Nachdem Thomas seinen Gefühlen freien Lauf gelassen hatte, schloss er den Schmerz wieder in seinem Herzen ein. Auf der Lichtung war Chuck zu einem Symbol für ihn geworden – ein Hoffnungsschimmer, dass alles wieder gut werden würde: In Betten schlafen. Gutenachtküsse bekommen. Eier mit Speck zum Frühstück essen. In eine richtige Schule gehen. Glücklich sein.
Aber jetzt war Chuck nicht mehr da. Und sein erschlaffter Körper, den Thomas noch immer festhielt, hieß jetzt etwas anderes: nicht nur dass diese Zukunftsträume niemals in Erfüllung gehen würden, sondern dass ihr Leben vorher auch nie so gewesen war. Dass auch nach der Flucht harte Zeiten voller Entbehrungen auf sie zukamen.
Schlammig trübe Erinnerungen tauchten wieder auf, in denen sich aber nur wenig Gutes fand.
Thomas schloss den Schmerz tief in seinem Inneren ein. Er tat es für Teresa. Für Newt und Minho. Was auch Finsteres vor ihnen liegen mochte, sie würden zusammen sein. Das war das Einzige, was in diesem Moment wichtig war.
Er ließ Chuck los, fiel nach hinten und versuchte das T-Shirt des Jungen nicht anzusehen, das schwarz war vor Blut. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, rieb sich die Augen und hatte das Gefühl, dass ihm das alles peinlich sein sollte – war es aber nicht. Dann blickte er endlich hoch. Er sah in Teresas riesige blaue Augen, aus denen tiefe Trauer sprach – um ihn ebenso wie um Chuck, da war er sich sicher.
Sie bückte sich, streckte ihm die Hand hin und half ihm hoch. Als er stand, ließ sie nicht los, ebenso wenig wie er. Er drückte ihre Hand und versuchte ihr damit seine Gefühle zu erklären. Keiner sagte ein Wort, die meisten starrten nur ausdruckslos Chucks Leiche an, als wären sie ihrer Gefühle längst beraubt worden. Niemand sah in Gallys Richtung, der zwar atmete, sich aber nicht regte.
Die Frau von ANGST brach das Schweigen.
»Alles geschieht aus einem einzigen Grund«, sagte sie jetzt ohne jede Boshaftigkeit in der Stimme. »Das müsst ihr verstehen.«
Thomas warf ihr einen Blick zu, in den er all seinen unterdrückten Hass legte. Aber er tat nichts.
Teresa griff mit ihrer anderen Hand seinen Oberarm. Was jetzt?, fragte sie.
Ich weiß nicht, antwortete er. Ich kann nicht –
Er wurde von plötzlichem Geschrei und Tumult hinter der Tür, durch die die Frau gekommen war, unterbrochen. Sie erschrak sichtlich und wurde kreidebleich, als sie sich zur Tür umdrehte. Thomas folgte ihrem Blick.
Einige Männer und Frauen in schmutzigen Jeans und klatschnassen Mänteln kamen mit erhobenen Waffen durch die Tür gerannt. Sie schrien durcheinander und waren unmöglich zu verstehen. Ihre Waffen – einige hatten Gewehre, andere Pistolen – sahen … archaisch und alt aus. Wie Spielzeug, das jahrelang verlassen im Wald herumgelegen hatte und vor kurzem von der nächsten Generation, die Krieg spielen wollte, entdeckt worden war.
Thomas sah erschrocken zu, wie zwei der Neuankömmlinge die ANGST-Frau zu Boden stießen und festhielten. Dann trat einer zurück, zog seine Waffe und zielte.
Das kann nicht sein, dachte Thomas. Das –
Mehrere Schüsse krachten durch den Raum und durchlöcherten die Frau. Sie war tot, ein fürchterlicher Anblick.
Thomas wich ein paar Schritte zurück und stolperte fast.
Ein Mann kam auf die Lichter zu, während die anderen um sie herumrannten und auf die Scheiben der Beobachtungskabinen schossen. Das Glas klirrte, Thomas hörte Schreie, sah Blut, schaute weg und konzentrierte sich auf den Mann, der auf sie zukam. Er hatte dunkle Haare, sein Gesicht wirkte jung, war aber voller Falten, als hätte er sich jeden Tag seines Lebens Sorgen gemacht, wie er überleben sollte.
»Wir haben keine Zeit, das zu erklären«, sagte der Mann mit einer Stimme, die so mitgenommen klang, wie sein Gesicht aussah. »Folgt mir einfach und lauft, so schnell ihr könnt. Es geht um Leben und Tod.«
Der Mann gab seinen Begleitern ein Zeichen, drehte sich um und rannte durch die Glastür, die Waffe vor dem Körper. Schüsse und Schmerzensschreie erschütterten noch immer den Raum, aber Thomas versuchte nicht darauf zu achten und den Anweisungen zu folgen.
»Lauft!«, schrie einer ihrer Retter – wie hätte man sie sonst nennen sollen?
Nach kurzem Zögern liefen die Lichter los, rannten einander fast um, so dringend wollten sie diesen Raum, die Griewer und das Labyrinth hinter sich lassen. Thomas hielt immer noch Teresas Hand, irgendwo am Ende der Gruppe. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Chucks Leiche zurückzulassen.
Thomas fühlte gar nichts – er war völlig betäubt. Er rannte einen langen Gang hinunter in einen schlecht beleuchteten Tunnel. Eine Wendeltreppe hoch. Es war dunkel und roch angekokelt. Wieder einen Gang runter. Wieder Treppen hoch. Noch mehr Gänge. Thomas fühlte bloß noch Leere. Ein Vakuum. Aber er rannte weiter.
Sie rannten und rannten, einige der Männer und Frauen liefen vorneweg, die anderen feuerten sie von hinten an.
Sie kamen durch eine weitere Glastür und danach stürmten sie durch heftigen Regen, der von einem schwarzen Himmel auf sie niederprasselte. Man konnte nichts sehen außer schwachen Reflexionen in den aufgepeitschten Pfützen.
Der Anführer hielt erst an, als sie einen großen verbeulten und zerkratzten Bus mit gesprungenen Fensterscheiben erreichten. Regenwasser lief an ihm herunter und das Ganze erinnerte Thomas an ein riesiges Ungeheuer, das gerade aus dem Ozean gekrochen kam.
»Steigt ein!«, brüllte der Mann. »Beeilt euch.«
Sie folgten seiner Anweisung und drängten sich an der Tür zusammen, bevor einer nach dem anderen einstieg. Es schien ewig zu dauern, als alle drängelnd die drei Stufen hochstolperten und drinnen auf die Sitze fielen.
Thomas stand hinten, Teresa direkt vor ihm. Er schaute hoch in den Himmel und spürte den Regen auf seinem Gesicht – er war warm, fast heiß, und fühlte sich merkwürdig dickflüssig an. Der Regen hatte ihn irgendwie aus seiner Lethargie gerissen. Er war wieder hellwach. Vielleicht lag es an der Heftigkeit des Regengusses. Jetzt konzentrierte er sich auf den Bus, auf Teresa, auf die Flucht.
Sie waren fast an der Tür, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn am T-Shirt festhielt. Er schrie auf, als ihn jemand nach hinten wegzog und seine Hand aus der von Teresa riss – er sah, wie sie sich umdrehte. Als Thomas auf dem Boden aufschlug, spritzte um ihn herum das Wasser hoch. Schmerz schoss durch seinen Rücken, dann erschien der Kopf einer Frau direkt über ihm, so dass er Teresa nicht mehr sehen konnte.
Das fettige Haar einer Frau, deren Gesicht im Schatten lag, hing Thomas in die Augen. Ein widerlicher Geruch stieg ihm in die Nase, nach verfaulten Eiern und saurer Milch. Die Frau hob den Kopf etwas, so dass das Licht einer Taschenlampe ihre Züge erhellte – bleiche, faltige Haut, bedeckt mit grauenhaften, eitrigen Geschwüren. Thomas war starr vor Entsetzen.
»Ihr werdet uns retten!«, zischte die widerwärtige Frau und ihre Spucke flog Thomas ins Gesicht. »Uns vor Dem Brand retten!« Sie lachte, was eher nach einem bellenden Husten klang.
Die Frau schrie auf, als einer der Retter von hinten nach ihr griff und sie von Thomas wegzerrte, der sich schnell aufrappelte. Er stieß gegen Teresa, während er zusah, wie der Mann die Frau wegbrachte, die sich wehrte und unvermindert Thomas anstarrte. Sie zeigte auf ihn und rief: »Glaubt ihnen kein Wort! Ihr werdet uns vor Dem Brand retten, oh ja!«
Einige Meter vom Bus entfernt ließ der Mann die Frau mit den Geschwüren fallen. »Bleib, wo du bist, oder ich knall dich ab!«, brüllte er sie an, bevor er sich zu Thomas umdrehte. »Rein in den Bus!«
Thomas drehte sich um, immer noch zitternd, und folgte Teresa die Stufen hoch in den Bus. Er wurde von allen mit großen Augen angestarrt, während die beiden ganz nach hinten durchgingen und sich auf die Sitzbank fallen ließen, wo sie sich aneinanderschmiegten. Schwarzes Wasser lief an den Fenstern hinunter. Der Regen trommelte auf das Dach und Donner erschütterte den Himmel über ihnen.
Was war das denn?, fragte ihn Teresa in Gedanken.
Thomas konnte nicht antworten, er schüttelte nur den Kopf. Gedanken an Chuck begannen das Bild der wahnsinnigen Frau zu verdrängen. Es war ihm alles egal, er war nicht mal mehr erleichtert aus dem Labyrinth entkommen zu sein. Chuck …
Eine Frau aus der Gruppe der Retter saß Thomas und Teresa gegenüber; der Anführer, der zu ihnen gesprochen hatte, kletterte in den Bus, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Der Bus rollte los.
Als er gerade anfuhr, sah Thomas eine Bewegung draußen vor dem Fenster. Die Frau mit den Geschwüren war aufgesprungen, rannte zum vorderen Teil des Busses, schwenkte die Arme und schrie irgendetwas, das durch den Regen übertönt wurde. Thomas war nicht sicher, ob das Leuchten in ihren Augen Wahnsinn oder Entsetzen war.
Er lehnte sich gegen die Fensterscheibe, als sie aus seinem Blickfeld verschwand.
»Halt!«, schrie Thomas, aber keiner hörte auf ihn.
Der Fahrer trat aufs Gas – der Bus machte einen Satz, als er den Körper der Frau rammte. Es gab einen dumpfen Stoß, bei dem Thomas beinahe aus seinem Sitz fiel, als die Vorderräder über sie wegfuhren, dicht gefolgt von einem zweiten Stoß – den Hinterrädern. Thomas sah Teresa an und ihr angewiderter Gesichtsausdruck spiegelte seinen eigenen wider.
Ohne ein Wort fuhr der Fahrer weiter und der Bus raste durch die verregnete Nacht.