Es sah nicht so aus, als ob es Ben wesentlich besser ging, seit Thomas ihn im Gehöft gesehen hatte. Außer einer Unterhose hatte er nichts an und die kreidebleiche Haut spannte sich straff wie ein Tuch über seinen Knochen. Der Körper war immer noch mit den grün pulsierenden Adersträngen überzogen – allerdings nicht mehr ganz so schlimm wie am Vortag. Er stierte Thomas aus blutunterlaufenen Augen an, als wollte er ihn auffressen.

Ben ging in die Hocke und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Auf einmal hatte er ein Messer in der hochgereckten rechten Hand. Thomas war fassungslos.

»Ben!« 

Thomas blickte in Richtung der Stimme, wo er zu seinem Erstaunen plötzlich Alby am Rand des Friedhofs stehen sah, in dem schwachen Licht nicht mehr als ein Phantom. Erleichterung überwältigte Thomas – in der Hand hielt Alby einen großen Bogen mit angelegtem Pfeil, der geradewegs auf Ben zielte.

»Ben«, wiederholte Alby. »Hör sofort auf damit oder du bist tot.«

Thomas sah zurück zu Ben, der Alby hasserfüllt anstarrte, wobei seine Zunge immer wieder zwischen den Lippen herausschnellte, um sie zu befeuchten. Was ist bloß los mit dem Kerl?, dachte Thomas. Der Junge hat sich in ein Ungeheuer verwandelt. Warum?

»Wenn du mich umbringst«, kreischte Ben, so dass Thomas die Speicheltropfen ins Gesicht flogen, »dann tötest du den Falschen!« Er starrte wieder Thomas an. »Das ist der Strunk, den du umbringen musst.« Seine Stimme klang völlig verrückt.

»Erzähl keinen Blödsinn, Ben«, sagte Alby seelenruhig, den Pfeil weiterhin auf ihn gerichtet. »Thomas ist gerade erst hier angekommen – er tut dir nichts. Du bist noch völlig daneben von der Verwandlung. Du darfst dein Bett gar nicht verlassen.«

»Er ist keiner von uns!«, schrie Ben. »Ich habe ihn gesehen – er ist … er ist böse. Wir müssen ihn umbringen! Ich muss ihn abstechen!«

Ohne es zu merken, wich Thomas vor Entsetzen über das, was Ben gesagt hatte, zurück. Was meinte er damit, dass er ihn gesehen hatte? Warum hielt er Thomas für böse?

Albys Waffe hatte sich keinen Zentimeter bewegt und zielte nach wie vor auf Ben. »Darum kümmern wir uns, ich und die Hüter, du Neppdepp.« Seine Hände zitterten kein bisschen, während er den gespannten Bogen hielt, fast als würde er sich auf einem Ast abstützen. »So, und jetzt beweg deinen dürren Arsch hierher und dann marsch zurück ins Gehöft.«

»Er will uns nach Hause bringen«, heulte Ben. »Er will uns aus dem Labyrinth rausholen. Es ist besser, wenn wir alle von der Klippe springen! Besser, wenn wir uns gegenseitig abmetzeln!«

»Was meinst da damit –?«, stammelte Thomas.

»Halt’s Maul!«, kreischte Ben. »Halt dein hässliches Maul, du Verräter!«

»Ben«, sagte Alby sehr ruhig. »Ich zähle jetzt bis drei.«

»Er ist böse, er ist böse, er ist böse …« Ben flüsterte mittlerweile, fast wie in Trance. Er schwankte vor und zurück, ließ das Messer von einer Hand in die andere wandern, den Blick auf Thomas geheftet.

»Eins.«

»Böse, böse, böse, böse, böse …« Ben fletschte die Zähne, die in dem schwachen Licht grünlich zu leuchten schienen.

Thomas wollte den Blick abwenden, wollte nur weg von hier. Aber er schaffte es nicht, sondern war vor Angst wie gelähmt.

»Zwei.« Albys Stimme war lauter und drohender geworden.

»Ben«, sagte Thomas und versuchte vernünftig mit ihm zu reden. »Ich bin nicht … ich weiß nicht mal, was –«

Ben stieß einen gurgelnden Schrei aus, machte einen Satz in die Luft und ließ das Messer durch die Luft zischen.

»Drei!«, schrie Alby.

Das Geräusch einer schnalzenden Bogensehne. Das Wusch eines durch die Luft zischenden Objekts. Das widerlich nasse Phonk, als es sein Ziel fand.

Bens Kopf wurde nach links herumgerissen, sein Körper verdrehte sich, bis er auf dem Bauch landete, die Füße in Richtung Thomas. Er gab kein Geräusch mehr von sich.

Thomas sprang auf und stolperte vor. Der lange Schaft des Pfeils ragte aus Bens Wange, es war weniger Blut, als Thomas erwartet hatte, aber es sickerte heraus. Schwarz wie Öl. Die einzige Bewegung war Bens zuckender rechter kleiner Finger. Thomas bekämpfte den Drang, sich zu übergeben. War Ben jetzt seinetwegen tot? War das Ganze seine Schuld?

»Na komm«, sagte Alby. »Die Eintüter kümmern sich morgen um ihn.«

Was war das gerade?, dachte Thomas, während er auf den leblosen Körper starrte und sich alles um ihn herum drehte. Was habe ich dem Jungen bloß angetan?

Er blickte nach Antworten suchend auf, aber Alby war bereits weg, ein schwankender Zweig das einzige Zeichen, dass er je da gewesen war.

Als er aus dem Wald trat, kniff Thomas die Augen gegen das blendende Licht zusammen. Er humpelte, sein Knöchel schmerzte wie verrückt, auch wenn er nicht mehr wusste, was damit passiert war. Mit einer Hand bedeckte er die Stelle, an der er gebissen worden war, mit der anderen hielt er sich den Bauch, als ob das die hochdrängende Kotzerei verhindern könnte. Das Bild trat ihm vor Augen, wie unnatürlich verdreht Ben ausgesehen hatte, wie das Blut am Pfeil heruntergelaufen war, wo es sich gesammelt, auf den Boden getropft und zu einer Lache zusammengeflossen war …

Diese Vorstellung brachte das Fass zum Überlaufen.

Neben einem der verkrüppelten Bäume am Rand des Waldes fiel er auf die Knie, übergab sich und würgte auch noch das letzte bisschen Galle aus seinem Magen hoch. Es schüttelte ihn nur so, als ob er nie mehr aufhören könnte.

Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der so fies schien, dass ihm war, als ob sein Hirn sich über ihn lustig machen wollte.

Er war jetzt seit ungefähr vierundzwanzig Stunden auf der Lichtung. Einen ganzen Tag. Mehr nicht. Was in dieser Zeit alles passiert war. Wie viele schreckliche Dinge.

Jetzt konnte es ja nur noch besser werden.

In dieser Nacht lag Thomas da, starrte hoch in den klaren Sternenhimmel und fragte sich, ob er je wieder Schlaf finden würde. Sobald er die Augen schloss, sah er wieder das grausige Bild von Ben vor sich, wie er sich auf ihn stürzte, und das wahnsinnige Gesicht des Jungen. Augen offen oder geschlossen, er hätte schwören können, dass er das schmatzende Phonk des Pfeils immer und immer wieder hörte, der sich in Bens Gesicht bohrte.

Thomas wusste, dass er nie in der Lage sein würde, diese schrecklichen Minuten auf dem Friedhof zu vergessen.

»Sag doch was«, bettelte Chuck zum fünften Mal, seit sie in die Schlafsäcke gekrochen waren.

»Nein«, gab Thomas genau wie vorher gereizt zurück.

»Weiß doch eh jeder, was los war. Ein oder zwei Mal ist es schon passiert – irgendein vom Griewer gestochener Strunk ist ausgeflippt und hat sich auf jemanden gestürzt. Glaub bloß nicht, dass du was Besonderes bist.«

Zum ersten Mal fand Thomas, dass Chuck nicht nur leicht nervend, sondern ernsthaft unerträglich war. »Sei bloß froh, Chuck, dass ich jetzt nicht Albys Bogen in der Hand habe.«

»Ich mache doch nur –«

»Halt einfach die Klappe, Chuck. Schlaf jetzt.« Thomas konnte ihn kaum noch ertragen.

Schließlich war sein Kumpel endlich eingeschlafen, und den Schnarch-Orgien auf der ganzen Lichtung nach zu schließen alle anderen auch. Stunden später, mitten in der Nacht, war Thomas immer noch als Einziger wach. Er hätte gern geweint, tat es aber nicht. Er wollte Alby suchen und ihm eine reinhauen, ohne besonderen Grund, tat aber auch das nicht. Er wollte schreien und um sich treten und spucken und die Box aufreißen und in das Schwarz des Schachts springen. Aber er tat es nicht.

Er schloss die Augen und zwang die Gedanken und dunklen Bilder zum Verschwinden und schlief schließlich doch ein.

Am Morgen musste Chuck Thomas aus dem Schlafsack werfen und zu den Duschen und in die Umkleide zerren. Thomas fühlte sich die ganze Zeit über so bematscht, als sei er gar nicht richtig anwesend, sein Kopf tat weh, sein Körper schrie nach Schlaf. Vom Frühstück bekam er kaum etwas mit, eine Stunde nachdem es vorbei war, wusste Thomas nicht mehr, was er gegessen hatte. Er war schrecklich müde und in seinem Kopf fühlte es sich an, als hätte ihm jemand das Hirn von innen an den Schädel getackert. Sodbrennen wütete in seiner Kehle.

Aber Mittagsschläfchen hier auf dem Riesenbauernhof namens Lichtung waren nicht gut angesehen.

Er stand mit Newt zusammen vor der Scheune am Bluthaus und wartete auf seine erste Ausbildung bei einem Hüter. Trotz des unschönen Morgens freute er sich richtig darauf, etwas Neues zu lernen und sich von Ben und dem Friedhof ablenken zu lassen. Kühe muhten, Schafe mähten, Schweine quiekten. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund, was Thomas hoffen ließ, dass Bratpfanne dem Wort Hotdog keine neue Bedeutung verleihen würde. Hotdog, dachte er. Wann habe ich zum letzten Mal einen Hotdog gegessen? Und mit wem?

»Tommy, hörst du mir überhaupt zu?«

Thomas wachte aus seiner Benommenheit auf und versuchte sich auf Newt zu konzentrieren, der schon weiß Gott wie lange mit ihm redete. Thomas hatte kein Wort davon mitbekommen. »Äh, sorry. Ich konnte heute Nacht nicht schlafen.«

Newt versuchte sich an einem mitfühlenden Lächeln. »Na, das kann man dir nicht übel nehmen. Bist voll durch die Mangel gedreht worden, du armes Schwein. Denkst wohl, ich bin ein echter Schrumpfkopf, dass ich dich hier zum Arbeiten schicke nach so einer Sache wie gestern.«

Thomas zuckte die Achseln. »Arbeit ist wahrscheinlich das Beste. Irgendwas, Hauptsache, ich brauche nicht mehr dran zu denken.«

Newt nickte und lächelte ihn aufrichtig an. »Du bist so schlau, wie du aussiehst, Tommy. Das ist ein Grund, warum wir hier alle schön sauber und ordentlich schuften. Wenn man faul ist, dann wird man traurig. Und wenn man traurig wird, dann will man aufgeben. So einfach ist das.«

Thomas kickte geistesabwesend einen Stein über den staubigen, gesprungenen Steinboden der Lichtung. »Und was gibt’s Neues von dem Mädchen von gestern?« Wenn irgendetwas an diesem Morgen seine Umnebelung durchbrochen hatte, dann der Gedanke an sie. Er wollte mehr über sie wissen und die seltsame Verbundenheit mit ihr verstehen, die er empfand.

»Liegt immer noch im Koma und schläft. Die Sanis füttern sie mit allem an Suppe, was Bratpfanne rausrückt, überprüfen den Herzschlag und so. Ihr scheint eigentlich nichts zu fehlen, sie kriegt bloß momentan nichts mit.«

»Das war echt schräg.« Wenn nicht die ganze Sache mit Ben und dem Friedhof gewesen wäre, hätte Thomas womöglich die ganze Nacht über an sie gedacht. Hätte ihretwegen vielleicht sogar noch weniger schlafen können. Er wollte wissen, wer sie war und ob er sie wirklich von irgendwoher kannte.

»Kannst du laut sagen«, meinte Newt. »Total schräg – ich weiß nicht, wie man es sonst nennen sollte.«

Thomas blickte über Newts Schulter zu der großen blassroten Scheune und verscheuchte die Gedanken an das Mädchen aus seinem Kopf. »Und, was kommt als Erstes? Kühe melken oder ein paar arme kleine Schweine abmetzeln?«

Newt lachte, ein Geräusch, das Thomas nicht sehr häufig seit seiner Ankunft gehört hatte, wie er jetzt merkte. »Wir lassen die Frischlinge immer bei unseren Freunden, den Schlitzern, anfangen. Keine Sorge, du brauchst nur Bratpfannes Fleischtöpfe zu beliefern. Die Schlitzer machen alles, was mit den lieben Vierbeinern zu tun hat.«

»Schade, dass ich mich nicht an mein Leben erinnern kann. Vielleicht steche ich ja unheimlich gern süße Tierchen ab.« Es sollte ein Witz sein, aber Newt ging nicht darauf ein.

Er nickte in Richtung Scheune. »Keine Sorge, wenn heute Abend die Sonne untergeht, dann weißt du das ganz genau. Komm, wir suchen Winston – er ist der Hüter hier.«

Winston war ein pickliger, nicht sehr großer, aber kräftiger Junge, der seinen Job gernzuhaben schien. Vielleicht ist der hierhergeschickt worden, weil er ein Massenmörder ist, dachte Thomas.

Die erste Stunde lang zeigte Winston Thomas alles: welche Tiere in welchem Verschlag standen, wo die Hühner- und Putenställe waren, was in der Scheune wo hingehörte. Der Hund, ein anhänglicher Labrador namens Wau, heftete sich sofort an Thomas’ Fersen und wich ihm nicht mehr von der Seite. Thomas fragte, woher der Hund kam, und Winston sagte, Wau sei immer schon da gewesen. Sein Name schien ein Witz zu sein, da er fast nie bellte.

In der zweiten Stunde musste Thomas schon mehr mitarbeiten – die Tiere füttern, aufräumen, einen Zaun reparieren, Klonk wegmachen. Klonk. Thomas merkte, dass er immer häufiger die Worte der Lichter benutzte.

In der dritten Stunde wurde es am schwierigsten für ihn. Er musste zusehen, wie Winston ein Schwein schlachtete und die einzelnen Teile für den späteren Verzehr zubereitete. Als er zur Mittagspause ging, schwor Thomas sich zwei Dinge. Erstens würde er keine Karriere bei den Viechern einschlagen und zweitens würde er nie wieder etwas essen, das von einem Schwein stammte.

Winston hatte gesagt, er sollte allein losgehen, er würde die Pause über beim Bluthaus bleiben, was Thomas nur recht war. Während er in Richtung Osttor ging, stellte er sich vor, wie Winston in einer dunklen Scheunenecke saß und auf rohen Schweinshaxen herumkaute. Der Typ verursachte ihm Gänsehaut.

Thomas ging auf der Höhe der Box vorbei, als er zu seinem Erstaunen jemanden aus dem Labyrinth zum Westtor hereinrennen sah – einen jungen Asiaten mit kräftigen Armen und kurzen schwarzen Haaren, der ein bisschen älter als Thomas zu sein schien. Drei Schritte hinter dem Tor blieb der Läufer stehen, beugte sich vor und stützte sich verzweifelt nach Luft ringend auf den Knien ab. Er sah so rot, durchgeschwitzt und erschöpft aus, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen.

Neugierig starrte Thomas ihn an – er hatte noch keinen Läufer von nahem gesehen oder einen gesprochen. Außerdem war dieser Läufer viele Stunden zu früh wieder da, wenn man von den letzten Tagen ausging. Thomas machte einen Schritt auf ihn zu, weil er ihn unbedingt kennenlernen und ihm Fragen stellen wollte.

Aber bevor er ihm irgendetwas zurufen konnte, brach der Junge auf dem Boden zusammen.