Artemis Fowl: So weit, so übel

Es gab einmal einen irischen Jungen, der unbedingt alles wissen wollte, was es zu wissen gab, weshalb er ein Buch nach dem anderen las, bis sein Gehirn vollgestopft war mit Astronomie, Mathematik, Quantenphysik, Liebeslyrik, Kriminaltechnik, Anthropologie und dem Wissen Hunderter weiterer Fachgebiete. Sein Lieblingsbuch jedoch war ein schmaler Band, den er noch nie selbst gelesen hatte. Es war ein altes Buch, aus dem sein Vater ihm oft abends vor dem Einschlafen vorlas. Es hieß Der goldene Hort und handelte von einem habgierigen Jungen, der einen Leprechaun entführt, um an dessen Gold heranzukommen, was ihm jedoch nicht gelingt.

Als der Vater das letzte Wort auf der letzten Seite vorgelesen hatte − es lautete ENDE −, klappte er das alte, in Leder gebundene Buch zu und sagte mit einem Lächeln von oben herab: »Der Junge hatte die richtige Idee. Hätte er besser geplant, er hätte es geschafft.« Was für eine ungewöhnliche Äußerung für einen Vater. Zumindest für einen verantwortungsbewussten Vater. Doch dieser Mann war nicht der typische verantwortungsbewusste Vater − er war schließlich Artemis Fowl senior, der Herrscher über eines der größten Verbrecherimperien der Welt. Und der Sohn war auch kein typischer kleiner Junge, sondern Artemis Fowl der Zweite, der bald selbst ein berüchtigter Verbrecher werden sollte, in der Welt der Menschen wie auch in der des Erdvolks.

Bessere Planung, dachte Artemis junior, während sein Vater ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Hätte er nur ein bisschen besser geplant.

Und dann schlief er ein und träumte von Gold.

Der kleine Artemis wurde älter, doch er dachte noch oft an das alte Buch Der goldene Hort. Er ging sogar so weit, während der Unterrichtszeit in der Schule ein wenig nachzuforschen, und zu seiner Überraschung fand er etliche glaubwürdige Hinweise darauf, dass es das Erdvolk wirklich gab. Diese Studien waren für den Jungen nichts weiter als ein amüsanter Zeitvertreib, bis sein Vater nach einem »Missverständnis« mit der russischen Mafija in der Arktis verschwand, das Fowl’sche Imperium in sich zusammenbrach, und aus allen Ecken Gläubiger hervorkrochen, während die Schuldner auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Jetzt ist es an mir, unser Vermögen wieder aufzubauen und Vater zu finden, dachte Artemis.

Und so holte er den Erdvolk-Ordner wieder heraus. Er würde einen Unterirdischen entführen und ihn nur gegen Gold wieder freigeben.

Nur ein jugendliches Genie kann einen solchen Plan erfolgreich durchführen, erkannte Artemis zu Recht. Jemand, der alt genug ist, um die Grundprinzipien des Handelns zu verstehen, und jung genug, um noch an Magie zu glauben.

Mit Hilfe seines überaus fähigen Leibwächters Butler gelang es dem zwölfjährigen Artemis tatsächlich, ein unterirdisches Wesen zu entführen und es im einbruchssicheren Keller von Fowl Manor gefangen zu halten. Doch dieses Wesen war keine niedere Kreatur, sondern eine Elfe, und noch dazu eine, die erstaunlich menschenähnlich aussah, so dass Artemis das unangenehme Gefühl hatte, ein Mädchen als Geisel genommen zu haben.

Und es gab noch mehr Komplikationen: Diese Unterirdischen, mit denen er es zu tun bekam, waren nicht die albernen Wesen, wie man sie aus Märchenbüchern kennt, sondern hochintelligente, mit allen technischen Schikanen ausgerüstete Mitglieder einer Elitetruppe, genauer gesagt: einer Aufklärungseinheit der Zentralen Untergrund-Polizei, kurz ZUP genannt. Und Artemis hatte ausgerechnet Holly Short entführt, den ersten weiblichen Captain in der Geschichte der ZUP-Aufklärung − eine Tat, mit der er sich bei den gutbewaffneten Unterirdischen nicht gerade beliebt gemacht hatte.

Doch trotz seiner leisen Gewissensbisse und zahlreicher Versuche seitens der ZUP, seinen Plan zu durchkreuzen, war es Artemis gelungen, das Elfengold zu ergattern, und so hatte er im Gegenzug Captain Holly Short freigelassen.

Ende gut, alles gut?

Weit gefehlt.

Kaum hatte sich die Erde vom ersten Zusammenstoß zwischen Erdvolk und Menschenwesen seit Ewigkeiten erholt, entdeckte die ZUP, dass jemand die aufständischen Kobolde mit Akkus für ihre Softnose-Lasergewehre versorgte. Ihr Hauptverdächtiger war − Artemis Fowl. Holly Short schnappte sich den irischen Jungen und verfrachtete ihn zum Verhör nach Haven City. Zu ihrer Überraschung musste sie jedoch feststellen, dass Artemis Fowl ausnahmsweise tatsächlich unschuldig war. Widerwillig verbündeten sich die beiden: Artemis willigte ein, den Zulieferer der Kobolde zu finden, und Holly versprach im Gegenzug, ihm zu helfen, seinen Vater aus den Händen der russischen Mafija zu befreien. Beide hielten sich an die Abmachung, und im Verlauf der Ereignisse wuchsen zwischen ihnen Respekt und Vertrauen, als sie beide entdeckten, dass sie einen recht ähnlichen, bissigen Sinn für Humor hatten.

So war es zumindest bisher gewesen. Allerdings hatte sich in letzter Zeit einiges verändert. In mancherlei Hinsicht ist Artemis immer noch genauso intelligent wie eh und je, doch ein Schatten hat sich über seinen Verstand gebreitet.

Einst sah Artemis Dinge, die niemand sonst sehen konnte, aber jetzt sieht er Dinge, die es gar nicht gibt …