39

Täbris: 5 Uhr 12. In der kleinen Hütte, die der Khan ihnen zugewiesen hatte, wurde Ross plötzlich wach. Er blieb regungslos liegen, atmete ruhig weiter und nahm seine fünf Sinne zusammen. Wie er durch das Fenster sehen konnte, war die Nacht dunkel und der Himmel zum größten Teil wolkenverhangen. Auf der anderen Pritsche, zusammengerollt wie ein Igel, schlief Gueng. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Wegen der Kälte hatten sich beide Männer angekleidet niedergelegt. Lautlos ging Ross nun ans Fenster und spähte hinaus. Nichts zu hören und nichts zu sehen. Dann wisperte Gueng ihm ins Ohr: »Was ist los, Sahib?«

»Ich weiß es nicht.«

Gueng stieß ihn an und deutete hinaus. Kein Wachtposten saß draußen auf der Veranda.

»Vielleicht ist er nur mal pinkeln gegangen.« Es war immer zumindest ein Wächter da gewesen, bei Tag und bei Nacht. Gestern abend waren es zwei gewesen, und trotzdem hatte Ross durch das hintere Fenster ins Freie gelangen und allein zu Erikki und Azadeh schleichen können, um mit ihnen zu sprechen.

»Schauen wir mal durch das hintere Fenster!« flüsterte Ross.

Wieder spähten sie hinaus in das Dunkel und warteten. In einer Stunde ist es hell, dachte Ross.

»Vielleicht war es nur ein Berggeist, Sahib«, meinte Gueng. Im Land auf dem Dach der Welt war es ein Aberglaube, daß Geister schlafende Männer, Frauen und Kinder besuchten; die Geschichten, die sie den Menschen dann zuwisperten, nannte man Träume.

Mit Augen und Ohren versuchte der Gurkha die Dunkelheit zu durchdringen. »Ich denke, wir sollten den Geistern Aufmerksamkeit schenken.« Er ging zu seinem Lager zurück, zog seine Stiefel an, steckte den Talisman, den er unter dem Kissen aufbewahrt hatte, in seine Uniformtasche und wand sich seinen Turban um den Kopf. Flink überprüfte er den Tornister, der Munition, das kookri, Handgranaten, Wasser und ein wenig Proviant enthielt.

Auch Ross war nun bereit. Bereit wofür? fragte er sich. Kaum fünf Minuten ist es her, daß du aufgewacht bist, und schon hast du das kookri locker in der Scheide, die Pistole entsichert, und wofür? Wenn Abdullah dir übel wollte, hätte er dir schon längst deine Waffen abgenommen – oder es zumindest versucht.

Gestern nachmittag hatten sie die 206 aufsteigen gehört. Gleich darauf war Abdullah Khan gekommen. »Ach, Captain, ich bedaure die Verzögerung, aber das gegen Sie erhobene Zetergeschrei wird immer heftiger. Unsere sowjetischen Freunde haben eine sehr hohe Belohnung auf Ihren Kopf ausgesetzt«, hatte er heiter verkündet. »Hoch genug, um vielleicht sogar mich in Versuchung zu führen.«

»Das wollen wir doch nicht hoffen, Sir. Wie lange werden wir noch warten müssen?«

»Nur noch ein paar Tage. Es hat den Anschein, als sei den Sowjets ganz besonders viel an Ihnen gelegen. Es war wieder eine Abordnung bei mir, die mich ersucht hat zu helfen, Sie festzunehmen. Die erste war schon da, bevor Sie gekommen sind. Aber keine Bange! Ich weiß, welcher Seite die Zukunft des Irans gehört.«

Erikki hatte dann bestätigt, daß eine hohe Belohnung ausgesetzt war. »Wir waren heute in der Nähe des Sabalan, wo wir eine Radarstation ausräumten. Ein paar von den Arbeitern dachten, ich wäre Russe, und sagten, sie hofften, daß es ihnen gelingen würde, den britischen Saboteur und seinen Helfer zu schnappen. Die Belohnung besteht aus 5 Pferden, 5 Kamelen und 50 Schafen. Das ist ein Vermögen. Und wenn die Leute so weit im Norden davon wissen, können Sie sich vorstellen, wie emsig sie hier nach Ihnen suchen.«

»Haben die Sowjets Sie überwacht?«

»Nur Cimtarga, aber auch er ist kein Kapo. Er hatte sich nur um mich und den Heli zu kümmern. Diese russisch sprechenden Arbeiter fragten mich immer wieder, wann wir in voller Stärke über die Grenze kommen würden.«

»Mein Gott, haben diese Fragen einen realistischen Anlaß?«

»Das glaube ich nicht. Es sind bloß Gerüchte. Die Leute hier leben von Gerüchten.«

»Das Zeug, das da weggebracht wurde, war da etwas Wichtiges dabei?«

»Das weiß ich nicht. Ein paar Computer und eine Menge schwarzer Kisten und Stöße von Papieren. Sie ließen mich nicht heran, aber die Anlage wurde nicht von Experten demontiert. Die Teile wurden nur aus der Wand gerissen und sorglos aufeinandergestapelt. Das einzige, wofür sich die Arbeiter interessieren, sind Vorräte, hauptsächlich Zigaretten.«

Sie hatten über Fluchtmöglichkeiten gesprochen, sich aber nicht auf einen Plan einigen können. Es gab zu viele Imponderabilien. »Ich weiß nicht, wie lange sie mich noch fliegen lassen wollen. Dieser Cimtarga erzählte mir, Ministerpräsident Bazargan hätte die Yankees aufgefordert, zwei Stationen zu räumen – weit im Osten, an der türkischen Grenze, die letzten, die sie hier noch haben. Er hat ihnen befohlen, sie unverzüglich zu verlassen und die Ausrüstung intakt zu lassen. Wir wollen morgen hinauffliegen.«

»Haben Sie heute die 206 geflogen?«

»Nein, das war Nogger Lane, einer unserer Captains. Er ist mit uns hergekommen und sollte die 206 nach Teheran zurückfliegen. Der Leiter unseres Stützpunktes hat mir erzählt, sie hätten Nogger genötigt, Aufklärungsflüge über Gegenden durchzuführen, wo gekämpft wird. Wenn McIver nichts von uns hört, wird er unruhig, und er wird einen Suchtrupp ausschicken. Das könnte unsere Chance sein. Und wie steht es mit Ihnen?«

»Könnte sein, daß wir uns still und leise davonmachen. Ich werde schon sehr nervös in dieser elenden Hütte. Wenn wir abhauen, halten wir nach Möglichkeit auf Ihren Stützpunkt zu und verstecken uns im Wald. Wenn wir können, nehmen wir Kontakt mit Ihnen auf – aber erwarten Sie uns nicht. Alles klar?«

»Ja, trauen Sie jedoch keinem auf dem Stützpunkt außer unseren zwei Mechanikern Dibble und Arberry.«

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Haben Sie eine Handgranate übrig?«

»Selbstverständlich. Haben Sie schon einmal eine gezündet?«

»Nein, aber ich weiß, wie man damit umgehen muß.«

»Gut. Hier. Sicherungsstift abziehen, bis vier – nicht fünf – zählen und schleudern. Brauchen Sie eine Pistole?«

»Nein, danke, ich habe meinen Dolch.«

»Na schön. Ich muß jetzt gehen. Viel Glück.«

Dabei hatte er Azadeh angesehen. Wie schön sie doch war! Ihre Zeit zusammen war schon in die Sterne geschrieben oder in den Wind. Warum hatte sie ihm eigentlich nie auf seine Briefe geantwortet? Sie sei abgereist, hatte man ihm in der Schule mitgeteilt. »Was zwischen uns war, wird sich vielleicht nie wiederholen, mein blauäugiger Johnny«, hatte sie ihm am letzten Tag gesagt. »Ich weiß. Wenn es auch nicht wiederkommt, kann ich doch glücklich sterben, denn ich weiß, was Liebe ist. Wahrhaftig, ich liebe dich, Azadeh.« Der letzte Kuß. Dann hinunter zu seinem Zug. Winken zum Abschied, bis sie verschwunden war. Für immer verloren. Könnte sein, wir beide wußten, daß es für immer war, dachte er, während er im Dunkel der kleinen Hütte wartete und versuchte, eine Entscheidung zu treffen: weiter warten, sich wieder niederlegen oder fliehen. Vielleicht ist es doch so, wie der Khan sagte, daß wir hier relativ in Sicherheit sind – für den Augenblick jedenfalls. Kein Grund, ihm zu mißtrauen. Vien Rosemont war kein Dummkopf, und er sagte: »Vertraue …«

»Sahib!«

Im gleichen Augenblick hatte auch er die leisen Schritte gehört. Beide Männer gingen in Deckung, und beide waren froh, daß die Zeit zum Handeln gekommen war. Die Tür ging auf. War es ein dämonischer Berggeist, der da stand und in die tiefe Finsternis der Hütte starrte? Zu seiner Überraschung erkannte Ross Azadeh; ihr Tschador verschmolz mit der Nacht, ihr Gesicht war von Tränen aufgeschwollen.

»Johnny?« flüsterte sie angstvoll.

»Azadeh? Hier, neben der Tür.«

»Folgt mir, schnell! Ihr seid beide in Gefahr. Beeilt euch!« Und schon lief sie in die Nacht hinaus.

Er sah, wie Gueng voll Unbehagen den Kopf schüttelte, und schwankte. Doch dann entschied er: »Wir gehen.« Er schlüpfte aus der Tür und lief ihr nach, Gueng schloß sich ihm an. Sie wartete unter einigen Bäumen. Noch bevor er sie erreicht hatte, bedeutete sie ihm mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Ohne zu zögern eilte sie durch den Obstgarten und um einige Wirtschaftsgebäude herum. Der Schnee dämpfte ihre Schritte, aber sie hinterließen Spuren, und das machte Ross Sorgen. Er war zehn Schritte hinter ihr, achtete sorgfältig auf das Terrain und fragte sich: Welche Gefahr droht uns, warum hat sie geweint, und wo ist Erikki?

Die Wolken gaben jetzt kurz den Mond frei und zogen über ihn hinweg. Immer, wenn er klar am Himmel stand, hielt Azadeh an und bedeutete auch den beiden Männern, stehenzubleiben und zu warten. Dann eilte sie weiter, suchte geschickt Deckung, und Ross fragte sich, wo sie wohl gelernt hatte, sich auf waldigem Gelände so sicher zu bewegen. Bald hatten sie die große Mauer erreicht, die den ganzen Besitz umschloß. Die Mauer, drei Meter hoch und aus roh behauenen Steinen, war durch eine breite leere Schneise von den Bäumen getrennt. Wieder bedeutete Azadeh ihnen, in Deckung zu bleiben, ging weiter und suchte offenbar eine bestimmte Stelle. Sie fand sie ohne Schwierigkeiten und winkte die Männer heran. Noch bevor sie neben ihr standen, kletterte sie bereits hoch. Ihre Füße paßten genau in die Spalten und Kerben, und es gab genügend natürliche Haltemöglichkeiten, aber auch geschickt in die Mauer eingefügte, um das Klettern zu erleichtern. Der Mond kam wieder hinter den Wolken hervor. Ross fühlte sich nackt und schutzlos und kletterte rascher. Als er die Mauerkrone erreicht hatte, war sie auf der anderen Seite schon auf halbem Wege wieder hinunter. Er rutschte hinüber, fand einige sichere Fugen, duckte sich und wartete, bis auch Gueng so weit war.

Der Abstieg war schwieriger; er rutschte aus und fiel fast zwei Meter hinunter. Er stieß Verwünschungen aus, sah sich um und versuchte sich zu orientieren. Azadeh hatte die Einfriedungsstraße bereits überquert und eilte auf eine felsige Lichtung in einem 200 Meter entfernten steilen Berghang zu. Gueng landete sauber neben ihm, lachte und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Doch als sie die Lichtung erreichten, war sie verschwunden.

»Johnny! Hier!«

Er sah den engen Spalt im Fels, der gerade noch genügend Platz ließ, um sich durchzuzwängen. Er wartete auf Gueng und drang in die Finsternis ein. Ihre Hand kam ihm entgegen und führte ihn seitwärts, dann holte sie auf die gleiche Art Gueng ins Innere. Vor den Spalt schob sie einen dicken Ledervorhang. Ross wollte seine Taschenlampe herausholen, aber schon flammte ein Zündholz auf. Sie kniete und zündete eine Kerze in einer Nische an. Rasch sah er sich um. Der Vorhang schien lichtundurchlässig zu sein. Die Höhle war geräumig, warm und trocken. Ein paar Decken und alte Teppiche lagen auf dem Boden, Speise- und Trinkutensilien, Bücher und Spielsachen standen auf einem Felssims. Das Versteck eines Kindes, dachte er und bot ihr Wasser aus seiner Flasche an.

Sie trank dankbar, vermied es aber, ihn anzusehen. Gueng räusperte sich, und Ross erriet, was in seinem Kopf vorging. »Hättest du etwas dagegen, wenn wir die Kerze löschen, Azadeh? Wir könnten den Vorhang zurückziehen und besser hören und Ausschau halten. Ich habe eine Taschenlampe, wenn wir Licht brauchen.«

»Ja, ja … natürlich. Ich … nur einen Augenblick noch, entschuldige …« Auf dem Sims stand ein Spiegel, den er nicht bemerkt hatte. Sie hob ihn auf, betrachtete sich und verabscheute, was sie sah: die geschwollenen Augen und die Schweißspuren. Hastig wischte sie ein paar Schmutzflecke ab, nahm den Kamm und machte sich zurecht, so gut sie konnte. Ein letzter Blick in den Spiegel, und sie blies die Kerze aus. »Entschuldige«, wiederholte sie.

Gueng schob den Vorhang zurück und trat aus der Höhle. In der Stadt hörten sie Geschützfeuer. Unten, hinter der einzigen Rollbahn des Flughafens und rechts davon brannten einige Häuser. Nur wenige Lichter waren zu sehen. Der Palast lag immer noch dunkel und ruhig da. Gueng konnte keine Gefahr ausmachen. Er kam zurück und berichtete Ross, was er gesehen hatte. »Es ist sicherer, wenn ich draußen warte, Sahib. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Ja.« Ross hörte das Unbehagen in seiner Stimme, äußerte sich aber nicht dazu. Er kannte den Grund. »Bist du okay, Azadeh?« fragte er leise.

»Ja, ich bin schon wieder in Ordnung. Im Dunkel ist es besser. Tut mir leid, ich habe ja zum Fürchten ausgesehen.«

»Was ist eigentlich los? Wo ist dein Mann?«

»Kurz nachdem du gestern abend gegangen warst, kam Cimtarga mit einem Wächter und teilte Erikki mit, er müsse sich sofort anziehen. Es tue ihm leid, sagte er, aber sie hätten ihre Pläne geändert und müßten sofort aufbrechen. Und ich, ich sollte zu meinem Vater kommen – sofort. Bevor ich dann sein Zimmer betrat, hörte ich, wie er befahl, euch beide gleich nach Tagesanbruch gefangenzunehmen und zu entwaffnen.« Ihre Stimme stockte. »Er wollte euch zu sich rufen, um mit euch über eure Abreise zu sprechen; in Wirklichkeit solltet ihr in der Nähe der Wirtschaftsgebäude gefesselt, in einen Lastwagen verladen und sogleich nach Norden geschickt werden.«

»Nach Norden?«

»Ja, nach Tiflis.« Nervös fuhr sie fort. »Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich sah keine Möglichkeit, euch zu warnen – ich werde genauso streng bewacht wie ihr. Mein Vater sagte mir, Erikki würde ein paar Tage ausbleiben, er selbst aber heute eine Geschäftsreise nach Tiflis antreten, und dorthin sollte ich … ihn begleiten. Wir würden zwei oder drei Tage wegbleiben, und dann sei auch Erikki von seiner Arbeit zurück, und wir könnten beide nach Teheran zurückkehren.« Sie konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. »Ich habe solche Angst. Ich habe solche Angst, daß Erikki etwas zugestoßen sein könnte.«

»Erikki wird nichts passieren«, beruhigte er sie, begriff jedoch nicht, was es mit der Reise nach Tiflis auf sich haben sollte. Was hatte der Khan vor? »Vertraue Abdullah dein Leben an, und glaube die Lügen nicht, die man über ihn verbreitet«, hatte Vien ihm eingeschärft. Hier aber stand Azadeh und sagte genau das Gegenteil. Er wünschte, sie hätte ihm das alles früher erzählt, auf der anderen Seite der Mauer oder in der Hütte. Er wurde immer nervöser. Dieser Wächter! »Azadeh, der Wächter – weißt du, was mit ihm passiert ist?«

»O ja … ich habe ihn bestochen. Er sollte sich für eine halbe Stunde entfernen … Es war die einzige Möglichkeit, euch zu warnen …«

»Kannst du ihm vertrauen?«

»Ja. Ali ist … seit vielen Jahren bei uns. Ich kenne ihn, seitdem ich sieben war, und ich habe ihm etwas Schmuck gegeben … genug für ihn und seine Familie … auf Jahre hinaus. Aber Erikki … ich mache mir solche Sorgen …«

»Dazu hast du doch keinen Grund, Azadeh. Hat Erikki nicht selbst gesagt, er müsse zur türkischen Grenze hinauf?« Er wollte ihr Mut machen und sie zur Rückkehr bewegen. »Ich kann dir gar nicht genug danken, daß du uns gewarnt hast. Aber jetzt müssen wir dich zurück …«

»Nein, nein, das kann ich nicht«, stieß sie hervor. »Verstehst du denn nicht? Vater bringt mich nach Norden … Vater haßt mich, er übergibt mich Mzytryk, das weiß ich genau …«

»Aber was ist mit Erikki?« fragte er betroffen. »Du kannst doch nicht einfach davonlaufen.«

»Das muß ich, Johnny. Das muß ich. Ich kann nicht warten, und ich will nicht nach Tiflis gebracht werden. Auch für Erikki ist es sicherer, wenn ich jetzt weglaufe. Viel sicherer.«

»Was redest du da? Du kannst nicht einfach weglaufen. Das ist doch Wahnsinn! Was ist, wenn Erikki heute abend zurückkommt, und du bist fort?«

»Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen. Wir haben ein Versteck in unserem Zimmer. Wir wußten ja nicht, was Vater während seiner Abwesenheit tun würde. Erikki wird wissen, wie er sich verhalten muß. Und da ist noch etwas. Heute mittag fährt Vater zum Flughafen. Er erwartet dort ein Flugzeug, jemanden aus Teheran. Ich weiß nicht, wer es ist und um was es geht, aber ich dachte, du könntest es vielleicht einrichten, daß man uns nach Teheran mitnimmt … Oder wir könnten uns an Bord schleichen … oder du könntest sie zwingen, uns mitzunehmen?«

»Du bist verrückt«, erwiderte Ross zornig. »Es ist doch Wahnsinn, fortzulaufen und Erikki zurückzulassen. Woher willst du wissen, daß nicht alles doch so ist, wie dein Vater gesagt hat? Du behauptest, der Khan haßt dich und ihn … Ob das nun zutrifft oder nicht, wenn du wegläufst, bekommt er einen Tobsuchtsanfall. So oder so bringst du Erikki nur noch mehr in Gefahr.«

»Wie kannst du denn nur so blind sein? Verstehst du denn nicht? Solange ich hier bin, hat Erikki überhaupt keine Chance. Wenn ich weg bin, braucht er nur an sich selbst zu denken. Wenn er herkommt und hört, daß ich in Tiflis bin, kommt er mir nach und ist für immer verloren. Begreifst du denn nicht? Ich bin der Köder! Mach doch endlich die Augen auf, Johnny!« Er hörte sie weinen, leise weinen, und das steigerte noch seine Wut.

Verdammt noch mal, wir können sie doch nicht mitnehmen! Unmöglich! Wenn das wahr ist, was sie sagt, zieht der Khan in ein paar Stunden eine Großfahndung nach uns auf – und dann können wir von Glück sagen, wenn wir den Abend noch erleben. In ein paar Stunden? Die Fahndung läuft wohl schon. So ein Unsinn: weglaufen! »Du mußt zurück. Es ist besser so«, sagte er.

Sie hörte auf zu weinen. »Wenn du meinst, Johnny«, sagte sie mit veränderter Stimme. »Dann solltest du gleich losgehen. Du hast nicht viel Zeit. Welche Richtung willst du einschlagen?«

»Das weiß ich nicht. Komm jetzt! Ich bring dich zurück.«

»Das brauchst du nicht. Ich … ich bleibe noch eine Weile hier.«

Er hörte die falschen Töne und seine Nerven gaben noch dringlicheren Alarm. »Du gehst jetzt zurück! Du mußt!«

»Nein«, widersprach sie trotzig. »Ich kann nie mehr zurück. Ich bleibe hier. Er wird mich nicht finden. Ich habe mich schon einmal tagelang hier versteckt. Hier bin ich sicher. Mach dir keine Sorgen um mich! Du mußt jetzt los.«

Er setzte sich vor sie hin. Ich kann sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen! ging es ihm durch den Kopf. Ich kann sie auch nicht gegen ihren Willen zurückbringen, noch kann ich sie mitnehmen. Kann sie nicht dalassen, kann sie nicht mitnehmen. Natürlich kannst du sie mitnehmen, aber wenn man sie schnappt, wird man ihr Beteiligung an Sabotageakten und weiß der Himmel was noch alles vorwerfen – und dafür werden Frauen hierzulande gesteinigt. »Wenn der Khan erfährt, daß wir mit dir geflohen sind, wird er wissen, daß du uns gewarnt hast. Wenn du hierbleibst, wird man dich früher oder später finden, und dann sieht es noch schlimmer aus: für dich und deinen Mann. Du mußt zurück!«

»Nein, Johnny. Ich bin in Allahs Hand, und ich habe keine Angst. Du kannst mir wie Erikki eine Handgranate dalassen. Aber in Allahs Hand bin ich sicher. Bitte, geh jetzt!«

»Inscha'Allah«, sagte er entschlossen. »Wir gehen beide zurück, und Gueng soll allein sein Glück versuchen.« Er stand auf.

»Warte!« Er hörte sie aufstehen und fühlte ihre Nähe und ihren Atem. Ihre Hand berührte seinen Arm. »Nein, mein Liebling«, sagte sie, »damit würden wir meinen Erikki vernichten – und auch dich und deinen Corporal. Daß du das nicht begreifen willst! Ich bin das Werkzeug, um Erikki zu erledigen. Nimm dem Khan das Werkzeug, und Erikki hat eine Chance. Außerhalb der Mauern meines Vaters hast auch du eine Chance. Wenn du Erikki siehst, sag es ihm …«

Was soll ich ihm sagen, fragte er sich. Im Dunkeln nahm er ihre Hand in die seine, fühlte ihre Wärme und kehrte im Geist ins Berner Oberland zurück, wo sie zusammen im Dunkel in dem großen Bett gelegen hatten, während ein heftiger Gewitterregen gegen die Fenster peitschte. Gemeinsam hatten sie die Sekunden zwischen Blitz und Donner gezählt, oft nur zwei oder drei. O Johnny, jetzt ist es direkt über uns! Inscha'Allah, wenn es uns trifft, aber das macht nichts, wir sind ja zusammen. Sie hatten einander an der Hand gehalten, wie jetzt auch. Nein, dachte er, nicht wie jetzt auch. Er führte ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. »Du kannst es ihm selbst sagen. Wir versuchen es – zusammen. Bist du bereit?«

»Du meinst, wir gehen … zusammen?«

»Ja.«

Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Frag zuerst Gueng!«

»Er tut, was ich sage.«

»Natürlich. Aber frag ihn trotzdem. Bitte!«

Er ging zu Gueng hinaus, aber noch bevor er den Mund auftun konnte, sagte der Gurkha: »Noch keine Gefahr, Sahib.«

»Hast du uns gehört?«

»Ja, Sahib.«

»Was meinst du?«

Gueng lächelte. »Was ich meine, Sahib, ist nicht von Bedeutung. Karma ist Karma. Ich tue, was Sie sagen.«

Flughafen Täbris: 12 Uhr 40. Abdullah Khan stand neben seinem kugelsicheren Rolls-Royce auf dem mit Schnee bedeckten Vorfeld in der Nähe des Abfertigungsgebäudes. Wütend beobachtete er, wie die 125 einflog. Gestern hatte ihm sein Neffe, Oberst Mazardi, der Polizeichef, ein von der Polizeizentrale weitergegebenes Telex überbracht: ›Bitte erwarten Sie morgen, Dienstag, 12.40 den Jet G-ETLL. Oberst Haschemi Fazir.‹ Der Name hatte ihm und allen, die Zugang zu dem Fernschreiben hatten, kalte Schauder den Rücken hinunterlaufen lassen. Der Innere Sicherheitsrat hatte schon immer über dem Gesetz gestanden, und Oberst Haschemi Fazir war sein Großinquisitor gewesen – ein selbst im Iran, wo Grausamkeit erwartet und bewundert wurde, wegen seiner Unbarmherzigkeit berüchtigter Mann.

»Was will er hier?« hatte Mazardi verängstigt gefragt.

»Er will mit mir über Aserbeidschan sprechen«, hatte der Khan geantwortet und seine Furcht verborgen. Er war erbost über die Wortkargheit des Fernschreibens und den unerwarteten und unerwünschten Besuch. »Er wird mich fragen wollen, wie er mir helfen kann. Er ist seit vielen Jahren mein guter Freund«, log er weiter.

»Ich werde eine Ehrenwache aufziehen lassen und das Komi…«

»Sei kein Narr! Oberst Fazir legt Wert auf Geheimhaltung. Tu nichts, komm nicht auf den Flughafen, sieh nur zu, daß es auf den Straßen ruhig ist und … Ach ja, verstärke den Druck auf die Tudeh. Denk an Khomeinis Befehl, die Tudeh zu zerschlagen. Laß heute nacht ihre Zentrale niederbrennen und verhafte die uns bekannten Führer.« Ein perfektes Gastgeschenk, wenn ich eines brauchen sollte, dachte er. Ist Fazir nicht ein fanatischer Gegner der Tudeh? Allah sei Dank, daß Pjotr Oleg mir seine Zustimmung gegeben hat. Aber was will dieser Hundesohn Fazir von mir?

All die Jahre hindurch waren sie sich mehrmals begegnet, um zu ihrem beiderseitigen Vorteil Informationen auszutauschen. Doch Oberst Haschemi Fazir war einer von denen, die fest daran glaubten, daß der einzige Schutz des Irans in einem absoluten Zentralismus liege, daß das Land also von Teheran aus regiert werden müsse und daß die Stammesführer ein Anachronismus seien, der eine Gefahr für den Staat darstellte. Dazu kam, daß Fazir ein Teheraner war, der die Macht hatte, zu viele Geheimnisse aufzudecken, Enthüllungen, die sich gegen ihn, Abdullah, verwenden ließen. Zur Hölle mit allen Teheranern! Und mit Azadeh und ihrem verdammten Gatten!

Azadeh! Habe ich diese Teufelin wirklich gezeugt? Unmöglich! Da muß ein anderer … Allah verzeih mir, daß ich meine geliebte Naphthala verdächtige.

Azadeh ist vom Satan besessen. Aber sie entkommt mir nicht, o nein. Ich schwöre, ich schaffe sie nach Tiflis und überlasse sie Pjotr zum Gebrauch … Zum wiederholten Male begann das Blut in seinen Ohren zu dröhnen und wieder krallte sich ein lähmender Schmerz in seine Brust. Hör auf, ermahnte er sich, beruhige dich! Denke jetzt nicht an sie, du wirst später dein Mütchen kühlen können. Denk lieber an Fazir! Du wirst dein Köpfchen anstrengen müssen, um mit ihm fertig zu werden. Sie kann dir nicht entkommen.

Als kurz nach Tagesanbruch bestürzte Wächter in sein Schlafzimmer gekommen waren, um ihm zu berichten, daß die zwei Gefangenen das Weite gesucht hatten, und er fast zur gleichen Zeit erfuhr, daß Azadeh nicht im Palast war, schäumte er vor Wut. Sofort hatte er Männer ausgesandt, ihr Versteck in der Felswand zu durchsuchen, von dem er seit Jahren wußte, und ihnen befohlen, nicht ohne sie und die Saboteure zurückzukommen. Er hatte dem Nachtwächter die Nase abschneiden, die übrigen Wachtposten prügeln und einsperren und Azadehs Mägde auspeitschen lassen.

Allah strafe sie alle, dachte er und strengte sich gewaltig an, sich zu beruhigen. Sein Blick blieb auf dem kleinen Düsenjet haften, der zur Landung ansetzte. Versprengte Wolken zogen über den blauen Himmel, und ein böiger Wind strich über die verschneite Rollbahn. Er trug einen Astrachanhut, einen Wintermantel mit Pelzkragen und mit Pelz gefütterte Stiefel. Das kleine Abfertigungsgebäude hinter ihm war leer – bis auf seine eigenen Leute, die den kleinen Terminal und die Zufahrtsstraße sicherten. Auf dem Dach hatte er einen Scharfschützen mit dem Auftrag postiert, Fazir zu erschießen, wenn er, Abdullah, ein weißes Taschentuch herauszog und sich schneuzte. Ich habe getan, was ich kann, dachte er, alles Weitere liegt hei Allah. Stürz ab, du Hundesohn!

Doch die 125 setzte perfekt auf. Ihre Räder wirbelten eine breite Schneefahne auf. Seine Angst steigerte sich. »Wie es Allah gefällt«, murmelte er und setzte sich wieder in den Fond des Wagens, der vom Fahrer und von Ahmed, seinem zuverlässigsten Ratgeber und Leibwächter, durch ein kugelsicheres Schiebefenster getrennt war. »Fahr dem Flugzeug entgegen!« befahl er und entsicherte den Revolver in seiner Tasche.

Die 125 erreichte das Vorfeld, drehte in den Wind und blieb stehen. Der große schwarze Rolls hielt längsseits, als die Tür des Jets aufschwang. Abdullah sah Haschemi Fazir oben stehen und ihn zu sich rufen: »Salaam! Allah sei mit Euch, Hoheit! Kommen Sie an Bord!«

Abdullah Khan ließ das Fenster herunter. »Salaam, Friede sei mit Euch, Exzellenz!« rief er zurück. »Kommen Sie doch zu mir in den Wagen!« Du hältst mich wohl für einen Dummkopf, daß ich meinen Kopf in so eine Schlinge stecke. »Geh du an Bord, Ahmed! Geh bewaffnet und tu, als ob du kein Englisch verstehen würdest!«

Ahmed Dursak war ein bärtiger turkmenischer Moslem, sehr kräftig und sehr schnell mit dem Messer oder der Schußwaffe. Er stieg aus. Die Maschinenpistole locker in der Hand, lief er flink die Gangway hinauf. Der Wind zerrte an seinem langen Gewand. »Salaam, Exzellenz Oberst«, begrüßte er Haschemi auf Persisch; er stand draußen auf der obersten Stufe. »Mein Herr bittet Sie, sich zu ihm in den Wagen zu begeben. Kabinen kleiner Flugzeuge bedrängen ihn. Im Wagen können Sie ganz privat miteinander sprechen. Er läßt Sie auch fragen, ob Sie ihm die Ehre antun wollen, während Ihres Aufenthalts hier in seinem bescheidenen Haus abzusteigen.«

Für Haschemi war es ein Schock, daß Abdullah die Unverfrorenheit, aber auch Selbstsicherheit besaß, ihm einen bewaffneten Boten zu schicken. Zum Wagen hinuntergehen wollte er nicht: zu leicht konnten Wanzen angebracht oder Sprengladungen versteckt worden sein. »Sag dem Khan, daß mir in einem Auto manchmal übel wird und ich ihn daher bitte, heraufzukommen. Auch hier könnten wir uns privat unterhalten, und ich würde es als eine Gefälligkeit ansehen. Natürlich kannst du die Kabine durchsuchen, um sicher zu sein, daß sich kein schurkischer Fremder an Bord geschlichen hat.«

»Mein Herr würde es vorziehen, Exzellenz, wenn Sie …«

Haschemi trat nahe an ihn heran, und seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Durchsuch das Flugzeug! Sofort! Und tu es rasch, Ahmed Dursak, dreifacher Mörder! Eine Frau namens Najmeh war eines der Opfer. Tu, was ich befehle, oder du wirst die nächste Woche nicht mehr erleben.«

»Dann werde ich um so früher ins Paradies eingehen, denn als Diener des Khans tue ich Allahs Werk«, erwiderte Ahmed Dursak, »aber ich werde die Maschine durchsuchen, wie Sie es wünschen.« Er trat durch die Tür und sah die zwei Piloten im Cockpit. In der Kabine saß Armstrong. Dursaks Augen verengten sich, aber er sagte nichts, ging nur höflich an ihm vorüber und öffnete die Tür zur Toilette, um sich zu vergewissern, daß sie leer war. »Sollte Ihr Vorschlag, Exzellenz, angenommen werden, würden die Piloten dann das Flugzeug verlassen?«

Schon zuvor hatte Haschemi Captain John Hogg gefragt, ob er einem solchen Ersuchen nachkommen würde, wenn es nötig sein sollte.

»Tut mir leid, Sir«, hatte Hogg geantwortet, »aber davon halte ich nichts.«

»Es würde nur ein paar Minuten dauern. Sie können Zündschalter und Hauptsicherung mitnehmen«, hatte Robert Armstrong ihn beruhigt. »Ich garantiere Ihnen persönlich, daß niemand das Cockpit betreten oder etwas anrühren wird.«

»Ich halte trotzdem nichts davon, Sir.«

»Ich weiß. Aber Captain McIver hat Sie angewiesen, alles zu tun, was wir von Ihnen verlangen. Mit Maß und Ziel, versteht sich. Und das trifft auf diesen Fall zu.«

Haschemi sah die Arroganz in Ahmed Dursaks Gesicht und hatte gute Lust, den Mann zusammenzuschlagen. Aber das kommt noch, nahm er sich vor. »Die Piloten werden im Wagen warten.«

»Und der Ungläubige?«

»Dieser Ungläubige spricht besser Persisch als du, du Ratte, und wenn du klug bist, du Ratte, redest du in höflichem Ton mit ihm und sprichst ihn mit Exzellenz an, denn ich versichere dir, sein Gedächtnis ist so lange wie meines, und er vermag grausamer zu sein, als du dir vorstellen kannst.«

Dursaks Mund lächelte. »Und Seine Exzellenz, der Ungläubige, wartet er auch auf dem Vorfeld?«

»Er bleibt da. Und die Piloten warten im Wagen. Sollte Seine Hoheit einen Wächter bei sich haben wollen – um sicher zu sein, daß kein Mörder hier im Hinterhalt liegt –, steht dem nichts entgegen. Wenn ihm aber dieses Arrangement nicht behagt, sollten wir uns vielleicht besser in der Polizeizentrale treffen. Und jetzt befreie mich von deinen miserablen Manieren!«

Dursak dankte ihm höflich und kehrte zum Khan zurück, um ihm über sein Gespräch zu berichten. »Ich meine, dieses Stück Hundekot muß seiner Sache sehr sicher sein, wenn es einen so rüden Ton anschlägt«, fügte er hinzu. Und im Flugzeug sagte Haschemi zu Armstrong: »Dieser Hundesohn muß seiner Sache sehr sicher sein, daß er sich von so arroganten Dienern begleiten läßt.«

»Würdest du den Khan tatsächlich auf die Polizeidirektion zitieren?«

»Ich könnte es versuchen.« Haschemi zündete sich eine frische Zigarette an. »Ich glaube allerdings nicht, daß es mir gelingen würde. Sein Neffe Mazardi ist immer noch Polizeichef, und die Polizei hat sich in diesem Landesteil ihre Macht in beträchtlichem Maß erhalten. Hezbollahis und Revolutionäres Komitee spielen hier keine beherrschende Rolle – noch nicht.«

»Wegen Abdullah?«

»Natürlich wegen Abdullah. Auf seinen Befehl hat die Polizei in Täbris monatelang im stillen Khomeini unterstützt. Der einzige Unterschied zwischen früher und jetzt ist der, daß die Bilder des Schahs durch die Bilder Khomeinis ersetzt wurden, und jetzt ist seine Macht unerschütterter als je zuvor.« Ein eisiger Zug kam durch die halboffene Tür. »Die Aserbeidschaner sind ein hinterhältiges Pack und noch dazu grausam. Die Schahs aus dem Geschlecht der Kadscharen kamen aus Täbris so wie auch der Schah Abbas, der Isfahan seine schönsten Bauten geschenkt und versucht hat, sich ein langes Leben zu sichern, indem er seinen ältesten Sohn ermorden und einen anderen blenden ließ …«

Haschemi Fazir beobachtete den Wagen durch das Fenster. Er fühlte sich jetzt wohler und zuversichtlicher als am Sonntag abend, als General Janan mit den Befehlen ins Hauptquartier gekommen war, den Inneren Sicherheitsrat aufzulösen und die Kassetten von Rákóczy herauszugeben. Er hatte zunächst nicht weitergewußt. Als er am nächsten Morgen sein Haus verließ, stellte er fest, daß man ihm folgte, und am Vormittag wurden seine Frau und die Kinder auf der Straße angepöbelt. Erst am frühen Nachmittag gelang es ihm, seine Verfolger abzuschütteln. Zu diesem Zeitpunkt wartete bereits ein Anführer seiner Gruppe 4 in einer konspirativen Wohnung, und als General Janan an diesem Abend aus seiner kugelsicheren Limousine stieg, um sein Haus zu betreten, sprengte eine in einem in der Nähe geparkten Wagen versteckte Plastikbombe ihn und zwei seiner Leibwächter in die Luft, zerstörte sein Haus, tötete seine Frau und drei Kinder und sieben Dienstboten und auch noch seinen alten bettlägerigen Vater. Man hörte Männer davonlaufen, die linksgerichtete Kampfrufe der Mudjaheddins grölten. Sie ließen handgeschriebene Flugblätter zurück: ›Tod der SAVAK, der jetzigen SAVAMA!‹

Am frühen Morgen, eine halbe Stunde nachdem Abrim Pahmudi das Bett seiner streng geheimen Mätresse verlassen hatte, waren ein paar grausame Gesellen zu ihr auf Besuch gekommen. Man hörte auch hier linksgerichtete Kampfrufe und fand die gleichen Botschaften mit ihrem Blut an die Wände der Wohnung gepinselt. Um neun Uhr vormittags ging Haschemi, wie vereinbart, zu Abrim Pahmudi, um ihm zu den beiden Tragödien sein Beileid auszudrücken – seine Leute hatten ihn natürlich sofort informiert. Als Pischkesch brachte er einen Teil von Rákóczys Aussagen, so als ob es sich um Informationen handelte, die ihm von anderer Seite zugespielt worden wären – gerade genug, um noch von einigem Wert zu sein. »Ich bin sicher, Exzellenz, daß ich noch viel mehr beschaffen könnte, wenn man mir gestatten würde, meine Arbeit wieder aufzunehmen. Wenn Sie meiner Abteilung Ihr Vertrauen schenken und mir erlauben wollen, so wie bisher weiterzuarbeiten – wobei ich meine Informationen nur Ihnen und sonst niemandem zugänglich machen würde –, könnte ich solche Greueltaten verhindern und diese verbrecherischen Terroristen vom Erdboden verschwinden lassen.«

In diesem Augenblick kam ein Adjutant desperat ins Zimmer gestürzt, um zu melden, daß Terroristen einen der einflußreichsten Ayatollahs in Teheran ermordet hätten – wieder mit einer Autobombe – und daß das Revolutionäre Komitee Pahmudi unverzüglich zu sprechen wünsche. Pahmudi war sofort aufgesprungen, fand aber noch Zeit, seinen vorausgegangenen Befehl zu widerrufen. »Ich hin einverstanden, Exzellenz Oberst. Für 30 Tage. Sie haben 30 Tage Zeit, mir zu zeigen, was Sie wert sind.«

»Danke, Exzellenz, Ihr Vertrauen überwältigt mich. Sie können meiner Loyalität gewiß sein. Kann ich diesen Rákóczy zurück haben?«

»General Janan, dieser Hund, hat ihn entkommen lassen.«

Dann war er zum Flughafen hinausgefahren, um mit Robert Armstrong die 125 zu besteigen. Kaum waren sie in der Luft, fing er an zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Zum erstenmal war im Iran eine Autobombe mit Fernzündung explodiert. »Wirklich eine tolle Sache, Robert. Man wartet in etwa 100 Meter Entfernung, bis man die Sicherheit hat, daß es der Gesuchte ist. Dann berührt man einen Knopf auf dem Sender, der nicht größer ist als ein Päckchen Zigaretten, und: Bumm! Wieder ein Feind für immer aus dem Weg geräumt – er und sein Vater!« Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Das hat Pahmudi richtig überzeugt. Aber ohne die Gruppe 4 wäre ich dran gewesen – ich und meine Familie.«

Die Gruppe 4 ging auf einen Vorschlag Armstrongs zurück, dem er gefolgt war und den er bis ins einzelne ausgearbeitet hatte: Es handelte sich dabei um ausgesuchte Einheiten von Männern und Frauen, die mit den modernsten Methoden der Terrorbekämpfung vertraut waren und sehr gut bezahlt und sorgfältig geschützt wurden; allesamt Nichtiraner, nur Haschemi bekannt und nur ihm gegenüber loyal. In all den Jahren hatte die Gruppe 4 ihren Wert immer wieder bewiesen. Ihre Aktionen blieben geheim, von den meisten wußte sogar Armstrong nichts. »Ohne sie«, sagte Haschemi und lächelte, »ohne sie wäre ich jetzt tot.«

»Ich wahrscheinlich auch. Ich habe ganz schön Schiß gekriegt, als dieser Janan sagte: ›In Anerkennung der geleisteten Dienste gebe ich Ihnen 24 Stunden Zeit.‹ Er hätte mich nie rausgelassen.«

»Das ist richtig.« 1.000 Meter unter ihnen lag das Land unter einer dichten Schneedecke. Der Jet flog hoch über den Bergen, und in einer halben Stunde würden sie Täbris erreichen.

»Was ist jetzt mit Rákóczy? Glaubst du Pahmudi, daß er entkommen ist?«

»Natürlich nicht, Robert. Rákóczy war ein Tauschobjekt, das Pischkesch. Als Pahmudi feststellen mußte, daß die Bänder leer waren, und sah, in welchem Zustand Rákóczy sich befand, war der Mann wertlos für ihn – außer als Gegenleistung für erwiesene Gefälligkeiten. Von der Verbindung mit Pjotr Oleg Mzytryk kann er ja kaum etwas wissen – oder?«

»Unwahrscheinlich. Ich würde sagen unmöglich.«

»Wahrscheinlich ist er bei den Sowjets. Wenn er noch lebt. Die werden wissen wollen, was er uns verraten hat … Könnte er ihnen etwas sagen?«

»Das bezweifle ich.« Armstrong schüttelte den Kopf. »Nachdem du jetzt wieder ganz oben bist, was wirst du tun? Pahmudi in den kommenden 30 Tagen weiter mit Informationen beliefern – wenn er noch 30 Tage am Leben ist?«

Haschemi lächelte dünn und blieb eine Antwort schuldig. Ich bin noch nicht wieder ganz oben, dachte er, auch nicht halb, solange Pahmudi nicht mit vielen anderen in der Hölle schmort. Es könnte immer noch sein, daß ich deinen Paß brauche. Armstrong hatte ihm das Dokument vor dem Abflug überreicht.

Dann hatte er die Augen geschlossen, sich zurückgelehnt und den Luxus des privaten Jets genossen, der bereits Qazvin überflog. Aber er schlief nicht. Er verbrachte die Zeit mit Überlegungen, wie er sich gegenüber der SAVAMA verhalten, wie er gegen Pahmudi und Abdullah Khan vorgehen und was er mit Robert Armstrong machen sollte, der zu viel wußte.

Durch das Kabinenfenster beobachtete er nun weiterhin den Rolls; groß, makellos, ein exklusives Eigentum. Bei Allah und dem Propheten, ging es ihm durch den Kopf, welch ein Reichtum! Er war beeindruckt von der Position und der Macht des Khans. Einen solchen Besitz furchtlos vor den Revolutionären Komitees und vor mir zur Schau zu stellen! Es wird nicht leicht sein, uns Abdullah Khan gefügig zu machen.

Er wußte, daß sie hier im Flugzeug gefährlich exponiert waren: ein leichtes Ziel, wenn Abdullah seinen Leuten befahl, auf sie zu schießen. Er rechnete aber damit, daß der Khan es nicht wagen würde, in aller Öffentlichkeit drei Ungläubige und ihn zu ermorden. Aber für den Fall, daß der Khan einen ›Unfall‹ in Szene setzte, waren bereits zwei Einheiten der Gruppe 4 mit Wagen nach Täbris unterwegs. Die eine war für den Khan persönlich, die andere für seine Familie bestimmt, und nur ein Losungswort von ihm konnte sie aufhalten. Er lächelte.

Er sah, wie die Vordertür des Wagens aufging. Dursak stieg aus, die Maschinenpistole locker in der Hand. Er ging zur Fondtür und öffnete sie für Abdullah.

»Die erste Runde geht an dich, Haschemi«, sagte Armstrong und ging, wie verabredet, zum Cockpit. »Also, bitte, Captain. Wir werden uns so beeilen, wie nur möglich.«

Widerstrebend zwängten sich die zwei Piloten aus der engen Kanzel, zogen ihre Parkas über und liefen die Stufen hinunter in die winterliche Kälte. Höflich grüßten sie den Khan, der ihnen bedeutete, im Fond seines Wagens Platz zu nehmen. Dann kletterte Abdullah, von Dursak gefolgt, die Gangway hinauf.

»Salaam, Hoheit, Friede sei mit Ihnen!« begrüßte ihn Haschemi Fazir liebenswürdig schon an der Tür, ein Entgegenkommen, das Abdullah nicht entging. »Und mit Ihnen, Exzellenz Oberst!« Sie gaben sich die Hand. Der Khan betrat die Kabine. Den Blick auf Armstrong gerichtet, nahm er auf dem Sitz Platz, der dem Einstieg am nächsten war.

»Salaam, Hoheit«, sagte Armstrong. »Friede sei mit Ihnen!«

»Das ist ein Kollege von mir«, erklärte Haschemi und setzte sich dem Khan gegenüber. »Ein Engländer. Sein Name ist Robert Armstrong.«

»Ach ja, die Exzellenz, die besser Persisch spricht als mein Ahmed und für sein Gedächtnis – und seine Grausamkeit – bekannt ist.« Hinter ihm hatte inzwischen Dursak den Vorhang vor dem Einstieg zugezogen und stand nun mit dem Rücken zum Cockpit, die Maschinenpistole unauffällig im Anschlag. Armstrong lächelte. »Das war nur ein Scherz des Herrn Oberst, Hoheit.«

»Da bin ich gegenteiliger Meinung. Selbst hier in Täbris haben wir von dem Experten des Sonderdezernats gehört, zwölf Jahre im Dienst des Schahs, Hofschranze unter Hofschranzen.« Das Lächeln verschwand aus Armstrongs Gesicht, und sowohl er wie auch Haschemi waren angesichts dieses eklatant schlechten Benehmens schockiert. »Ich habe Ihre Akte gelesen.« Abdullah richtete seinen Blick auf Haschemi; er war jetzt völlig überzeugt, daß der Durchführung seines Plans nichts entgegenstand. Auf ein Zeichen von ihm sollte Ahmed die beiden töten, im Flugzeug eine Sprengladung anbringen, die Piloten wieder an Bord schicken und abfliegen lassen. Er selbst würde natürlich nichts mit ihrem Feuertod zu tun haben, ganz im Gegenteil: Nach einem so ergiebigen Gespräch, in dessen Verlauf er seine volle Unterstützung für die Zentralregierung versprochen hatte, würde ihn diese Tragödie in tiefe Trauer versetzen.

»Da wären wir nun also wieder, Exzellenz«, sagte Abdullah. »Was kann ich für Sie tun? Ich weiß, Sie haben bedauerlicherweise nur wenig Zeit für uns.«

»Vielleicht kann ich etwas für Sie tun, Hoheit. Vielleicht.«

»Kommen Sie zur Sache, Herr Oberst!« konterte der Khan brüsk. Er war seiner jetzt völlig sicher. »Wir kennen einander, wir können auf Schmeicheleien und Komplimente völlig verzichten und schnell zur Sache kommen. Ich habe viel zu tun. Wenn Sie so höflich gewesen wären, allein in meinen Wagen zu kommen, hätte ich mich leichter getan, mit Ihnen zu sprechen. Kommen Sie jetzt zur Sache!«

»Ich möchte mit Ihnen über den Mann sprechen, der Sie überwacht, über den Generaloberst Mzytryk«, sagte Haschemi ebenso brüsk, »und über Ihre langjährige Verbindung mit dem KGB, hergestellt durch diesen Mzytryk, Deckname Ali Kor.«

»Überwacht? Von wem überwacht? Wer ist der Mann?« hörte Abdullah Khan sich fragen, aber in seinem Kopf gellte ein Aufschrei. Das kannst du nicht wissen, unmöglich! Und durch den Sturzbach seiner eigenen Herzschläge hörte er, wie der Oberst noch andere Dinge sagte, die alles noch viel, viel schlimmer machten, vor allem aber seinen Plan in Fetzen rissen. Wenn der Oberst solche Geheimnisse so offen vor diesem Fremden und Ahmed ausplauderte, dann würden diese Geheimnisse auch an einem sicheren Ort schriftlich niedergelegt sein und im Falle eines ›Unfalls‹ vom Revolutionären Komitee gelesen werden.

»Dieser Mann«, fuhr Haschemi ihn an, der die Verwandlung in seinem Gegenüber sah und entschlossen war, seinen Vorteil auszunützen, »heißt Pjotr Oleg Mzytryk. Seine Datscha befindet sich am Tzvenghid-See in den Verborgenen Tälern östlich von Tiflis. Sein Deckname ist Ali Koy und der Ihre Iw…«

»Warten Sie!« unterbrach ihn Abdullah heiser und leichenblaß. Nicht einmal Ahmed wußte das und durfte es auch nicht wissen. »Ich … Ein Glas Wasser bitte!«

Armstrong wollte aufstehen, ließ es aber sein, als Dursak seine Pistole auf ihn richtete. »Bitte, bleiben Sie sitzen, Exzellenz! Ich hole es. Sie beide, schnallen Sie sich an!«

»Das ist doch nicht …«

»Tun Sie's«, zischte Dursak und schwenkte die Maschinenpistole. Er war entsetzt über des Khans verändertes Aussehen und veränderte Taktik und durchaus bereit, den anderen Plan selbst zur Ausführung zu bringen. »Schnallen Sie sich an!«

Sie gehorchten. Dursak stand neben dem Wasserhahn, füllte einen Plastikbecher und gab ihn dem Khan. Haschemi und Armstrong sahen mit ungerührter Miene zu. Sie hatte beide nicht erwartet, daß der Khan so schnell kapitulieren würde. Der Mann schien vor ihren Augen zusammengeschrumpft zu sein, er war leichenblaß und atmete schwer.

Er trank das Wasser aus und sah Haschemi an. Die kleinen Augen hinter der Brille waren blutunterlaufen. Er nahm die Brille ab und putzte sie zerstreut, bemüht, wieder zu Kräften zu kommen. »Warte neben dem Wagen auf mich, Ahmed!«

Dursak gehorchte widerstrebend. Armstrong löste seinen Sicherheitsgurt und zog hinter ihm den Vorhang wieder zu. Für den Augenblick fühlte sich der Khan wohler. Der eisige Luftzug hatte ihm vorübergehend geholfen, wieder klar zu denken. »Also, was wollen Sie?«

»Ihr Deckname ist Iwanowitsch. Seit Januar 1944 sind Sie KGB-Agent. In dieser Zeit …«

»Alles gelogen. Was wollen Sie?«

»Ich möchte mit Pjotr Oleg Mzytryk zusammentreffen. Ich möchte ihn einer gründlichen Befragung unterziehen, im geheimen.«

Der Khan hörte die Worte und dachte darüber nach. Wenn dieser Hundesohn Pjotrs und seinen Decknamen kannte und von den Verborgenen Tälern und vom Januar 1944 wußte, als er heimlich nach Moskau gefahren war, um in den KGB einzutreten, dann waren ihm auch noch andere strafbare Handlungen bekannt. Daß er all dies nur zum Nutzen seines geliebten Aserbeidschan tat und getan hatte, würde die Mörder auf der rechten und auf der linken Seite kaum bekümmern. »Ihre Gegenleistung?«

»Jede Freiheit, ungehindert in Aserbeidschan zu agieren – solange Sie tun, was dem Iran nützt. Dazu eine feste Arbeitsvereinbarung mit mir. Ich werde Sie mit Informationen beliefern, mit denen Sie die Tudeh, die Linken und die Kurden in die Hand bekommen. Auch werde ich Ihnen nachweisen, daß die Sowjets Ihnen entgegenarbeiten. So wurden Sie zum Beispiel als zur Sektion 16/a gehörig eingestuft.«

Der Khan starrte ihn mit offenem Mund an. In seinen Ohren dröhnte es. »Das glaube ich nicht!«

»Pjotr Oleg Mzytryk hat den Befehl selbst unterzeichnet«, versicherte ihm Haschemi.

»Beweise, ich will Beweise sehen!« stieß Abdullah hervor.

»Locken Sie ihn über die Grenze, und ich liefere Ihnen die Beweise; besser gesagt, er wird sie Ihnen liefern.«

»Sie … Sie lügen.«

»Hatten Sie nicht die Absicht, heute oder morgen, seiner Einladung folgend, nach Tiflis zu fahren? Sie wären nie wieder zurückgekommen. Es hätte geheißen, daß Sie aus dem Iran geflohen sind. Man hätte sie gebrandmarkt, Ihre Familie mit Schimpf und Schande davongejagt, Ihren Besitz eingezogen und den Mullahs überlassen.« Jetzt, da Haschemi wußte, daß er Abdullah in der Hand hatte, gab es nur noch einen Faktor, der ihm Sorgen bereitete: der Gesundheitszustand des Khans. Sein sonst schwärzliches Gesicht war bleich, eine merkwürdige Röte umgab seine Augen und zog sich bis zu den Schläfen hinauf, und die Stirnschlagader trat deutlich hervor. »Sie täten gut daran, die Reise nach Norden nicht anzutreten und die Zahl Ihrer Leibwächter zu verdoppeln. Ich könnte Pjotr Oleg austauschen … besser noch, ich könnte zulassen, daß Sie ihn retten … Nun, es gibt viele Lösungen, sobald ich einmal über ihn verfügen kann.«

»Was wollen Sie von ihm?«

»Informationen.«

»Könnte ich … könnte ich mich daran beteiligen?«

Haschemi lächelte. »Warum nicht? Wir sind uns also einig?«

Die Lippen des Khans bewegten sich lautlos. »Ich werde es versuchen«, sagte er dann.

»Nein«, konterte der Oberst grob; die Zeit für den Gnadenstoß schien ihm gekommen zu sein. »Nein, nicht versuchen, Sie haben vier Tage. Ich komme am Samstag zurück. Am Samstag mittag bin ich in Ihrem Palast, um ihn mir zu holen. Oder wenn es Ihnen lieber ist, können Sie ihn auch bei dieser Adresse abliefern.« Er schob ihm einen Zettel über den Tisch. »Oder – eine dritte Möglichkeit: Wenn Sie mich wissen lassen, wann und wo er über die Grenze kommt, kümmere ich mich um alles.« Er löste die Schnalle des Sicherheitsgurts und erhob sich. »Vier Tage, Iwanowitsch.«

Vor Wut platzte Abdullah schier das Trommelfell. Er versuchte sich zu erheben, aber es gelang ihm nicht. Armstrong half ihm auf, und Haschemi ging zum Vorhang. Aber bevor er ihn zurückschlug, nahm er die Pistole aus seinem Schulterhalfter. »Sagen Sie Ihrem Ahmed, er soll uns nicht belästigen.«

Schwankend stand der Khan im offenen Einstieg und tat, wie ihm geheißen. Dursak wartete am Fuß der Gangway, die Maschinenpistole im Anschlag. Der Wind hatte die Richtung geändert und war wesentlich stärker geworden. »Hast du nicht gehört, was Seine Hoheit gesagt hat?« rief der Oberst hinunter. »Es ist alles in Ordnung, aber er braucht Hilfe. Er sollte vielleicht so bald wie möglich einen Arzt kommen lassen.«

Dursak war verwirrt und wußte nicht, was er tun sollte. Da stand sein Herr, offensichtlich in schlechterer Verfassung als zuvor, und hier waren die Männer, die an dieser Veränderung schuld waren, die getötet werden sollten und nicht entkommen durften.

»Hilf mir in den Wagen, Ahmed«, sagte der Khan und stieß einen Fluch aus. Damit war alles entschieden. Dursak ließ die Waffe sinken. Armstrong stieg zusammen mit Abdullah die Gangway hinunter. Hastig verließen die Piloten den Wagen und eilten zum Flugzeug, während Armstrong dem kranken Mann in den Fond half. Ganz allein im Freien fühlte sich der Engländer schutzloser als je zuvor. Haschemi stand oben im Einstieg in Sicherheit. Die Triebwerke wurden angelassen.

»Salaam, Hoheit«, sagte Armstrong. »Ich hoffe, es wird Ihnen bald wieder besser gehen.«

»Sie sollten unser Land schnellstens verlassen«, erwiderte der Khan und wandte sich an seinen Fahrer. »In den Palast zurück!«

Armstrong schaute dem davonrasenden Wagen nach und drehte sich um. Er sah Haschemis sonderbares Lächeln, die halbversteckte Pistole in seiner Hand, und einen Augenblick lang dachte er, der Mann würde ihn erschießen. »Beeil dich, Robert!«

Er lief die Gangway hinauf. Der Copilot hatte bereits den Einholknopf gedrückt. Die Stufen hohen sich. Die Tür ging zu, und das Flugzeug begann zu rollen. »Es ist kalt draußen«, sagte Armstrong.

Haschemi kümmerte sich nicht um ihn. »Starten Sie, so schnell Sie können, Captain«, befahl er; er stellte sich hinter die Piloten.

»Ich muß die Maschine wenden, Sir. Mit dem Wind von hinten wage ich nicht abzuheben.«

Haschemi fluchte und spähte durch die Cockpitscheiben. Das andere Ende der Startbahn schien eine Million Meter entfernt zu sein. Der Wind fegte den Schnee von der Piste. Um das richtige Ende der Rollbahn zu erreichen, hätten sie nahe an den Parkplatz des Terminals heranrollen, ihn überqueren und über die gegenüberliegende Rampe zum Startpunkt fahren müssen. Er konnte den Rolls sehen, der auf das Abfertigungsgebäude zubrauste. Bewaffnete Männer sammelten sich, um den Wagen zu empfangen. »Rollen Sie auf der Piste zurück, und starten Sie so schnell wie möglich!«

»Ohne Freigabe durch den Tower ist das höchst irregulär«, gab John Hogg zu bedenken.

»Wäre Ihnen eine Kugel im Kopf oder eine Zelle im Gefängnis der SAVAK lieber? Diese Männer wollen uns nichts Gutes. Tun Sie's!«

Hogg konnte die Gewehre sehen. Er drückte auf die Sendetaste. »Echo Tango Laura Laura bittet um Erlaubnis, zurückzurollen«, sagte er, ohne jedoch eine Antwort zu erwarten. Er schwenkte den Jet auf die Rollbahn zurück, rutschte seitlich ab, gab ein wenig mehr Gas und blieb auf der linken Seite parallel zu den Landespuren. »Tower. Hier Echo Tango Laura Laura. Wir rollen zurück.« Gordon Jones, der Copilot, überprüfte die Instrumente und bereitete alles für den Heimflug nach Teheran vor. Er beobachtete den Rolls, der drüben beim Terminal stehenblieb und von Bewaffneten umringt wurde.

»So schnell Sie können«, drängte Haschemi. »Wenden Sie! Die Rollbahn ist genügend breit.«

»Sobald ich kann, Sir«, antwortete Hogg höflich. Verdammter Trottel, dachte er, Oberst, oder was du auch bist. Auch ich wäre gern schon längst in der Luft. Er hatte die Feindseligkeit der Männer im Wagen gespürt und schon in Teheran McIvers Nervosität. Aber der Tower in Teheran hatte ihm unverzüglich Starterlaubnis erteilt, ihm sogar Priorität zuerkannt, so als hätte er Khomeini persönlich an Bord gehabt. Was wir nicht alles für England tun! Über seine Hände und Füße spürte er den Schnee und das Eis und die Glätte des Bodens. Er nahm ein wenig Gas weg. »Vielleicht würden Sie sich anschnallen, Sir.«

»Sieh mal!« sagte der Copilot, während sie zurückrollten. Etwa einen Kilometer vor ihnen durchquerte ein Jet-Helikopter den Luftraum. »Eine 212, nicht wahr?«

»Ja. Sieht aber nicht aus, als ob sie hier landen wollte«, sagte Hogg, während seine Augen den Horizont absuchten. Am Terminal hielt nun ein anderer Wagen neben den Männern, die den Rolls umringten. Vorne rechts funkelte ein Licht; die 212 war hinter einem Hügel verschwunden; rechts erhob sich ein Schwarm Vögel; alle Zeiger standen sicher im grünen Bereich; ein Mann auf dem Dach des Abfertigungsgebäudes; Kraftstoff in Ordnung; der Schnee nicht zu tief, darunter eine Eisschicht. Achtung auf die Verwehung vor uns! Jetzt ein bißchen nach rechts; Wind immer noch im Rücken; im Norden bauen sich Gewitterwolken auf; linkes Triebwerk eine Spur zurückschalten. Hogg korrigierte das ruckende Schwingen; auf der eisigen Oberfläche reagierte die Maschine besonders empfindlich. »Vielleicht sollten Sie jetzt Platz nehmen, Herr Oberst«, sagte er.

»Steigen Sie auf, so schnell Sie können!« Haschemi trat zurück. Er sah, daß Armstrong durch die Fenster den Terminal beobachtete. »Was machen sie dort, Robert? Gibt's Probleme?« fragte er.

»Noch nicht. Meinen Glückwunsch! Eine Glanzleistung, wie du mit Abdullah umgesprungen bist.«

»Wenn er liefert.« jetzt, wo alles vorüber war, hatte Haschemi ein flaues Gefühl im Magen. Diesmal war ich dem Tod zu nahe, dachte er. Er nahm die Pistole aus seiner Seitentasche, sicherte sie und schob sie in sein Schulterhalfter. Seine Finger berührten den englischen Paß in seiner Innentasche. Vielleicht werde ich ihn doch nicht brauchen, dachte er. Gut. Es ginge mir sehr gegen den Strich, mir eine solche Schmach antun zu müssen. Er zündete sich eine Zigarette an. »Glaubst du, er wird uns noch bis Samstag erhalten bleiben: Ich dachte schon, er bekommt einen Schlaganfall.«

»Er ist schon seit Jahren so fett und schmierig.«

Armstrong hörte den brutalen Unterton heraus. Haschemi Fazir war immer gefährlich, immer nervös und gereizt; daß er die meisten Landsleute verachtete, tat seinem fanatischen Patriotismus keinen Abbruch. »Sie haben ihn völlig richtig behandelt«, sagte er und blickte wieder aus dem Fenster. Der Rolls, der andere Wagen und die Männer, die sie umstanden, waren schon ziemlich weit weg und von den Schneewehen halb verdeckt, aber er konnte viele Schußwaffen sehen, und von Zeit zu Zeit deutete man mit der ausgestreckten Hand nach ihnen. Um Himmels willen, macht schon, dachte er, hebt endlich ab!

»Herr Oberst«, kam Hoggs Stimme über den Lautsprecher. »Würden Sie bitte nach vorn kommen?«

Haschemi eilte zum Cockpit.

»Da, Sir«, sagte Hogg und zeigte nach rechts, über das Ende der Rollbahn hinaus auf eine Gruppe von Kiefern. »Was halten Sie davon?« Der kleine Lichtpunkt begann von neuem zu blinken. »Es ist ein SOS.«

»Robert«, rief Haschemi, »schau doch mal nach rechts vorn!«

Die vier Männer konzentrierten sich. Das Licht wiederholte das SOS-Zeichen. »Da ist kein Irrtum möglich«, meinte Hogg. »Ich könnte auf das Signal antworten.« Er deutete auf die Hochleistungssignalleuchte, die in einer Notsituation, wenn die Funkgeräte ausfielen, grünes oder rotes Licht gab.

»Was hältst du davon, Robert?« rief Haschemi in die Kabine zurück.

Die 125 brauste die Rollbahn hinunter auf das Licht zu. Die Männer im Flugzeug warteten und sahen dann drei kleine Gestalten unter den Bäumen hervortreten: zwei Männer und eine Frau im Tschador. Und sie sahen ihre Waffen.

»Das ist eine Falle«, entfuhr es Haschemi sogleich. »Machen Sie kehrt!«

»Das kann ich nicht«, sagte Hogg. »Ich habe nicht genug Rollbahn.« Sie sahen, wie die drei Menschen ihre Pistolen schwenkten.

»Schauen wir, daß wir hier rauskommen!« rief Armstrong.

»So schnell ich kann«, gab Hogg zurück. »Herr Oberst, gehen Sie bitte wieder auf Ihren Platz. Es könnte ein bißchen unruhig werden.« Er verbannte die Passagiere aus seinen Gedanken. »Gordon, behalte die Leute da draußen, aber auch den Terminal im Auge.«

»Wird gemacht.«

Der Captain blickte sich kurz um, um das Ende der Piste zu checken, und kam zu dem Schluß, daß sie noch nicht weit genug waren; dennoch nahm er Kraft weg und berührte die Bremsen. Als die Maschine anfing zu rutschen, löste er die Bremsen wieder; der Wind drehte sich, aber er hielt den Jet so stabil, wie er konnte. Die Gestalten bei den Bäumen waren jetzt größer.

»Scheinen Einheimische zu sein. Zwei automatische Karabiner.«

Gordon Jones warf einen Blick zum Terminal hinüber. »Der Rolls ist weg. Aber über die Rampe kommt ein Wagen auf uns zu.«

Hogg drosselte die Triebwerke. Immer noch war das Tempo zu hoch, um umzukehren. »Scheiße, ich glaube, einer der Einheimischen hat einen Schuß abgegeben«, stieß Jones mit heiserer Stimme hervor.

»Jetzt geht's los!« sagte Hogg ins Mikrophon, bremste, fühlte, wie die Maschine wegrutschte, bekam sie wieder unter Kontrolle und begann die Kehre über die ganze Breite der Rollbahn.

Armstrong und Haschemi in der Kabine klammerten sich grimmig an ihre Sitze und sahen einen der beiden Männer, seinen Karabiner schwenkend, auf sie zulaufen. »Wir geben ein wehrloses Ziel ab«, murmelte Armstrong. Er fühlte, wie der Jet ohne Bodenhaftung in die Kurve schlitterte, und fluchte. Hogg im Cockpit pfiff lautlos. Immer noch seitlich abrutschend, brauste der Jet jetzt über die Landespuren. Hogg wagte es noch nicht, auf die Tube zu drücken, und wartete mit trockenem Mund darauf, daß sich die Maschine schneller in den Wind drehte. Aber das tat sie nicht, sie glitt nur weiter – hohe Wehen zur Seite, nutzlos die Räder, gefährlich das Bremsen, Eis unter dem Schnee.

Unaufhaltsam kamen die Verwehungen der Maschine näher und näher. Er sah die zackigen Eisränder, die ihre Haut auseinanderreißen würden. Er konnte nur abwarten. Da erfaßte ein Windstoß das Leitwerk und drehte den Jet herum, bis er, wenn auch noch rutschend, gegen den Wind flatterte. Langsam brachte Hogg die Triebwerke auf Touren, und er fühlte, wie die Maschine aufhörte zu schlittern. Er schob sofort den Leistungshebel langsam vor, bis er eine Vorwärtsbewegung verspürte. Nun wurde er allmählich schneller, erlangte schließlich volle Kontrolle und schob die Leistungshebel ganz nach vorn. Die 125 schoß dahin. Die Räder verließen den Boden, er betätigte den Fahrgestellhebel, und sie hoben ab.

»Wenn Sie wünschen, können Sie jetzt rauchen«, sagte er lakonisch ins Mikrophon. Er war sehr zufrieden mit sich.

Auf dem Flugfeld, nicht weit von den Kiefern entfernt, hatte Ross aufgehört zu laufen und zu winken. Die Brust tat ihm weh. »Verdammte Schweine«, schrie er dem Flugzeug nach. »Habt ihr keine Augen im Kopf?«

Tief enttäuscht ging er zu den anderen zurück, die am Waldrand gewartet hatten. Niedergeschlagenheit hatte auch sie ergriffen. So nahe war die Rettung gewesen! Mit seinem Feldstecher hatte er den Khan ankommen gesehen, dann an Bord gehen und später Armstrong mit dem Khan die Gangway heruntersteigen. »Laß mich auch sehen, Johnny«, hatte Azadeh besorgt gebeten und das Glas neu eingestellt, um es ihren Augen anzupassen. »Oh, Vater sieht krank aus. Der Arzt hat ihn immer wieder ermahnt, Diät zu halten und das Leben leichter zu nehmen.«

»Es geht ihm ausgezeichnet«, hatte Ross erwidert und sich bemüht, seine Stimme nicht allzu sarkastisch klingen zu lassen. Aber sie hatte es gehört und war errötet. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht … Ich meinte nur …«

»Schon gut«, hatte er gesagt und das Fernglas wieder auf Armstrong gerichtet. Er war überglücklich gewesen, Armstrong vor sich zu haben, und hatte sich sofort einen Plan ausgedacht, um an Bord zu kommen.

Aber nun haben wir es doch nicht geschafft, sagte er sich verbittert, während er durch den Schnee stapfte. Wir sitzen in der Scheiße. Sie müssen doch das SOS gesehen haben, warum zum Teufel haben Sie nicht …

Er hörte Guengs schrilles Warnsignal und wirbelte herum. Ein nur noch 200 Meter entfernter Wagen kam auf sie zu. Er lief zurück und deutete auf den Wald: »Da hinein!«

Schon früher hatte er sich einen Plan ausgedacht: zuerst zum Flugplatz, und wenn das nicht klappte, zu Erikkis Stützpunkt, über sechs Kilometer südöstlich von Täbris. Er warf einen Blick zurück. Der Wagen blieb am Rand der Rollbahn stehen. Männer stiegen aus, wollten ihnen nachsetzen, fanden es aber offenbar zu beschwerlich, die Schneewehen zu überwinden. Sie kletterten wieder in den Wagen und fuhren davon. »Jetzt kriegen sie uns nicht mehr«, sagte Ross. Notgedrungen nahmen sie den kaum ausgetretenen Weg, der tiefer in den Wald führte. Hinter diesem Waldstück lagen vereiste Felder, von denen die meisten entgegen der Landreform des Schahs einigen wenigen Grundbesitzern gehörten. Hinter den Feldern begannen die vorstädtischen Elendsviertel von Täbris. Sie sahen die Minarette der Blauen Moschee und Rauchschwaden, die der Wind vor sich her trieb. »Können wir einen Bogen um die Stadt machen, Azadeh?«

»Ja«, antwortete sie, »aber es ist ziemlich weit.«

Ihre unterschwellige Besorgnis war nicht zu überhören. Bisher war sie schnell gewesen und hatte sich nicht beklagt. Aber sie stellte immer noch eine Gefahr dar. Die Männer trugen Eingeborenengewänder über den Uniformen. Ihre schweren Stiefel würden keinen Anstoß erregen, ebensowenig wie ihre Waffen. Aber eine Frau im Tschador? Er sah sie an, immer noch befremdet von dem häßlichen Aussehen, das der Umhang ihr gab. Sie fühlte seinen Blick und versuchte zu lächeln. Sie verstand, wie der Tschador wirkte, und daß sie eine Last für die beiden Männer war.

»Gehen wir lieber durch die Stadt«, schlug sie vor. »Wir bleiben einfach in den Nebenstraßen. Ich habe etwas Geld hei mir, und wir können uns etwas zu essen kaufen. Johnny, du könntest ein Kaukasier sein, aus Astara zum Beispiel, und ich würde deine Frau spielen. Sie, Gueng, sprechen Nepalesisch oder eine fremde Sprache, Sie sind exotisch und arrogant wie die Turkmenen aus dem Norden – für einen solchen wird man Sie halten. Ich könnte aber auch grüne Bänder kaufen und hezbollahis aus euch machen …«

»Ausgezeichnet, Azadeh! Aber vielleicht sollten wir nicht ständig beieinander bleiben. Gueng, du kannst uns folgen.«

»Auf der Straße gehen iranische Frauen immer hinter ihren Männern. Ich werde zwei Schritte zurückbleiben, Johnny.«

»Das ist ein guter Plan, Memsahib«, erklärte Gueng. »Sehr gut.«

Ihr Lächeln dankte ihm. Bald waren sie in den Gassen und Gäßchen des Elendsviertels. Von Straßenverkäufern kaufte Azadeh Proviant: frisches Brot, Lamm-Kebab, Bohnen, Gemüse-Khoresch mit Reis. Sie setzten sich auf eine Bank, aßen gierig und setzten ihren Weg fort. Keiner achtete auf sie. Als die Muezzins zum Nachmittagsgebet riefen, blieb Azadeh erschrocken stehen. Um sie herum suchten Männer und Frauen nach einem Stück Teppich oder Zeitung oder Karton, um darauf zu knien und zu beten. Ross zögerte, sah aber dann ihren flehenden Blick und tat ebenfalls, als betete er. Entlang der ganzen Straße blieben nur vier oder fünf Personen aufrecht stehen, unter ihnen Gueng, der sich an eine Hausmauer lehnte. Niemand belästigte die Stehenden, denn in Täbris lebten viele Rassen und viele Religionen.

Sie setzten ihren Weg in südöstlicher Richtung fort und befanden sich jetzt wieder in Vorstädten, einem Labyrinth aus Gäßchen und Höfen mit Müllhaufen und räudigen, halbverhungerten Hunden. Bald würden sie die Felder und Obstgärten erreicht haben und anschließend den Wald und die Hauptstraße nach Teheran, die sich zum Paß hinaufwand und sie zum Stützpunkt Täbris 1 führen würde. Was sie dann tun sollten, wußte Ross nicht, aber Azadeh kannte mehrere Höhlen in der Nähe, wo sie sich verstecken konnten, bis ein Hubschrauber landete.

Sie kamen auf einen von Schneehaufen gesäumten Karrenweg, dem sie mit anderen, die sich mühselig dahinschleppten, folgten. Die einen hatten Lastesel am Zügel, die anderen gingen gebeugt unter dem Gewicht ihrer Bürden. Manche verrichteten ihre Notdurft direkt am Pfad – eine Handvoll Schnee mit der linken Hand zur Reinigung, und weiter ging's. Ein buntes Gemisch von Menschen verschiedenster Herkunft und Rassen, die nur ihre Armut und den Stolz gemein hatten.

Der Weg durch die Stadt hatte Azadeh sehr ermüdet. Sie fürchtete die ganze Zeit, einen Fehler zu machen oder entdeckt zu werden. Sie war krank vor Sorge um Erikki, und wußte nicht, wie sie zum Stützpunkt kommen und was sie dort tun sollten. Inscha'Allah, sagte sie sich ein um das andere Mal, Allah wird dich beschützen, dich und ihn und Johnny.

Als sie zu der Stelle kamen, wo der Karrenweg in die Straße nach Teheran einmündete, sahen sie hezbollahis und bewaffnete Männer neben einer primitiven Straßensperre stehen. Die Wachtposten beobachteten die Leute, die vorbeikamen, und ›untersuchten‹ die Fahrzeuge. Es gab keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen.

»Du gehst als erste, Azadeh!« flüsterte Ross. »Warte weiter oben an der Straße auf uns. Wenn man uns aufhält, misch dich nicht ein! Geh weiter Richtung Stützpunkt. Es ist sicherer, wenn wir uns trennen.« Er lächelte. Die Angst ließ ihr Gesicht noch blasser erscheinen. Sie ging weiter und trug dabei seinen Tornister, denn als sie aus der Stadt gekommen waren, hatte sie darauf bestanden: »Schau die anderen Frauen an, Johnny! Wenn ich nichts zu tragen habe, falle ich sofort auf.«

Die zwei Männer warteten, gingen dann an den Straßenrand und urinierten in einen Schneehaufen. Menschen stapften an ihnen vorbei. Einigen fielen sie auf. Manche beschimpften sie als Ungläubige. Der eine oder andere wunderte sich über sie. Ohne es zu wissen, hatten sie ihre Notdurft in Richtung Mekka verrichtet, was ein Moslem nie getan hätte.

»Wenn sie durch ist, gehst du als nächster, Gueng! Ich komme in zehn Minuten nach.«

»Besser, Sie gehen jetzt«, widersprach Gueng. »Ich bin doch Turkmene.«

»Na schön. Aber wenn ich aufgehalten werde, misch dich nicht ein! Schleich dich vorbei und bring sie in Sicherheit! Ich verlasse mich auf dich.«

Der geschmeidige Gurkha grinste. »Lassen Sie sich nicht erwischen, Sahib! Sie haben noch viel zu tun.« Gueng sah an ihm vorbei zu der 100 Meter entfernten Straßensperre hinauf. Dort war gerade Azadeh an der Reihe. Einer der hezbollahis sagte etwas zu ihr, sie wandte den Blick ab und erwiderte etwas, und er ließ sie passieren. »Warten Sie nicht auf der Straße auf mich, Sahib! Vielleicht gehe ich ein Stück zurück und dann quer über die Felder. Machen Sie sich keine Sorgen! Ich finde Sie schon.« Gueng mischte sich unter die Menge, die in die andere Richtung ging. Nach etwa 100 Metern setzte er sich auf eine umgekehrte Kiste und schnürte seinen Stiefel auf, als ob er Schmerzen hätte. Seine Socken waren in Fetzen, aber das störte ihn nicht. Seine Fußsohlen waren hart wie Eisen. Gemächlich schnürte er dann wieder seine Stiefel; es machte ihm Spaß, Turkmene zu sein.

Vor der Straßensperre stellte sich Ross in die Reihe derer, die Täbris verließen. Die Menschen waren gereizt, denn wie immer haßten sie jeden, der ihnen das Recht verwehren wollte, zu gehen, wohin es ihnen paßte. Viele machten aus ihrem Ärger kein Hehl, und da und dort kam es fast zu einer Schlägerei. »Du«, sagte ein hezbollahi zu Ross, »wo sind deine Papiere?«

Zornig spuckte Ross vor ihm aus. »Papiere? Diese linken Hunde haben mein Haus niedergebrannt, haben meine Frau und mein Kind verbrannt. Mir ist nichts geblieben als dieser Karabiner und ein wenig Munition. Es war Allahs Wille – aber warum geht ihr nicht und verbrennt diese Satansbrut und tut das Werk Allahs, statt anständige Leute hier aufzuhalten?«

»Wir sind auch anständig«, gab der Mann erbost zurück. »Wir tun das Werk Allahs. Woher kommst du?«

»Aus Astara. Astara an der Küste. Und du?«

Der nächste in der Reihe und der Mann hinter diesem fingen an zu fluchen und forderten die hezbollahis auf, sich gefälligst zu beeilen und sie nicht in der Kälte warten zu lassen. Ein Polizist kam dahergeschlendert, und Ross beschloß, es zu riskieren. Er stieß einen Fluch aus und drängte sich einfach durch. Ein anderer Mann folgte ihm – und sie hatten die Sperre hinter sich. Der hezbollahi bedachte sie zwar mit einigen Schimpfwörtern, wandte sich jedoch dann anderen zu, die durch die Sperre wollten.

Ross brauchte eine kleine Weile, bis er wieder frei atmen konnte. Er beeilte sich nicht und setzte gemächlich seinen Weg fort. Von Azadeh war nichts zu sehen. Privatwagen und Lastautos kamen vorbei, quälten sich knirschend die Steigung hinauf oder kamen mit zu hohem Tempo herunter, so daß die Menschen von Zeit zu Zeit schimpfend auseinanderstoben. Der Mann, der bei der Straßensperre hinter ihm gestanden hatte, holte ihn ein, ein Mann mittleren Alters mit einem durchfurchten, kraftvollen Gesicht, ärmlich gekleidet, das Gewehr gut gepflegt. »Dieser Hundesohn von einem hezbollahi«, knurrte er. »Sie hatten recht, Agha, die sollen lieber Allahs Werk tun im Auftrag des Imam, nicht des Abdullah Khan.«

Ross war auf der Hut. »In wessen Auftrag?«

»Ich bin aus Astara, und an Ihrem Akzent habe ich gemerkt, daß Sie nicht aus Astara sind, Agha. Männer aus Astara pissen nicht in Richtung Mekka – in Astara sind wir alle gute Moslems. So, wie Sie aussehen, müssen Sie der Saboteur sein, auf den der Khan einen Preis ausgesetzt hat.« Der Mann sprach mit ruhiger, seltsam freundlicher Stimme; das alte Enfield-Gewehr hing über seiner Schulter.

Ross sagte nichts, knurrte nur und ging weiter, ohne sein Tempo zu verändern.

»Ja, der Khan hat einen hohen Preis auf Ihren Kopf ausgesetzt, viele Pferde, eine Herde Schafe, zehn Kamele oder noch mehr. Die Prämie ist noch höher, wenn Sie ihm lebend gebracht werden. Aber wo ist diese Azadeh, seine Tochter, die Sie und noch ein anderer Mann entführt haben sollen?«

Ross starrte ihn mit offenem Mund an, und der Mann kicherte. »Sie müssen schon sehr müde sein, daß Sie sich so schnell verraten haben.« Unvermittelt verhärteten sich seine Züge. Er griff in die Tasche seiner alten Jacke, zog einen Revolver heraus und stieß ihn Ross in die Seite. »Gehen Sie jetzt einen Schritt vor mir, laufen Sie nicht und tun Sie nichts, oder ich schieße Ihnen in den Rücken! Also wo ist die Frau? Auch für sie ist eine Belohnung ausgesetzt.«

In diesem Augenblick kam ein Lastwagen vor ihnen das Gefälle heruntergesaust, geriet schwankend auf die Gegenfahrbahn und schoß laut hupend auf sie zu. Die Menschen stoben auseinander. Ross reagierte schneller. Er wich nach rechts aus, stieß aber den Mann mit der Schulter so kräftig in die Seite, daß dieser vor dem heranrasenden Vehikel lang hinschlug. Die Vorderräder des Wagens überrollten ihn, dann auch die Hinterräder. Der Wagen kam erst nach 30 Metern zum Stehen.

»Allah schütze uns! Haben Sie das gesehen?« fragte einer. »Er ist in den Lastwagen hineingelaufen!«

Ross zerrte die Leiche von der Straße weg. Der Revolver war im Schnee verschwunden.

»Ist dieser arme Mensch Ihr Vater, Agha?« erkundigte sich eine Frau.

»Nein … nein«, antwortete Ross, der jetzt fast in Panik geriet. »Ich … er ist ein Fremder. Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Beim Propheten, wie unvorsichtig manche Leute doch sind! Als hätten sie keine Augen. Ist er tot?« fragte der Lastwagenfahrer, der jetzt die Straße heraufkam. Er war ein bärtiger dunkelhäutiger Mann. »Allah ist mein Zeuge, daß er mir in den Wagen gelaufen ist. Das haben alle gesehen. Sie«, wandte er sich an Ross, »Sie gingen doch neben ihm, Sie müssen es gesehen haben.«

»Ja, ja, es ist so, wie Sie sagen. Ich ging neben ihm.«

»Wie es Allah gefällt.« Erleichtert ging der Fahrer zu seinem Lastwagen zurück. Alles war in bester Ordnung. »Seine Exzellenz hat es gesehen. Inscha'Allah.«

Ross drängte sich durch diejenigen, die stehengeblieben waren, und setzte seinen Weg fort: nicht zu schnell, nicht zu langsam. Nachdem er eine Biegung hinter sich hatte, beschleunigte er seine Schritte, während er sich die Frage vorlegte, ob es richtig gewesen war, so schnell zu reagieren, fast ohne nachzudenken. Aber der Mann hätte sie verraten! Weg mit ihm, Karma ist Karma. Wieder eine Biegung, und von Azadeh immer noch nichts zu sehen. Die Straße stieg steil an. Ein paar Bruchbuden standen am Waldrand, wildernde Hunde trieben sich zwischen ihnen herum. Die wenigen, die ihm nahekamen, verscheuchte er; viele hatten die Tollwut. Wieder eine Biegung, und da sah er Azadeh am Straßenrand sitzen und sich inmitten eines Dutzends anderer ausruhen. Sie sah ihn sofort, mahnte ihn mit einer leichten Kopfbewegung zur Vorsicht und ging dann weiter die Straße hinauf. Er blieb 20 Meter hinter ihr. Unten wurde geschossen. Wie alle anderen blieben auch sie stehen und blickten zurück. Sie konnten nichts sehen. Die Straßensperre lag bereits weit hinter ihnen, fast einen Kilometer. Nach einer kleinen Weile hörte das Schießen auf. Sie gingen weiter.

Hin und wieder wurden sie von einem Bus überholt, aber jeder war überfüllt, und keiner blieb stehen. Unter diesen Umständen mußte man auch an einer richtigen Haltestelle ein oder zwei Tage warten, bevor es irgendwo einen Platz gab. Nur Lastwagen blieben manchmal stehen, gegen Bezahlung.

Ein solcher tuckerte an ihnen vorbei und verlangsamte das Tempo, als der Fahrer mit Azadeh auf gleicher Höhe war. »Warum denn zu Fuß gehen, wenn die, die müde sind, mit Allahs und Cyrus' Hilfe fahren können?« rief der Fahrer mit einem lüsternen Seitenblick nach ihr und stieß seinen Gefährten in die Rippen. Sie hatten schon seit einiger Zeit das Wiegen ihrer Hüften, das auch der Tschador nicht verbergen konnte, beobachtet. »Warum sollte eine Blume Allahs zu Fuß gehen, wenn sie es auf einem Lastwagen oder auf dem Teppich eines Mannes bequem haben könnte?«

Sie sah erbost zu ihm hoch, stieß einen deftigen Fluch aus und rief zu Ross zurück: »Hör mal, Mann, dieser aussätzige Hundesohn hat es gewagt, mich zu beleidigen, und hat unzüchtige Reden gegen Allahs Gesetze geführt …« Ross stand schon neben ihr, und der Fahrer blickte in den Lauf seines Karabiners.

»Exzellenz … ich habe nur gefragt, ob Sie … ob Sie beide mitfahren wollen …«, stieß der Fahrer angstvoll hervor. »Hinten ist Platz … wenn Seine Exzellenz mir die Ehre geben …«

Der offene Lastwagen war zur Hälfte mit Alteisen beladen, aber das war immer noch besser, als zu Fuß zu gehen. »Und wohin geht die Fahrt?«

»Nach Qazvin, Exzellenz. Würden Sie uns die Ehre erweisen?«

Der Lastwagen blieb zwar nicht stehen, aber für Ross war es leicht, Azadeh über die Ladeklappe hinaufzuheben. Ihre Beine zitterten, sie war durchfroren und sehr nervös. Er nahm sie in seine Arme und hielt sie kurz fest.

»O Johnny, wenn du nicht gewesen wärst.« Sie spürte seine Wärme.

»Ist ja schon gut.« Qazvin? Das ist doch auf dem Weg nach Teheran? Natürlich!

»Nach zwei oder drei Kilometern kommt die Abzweigung zum Stützpunkt«, sagte sie und erschauerte vor Kälte. »Rechts.«

Ach ja, der Stützpunkt. Und Erikki. Noch wichtiger: Was ist mit Gueng? Vergiß diese Frau und denk mal scharf nach. Was willst du tun?

»Wie ist denn das Terrain da oben?« fragte er sie.

»Es ist ziemlich eben. Jetzt kommt bald unser Dorf, Abu-Mard, und dann wird das Gelände flach, eine Art bewaldetes Plateau. Von dort steigt die Hauptstraße weiter zum Paß hinauf.«

»Wir könnten also nach dem Dorf absteigen und um den Wald herumgehen, um umgesehen zum Stützpunkt zu kommen. Wäre das möglich?«

»Ja. Ich kenne die Gegend gut. Ich … ich habe in der Dorfschule unterrichtet und bin oft mit den Kindern spazierengegangen. Ich kenne die Wege.« Wieder zitterte sie.

»Wenn du dich duckst, bist du vor dem Wind geschützt. Dann wird dir gleich wärmer sein.«

Der alte Laster kämpfte sich die Steigung hinauf. Ross hielt Azadeh im Arm, und allmählich hörte sie auf zu zittern. Über der Heckklappe sah er einen Personenwagen näherkommen, der sie schnell überholte, gefolgt von einem Halbkettenfahrzeug in Tarnbemalung. Der Fahrer des Personenwagens hielt die Hand auf der Hupe. Der Laster hatte jedoch keinen Platz, um nach rechts auszuweichen, und so schwenkte der Personenwagen auf die Gegenfahrbahn und brauste weiter. Hoffentlich brecht ihr euch alle Knochen! dachte Ross, verärgert über den Lärm und die unglaubliche Dummheit. Da sah er, daß der Personenwagen voll bewaffneter Männer war. Auch auf der Ladefläche des Halbkettenfahrzeugs standen Bewaffnete und hielten sich an eisernen Pfosten fest. Während letzteres vorbeisauste, bekam er flüchtig einen menschlichen Körper zu sehen, der zwischen den Beinen der Männer lag. Zuerst dachte er, es wäre der Alte, den er unter den Lastwagen gestoßen hatte. Doch der war es nicht. Es war Gueng. Die Reste der Uniform waren nicht zu verkennen und auch nicht das kookri, das einer der Bewaffneten im Gürtel stecken hatte.

»Was ist los, Johnny?«

Er kauerte neben ihr, fühlte weder sie noch sonst etwas, nur daß er jetzt auch den zweiten seiner Gefährten verloren hatte. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Was ist denn, Johnny? Was hast du?«

»Nichts. Es ist nur der Wind.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen, kniete nieder und blickte geradeaus. Die Straße schlängelte sich in immer neuen Kurven den Berg hinauf, verschwand und erschien dann wieder. Jetzt konnte er schon das Dorf ausmachen. Dahinter wurde die Gegend flach, wie sie gesagt hatte. Der Personenwagen und das Halbkettenfahrzeug brausten durch das Dorf. Ross nahm sein Fernglas aus der Tasche und richtete es auf den Personenwagen. Dort, wo die Straße eben wurde, bog er rechts in eine Seitenstraße ab und verschwand. Das Halbkettenfahrzeug blieb stehen; ein Dutzend Männer sprang herunter, verteilte sich über die Straße und bildete eine Postenkette. Dann bog auch das Kettenfahrzeug nach rechts ab.

Der Laster verlangsamte die Fahrt, als der Fahrer geräuschvoll den ersten Gang einlegte. Vor ihnen lag ein kurzes, aber steiles Straßenstück, in der Nähe verlief ein Pfad; Fußgänger waren keine zu sehen. »Wo führt dieser Weg hin, Azadeh?«

Auch sie kniete nieder und folgte seinem Blick. »Nach Abu-Hard, unserem Dorf. Er führt durch den Wald und endet dort.«

»Mach dich zum Abspringen bereit! Vor uns ist wieder eine Straßensperre.« Im richtigen Augenblick schwang er sich über die Ladeklappe und half Azadeh herunter. Der Lastwagen fuhr weiter, und sein Fahrer sah sich nicht einmal um. Bald war er weit fort. Hand in Hand flohen sie in den Wald.