Die Blumenwiese

 

 

 

Um den Ansturm der heiratswilligen Prinzen einzudämmen, dachte sich Prinzessin Pelegrina immer neue unlösbare Aufgaben aus. Zwar drängte sie ihr alter Vater, besorgt um die Thronfolge, endlich einen Bewerber zu erhören, aber Pelegrina verspürte so gar keine Lust aufs Heiraten. Alles, was ihr ihre Tanten und Cousinen über ihre Ehen erzählt hatten, klang höchst abschreckend. Anpassung, Unterwerfung, Verlust der Freiheit, nichts als Ärger, Streit und Langeweile. Pelegrina fügte sich nur scheinbar den Wünschen ihres Vaters, doch in Wahrheit setzte sie alles daran, den unvermeidlichen Tag X so lange wie möglich hinauszuzögern. „Ich heirate doch nicht den ersten besten Dummkopf. Ich wünsche mir einen klugen Mann. Und den erkenne ich daran, dass er meine Aufgabe löst. So haben das alle Prinzessinnen unserer Dynastie gehandhabt. Und immer hatten sie die Unterstützung ihres Vaters. Du wirst doch wohl nicht deine einzige Tochter im Stich lassen?“

Pelegrina hatte den Bewerbern die schwierigsten Rätsel vorgelegt. Sie hatte sie in verwirrende Buchsbaumheckenlabyrinthe gelockt. Die Rätsel hatte niemand lösen können, und im Labyrinth waren sogar drei Prinzen verhungert, weil sie nicht mehr herausgefunden hatten.

Allmählich gingen Pelegrina die Ideen aus. Doch als sie hinaus auf die bunte Blumenwiese im prachtvollen Palastgarten blickte, hatte sie einen neuen Einfall. Diese Aufgabe vermochte mit Sicherheit kein Bewerber zu lösen.“ Wer errät, wie viele verschiedene Blumen und Kräuter auf der Wiese wachsen, den werde ich zum Manne nehmen, doch bei der geringsten Abweichung von der tatsächlichen Zahl ist das Leben des Freiers verwirkt.“

Bevor sie die neue Aufgabe auf allen öffentlichen Plätzen im Reich aushängen ließ, rief sie den Königlichen Obergärtner zu sich, damit er sie über die Blumenwiese informiere.

„Sagt, wie viele verschiedene Blumen und Kräuter habt Ihr auf der Wiese dort aussäen lassen? Was zögert Ihr? wisst Ihr´s oder wisst Ihr´s nicht?“

„Ich kann Euch sagen, wie viele verschiedene Arten meine Gärtner im Frühjahr ausgesät haben, aber das wird Euch nicht weiter helfen, denn Ihr wollt sicherlich wissen, wie viele verschiedene Arten jetzt auf der Wiese wachsen.“

„Das will ich. Und wo liegt das Problem? Macht es kurz, und stehlt mir nicht meine Zeit“, sagte Prinzessin Pelegrina unwillig.

„Das Problem ist die Veränderbarkeit. Vögel und Insekten und nicht zuletzt der Wind tragen Samen hin und her, manche Pflanzen sterben ab, weil der Boden ihnen nicht bekommt. Obendrein gibt es Früh- und Spätblüher. Die Wiese verändert sich unaufhörlich. Angenommen, ich würde heute die Arten auf der Wiese zählen, müsste ich diese Zahl schon kurz darauf korrigieren.“

„Faule Ausrede“, murrte die Prinzessin. „Ich erwarte bis morgen bei Sonnenaufgang die genaue Zahl. Habt Ihr mich verstanden?“

Der Königliche Obergärtner nickte unterwürfig, was blieb ihm auch anderes übrig, wollte er nicht sein Leben verlieren.

Die Prinzessin beauftragte die Plakatschreiber mit der Ausfertigung ihrer neuen Aufgabe und die königlichen Reiterkuriere mit deren schneller Verbreitung.

Nicht lange danach fühlte sich die Prinzessin elend und sterbenskrank. Es war ihr unmöglich aufzustehen. Ihre Glieder waren schwer wie Blei, Kopf und Nacken waren steif und schmerzten, und im Kopf fühlte sie eine entsetzliche Leere.

Kein Arzt konnte ihre helfen, nicht einmal ihre Schmerzen lindern.

Die Prinzessin fühlte sich zu schwach, die neuen Freier zu empfangen. Sie ließ deshalb die geschätzten Zahlen der Pflanzen auf der Blumenwiese mit der vom Oberhofgärtner behaupteten Artenzahl vergleichen. Ausnahmslos alle Zahlen lagen weit unter der Angabe des Obergärtners. Das war Prinzessin Pelegrina nur recht. Es wurde immer gewisser, dass es unmöglich war, die richtige Zahl herauszufinden.

Sie wollte die Bewerbungsrunde schon für abgeschlossen erklären, da wurde ihr ein Mann namens Angalep gemeldet, der dringend um eine Audienz bat.

„Er soll seine Zahl abgeben und schnell verschwinden.“

„Es handelt sich um keinen Freier. Angalep ist unser neuer Gärtner. Er sagt, er vermag Euch von Eurer schweren Krankheit zu heilen“, sagte der Wesir.

„Ein gewöhnlicher Gärtner?Was fällt ihm ein? Ist er sich darüber im klaren, was ihm blüht, wenn er den Mund zu voll genommen hat?“

„Er weiß sehr wohl, dass sein Leben auf dem Spiel steht, aber er scheint sich seiner Sache vollkommen sicher zu sein“, sagte der Wesir.

„Dann führt ihn zu mir.“

Die Prinzessin glaubte zu träumen: was für ein stattlicher junger Mann! Pelegrina verliebte sich augenblicklich in seine klugen Gesichtszüge und seine edle Gestalt.

Umgehend erteilte sie dem Wesir den Auftrag, im ganzen Reich die alten Aushänge gegen neue auszutauschen. „Wem es gelingt, Prinzessin Pelegrina von ihrer schweren Krankheit zu heilen, den nimmt sie zum Gemahl. Er soll als zukünftiger König an ihrer Seite regieren.“

Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Angalep als Einziger diese Bedingung erfüllte. Ihren Vater würde sie schon von der Richtigkeit ihrer Wahl überzeugen.

„In Eurem Palastgarten wachsen alle Heilkräuter, die für Eure Heilung vonnöten sind“, sagte Angalep. „Nicht auf die Zahl kommt es an, sondern auf die richtige Zusammenstellung. Trinkt den Aufguss aus diesen Blättern, und Ihr werdet vollständig gesunden.“

Die Prinzessin tat wie ihr geheißen und fühlte sich kurz darauf so gestärkt und voller Lebenskraft, dass sie am liebsten sofort die Hochzeit mit dem schönen Gärtner bekannt gegeben hätte.

„Zur Belohnung dafür, dass Ihr mich von meiner schweren Krankheit geheilt habt, werde ich Euch zum Mann nehmen und Ihr werdet König sein.“

„Ich muss Euch enttäuschen, Prinzessin“, sagte Angalep. „Ich kam nicht, um Euch zu freien, sondern um Euch zu heilen. In Allahs Garten wachsen viele schöne Blumen, und die schönste unter allen habe ich bereits gepflückt. Ich bin rundum glücklich mit meiner Gärtnerin. Auch ohne eigenes Königreich.“

Noch in der Nacht ließ Prinzessin Pelegrina die Blumenwiese des Palastgartens niederwalzen und stattdessen Dornenhecken und Kakteen anpflanzen. In dieses dichte Gestrüpp ließ sie fortan alle Freier werfen, die ihre unlösbaren Aufgaben nicht lösen konnten. Anschließend stand sie am Fenster und weidete sich an den Todesqualen der Bestraften. So verbarg sie ihre Trauer um den einzigen Mann, den sie jemals geliebt, und den einzigen Mann, der sie jemals verschmäht hatte. Angalep aber ernannte sie zum Königlichen Wesir, um ihm möglichst nahe zu sein.