Kapitel 4
Zombie-Alarm
Cancún, Mexiko, am Abend zuvor
Butler hatte für seine Abwesenheit in Island eine Entschuldigung, die vor jedem Gericht Bestand hätte und möglicherweise sogar vor einem Schuldirektor. Genau genommen, hatte er sogar mehrere Entschuldigungen.
Erstens: Sein Arbeitgeber und Freund hatte ihn auf eine Rettungsmission geschickt, die sich als Falle herausgestellt hatte.
Zweitens: Seine kleine Schwester, die zuvor nur scheinbar in Schwierigkeiten gesteckt hatte, steckte jetzt wirklich in Schwierigkeiten, und zwar in ziemlich großen.
Und drittens: Er wurde gerade in Mexiko durch einen Theatersaal gejagt, von ein paar tausend Wrestling-Fans, die aussahen wie Zombies, nur ohne die halbverwesten Glieder.
Im Unterhaltungsteil der Flugzeugzeitschrift hatte Butler gelesen, dass Vampire mittlerweile ihre beste Zeit hinter sich hatten und dafür jetzt Zombies angesagt waren.
Angesagt hat sie keiner, dachte Butler. Aber da sind sie trotzdem, und zwar verdammt viele.
Streng genommen, waren die Massen von willenlosen Menschen, die durch den Saal wogten, natürlich keine Zombies, sondern lediglich mit dem Blick hypnotisiert. Ein Zombie ist nach allgemeiner Auffassung eine wiederauferstandene Leiche mit Appetit auf menschliche Gehirne. Die hypnotisierten Wrestling-Fans hingegen waren nicht tot und hatten auch nicht das geringste Interesse daran, irgendwelche Gehirne anzuknabbern. Sie drängten von allen Seiten auf den Mittelgang zu und schnitten dadurch sämtliche Fluchtwege ab, so dass Butler nichts anderes übrig blieb, als über den zusammengeschnürten Ring zurück auf die Plattform zu klettern. Diese Form des Rückzugs hätte er normalerweise nicht mal für eine Nanosekunde in Betracht gezogen, doch angesichts der Lage war alles, was ihnen die Chance auf ein paar weitere Herzschläge bot, besser, als einfach stehen zu bleiben und das Schicksal zu akzeptieren.
Butler versetzte seiner Schwester einen Klaps auf den Oberschenkel, was nicht weiter schwierig war, da sie immer noch über seiner Schulter hing.
»He«, maulte sie. »Was soll das denn?«
»Wollte nur mal wissen, wie es dir geht.«
»Mir geht’s gut, okay? Aber irgendwas ist in meinem Hirn passiert. Ich erinnere mich an Holly und all die anderen Unterirdischen.«
Total Recall, dachte Butler bei sich. Die roten Augen und die hypnotische Stimme hatten offenbar den Samen der Erinnerung in Juliets Hirn zum Keimen gebracht, und jetzt war alles wieder da. Durchaus möglich, dass diese geistige Kettenreaktion stärker war als die hypnotische Wirkung des Blicks.
»Kannst du kämpfen?«
Juliet schwang ihre Beine in die Höhe, sprang von seiner Schulter und landete in Kampfposition.
»Na klar, und besser als du, Oldie.«
Butler verzog das Gesicht. Wenn man eine zwanzig Jahre jüngere Schwester hatte, musste man sich eine Menge abfällige Bemerkungen gefallen lassen, was das Alter betraf.
»Innen bin ich nicht so alt wie außen, wenn du es genau wissen willst. Diese Unterirdischen, an die du dich gerade wieder erinnerst, haben mich generalüberholt. Ich bin jetzt fünfzehn Jahre jünger und habe eine Brust aus Kevlar. Ich kann also sehr gut auf mich aufpassen, und auf dich auch, wenn’s sein muss.«
Während dieses kleinen Geplänkels stellten sich die beiden Geschwister automatisch so auf, dass sie Rücken an Rücken standen und sich gegenseitig Deckung gaben. Butler bezweckte mit seinen Worten nur eins: Er wollte seiner Schwester Mut machen und ihr die Hoffnung geben, dass ihre Flucht gelingen würde. Juliet wiederum antwortete, um ihrem großen Bruder zu zeigen, dass sie keine Angst hatte, solange sie Seite an Seite standen. Keine dieser uneingestandenen Botschaften entsprach voll und ganz der Wahrheit, aber zumindest spendeten sie sich gegenseitig einen gewissen Trost.
Die hypnotisierten Wrestling-Fans hatten leichte Probleme, auf die Plattform zu gelangen, weil ihre dicht zusammengedrängten Körper sich gegenseitig den Weg versperrten. Wenn es einem von ihnen doch gelang hinaufzuklettern, warf Butler ihn so sanft wie möglich wieder zurück in die Menge. Juliet war bei ihrem ersten Wurf nicht so vorsichtig, und Butler hörte definitiv, wie etwas knackte.
»Sachte, Schwesterchen. Das sind unschuldige Leute. Jemand hat sich in ihr Hirn geschmuggelt.«
»Ups, tut mir leid«, sagte Juliet ohne das geringste Bedauern und rammte einer Frau, die im normalen Leben vermutlich eine Fußball-Mama war, die Handkante in den Solarplexus.
Butler seufzte. »Pass auf, ich zeig’s dir«, sagte er geduldig. »Du hebst sie einfach hoch und lässt sie über die Köpfe ihrer Freunde hinweggleiten. Und zwar ohne Schwung.« Er führte die Bewegung ein paarmal vor, um Juliet einen Eindruck davon zu vermitteln.
Juliet warf einen sabbernden Teenager zurück in die Menge. »So besser?«
»Viel besser.« Butler deutete mit dem Daumen auf die Leinwand über ihnen. »Dieser Unterirdische hat alle mit dem Blick betäubt. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie uns angreifen.«
Um ein Haar hätte Juliet hochgeblickt, doch sie bremste sich gerade noch rechtzeitig. Die roten Augen glühten immer noch, und aus den Lautsprechern floss die sanfte, hypnotische Stimme wie warmer Honig und verkündete, alles würde gut werden, wenn sie nur die Prinzessin und den Bären töteten. Wenn sie diese einfache Tat vollbrachten, würden alle ihre Träume wahr werden. Auch die Butlers blieben davon nicht völlig unberührt. Ihre Entschlossenheit wurde ein wenig aufgeweicht, aber ohne Blickkontakt konnte der Unterirdische ihre Handlungen nicht steuern.
Immer mehr Menschen drängten aus der Menge auf die Bühne, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Plattform unter ihrem Gewicht zusammenbrechen würde.
»Wir müssen diesem Kerl den Saft abdrehen«, rief Butler über den stetig steigenden Lärm des hypnotisierten Gebrabbels hinweg. »Kommst du an die Leinwand heran?«
Mit zusammengekniffenen Augen schätzte Juliet die Entfernung ab. »Bis zum Gerüst schaffe ich es, wenn du mir hilfst.«
Butler klopfte sich auf die breite Schulter. »Komm an Bord, Schwesterchen.«
»Sekunde«, sagte Juliet und verpasste einem bärtigen Cowboy einen Roundhouse Kick. Dann kletterte sie gelenkig wie ein Affe an Butler hoch und stellte sich auf seine Schultern. »Okay, kann losgehen.«
Butler stieß ein Grunzen aus, das jeder, der zur Familie gehörte, als Moment noch interpretieren konnte, verpasste mit Juliet auf den Schultern einem der Wrestling-Fans einen Luftröhrenschlag und zog einem anderen die Beine unterm Körper weg.
Die beiden waren Zwillinge, ging ihm auf. Verkleidet als tasmanische Teufel. Das ist der seltsamste Kampf, in den ich je verwickelt war, und ich habe immerhin schon mit Trollen gekämpft.
»Jetzt bin ich so weit«, sagte er zu Juliet, wich einem Mann aus, der als Hot Dog verkleidet war, und schob seine Finger unter ihre Zehen.
»Kannst du mich hochheben?«, fragte seine Schwester, die sich mit der Leichtigkeit einer olympischen Turnerin im Gleichgewicht hielt – was sie jederzeit hätte werden können, wenn sie es geschafft hätte, rechtzeitig für das morgendliche Training aus dem Bett zu kommen.
»Natürlich kann ich dich hochheben«, entgegnete Butler, der seinerseits olympischer Gewichtheber hätte werden können, hätte er sich während der letzten Vorentscheidungen nicht in einem unterirdischen Labor mit Kobolden herumgeschlagen.
Er atmete tief durch die Nase ein, aktivierte sein Powerhouse, und mit einem explosiven Kraftausstoß und einem Brüllen, das gut in einen Tarzan-Film gepasst hätte, stieß er seine kleine Schwester in die Luft, geradewegs auf das sechs Meter hohe Metallgerüst zu, an dem die Leinwand und zwei kegelförmige Lautsprecher angebracht waren.
Ihm blieb keine Zeit, sich zu vergewissern, ob Juliet es geschafft hatte, da die Zombies mit ihren Körpern eine Rampe gebildet hatten und jetzt Wrestling-Fans die Bühne stürmten, fest entschlossen, Butler langsam und qualvoll zu töten.
Dies wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, den Raketenrucksack zu starten, den er oft unter seinem Sakko trug, aber in Ermangelung des Rucksacks − und des Sakkos − beschloss Butler, seine Verteidigung ein wenig aggressiver zu gestalten, um für sich und Juliet ein paar Sekunden Zeit zu gewinnen.
Mit einer abgewandelten Bewegung aus dem Tai-Chi trat er dem Ansturm entgegen und schleuderte die erste Reihe zurück in die Menge, so dass ein Berg aus Körpern entstand, den die hypnotisierten Fans erst einmal überwinden mussten, wollten sie zu ihm gelangen. Die Technik funktionierte prima, bis etwa dreißig Sekunden später die halbe Bühne zusammenbrach, die Bewusstlosen hinunterrollten und so eine erstklassige Rampe entstand, über die die Wrestling-Fans hinaufklettern konnten. Obwohl etliche von ihnen verletzt waren, schienen sie keine Schmerzen zu empfinden. Sie standen sofort wieder auf und liefen weiter, sogar mit verdrehten und geschwollenen Knöcheln. Die Zombies überfluteten die Bühne − beziehungsweise das, was davon noch übrig war −, und in ihrem ferngesteuerten Verstand herrschte nur ein Gedanke.
Töte Verrückter Bär.
Es ist zwecklos, dachte Butler zum ersten Mal in seinem Leben. Vollkommen zwecklos.
Er machte es seinen Gegnern nicht leicht, aber schließlich ging er unter der schieren Last der Körper, die sich auf ihn stürzten, zu Boden. Sein Gesicht wurde unter einem dicken Hintern begraben, und er spürte, wie sich Zähne in sein Schienbein gruben. Er bekam auch etliche Fausthiebe ab, aber die waren schlecht gezielt und schwach.
Ich werde sterben, weil ich keine Luft mehr bekomme, dachte Butler. Und nicht ehrenvoll im offenen Kampf.
Diese Erkenntnis trug nicht gerade zu seiner Aufmunterung bei. Wenigstens war Juliet auf dem Gerüst vermutlich in Sicherheit.
Butler lag hilflos am Boden, wie Gulliver in den Fesseln der Liliputaner. Es roch nach Popcorn und Bier, Deodorant und Schweiß. Seine Brust wurde zusammengequetscht, so dass ihm das Atmen schwerfiel. Jemand zerrte aus irgendeinem Grund an seinem Stiefel herum, und dann konnte er sich überhaupt nicht mehr rühren: Er war unter einem Haufen Körper begraben.
Artemis ist allein. Juliet wird wissen, dass sie meinen Platz als Leibwächter einnehmen muss.
Der Mangel an Sauerstoff verwandelte die Welt in Schwarz und Weiß, und mit letzter Kraft schob Butler seinen Arm durch die Körpermasse über sich und winkte seiner Schwester ein Lebewohl zu.
Jemand biss ihn in den Daumen.
Dann ging er völlig unter, und der Unterirdische auf der Leinwand lachte.
Juliet schlang zwei Finger ihrer linken Hand um den unteren Rand eines Quergestänges und klammerte sich so daran fest, dass sie beinahe ihre Fingerabdrücke fühlen konnte. Mindestens 99 Prozent der Weltbevölkerung hätten zwei Finger nicht gereicht, um das eigene Körpergewicht zu halten. Die meisten gewöhnlichen Sterblichen hätten zumindest beide Hände gebraucht und ihre ganze Kraft, um sich wenigstens eine Minute lang halten zu können. Und ein ziemlich großer Teil der Menschheit hätte es, wenn überhaupt, nur mit der zusätzlichen Hilfe eines ganzen Pferdegespanns geschafft. Doch Juliet war eine Butler und an der Leibwächter-Akademie von Madame Ko ausgebildet, wo sie ein ganzes Semester der Biomechanik des menschlichen Körpers gewidmet hatten. Wenn es sein musste, konnte Juliet sich mit einem einzigen Zeh festhalten, solange kein vorübergehender Bösewicht auf die Idee kam, sie an der empfindlichen Stelle unter ihren Rippen zu kitzeln.
Sich irgendwo festzuhalten ist das eine, sich dann auch noch nach oben zu ziehen, etwas ganz anderes. Aber zum Glück hatte Madame Ko auch darauf einige Semester verwendet. Was nicht heißen soll, dass es einfach war. Juliet hörte förmlich, wie ihre Muskeln aufjaulten, während sie mit der anderen Hand nach einem besseren Halt tastete und sich dann auf den Metallträger schwang. Normalerweise hätte sie danach eine kurze Pause eingelegt, bis ihr Puls sich wieder beruhigt hatte, doch aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Bruder unter dem Ansturm der Wrestling-Fans zu Boden ging, und sie beschloss, dass dies nicht der passende Moment war, um sich auszuruhen.
Sie sprang auf die Füße und lief geschickt wie eine Akrobatin über den Träger − ganz im Gegensatz zu der hypnotisierten Lichttechnikerin, die versuchte, Juliet den Weg abzuschneiden, bevor sie die Leinwand erreichen konnte. Doch die Frau rutschte aus und stürzte an Juliet vorbei in die Tiefe.
Juliet verzog das Gesicht. »Oje, das sieht aber nicht gut aus, Arlene.«
Arlene antwortete nicht, es sei denn, man zählt es als Antwort, wenn jemand dunkelrot anläuft und mit den Armen rudernd durch die Luft fliegt.
Juliet musste unwillkürlich grinsen, als sie sah, wie die Technikerin mitten auf einem Schwung Männer landete, die sich gerade auf ihren Bruder stürzen wollten.
Doch ihr Lächeln erstarb, als sie die Masse von Körpern sah, die Butler unter sich begrub. Ein zweiter Techniker kam auf Juliet zu, und dieser war ein wenig klüger als seine Vorgängerin: Er saß rittlings auf dem Träger und hatte die Fußgelenke ineinander verhakt. Während er langsam vorrückte, schlug er dröhnend mit einem großen Schraubenschlüssel gegen den Träger, dass die Funken flogen.
Juliet wartete, bis er das nächste Mal zuschlug, dann stellte sie den Fuß auf seinen Kopf und stieg über ihn hinweg, als wäre er ein Fels in einem Bach. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den Mann hinunterzuwerfen. Bis er sich umgedreht hätte, wäre sie längst außerhalb seiner Reichweite, aber er dürfte einen hübschen blauen Fleck auf der Stirn davongetragen haben, über dessen Ursprung er nachgrübeln konnte, wenn die Wirkung des Blicks nachließ.
Die Leinwand hing direkt vor ihr, in einem Rahmen aus Metall, und die roten Augen, die sie aus einem schwarzen Hintergrund anstarrten, schienen puren Hass zu verströmen.
Oder vielleicht hat der Typ letzte Nacht zu lange gefeiert.
»Bleib, wo du bist, Juliet Butler!«, sagte die Stimme, und für Juliet klang sie plötzlich wie die von Christian Varley Penrose, ihrem Ausbilder an der Leibwächter-Akademie − dem einzigen Menschen, abgesehen von ihrem Bruder, den sie als gleichwertigen Gegner ansah.
»Einige meiner Studenten machen mich stolz«, hatte Christian oft genug in seiner gepflegten Sprechweise gesagt. »Du hingegen machst mich wahnsinnig. Was war das eben für eine Bewegung?«
Woraufhin Juliet jedes Mal geantwortet hatte: »Die habe ich mir ausgedacht, Meister.«
»Ausgedacht? Ausgedacht? Das ist nicht gut genug.«
Juliet hatte eine Schmollmiene gezogen und gedacht: Sie war gut genug für Bruce Lee.
Und nun schien Christian Varley Penrose eine Standleitung in ihr Hirn zu haben.
»Bleib, wo du bist!«, wiederholte die Stimme. »Und sobald du stehen geblieben bist, darfst du gerne das Gleichgewicht verlieren und nach unten stürzen.«
Juliet spürte, wie die Stimme ihre Entschlossenheit packte und auswrang wie ein nasses Handtuch.
Sieh nicht hin. Hör nicht zu.
Aber sie hatte hingesehen und zugehört, wenn auch nur für eine Sekunde, und das hatte ausgereicht. Die hinterhältige Magie hatte es geschafft, sich in ihre Hirnwindungen zu schlängeln. Ihre Beine waren plötzlich stocksteif, wie eingegipst, und die Lähmung breitete sich zusehends nach oben aus.
»D’Arvit«, sagte sie, ohne recht zu wissen, wieso. Dann raffte sie den letzten Rest Selbstkontrolle zusammen und warf sich mit wild rudernden Armen gegen den Metallrahmen, an dem die Leinwand und die Lautsprecher befestigt waren.
Die Leinwand gab federnd nach, und einen Moment lang dachte der kleine Bereich in Juliets Gehirn, der noch ihrem Willen unterstand, es würde ihr nicht gelingen, sie zu zerstören. Doch dann bohrte sich ihr Ellbogen, von dem Butler, schon als sie noch ein Kind war, gesagt hatte, er sei so spitz, dass man damit eine Dose Corned Beef aufmachen könnte, durch das Material und riss die Leinwand einmal quer durch.
Die roten Augen verdrehten sich, und das Letzte, was Juliet hörte, bevor ihr ausgestreckter Arm sich in den Lautsprecherkabeln verfing, war ein verärgertes Schnauben. Dann stürzte sie durch das Loch in der plötzlich leeren Leinwand hinunter auf den zuckenden Haufen aus Leibern.
Sie nutzte die halbe Sekunde vor dem Aufprall dazu, sich zu einer Kugel zusammenzurollen, und ihr letzter Gedanke war: Ich hoffe, Zombies sind weich.
Sie waren es nicht.
Als die roten Augen von der Leinwand verschwunden waren, kamen die hypnotisierten Wrestling-Fans allmählich wieder zur Besinnung.
Geri Niebalm, die ehemalige Besitzerin eines Schönheitssalons aus Seattle, stellte erstaunt fest, dass sie irgendwie von den hinteren Reihen des Theatersaals bis auf die Bühne gekommen war, und zwar ohne ihre Gehhilfe. Und obendrein erinnerte sie sich verschwommen daran, dass sie über mehrere junge Leute hinweggehechtet war, um die hübsche junge Ringerin mit dem Stein in ihrem Pferdeschwanz zu verfolgen. Zwei Monate später würde Geri sich bei ihrer Freundin Dora Del Mar einer Regressionstherapie unterziehen, um diese Erinnerung in ihr Bewusstsein zu holen, damit sie sie ausgiebig genießen konnte.
Stu »Cheeze« Toppin, ein halb professioneller Bowler aus Las Vegas, hatte, als er zu sich kam, eine stinkende Windel im Mund, und auf seinem T-Shirt stand, mit Lippenstift geschrieben, Töte Bär Töte. Das verwirrte Stu ziemlich, denn das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein saftiger Hot Dog, in den er gerade beißen wollte. Doch jetzt, mit dem Windelgeschmack auf der Zunge, beschloss er, fürs Erste auf Hot Dogs zu verzichten.
Obgleich Stu es nie erfahren sollte, stammte die besagte Windel von dem kleinen André Price, einem Säugling aus Portland, der plötzlich eine Geschwindigkeit und Eleganz entwickelt hatte, die noch nie zuvor bei einem acht Monate alten Kind gesehen worden waren. Die meisten Opfer des Blicks bewegen sich eher träge, doch André sprang über die Köpfe der Fans, vollführte einen perfekten dreifachen Salto vom Pult des Ringmoderators und hieb bei der Landung seinen einzigen Zahn in Butlers Daumen, bevor der Leibwächter vollständig unter dem Ansturm der Zombies versank. Wenige Monate später begann André Price zu sprechen − allerdings auf Gnomisch, was seine ratlosen Eltern natürlich nicht wissen konnten. Zu ihrer Erleichterung lernte er auch sehr schnell Englisch, aber er vergaß seine seltsame erste Sprache nie, und bisweilen gelang es ihm, Zweige in Flammen aufgehen zu lassen, wenn er nur konzentriert genug daran dachte.
Ein gewaltiges, kakophones Stöhnen ließ beinahe das Dach des Theaters abheben, als mehrere Tausend Leute feststellten, dass sie nicht da waren, wo sie sein sollten. Obwohl es wie durch ein Wunder keine Toten gab, waren, nachdem man die letzte Schnittwunde desinfiziert hatte, 348 gebrochene Knochen, über 11 000 Fleischwunden und 89 Fälle von Hysterie zu verzeichnen. Letztere mussten mit Beruhigungsmitteln behandelt werden, die zum Glück für die Patienten in Mexiko wesentlich billiger waren als in den USA.
Und obgleich dies das Zeitalter der Amateurvideos war und nahezu alle Anwesenden mindestens eine Kamera bei sich gehabt hatten, gab es nicht ein einziges Beweisfoto dafür, dass die Massenhypnose jemals stattgefunden hatte. Als die Polizei die beschlagnahmten Kameras und Handys überprüfte, stellte sich heraus, dass sämtliche Geräte auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt und die Speicher geleert worden waren. Später würde das »Cancún-Ereignis«, wie man den Vorfall taufte, in einem Atemzug mit Area 51 und der Yeti-Wanderung genannt werden.
Butler litt nicht an Hysterie – zum einen hatte er nicht mehr genug Luft in den Lungen, um zu schreien, und zum anderen hatte er schon in schlimmeren Klemmen gesteckt (Butler war einmal mehrere Stunden lang zusammen mit einem Tiger im Schornstein eines Hindu-Tempels eingepfercht gewesen), aber er hatte mehr als ein Dutzend Fleischwunden davongetragen. Allerdings blieb er nicht lange genug an Ort und Stelle, um sie der offiziellen Statistik hinzuzufügen.
Was Juliet betraf, so war sie trotz ihres Sturzes nahezu unverletzt und rollte geschickt zu der Stelle, wo sie ihren Bruder zuletzt gesehen hatte.
»Butler!«, rief sie. »Bist du da unten?«
Kurz darauf wurde der Kopf ihres Bruders sichtbar, glatt wie ein Lutscher. Juliet wusste sofort, dass er noch lebte, weil an seiner Schläfe eine Ader pulsierte.
Auf seinem Gesicht hockte ein pummeliger, halbnackter Säugling und kaute auf Butlers Daumen herum. Juliet nahm den Jungen vorsichtig herunter und bemerkte dabei, dass er für einen Säugling ungewöhnlich verschwitzt war.
Butler atmete tief durch. »Danke, Schwesterchen. Der Racker hat mir nicht nur in den Daumen gebissen, sondern auch versucht, mir seine Faust in die Nase zu rammen.«
Der Kleine gluckste fröhlich, wischte sich die Finger an Juliets Pferdeschwanz ab und krabbelte dann über die Menschenhaufen hinweg zu einer Frau, die weinend die Arme nach ihm ausstreckte.
»Ich weiß, man soll Babys eigentlich mögen«, sagte Juliet keuchend, während sie einen Bankertypen bei seinen Hosenträgern packte und ihn von Butlers Schultern schleuderte, »aber der Kleine stank, und gebissen hat er auch.« Energisch schob sie eine Dame mittleren Alters beiseite, deren blondes Haar so stark mit Festiger eingesprüht war, dass es glänzte wie eine Butterblume. »Kommen Sie, gnä’ Frau. Runter von meinem großen Bruder.«
»Oh«, sagte die Dame und klimperte verwirrt mit den Lidern. »Ich sollte den Bären fangen, oder etwas in der Art. Und ich hatte Popcorn, eine große Portion, von der ich noch gar nichts gegessen hatte. Wer entschädigt mich dafür?«
Juliet rollte die Dame über die Bäuche von vier gleich gekleideten Cowboys, die alle ein T-Shirt mit dem Aufdruck Floyds Junggesellenabschied unter ihren strassbesetzten Westen trugen.
»Das ist doch lächerlich«, knurrte sie. »Ich bin eine erfolgreiche Künstlerin, was mache ich hier in all dem Schweiß und Gestank?«
Um sie herum war in der Tat eine Menge Schweiß und Gestank, und ein nicht unerheblicher Teil davon stammte von Floyd und seinen Freunden, die den Junggesellenabschied, nach der Geruchsentwicklung zu urteilen, schon mindestens seit zwei Wochen feierten.
Nicht nur Juliet empfand das so, denn als der Cowboy mit dem »Floyd«-Anstecker aus seiner Benommenheit aufwachte, rief er aus: »Verdammte Hacke, ich stinke ja schlimmer als eine tote Ratte in einer Jauchegrube!«
Butler ließ den Kopf kreisen, um mehr Raum zum Atmen zu haben.
»Das war eine Falle«, sagte er. »Hast du hier irgendwelche Feinde?«
Plötzlich spürte Juliet, wie ihr Tränen über die Wangen rollten. Sie hatte sich schreckliche Sorgen gemacht. Schließlich sind große Brüder auch nicht ewig unkaputtbar. »Du verrückter Bär«, sagte sie liebevoll. »Und nur zu deiner Information: Mir geht’s gut. Ich habe dich und alle anderen gerettet.«
Butler befreite sich sanft von zwei Luchadores in kreischbunten Trikots und Ledermasken. »Auf die Schulter klopfen kannst du dir später, Schwesterchen.« Er kletterte aus dem Gewirr von Armen und Beinen und richtete sich auf dem Rest der Bühne zu seiner vollen Größe auf. »Siehst du das alles?«
Juliet kletterte an ihrem Bruder hoch, stellte sich auf seine Schultern und balancierte dann, nur um anzugeben, mit einem Fuß auf seinem Kopf.
Nun, da sie einen Moment Zeit hatte, sich das Ausmaß der Ereignisse zu vergegenwärtigen, verschlug es ihr den Atem. Sie waren umgeben von einem stöhnenden, wogenden Meer aus Verwirrung. Blut tropfte, Knochen lagen bloß, und Tränen flossen. Das reinste Katastrophengebiet. Die Menschen tasteten Trost suchend nach ihren Handys, und aus den Sprinkleranlagen rieselte ein feiner Sprühnebel, der Juliets Gesicht benetzte.
»Und das alles, um uns zu töten«, sagte sie fassungslos.
Butler streckte seine riesigen Hände aus, und Juliet trat darauf, wie sie es so oft im Fowl’schen Dojo getan hatte.
»Nicht nur um uns zu töten«, widersprach er. »Dazu hätten zwei Ladungen aus einer Neutrino gereicht. Das hier war dazu gedacht, jemanden zu unterhalten.«
Juliet sprang mit einem Salto auf die Bühne. »Aber wen?«
Hinter ihnen brach ein weiteres Stück der Bühne zusammen, was erneutes Geschrei und Gestöhne auslöste.
»Ich weiß es nicht«, sagte Butler grimmig. »Aber wer auch immer versucht hat, uns zu töten, wollte, dass Artemis unbewacht ist. Ich ziehe mich jetzt erst mal um, und dann finden wir heraus, wen Artemis diesmal gegen sich aufgebracht hat.«