Das unsichtbare Volk

 

 

 

Kennt ihr das Volk der Letterer? Ihr könnt es nicht kennen. Es hat sich zwar im Laufe seiner langen Geschichte über die ganze Welt ausgebreitet, und seine Bevölkerung dürfte viele Millionen betragen, aber seine Menschen sind so winzig, man könnte fast sagen: unsichtbar. Nur unter einem sehr guten Elektronenmikroskop kann man sie erkennen und ihr emsiges Treiben beobachten.

Die Letterer leben zwischen den Buchstaben von Büchern. Buchstaben sind ihre Wohnungen und die Zwischenräume zwischen den Buchstaben ihre Wege, Straßen Gärten und Parks. Das Buch ist ihre Stadt und die Seite eines Buches ihr Wohnviertel. Letterer sind sehr mobil. Sie liegen nicht auf der faulen Haut, sondern eilen fortwährend von Wohnviertel zu Wohnviertel, von Stadt zu Stadt, um sich mit ihren Mitbewohnern geistig auszutauschen. Die Letterer sind weder Landwirte noch Handwerker. Wozu auch? Sie benötigen nur geistige Nahrung, und die finden sie in ihrer Wohnumgebung wie in einem Schlaraffenland, und wenn nicht, ziehen sie weiter. Welche Sprache sie sprechen? Welche Frage! Sie verstehen und sprechen alle auf der Welt vorkommenden Sprachen, aber untereinander nur Esperanto, damit es zu keinen Missverständnissen und Übersetzungsfehlern kommt.

Die Vorgeschichte der Letterer liegt im Dunkeln. Die wahrscheinlichste Erklärung für ihre Winzigkeit und ungewöhnliche Lebensweise ist, dass sie sich, um vor Verfolgung sicher zu sein und ihre Gedanken frei äußern zu können, für immer vor der restlichen Welt versteckten. ‚Weltflucht‘ könnte man es nennen, aber nein, der Ausdruck wird den Letterern nicht gerecht. Dazu sind sie viel zu kritisch und kreativ. Sie mischen sich ununterbrochen in die Gedanken von Lesern ein. Unselbstkritisch, wie die meisten Leser nun einmal sind, wähnen sie, es seien ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen, und ahnen nicht, dass es die Letterer sind, die ihre Überlegungen beeinflussen. „Zwischen den Zeilen lesen“ heißt es leichthin. In Wahrheit bedeutet es, den Letterern begegnet zu sein, ihre kritischen Fragen, ihre Ansichten, ihre klugen Einfälle gedankenlos übernommen zu haben. Wenn es im Zusammenhang mit den Letterern eines Existenzbeweises bedarf, dann ist es diese ständige geistige Begleitung der Leser. Die Letterer halten unseren Geist auf Trab, sie versuchen, ihn positiv zu beeinflussen, böse Gedanken zu verdrängen und gute zu verstärken. Den Lohn ernten nicht sie, sondern andere. Unverdientermaßen. Aber den Letterern geht es nicht um Ruhm und Anerkennung. Den Letterern geht es allein um den Sieg des Geistes. Ob sie jemals wieder auftauchen, um als Menschen von normalem Wuchs unter uns zu leben? Eher nicht. Sie wissen, sie würden wieder nur verfolgt, eingesperrt und womöglich erschlagen werden. Geistig erfolgreich wirken, dessen sind sie sich sicher, können sie nur im Untergrund.

Neuerdings droht ihnen eine Gefahr, die sie nicht vorhersehen konnten: E-Books. Bis jetzt ist es den klügsten Köpfen der Letterer nicht gelungen, in E-Books einzudringen, um sich dort dauerhaft anzusiedeln. Mit der Verbreitung von E-Books und dem Rückgang gedruckter Bücher sind die Letterer vom Aussterben bedroht. Doch ich bin zuversichtlich. Ihre hohe Intelligenz wird Mittel und Wege finden, um auch die E-Books für sich bewohnbar zu machen.

Ich wünsche es ihnen, denn was wären wir „normalen“ Menschen ohne die Letterer?