ich das sagen darf, in Fleisch und Blut sehen Sie noch bezaubernder aus.«
Eine ungute Vorahnung senkte sich über Holly wie der Schatten einer Gewitterwolke.
»Wir sind uns also noch nicht begegnet?«
»Noch nicht im eigentlichen Sinne«, erwiderte der Menschenjunge. »Selbstverständlich habe ich Sie wahrgenommen, aber sozusagen nur aus der Ferne, denn ich war vollkommen unterdrückt von Artemis’ Persönlichkeit. Danke übrigens, dass Sie mich befreit haben. Ich bin schon seit einer ganzen Weile dabei, mich in sein Bewusstsein vorzuarbeiten, insbesondere seit Artemis diesen kleinen Zahlentick entwickelt hat, aber die Ladung, die Sie ihm verpasst haben, war genau das, was ich brauchte. Sie kam aus Ihrer Waffe, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Holly verwirrt. »Und gern geschehen, wenn auch unbeabsichtigt.« Plötzlich kam ihr eine Idee. »Wie viele Finger halte ich hoch?«
Der Junge warf einen kurzen Blick auf ihre Hand. »Vier.«
»Und das macht dir nichts aus?«
»Nein. Für mich ist eine Zahl nur eine Zahl. Die Vier ist ebenso wenig ein Todesbote wie sämtliche anderen ganzen Zahlen. Brüche hingegen, die sind unberechenbar.«
Der Junge lächelte über seinen eigenen Scherz. Es war ein so ehrliches, gutherziges Lächeln, dass Artemis bei dem Anblick übel geworden wäre.
Holly ließ sich auf die Psychose ein und fragte: »Wenn du nicht Artemis Fowl bist, wer bist du dann?«
Der Junge streckte ihr seine tropfende Hand entgegen. »Ich heiße Orion. Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, und selbstverständlich bin ich Ihr ergebener Diener.«
Holly nahm die angebotene Hand. Manieren sind ja was Feines, dachte sie, aber was wir jetzt brauchen, sind Genialität und Skrupellosigkeit, und danach sieht dieser Junge nicht aus.
»Das ist prima, äh … Orion. Wirklich. Wir stecken nämlich ganz schön in Schwierigkeiten, und da kann ich jede Hilfe gebrauchen.«
»Ausgezeichnet«, sagte der Junge. »Ich habe die Ereignisse sozusagen vom Rücksitz verfolgt, und ich schlage vor, dass wir uns an einen sicheren Ort zurückziehen und dort ein Biwak aufschlagen.«
Holly stöhnte. Artemis hatte sich aus seinem eigenen Kopf verabschiedet, und das ausgerechnet jetzt.
Foaly kletterte aus dem Morast aus Nanoplättchen und schob mit seinen Fingern die klebrigen weißen Vorhänge beiseite, die seine Sicht behinderten.
»Wie ich sehe, ist Artemis wieder munter. Wunderbar. Wir könnten jetzt nämlich gut einen seiner scheinbar idiotischen, in Wirklichkeit aber genialen Pläne gebrauchen.«
»Ein Biwak«, sagte der Junge in Artemis’ Kopf. »Wir sollten ein Biwak aufschlagen und Feuerholz sammeln und ein paar Blätter als Unterlage für die bezaubernde Dame.«
»Feuerholz? Artemis Fowl schlägt vor, Feuerholz zu sammeln? Und wen, bitte, meint er mit der bezaubernden Dame?«
Plötzlich frischte der Wind auf, riss den losen Schnee mit sich und ließ ihn über das Eis tanzen. Holly spürte, wie einige Flocken auf ihrem ungeschützten Hals landeten, und eine eisige Kälte kribbelte ihr den Rücken hinunter.
Die Lage ist ernst, dachte sie. Und sie wird immer ernster. Wo sind Sie, Butler? Warum sind Sie nicht hier?