33

Teheran: 16 Uhr 17. Jean-Luc Sessone betätigte den Türklopfer an McIvers Wohnung. Neben ihm stand Sayada Bertolin. Da sie jetzt von der Straße weg und allein waren, küßte er sie und umfaßte dabei durch den Mantel ihre Brüste. »Ich verspreche dir, es wird nicht lange dauern, und dann marsch zurück ins Bett!«

Sie lachte. »Schön.«

»Hast du im Französischen Club einen Tisch bestellt?«

»Selbstverständlich. Wir haben reichlich Zeit.«

»Ja, chérie Er trug einen eleganten schweren Regenmantel über seiner Fliegeruniform. Es war kein angenehmer Flug gewesen vom Zagros-Gebirge herauf; niemand hatte auf seine wiederholten Funksprüche geantwortet, obwohl der Äther von aufgeregtem Persisch schwirrte, das er weder sprach noch verstand.

Er hatte die vorschriftsmäßige Höhe eingehalten und den Internationalen Flughafen von Teheran angeflogen. Immer noch ohne Antwort auf seine Funksprüche. Der Windsack war voll und ließ einen starken Seitenwind erkennen. Vier Jumbos standen auf dem Vorfeld nahe dem Abfertigungsgebäude, dazu einige andere Jets; ein Flugzeug war nur noch ein ausgebranntes Wrack. Männer, Frauen und Kinder drängten sich um einzelne Maschinen. Die Gangways zu den Kabinen waren gefährlich überfüllt, und man konnte weder Polizei noch Bodenpersonal sehen. Die Zufahrtsstraßen waren vollgestopft mit Automobilen. Die Wagen glichen einer kompakten Masse, und doch versuchten immer neue, sich hineinzuzwängen. Als er weiterflog, sah er, daß der Stau meilenweit reichte. Aber auch Hunderte von Fußgängern steuerten auf den Flughafen zu.

Jean-Luc dankte Gott, daß er fliegen konnte und nicht gehen mußte, und landete ohne Schwierigkeiten auf dem nahegelegenen Flugplatz des Militärstützpunktes Galeg Morghi. Er brachte die 206 im S-G-Hangar unter und organisierte sich mit Hilfe eines Zehn-Dollar-Scheins eine Fahrt in die Stadt mit Zwischenstop im Büro Schlumberger, um den Rückflug ins Zagros-Gebirge zu fixieren. Dann zu Sayada in die Wohnung. Sie war zu Hause gewesen. Wie immer nach so langer Trennung war die erste Umarmung ungeduldig, fast grob, selbstsüchtig und gierig gewesen.

Ein Jahr, zwei Monate und drei Tage war es her, daß er Sayada bei einer Weihnachtsfeier in Teheran kennengelernt hatte. Er erinnerte sich noch genau an den Abend. Sie war inmitten der vielen Menschen allein an einem Tisch gesessen, hatte an ihrem Drink genippt und ein fast durchsichtiges weißes Kleid getragen.

»Vous parlez français, Madame?« fragte er, von ihrer Schönheit fasziniert. »Tut mir leid, Monsieur, nur ein paar Worte. Ich ziehe Englisch vor.«

»Also dann auf Englisch: Ich bin überglücklich, Sie kennenzulernen, aber ich habe ein Problem.«

»Und welches?«

»Ich möchte sofort mit Ihnen schlafen. Sie sind ein fleischgewordener Traum …« Auf Französisch würde es besser klingen, dachte er, aber was soll man machen. »Ich habe schon immer nach Ihnen gesucht. Ich muß mit Ihnen schlafen. Sie sind so begehrenswert.«

»Aber … aber mein Mann sitzt dort drüben. Ich bin verheiratet.«

»Das ist ein einschränkender Umstand, aber kein Hindernis.«

Sie lachte, und er wußte, daß sie ihm gehörte. Nur noch eine Kleinigkeit fehlte, und alles war perfekt. »Können Sie kochen?«

»Ja«, erwiderte sie mit so viel Selbstvertrauen, daß er wußte, sie war auch im Bett phantastisch. Was ihr an Erfahrung fehlte, würde er sie lehren. Welches Glück sie doch hatte, mir zu begegnen, dachte er jetzt und klopfte noch einmal an McIvers Tür.

Die Monate waren verflossen. Ihr Mann kam nur selten nach Teheran. Er war ein libanesischer Banker in Beirut, von französischer Abkunft. »Und daher zivilisiert«, hatte Jean-Luc mit totaler Überzeugung bemerkt. »Natürlich würde er unsere Liaison billigen, sollte er je davon erfahren. Im Vergleich zu dir ist er ziemlich alt. Bestimmt hätte er nichts dagegen einzuwenden.«

»Da bin ich nicht so sicher, chéri, er ist erst 50, und du bist …«

»Phantastisch – so wie du.« Nie zuvor hatte er eine solche Haut, solch seidiges Haar und eine solche Leidenschaft erlebt. »Mein Gott«, seufzte er eines Nachts, »in deinen Armen könnte ich sterben.« Das war im vergangenen Herbst während eines Urlaubs in Istanbul gewesen, und die unglaubliche Sinnlichkeit dieser Stadt hatte sie bezaubert.

Für sie war die Affäre aufregend, aber nicht so einmalig, um nicht weitere Affären zuzulassen. Noch am Abend nach der Weihnachtsfeier hatte sie mit ihrem Mann über Jean-Luc gesprochen.

»Aha.« Er schmunzelte. »Darum also wolltest du, daß ich ihn kennenlerne.«

»Ja. Ich fand ihn interessant – obwohl er Franzose ist und wie viele Franzosen völlig egozentrisch. Aber er hat mich erregt, ja, das hat er.«

»Na ja, du wirst zwei Jahre in Teheran bleiben, und ich kann immer nur für ein paar Tage im Monat kommen – mehr wäre zu gefährlich. Es wäre ja ein Jammer, wenn du jede Nacht allein verbringen müßtest. Stimmt's?«

»Ich habe also deine Erlaubnis?«

»Wo ist seine Frau?«

»In Frankreich. Er ist zwei Monate im Iran, dann einen Monat bei ihr.«

»Vielleicht ist diese Liaison eine sehr gute Idee: gut für deine Seele, gut für deine Gesundheit und gut für unsere Arbeit. Und was noch wichtiger ist: Sie würde die Aufmerksamkeit von uns ablenken.«

»Ja, das dachte ich auch. Und er bringt viele Vorteile. Er ist zum Beispiel Mitglied im Französischen Club.«

»Ah! Dann bin ich einverstanden, Sayada. Erzähl ihm, ich sei ein Bankier französischer Abkunft, was ja zum Teil sogar stimmt – hat mein Ururgroßvater nicht als Fußsoldat im Heer Napoleons gekämpft? Sag deinem Franzosen, wir seien seit vielen Generationen, nicht erst seit ein paar Jahren Libanesen.«

»Du bist klug wie immer.«

»Sieh zu, daß er dich als Mitglied im Französischen Club einschreiben läßt. Das wäre perfekt. Irgendwie muß diese Entente zwischen Israel und dem Iran zerschlagen, irgendwie müssen dem Schah Zügel angelegt werden. Wir müssen Israel endlich den Zugang zum iranischen Öl sperren, oder dieser Erzschurke Begin wird versucht sein, im Libanon einzumarschieren, um unsere Kämpfer zu vertreiben. Mit iranischem Öl wird es ihm gelingen. Ich bin langsam des ewigen Wanderns müde.«

»Ja, ja, ich stimme dir zu.«

Sayada war sehr stolz. Sie hatten in diesem Jahr so viel erreicht! Unglaublich viel! Nächste Woche würde Yasir Arafat zu einem triumphalen Empfang nach Teheran kommen: Khomeinis Dank für seine Hilfe bei der Revolution. Die Ölexporte nach Israel waren gesperrt. Khomeini, der fanatische Feind Israels, hatte die Macht übernommen, und der Freund Israels, der Schah, war mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt worden. Sie hatten unfaßbare Fortschritte erzielt, seit sie Jean-Luc kennengelernt hatte. Und sie war sich bewußt, daß sie ihrem Mann, der in der PLO einen hohen Rang einnahm, dabei geholfen hatte. Als Sonderkurier hatte er Botschaften und Kassetten von und nach Istanbul gebracht, der Französische Club in Teheran war eine beliebte Drehscheibe für seine Agententätigkeit, und wie vieler Intrigen hatte es bedurft, die Iraker zu bewegen, Khomeini nach dem sicheren Zufluchtsort in Frankreich ausreisen zu lassen! O ja, dachte sie zufrieden, Jean-Lucs Freunde und Bekannte waren sehr nützlich gewesen. Bald wird der Tag kommen, an dem wir nach Gaza zurückkehren und unsere Häuser, unsere Länder, unsere Geschäfte und unsere Weinberge wieder in Besitz nehmen können …

McIvers Tür ging auf. Es war Charlie Pettikin. »Du lieber Himmel, Jean-Luc! Wie kommst du denn hierher? Hallo, Sayada! Sie sind noch schöner als sonst, kommen Sie rein!« Er schüttelte Jean-Luc die Hand und gab ihr einen freundschaftlichen Kuß auf beide Wangen.

Ihr langer, dicker Mantel verhüllte ihre gute Figur zum großen Teil. Sie kannte die Gefahren in Teheran und kleidete sich entsprechend. »Das erspart mir eine Menge Belästigungen, Jean-Luc. Ich stimme dir zu, es ist dumm und antiquiert, aber ich möchte nicht angespuckt werden oder zusehen müssen, wie sich so ein Dreckskerl vor mir einen runterholt. Wir sind hier nicht in Frankreich. Ich gebe zu, es ist unglaublich, daß ich, um sicher zu sein, in Teheran jetzt eine Art Tschador tragen muß. Du kannst sagen, was du willst, chéri, das alte Teheran ist tot …«

Irgendwo ist es schade, dachte sie, während sie die Wohnung betrat. Mir tun die Leute hier leid, besonders die Frauen. Warum sind die Moslems, vor allem die Schiiten, so engstirnig? Warum lassen sie nicht zu, daß sich ihre Frauen modern kleiden? Sind sie solche Sexmuffel? Oder fürchten sie, als solche bloßgestellt zu werden? Warum sind sie nicht aufgeschlossen wie die Palästinenser oder die Ägypter oder die Pakistani und so viele andere? Sind sie impotent? Mich wird jedenfalls niemand davon abhalten, am Protestmarsch der Frauen teilzunehmen. Wie kann Khomeini es wagen, uns Frauen, die wir für ihn auf die Barrikaden gestiegen sind, so in den Rücken zu fallen?

Es war kalt in der Wohnung, und sie behielt den Mantel an. Sie knöpfte ihn nur auf, um es sich bequemer zu machen, und setzte sich auf eines der Sofas. Sie war schon oft hier gewesen und fand die Wohnung düster und ungemütlich, obwohl sie Genny gut leiden konnte. »Wo ist Genny?«

»Sie ist heute morgen mit der 125 nach Al Schargas geflogen.«

»Dann ist auch Mac fort?« erkundigte sich Jean-Luc.

»Nein, nur sie.«

»Das glaube ich nicht!« entfuhr es Jean-Luc. »Sie hat geschworen, sie würde ohne Duncan nie das Land verlassen.«

Pettikin lachte. »Ich konnte es auch nicht glauben, aber sie ging an Bord, ohne einen Mucks von sich zu geben«, sagte er und dachte: Ich werde noch Gelegenheit haben, Jean-Luc den wahren Grund zu sagen, warum sie es getan hat.

»War es schlimm hier?«

»Ja, und es wird immer schlimmer. Hinrichtungen ohne Ende.« Pettikin hielt es für besser, in Gegenwart von Sayada die von Scharazads Vater nicht zu erwähnen. »Kann ich euch Tee anbieten? Ich habe gerade welchen gemacht. Habt ihr schon gehört, wie es heute im Evin-Gefängnis zugegangen ist?«

»Was war denn?«

»Eine Menschenmenge hat das Gefängnis gestürmt«, berichtete Pettikin, während er in die Küche ging, um noch ein paar Tassen zu holen. »Sie haben alle Gefangenen freigelassen, ein paar SAVAKs und Polizeibeamte aufgeknüpft, und jetzt heißt es, die hezbollahis haben dort Sondergerichte eingesetzt. Sie füllen die Zellen eilig mit allen möglichen Leuten und leeren sie ebenso schnell wieder – mit Hilfe von Exekutionen.«

Sayada hätte gern gesagt, daß das Gefängnis befreit worden ist, und daß die Feinde der Revolution, die Feinde Palästinas, ihrer gerechten Strafe zugeführt worden sind. Aber sie hielt den Mund und hörte aufmerksam zu, als Pettikin weitererzählte: »Mac fuhr schon früh mit Genny zum Flughafen und dann ins Ministerium. Er muß bald wieder da sein. Wie schaut es denn auf dem Flughafen aus, Jean-Luc?«

»Kilometerlanger Stau.«

»Der Alte hat die 125 für ein paar Wochen in Al Schargas stationiert, um unsere Leute auszufliegen und – wenn es nötig werden sollte –, frische Mannschaften hereinzubringen.«

»Gute Idee. Scot Gavallan ist schon mehr als urlaubsreif, und das gilt auch für einige unserer Mechaniker. Bekommt die 125 Erlaubnis für eine Zwischenlandung in Schiras?«

»Wir versuchen es nächste Woche. Khomeini und Bazargan wollen die Ölproduktion wieder auf Touren bringen; wir nehmen also an, daß sie zu Entgegenkommen bereit sind.«

»Dürft ihr denn frische Crews einfliegen, Charlie?« erkundigte sich Sayada und fragte sich, ob es einer britischen 125 gestattet sein sollte, sich so frei zu bewegen. Diese verdammten Engländer, Intriganten alle miteinander!

»So ist es geplant, Sayada.« Pettikin goß kochendes Wasser in die Teekanne nach und konnte nicht sehen, daß Jean-Luc eine Grimasse zog. »Die Britische Botschaft hat uns ziemlich dringend empfohlen, alles entbehrliche Personal zu evakuieren. Wir haben einige nicht benötigte Arbeitskräfte ausgeflogen, und Genny, und dann ist auch noch John Hogg nach Kowiss gestartet, um Manuela Starke abzuholen.«

»Manuela ist in Kowiss?« Sayada war ebenso überrascht wie Jean-Luc.

Pettikin erzählte ihm, wie sie angekommen war und McIver sie hinuntergeschickt hatte. »Es ist soviel los, man verliert den Überblick. Wie sieht es denn auf Zagros 3 aus? Ihr bleibt doch zum Abendessen? Heute koche ich.«

Jean-Luc verbarg sein Entsetzen. »Tut mir leid, mon vieux, heute abend geht es nicht. Auf Zagros ist alles in Ordnung, wie immer; schließlich sind dort die Franzosen am Zug. Ich bin hier, um einen Mann von Schlumberger zu holen. Morgen bei Tagesanbruch fliege ich los, ich muß ihn in zwei Tagen wieder heimbringen. Übrigens, Charlie: Wo ist denn Tom Lochart? Wann kommt er wieder nach Zagros?«

Pettikins Magen krampfte sich zusammen. Seitdem Rudi Lutz sie vom Abschuß der EP-HBC unterrichtet und ihnen mitgeteilt hatte, daß Tom Lochart ›vom Urlaub zurück‹ sei, fehlten weitere Hinweise. Lochart, so hatte es geheißen, sei nach Teheran unterwegs. Es habe noch keine offizielle Untersuchung der Kaperung gegeben. Wenn Tom nur wieder da wäre, dachte Pettikin. Säße Sayada nicht hier auf dem Sofa, ich würde Jean-Luc alles erzählen, er ist ja enger mit Tom befreundet als ich, aber in Gegenwart von Sayada … Sie gehört schließlich nicht zur Familie, sie arbeitet für die Kuwaiter, und die Geschichte mit der HBC könnte auch als Verrat ausgelegt werden.

Zerstreut goß er den Tee ein. »Tom hat getan, was er tun mußte«, antwortete er vorsichtig. »Vorgestern ist er auf dem Landweg von Bandar-e Delam aus aufgebrochen. Weiß der Himmel, wie lange er brauchen wird, er sollte schon gestern abend in Teheran eingetroffen sein. Hoffen wir, daß er heute kommt.«

»Das wäre wunderbar«, sagte Jean-Luc. »Dann könnte nämlich er mit dem Techniker von Schlumberger nach Zagros zurückfliegen, und ich würde mir ein paar Tage Urlaub gönnen.«

»Du hast doch gerade Urlaub gehabt! Und du hast das Kommando.«

»Na, wenigstens könnte er mich begleiten und den Stützpunkt übernehmen. Dann käme ich am Sonntag zurück.« Er strahlte Sayada an. »Voilà, alles ist abgemacht.« Zerstreut nahm er einen Schluck Tee und hätte sich um ein Haar verschluckt. »Mon Dieu, Charlie, ich liebe dich wie einen Bruder, aber das ist merde

Sayada lachte, und Pettikin beneidete Sessone. Nimm dich zusammen, Charlie, sagte er sich. Du könntest dich lächerlich machen. Sie ist 29, du bist 57, und du hast nur hin und wieder belangloses Zeug mit ihr geplaudert. Ja, das ist richtig, aber sie erregt dich mehr, als dich seit Jahren eine Frau erregt hat, und ich kann Tom Lochart gut verstehen, der ganz verrückt nach seiner Scharazad ist.

Der Warnsummer des Hochfrequenz-Sende- und -Empfangsgerätes auf der Anrichte ertönte. Pettikin stand auf und stellte den Apparat lauter. »Zentrale Teheran. Sprechen Sie!«

»Hier spricht Captain Ayre in Kowiss. Ich habe eine Mitteilung für Captain McIver. Dringend.«

»Hier spricht Captain Pettikin. Captain McIver ist im Augenblick nicht da. Kann ich Ihnen helfen?«

»Bitte warten Sie!«

»Was hat Freddy denn nur?« brummte Jean-Luc. »Captain Ayre und Captain Pettikin?«

»Das ist nur ein Code«, murmelte Pettikin zerstreut, während er sich auf das Gerät konzentrierte, und Sayada horchte auf. »Es hat sich einfach so entwickelt und bedeutet, daß ein Fremder anwesend ist und mithört. Wenn man mit der gleichen Förmlichkeit antwortet, heißt das, man hat begriffen.«

»Wirklich sehr clever«, sagte Sayada. »Habt ihr viele solche Codes, Charlie?«

»Nein, aber langsam wünschte ich, wir hätten mehr. Es ist verdammt ungemütlich, wenn man nicht weiß, was wirklich los ist – man sieht einander nicht, es gibt keine Post, und die Telefon- und Telexverbindungen werden ständig von schießwütigen Verrückten gestört. Warum geben sie ihre Waffen nicht einfach ab und lassen uns alle in Frieden leben?«

Das Gerät summte. Sie warteten ungeduldig.

»Hier spricht Captain Ayre in Kowiss … Zunächst übermittle ich eine Botschaft, die ich vor wenigen Minuten von Captain Gavallan aus Zagros 3 erhalten habe.« Jean-Luc richtete sich auf. »Die Botschaft lautet: ›Pan pan pan‹ – das internationale Funknotsignal der Flieger, eine Stufe niedriger als Mayday –, ›mir wurde soeben vom hiesigen Komitee mitgeteilt, daß wir Persona non grata sind, und daß wir innerhalb von 48 Stunden alle Ausländer im ganzen Gebiet von sämtlichen Bohranlagen zu evakuieren haben – sonst gibt es Unannehmlichkeiten. Erbitte sofortige Anweisung, wie wir vorgehen sollen.‹ Ende der Botschaft. Haben Sie mitgeschrieben?«

»Ja, ja«, antwortete Pettikin hastig und machte sich Notizen. »Ich werde Captain McIver informieren und Sie so bald wie möglich zurückrufen.« Jean-Luc lehnte sich vor, und Pettikin überließ ihm das Mikrophon.

»Hier spricht Jean-Luc. Ruf doch bitte Scot und sag ihm, daß ich, wie abgesprochen, morgen noch vor Mittag zurück sein werde. War nett, mit dir zu reden, Freddy. Danke, hier ist noch einmal Charlie.«

»Wird gemacht, Captain Sessone. Weiter: Die 125 hat unsere Abgänge abgeholt, dazu noch Mrs. Starke und Captain John Tyrer, der bei einem fehlgeschlagenen Angriff der Linken auf Bandar-e Delam verwundet wurde …«

»Von was für einem Angriff redet er«, murmelte Jean-Luc.

»Ich höre zum erstenmal davon.« Pettikin war beunruhigt.

»… Sie wird planmäßig in wenigen Tagen Ersatz-Crews bringen. Nächster Punkt: Captain Starke.« Alle registrierten die zögernde, von Besorgnis geprägte, irgendwie geschraubte Sprechweise – als würde die Mitteilung abgelesen. »Captain Starke wurde nach Kowiss gebracht, um dort von einem Komitee vernommen zu werden. Es geht um die Flucht einiger Schah-freundlicher Luftwaffenoffiziere aus Isfahan am vergangenen Dienstag, dem 13. mittels eines Hubschraubers, der angeblich von einem Europäer gesteuert wurde. Nächster Punkt: Unter strenger Aufsicht der neuen Verwaltung bessern sich die Luftoperationen auch weiterhin. Mr. Esvandiari, der Manager unseres IranOil-Distrikts, möchte, daß wir alle Guerney-Verträge übernehmen. Dazu würden wir noch drei Heli vom Typ 212 und eine 206 benötigen. Bitte um Stellungnahme. Wir brauchen Ersatzteile für HBN, HKJ und HGX, sowie Geld für überfällige Löhne. Für den Moment ist das alles.«

Beinahe automatisch kritzelte Pettikin weiter. »Ich … ich habe alles notiert und werde Captain McIver sofort nach seiner Rückkehr Bericht erstatten. Sie sprachen von einem Angriff auf Bandar-e Delam. Bitte um Einzelheiten.« Bis auf atmosphärische Störgeräusche blieb das Gerät stumm. Sie warteten. Dann wieder Ayres Stimme, nun nicht mehr befangen. »Ich weiß nur, daß es einen Angriff von Khomeini-Gegnern gegeben hat; Captain Starke und Captain Lutz halfen mit, ihn abzuwehren. Nachher brachte Captain Starke die Verwundeten hierher, wo sie versorgt wurden. Von unseren Leuten erlitt nur Captain Tyrer eine leichte Verletzung. Das ist alles.«

Pettikin wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. »Was für eine Verletzung?«

Schweigen. Und dann: »Eine kleine Kopfverletzung. Dr. Nutt meint, er würde bald wieder auf dem Damm sein.«

Pettikin drückte den Sendeknopf, änderte aber seine Absicht. So viele Fragen konnte Ayre offenbar nicht beantworten. »Danke, Captain«, sagte er und war froh, daß seine Stimme fest klang. »Halten Sie uns hinsichtlich Captain Starke auf dem laufenden. Captain McIver wird Sie so bald wie möglich zurückrufen.«

»Wird gemacht. Ende.«

Die zwei Männer sahen sich an, ohne auf Sayada zu achten, die still auf dem Sofa saß und sich nichts entgehen ließ.

»›Unter strenger Aufsicht‹? Das klingt nicht gut, Jean-Luc«, meinte Pettikin. »Es bedeutet wahrscheinlich, daß sie mit bewaffneten hezbollahis fliegen müssen.« Jean-Luc stieß einen Fluch aus und dachte an Scot Gavallan. Wie würde der Junge ohne ihn zurechtkommen? Merde! Als ich heute morgen abflog, war alles noch in Butter, und die Flugsicherung in Schiras so hilfsbereit wie ein Schweizer Hotelier außerhalb der Saison. Merde!

Pettikin fiel plötzlich Rákóczy ein, und wie nahe er einer Katastrophe gewesen war. Einen Augenblick lang zog er in Erwägung, Jean-Luc davon zu erzählen, entschied sich aber dann anders. »Vielleicht sollten wir die Flugsicherung in Schiras um Hilfe bitten?«

»Mac hat da vielleicht eine Idee. Mon Dieu, das klingt auch für Duke nicht gerade ermutigend – diese Komitees vermehren sich wie die Läuse. Bazargan und Khomeini sollten rasch etwas dagegen unternehmen, bevor sie zu Tode gebissen werden.« Sehr besorgt stand er auf und streckte sich. Dann fiel sein Blick auf Sayada, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, und auf die unberührte Tasse Tee neben ihr auf einem Tischchen. Sie lächelte ihn an. Für Scot und auch für Duke kann ich im Moment nichts weiter tun, dachte er, wohl aber für Sayada. »Tut mir leid, chérie«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln, »aber du siehst, ohne mich gibt es auf Zagros immer Probleme. Charlie, wir gehen jetzt. Ich muß noch in meiner Wohnung nachsehen, aber wir schauen vor dem Abendessen noch einmal vorbei. Sagen wir um acht. Inzwischen dürfte auch Mac wieder da sein, hm?«

»Ja. Möchtest du einen Drink? Wein haben wir leider keinen. Einen Whisky vielleicht?« Es war ein halbherziges Angebot; die letzte Flasche war nur mehr dreiviertel voll.

»Danke, mon vieux Jean-Luc schlüpfte in den Mantel, stellte vor dem Spiegel fest, daß er immer noch flott aussah, und dachte an die Kisten Wein und die Dosen Käse, die seine Frau auf sein Anraten in ihrer Wohnung gelagert hatte. »A bientôt! Ich bringe dir auch etwas Wein mit.«

»Charlie«, sagte Sayada und beobachtete die beiden Männer so aufmerksam, wie sie es schon getan hatte, nachdem das Hochfrequenzgerät zum Leben erwacht war, »was meinte Freddy mit der Flucht per Hubschrauber?« Pettikin zuckte die Achseln. »Es gibt immer wieder Gerüchte über alle möglichen Fluchtversuche – auf dem Land-, auf dem See- und auf dem Luftweg. Immer haben angeblich Europäer damit zu tun. Uns gibt man an allem die Schuld.«

Und warum auch nicht, ihr seid ja für alles verantwortlich, dachte Sayada Bertolin ohne Groll. Aus ihrem politischen Blickwinkel heraus sah sie mit Entzücken, wie die beiden schwitzten. Persönlich konnte sie beide wie die meisten Piloten gut leiden, vor allem natürlich Jean-Luc, der ihr viel Vergnügen bereitete und sie immer wieder amüsierte. Ein wahres Glück, dachte sie, daß ich Palästinenserin bin und koptische Christin aus altem Geschlecht. Das gibt mir eine Kraft, die sie nicht haben, und jene Lebensweisheit, die von der Freundschaft und vom Schlafzimmer herrührt – solange beides notwendig und ratsam ist. Hatten wir nicht 3.000 Jahre Überlebenstraining? Ist Gaza nicht seit 3.000 Jahren besiedelt?

»Angeblich hat Bachtiar heimlich das Land verlassen und ist nach Paris geflohen.«

»Das glaube ich nicht, Charlie.« Sayada schüttelte den Kopf. »Aber da gibt es noch ein anderes Gerücht, und das glaube ich.« Ihr war nicht entgangen, daß er ihre Frage nicht beantwortet hatte. »Wie es scheint, ist euer General Valik mit seiner Familie nach London geflogen, wo auch die anderen Partner der IHC sitzen. Alle zusammen sollen sie dort Millionen Dollar auf der hohen Kante liegen haben.«

»Partner?« wiederholte Jean-Luc verächtlich. »Sie sind allesamt Räuber, ob hier oder in London.«

»Sie sind nicht alle schlecht«, meinte Pettikin.

»Diese crétins stehlen uns den Schweiß von der Stirne, Sayada«, widersprach Jean-Luc. »Mich wundert nur, daß der alte Gavallan ruhig zusieht.«

»Aber das tut er doch gar nicht«, konterte Pettikin. »Er kämpft bis zur Erschöpfung gegen sie.«

»Bis zu unserer Erschöpfung, alter Freund. Das Fliegen nämlich besorgen wir, nicht er. Und was Valik angeht …« Mit gallischem Überschwang hob Jean-Luc die Schultern. »Wenn ich ein reicher Iraner wäre, ich wäre schon vor Monaten mit meinem ganzen Vermögen getürmt. Es war längst nicht mehr zu übersehen, daß der Schah die Kontrolle verloren hatte. Wir erleben hier noch einmal die Französische Revolution und deren Terror, aber ohne unseren Stil, unseren Verstand und unsere Manieren.« Angewidert schüttelte er den Kopf. »Welche Verschwendung! Jahrhundertelang haben wir Franzosen uns bemüht, diesen Menschen zu helfen, das finsterste Mittelalter zu überwinden. Und was haben sie gelernt? Sie können nicht einmal ein anständiges Brot backen!«

Sayada lachte, stellte sich auf die Zehen und küßte ihn. »Ah, Jean-Luc, ich liebe dich und dein Selbstvertrauen. Aber jetzt, mon vieux, müssen wir los. Wir haben noch viel zu tun.«

Nachdem sie gegangen waren, stellte sich Pettikin ans Fenster und blickte auf die Dächer hinaus. Irgendwo wurde geschossen, und über Jaleh stieg Rauch auf. Kein großes Feuer, aber ein Feuer. Die Wolken reichten bis zu den Bergen herunter. Auf den Fensterbrettern lagen Eis und Schnee. Unten auf der Straße waren eine Menge hezbollahis zu sehen; sie waren zu Fuß unterwegs oder auf Lastwagen. Dann begannen von den Minaretten die Muezzins zum Nachmittagsgebet zu rufen. Die Rufe schienen ihn von allen Seiten einzukreisen.

Im Luftfahrtministerium: 17 Uhr 04. Duncan McIver saß abgekämpft auf einem Holzstuhl in einer Ecke des Vorzimmers des Vizepräsidenten. Ihm war kalt. Er fühlte sich hungrig und sehr gereizt. Seine Uhr sagte ihm, daß er bereits seit drei Stunden wartete.

Ein Dutzend anderer Herren saßen im Zimmer herum – Iraner, ein paar Franzosen, Amerikaner, Engländer und ein Kuwaiter in der Galabia, dem langen arabischen Gewand. Wenige Augenblicke zuvor hatten die Europäer höflich aufgehört zu plappern, da die Moslems nach dem Ruf des Muezzins niedergekniet waren, um das Nachmittagsgebet zu sprechen. Es dauerte nicht lange, und die belanglosen Gespräche begannen von neuem. Das Vorzimmer war zugig, die Luft eisig. Alle hatten ihre Mäntel an, und alle waren des Wartens müde. Wie McIver hätten auch sie schon längst empfangen werden sollen.

»Inscha'Allah«, murmelte McIver, aber das half ihm auch nicht. Mit ein bißchen Glück ist Gen schon in Al Schargas, dachte er. Ich hin verdammt froh, daß sie draußen ist, und verdammt froh, daß sie es selbst zur Sprache gebracht hat. »Ich bin es, die mit Andy reden kann. Schreiben kannst du ihm ja nicht.«

»Das ist wahr«, hatte er ihr zugestimmt und widerstrebend hinzugefügt: »Vielleicht kann sich Andy einen Plan zurechtlegen, den wir dann, wenn es sein muß, ausführen können. Ich hoffe, es wird nicht nötig sein. Es ist zu gefährlich. Alle unsere Jungs und alle unsere Maschinen sind über das ganze Land verstreut. Du vergißt, daß wir zwar keinen Krieg führen, aber bis zum Hals in einem Krieg stecken.«

»Ja, Duncan, aber wir haben nichts zu verlieren.«

»O doch: Menschen und Vögel.«

»Wir wollen doch nur sehen, ob es überhaupt machbar ist, nicht wahr, Duncan?«

Gen ist zweifellos die beste Vermittlerin, die wir uns wünschen können – falls wir eine brauchen. Sie hat recht, es wäre viel zu gefährlich, es ihm zu schreiben: »Andy, es gibt nur einen Weg, mit heiler Haut aus diesem Kuddelmuddel herauszukommen. Wir müssen uns einen Plan zurechtlegen, um alle unsere Maschinen und Ersatzteile herauszuholen, auch wenn sie gegenwärtig im Iran registriert sind und genaugenommen Eigentum einer iranischen Gesellschaft, der IHC, sind.«

Mein Gott! Wenn das nicht auf arglistige Täuschung zur Verschaffung eines Vermögensvorteils hinausläuft!

Sich fortzustehlen ist keine Lösung. Wir müssen dableiben und arbeiten und, sobald die Banken aufmachen, sehen, wie wir zu unserem Geld kommen. Irgendwie muß ich die Partner dazu bringen, mitzuhelfen, koste es, was es wolle. Wir können hier warten, bis der Wirbelsturm vorüber ist. Jede Regierung braucht Hilfe, um das Öl aus dem Boden zu holen. Wir werden unser Geld schon bekommen …

Talbot von der Britischen Botschaft hatte die Audienz beim Vizepräsidenten für ihn arrangiert und ihm ein Empfehlungsschreiben mitgegeben. »Tut mir leid, alter Freund, nicht einmal ich komme an den Ministerpräsidenten heran, aber sein Stellvertreter Antazam ist ein netter Kerl, spricht fließend Englisch – nicht eine von diesen revolutionären Spottfiguren. Er wird alles für Sie erledigen.«

Kurz vor dem Mittagessen war McIver vom Flughafen zurückgekommen und hatte so nahe wie möglich bei den Regierungsgebäuden geparkt. Nachdem er den in Persisch und Englisch abgefaßten Brief dem Wachtposten am Haupttor vorgewiesen hatte, war er zuerst in ein anderes Gebäude geschickt worden und erst mit einer Stunde Verspätung endlich wütend hier angekommen. »Keine Sorge, Agha, Sie haben reichlich Zeit«, beruhigte ihn der junge Mann im Empfangsraum freundlich und gab ihm den Umschlag mit dem Empfehlungsschreiben zurück. »Hier sind Sie jetzt richtig. Bitte gehen Sie durch diese Tür und nehmen Sie im Vorzimmer Platz. Herr Minister Kia wird Sie so bald wie möglich rufen lassen.«

»Aber mit dem will ich doch gar nicht sprechen!« McIver explodierte beinahe. »Ich habe einen Termin beim Vizepräsidenten Antazam.«

»Ach ja, beim Vizepräsidenten Antazam. Der ist aber leider nicht mehr in der Regierung von Ministerpräsident Bazargan. Inscha'Allah«, erklärte der junge Mann liebenswürdig. »Minister Kia kümmert sich jetzt um alles, was mit Fremden, Finanzen und Flugzeugen zu tun hat.«

»Aber es muß …« McIver verstummte, als der Name in sein Bewußtsein eindrang. Er erinnerte sich, was Talbot ihm erzählt hatte und daß man diesen Mann mit einem enormen Pauschalhonorar, aber ohne entsprechende Zusagen und Gegenleistungen in den Vorstand der IHC gehievt hatte. »Ali Kia?«

»Ja, Agha. Der Minister Ali Kia wird Sie so bald wie möglich empfangen.« Der junge Mann trug einen modernen Anzug, ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte – wie in alten Zeiten. In weiser Voraussicht hatte McIver ein Pischkesch von 5.000 Rial in den Umschlag mit dem Brief gesteckt – wie in alten Zeiten. Das Geld war verschwunden.

Vielleicht wird sich alles andere auch wieder normalisieren, dachte McIver, ging in den angrenzenden Raum, setzte sich in eine Ecke und wartete. In der Tasche hatte er noch ein Bündel Rialscheine, und er fragte sich, ob er den Umschlag ein zweites Mal mit dem passenden Betrag füllen sollte. Warum nicht, dachte er. Wir sind im Iran, kleine Beamte brauchen kleine Beträge, hohe Beamte höhere Summen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand ihn beobachtete, steckte er einige größere Scheine in den Umschlag. Vielleicht kann dieser Bursche uns wirklich helfen.

»Agha McIver!« Die Innentür stand offen, ein Beamter winkte ihn herbei. Ali Kia saß hinter einem sehr großen Schreibtisch, auf dem keine Papiere lagen. Er hatte zwar ein Lächeln aufgesetzt, aber seine Augen waren hart und klein; instinktiv verspürte McIver große Abneigung gegen ihn.

»Wie liebenswürdig von Ihnen, mich zu empfangen, Herr Minister«, sagte McIver und streckte Kia seine Hand entgegen.

Dieser behielt sein Lächeln bei und ergriff die Rechte mit schlaffen Fingern. »Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. McIver. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Sie haben ein Empfehlungsschreiben?« Sein Englisch, das er mit Oxfordakzent sprach, war gut. Mit einer müden Handbewegung bedeutete er dem Beamten an der Tür zu gehen.

»Ja, es war für den Vizepräsidenten Antazam bestimmt, aber wie ich erfahren habe, hätte es an Sie gerichtet sein sollen.« McIver reichte ihm den Umschlag.

Kia zog das Schreiben heraus, nahm von der Anzahl der Scheine genau Notiz, warf das Kuvert lässig auf den Schreibtisch, las aufmerksam die Empfehlung und legte sie dann vor sich hin. »Mr. Talbot ist ein achtbarer Freund des Iran, wenn auch der Vertreter einer feindseligen Regierung«, sagte Kia mit öliger Stimme. »Wie kann ich dem Freund einer so ehrenwerten Persönlichkeit helfen?«

»Es gibt da drei Dinge, Herr Minister. Aber vielleicht darf ich Ihnen zuerst sagen, wie sehr wir von der S-G uns freuen, daß Sie sich entschlossen haben, uns an den Früchten Ihrer wertvollen Erfahrung teilhaben zu lassen, indem Sie der Berufung in unseren Vorstand gefolgt sind.«

»Mein Vetter hat mich dringend darum ersucht. Ich bezweifle, daß ich Ihnen helfen kann, aber wie es Allah gefällt.«

»Wie es Allah gefällt.« McIver hatte ihn aufmerksam beobachtet und versucht, ihn zu taxieren, konnte sich aber die Abneigung nicht erklären, die er gegen ihn empfand. »Da gibt es zunächst ein Gerücht, wonach alle Gemeinschaftsunternehmen bis zu einer Entscheidung des Revolutionären Komitees suspendiert werden sollen.«

»Bis zu einer Entscheidung der Regierung«, korrigierte ihn Kia. »Und?«

»Welche Auswirkungen wird das auf unser Gemeinschaftsunternehmen, die IHC, haben?«

»Ich bezweifle, daß es überhaupt Auswirkungen haben wird, Mr. McIver. Der Iran braucht Hubschrauber für seine Ölproduktion. Die Guerney Aviation ist auf und davon. Es will mir scheinen, daß unsere Gesellschaft einer blendenden Zukunft entgegensehen kann.«

»Aber wir haben seit Monaten kein Geld für die Arbeiten erhalten, die für den Iran geleistet wurden, haben jedoch alle Pachtzahlungen für die Flugzeuge nach Aberdeen geleistet.«

»Morgen sollen die Banken … soll die Zentralbank wieder geöffnet werden. Auf Befehl des Ministerpräsidenten – und des Ayatollahs, natürlich. Ich bin sicher, daß ein Teil des Geldes, das wir schulden, verfügbar sein wird.«

»Was denken Sie, wieviel wir erwarten können, Herr Minister?« McIvers Hoffnungen erhielten neuen Auftrieb.

»Mehr als genug um … um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Ich habe auch schon dafür gesorgt, daß die Crews ausfliegen können, sobald Ersatz für sie da ist.« Ali Kia nahm eine dünne Akte aus seiner Lade und reichte McIver ein Papier. Es war eine Anordnung an die Einwanderungsbehörde, auf den Flughäfen von Teheran, Abadan und Schiras zugelassenen Piloten und Mechanikern der IHC bei Eintreffen von Ersatzpersonal, Mann gegen Mann, die Ausreise zu genehmigen. Das Dokument war namens des für IranOil verantwortlichen Islamischen Revolutionären Komitees von einem Ayatollah Dewari unterschrieben und vom Vortag datiert. McIver hatte noch nie etwas von ihm gehört.

»Vielen Dank. Würden Sie auch genehmigen, daß unsere 125 in den nächsten paar Wochen – natürlich nur so lange, bis die internationalen Flughäfen wieder in Betrieb sind – mindestens drei Flüge pro Woche machen darf, um Crews, Ersatzteile, Geräte et cetera hereinzubringen und überflüssige Arbeitskräfte auszufliegen?«

»Es ist unter Umständen möglich, das zu genehmigen.«

McIver reichte ihm einen Satz Papiere. »Ich habe mir erlaubt, sie selbst zu schreiben, um Ihnen, Herr Minister, die Mühe zu sparen – mit Durchschlägen an die Flugsicherungen in Kisch, Kowiss, Schiras, Abadan und Teheran.«

Sorgfältig studierte Kia das oberste Blatt. Seine Finger zitterten. Diese Papiere zu unterschreiben würde seine Vollmachten weit überschreiten. Da aber jetzt der Vizepräsident wie auch sein, Kias, unmittelbarer Vorgesetzter in Ungnade gefallen waren – beide von dem immer noch recht ominösen Islamischen Revolutionären Komitee angeblich entlassen – und das Chaos in der Regierung immer weiter zunahm, mußte er wohl das Risiko eingehen. Weil er es zudem für dringend nötig erachtete, daß er, seine Familie und seine Freunde jederzeit Zugriff auf ein Privatflugzeug hatten, notabene einen Jet, erschien ihm dieses Risiko vertretbar.

Ich kann immer sagen, daß mein Vorgesetzter mich angewiesen hat, es zu unterschreiben, dachte er und versuchte sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Die 125 ist ein Geschenk Allahs für den Fall, daß man Lügen über mich verbreitet. Dieser verdammte Jared Bakravan! Meine Freundschaft mit diesem Hund von Bazari hätte mich um ein Haar in diesen Hochverratsprozeß hineingezogen. Dabei habe ich mein Lebtag kein Geld verliehen, mich nie mit Fremden eingelassen geschweige denn den Schah unterstützt.

Fast ärgerlich warf er die Papiere auf den Tisch. »Es ist vielleicht möglich, das zu genehmigen. 500 Dollar Landegebühr wären für jede Landung zu entrichten. Ist das alles, Mr. McIver?« fragte er, wohl wissend, daß es nicht alles war. Du hinterhältiger britischer Hundesohn! Glaubst du, du kannst mich für dumm verkaufen?

»Nur noch eines, Exzellenz.« McIver reichte ihm das letzte Papier. »Wir haben drei Maschinen, die unbedingt gewartet und repariert werden müssen. Ich bräuchte eine von Ihnen unterzeichnete Ausfuhrgenehmigung, um sie nach Al Schargas zu schicken.« Er hielt den Atem an.

»Völlig unnötig, wertvolle Flugzeuge ins Ausland zu schicken, Mr. McIver. Lassen Sie sie hier reparieren!«

»Das würde ich ja gerne tun, Exzellenz, aber es ist unmöglich. Wir haben hier weder die Ersatzteile noch die Mechaniker – und jeder Tag, an dem einer unserer Hubschrauber nicht arbeitet, kostet die Partner ein Vermögen. Ein Vermögen«, wiederholte er.

»Natürlich können Sie sie hier reparieren, Mr. McIver. Lassen Sie doch die Mechaniker und die Ersatzteile aus Al Schargas kommen!«

»Von den Kosten für die Maschinen ganz abgesehen, müssen die Löhne für die Crews bezahlt werden. Es ist alles sehr teuer. Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, daß es – wie im Vertrag festgehalten ist – Sache der iranischen Partner ist, für Ausfuhrgenehmigungen zu sorgen. Wir brauchen einen vollständig ausgerüsteten Maschinenpark, um die Nachfolgeverträge von Guerney zu erfüllen, wenn wir den Anweisungen der Regierung, die Ölproduktion zu normalisieren, nachkommen sollen. Sonst …« Er ließ das Wort im Raum stehen und hielt abermals den Atem an.

Kia runzelte die Stirn. Alles, was die iranischen Partner Geld kostete, kam ja jetzt zum Teil aus seiner eigenen Tasche. »Wie schnell könnten sie repariert und zurückgebracht werden?«

»Wenn ich sie gleich hinschicken darf, ungefähr zwei Wochen.«

Wieder zögerte Kia. Die Guerney-Aufträge zusätzlich zu den IHC-Aufträgen, Hubschrauber, Ausrüstung, Armaturen und Installationen im Wert von vielen Millionen, an denen er jetzt zu einem Sechstel beteiligt war – ohne auch nur einen einzigen Rial je investiert zu haben, frohlockte er in seinem tiefsten Inneren. Ausfuhrgenehmigungen für drei Helikopter? Er warf einen Blick auf seine juwelenbesetzte Cartier-Uhr. In wenigen Minuten hatte er einen Termin mit dem Direktor der Luftsicherung, den er leicht in die Sache hineinziehen konnte.

»Na schön«, sagte er. »Aber die Ausfuhrgenehmigungen werden auf zwei Wochen befristet sein, und …«, er überlegte kurz, »… 5.000 Dollar pro Maschine kosten, die vor dem Abflugtag zu hinterlegen sind.«

»So viel Bargeld kann ich nicht so schnell beschaffen. Ich könnte Ihnen einen Scheck auf eine Schweizer Bank ausstellen – über 2.000 Dollar je Maschine.« Sie feilschten kurz und einigten sich schließlich auf 3.100 Dollar. »Danke, Mr. McIver«, sagte Ali Kia höflich. »Bitte verlassen Sie mein Büro mit einem langen Gesicht. Ich möchte nicht, daß Sie diese Spitzbuben ermutigen, die da draußen warten.«

Als McIver wieder in seinem Wagen saß, nahm er die Dokumente aus seiner Aktentasche und betrachtete sie lächelnd. »Es ist fast zu schön, um wahr zu sein«, murmelte er. »Kia sagt, die Suspensionen werden uns nicht berühren, die 125 fliegt jetzt legal und wir haben Ausfuhrgenehmigungen für drei 212, die in Nigeria dringend gebraucht werden: 9.300 Dollar gegen einen Wert von 3 Millionen, das ist mehr als fair! Ich hätte nie gedacht, daß ich damit durchkomme. McIver, du hast dir einen Scotch verdient, einen großen Scotch!«

In einem nördlichen Vorort: 18 Uhr 50. Mit krumpeligem Regenmantel und Fliegeranzug stieg Tom Lochart aus dem verbeulten alten Wagen und gab dem Fahrer eine Zwanzig-Dollar-Note. Er war unrasiert und sehr müde und fühlte sich schmutzig, aber die Freude, vor seinem Wohnhaus zu stehen und Scharazad nach langer Trennung nahe zu sein, ließ ihn alles Unbehagen vergessen. Einige Schneeflocken fielen, aber er merkte es kaum, als er ins Haus eilte. Er lief die Treppe hinauf, da es zwecklos war, den Aufzug zu versuchen, der schon seit Monaten nicht mehr funktionierte.

Er nahm die Schlüssel aus der Tasche und steckte sie ins Schloß, aber die Tür war von innen verriegelt. Er läutete und wartete ungeduldig, daß das Mädchen öffnete; Scharazad ging nie selbst zur Tür. Seine Finger trommelten einen fröhlichen Rhythmus, sein Herz war von Liebe erfüllt. Die Erregung wuchs, als er die Schritte des Mädchens hörte, die Riegel zurückgeschoben wurden und die Tür sich einige Zentimeter breit öffnete. Ein unbekanntes, von einem Tschador umrahmtes Gesicht starrte ihn an. »Was wollen Sie, Agha?« Ihre Stimme war ebenso rauh wie ihr Persisch.

Seine freudige Erregung verflog sofort und hinterließ ein Übelkeit erregendes Loch. »Wer sind Sie?« fragte er grob. Die Frau wollte die Tür schließen, aber er stellte seinen Fuß dazwischen und drückte sie auf. »Was machen Sie in meiner Wohnung? Ich bin Exzellenz Lochart, und das ist meine Wohnung! Wo ist die Gnädigste, meine Gattin?«

Die Frau musterte ihn mit finsterem Blick, trottete dann zur Tür seines Wohnzimmers und öffnete sie. Lochart sah Fremde, Männer und Frauen, und Gewehre, die an der Wand lehnten. »Was zum Teufel ist hier los?« murmelte er auf Englisch und marschierte ins Zimmer. Mit verschränkten Beinen oder in seine Polster gelehnt saßen zwei Männer und vier Frauen auf seinen Teppichen vor dem brennenden Kaminfeuer und starrten ihn an. Sie hatten sich die Schuhe ausgezogen, ihre Füße waren schmutzig. Sie befanden sich mitten in einer Mahlzeit. Seine Schüsseln und Teller waren sorglos über den Fußboden verstreut. Einer der Männer, Mitte 30 und älter als die anderen, hatte seine Hand auf einer Pistole, die in seinem Gürtel steckte.

Sinnlose Wut stieg in Lochart auf. Er empfand die Anwesenheit dieser Menschen als Unverschämtheit und Sakrileg. »Wer sind Sie? Wo ist meine Frau? Verlassen Sie sofort …« Er brach ab. Die Pistole war auf ihn gerichtet.

»Wer sind Sie, Agha?«

Mit äußerster Anstrengung bezwang er seine Wut. »Ich bin … das ist … das ist meine Wohnung. Ich bin der Eigentümer und …«

»Ach, der Eigentümer! Sie sind der Eigentümer!« unterbrach ihn der Mann, der Teymour hieß. »Der Ausländer, der Mann von dieser Bakravan.« Lochart wollte sich auf ihn stürzen, doch der Mann entsicherte seine Waffe. »Tun Sie's nicht! Ich schieße schnell und treffe immer«, warnte er ihn. »Durchsuch ihn!« befahl er dem anderen Mann, der sofort aufsprang, Lochart abtastete, ihm die Flugtasche aus der Hand riß und sie inspizierte.

»Keine Waffen. Kompaß, Dienstvorschrift … Sind Sie der Pilot Lochart?«

»Ja«, antwortete Lochart mit klopfendem Herzen.

»Setzen Sie sich da drüben hin! Schnell!«

Lochart setzte sich auf den Stuhl, der weit vom Feuer entfernt war. Der Mann legte die Pistole neben sich auf den Teppich und nahm ein Papier aus der Tasche. »Gib ihm das.« Der andere tat, wie geheißen. Alle beobachteten Lochart. Der brauchte eine Weile, um das persisch geschriebene Dokument zu entziffern. »Konfiskationsbescheid. Wegen Verbrechen gegen den islamischen Staat wird das gesamte Eigentum des Jared Bakravan, ausgenommen sein Stadthaus und sein Laden im Basar, konfisziert.« Das Dokument war zwei Tage zuvor namens des Islamischen Revolutionären Komitees von jemandem ausgestellt worden, dessen Namen er nicht lesen konnte.

»Das ist … das ist doch lächerlich«, stieß er ratlos hervor. »Seine Exzellenz Bakravan war ein begeisterter Anhänger Ayatollah Khomeinis. Das muß ein Irrtum sein.«

»Es ist kein Irrtum. Er wurde ins Gefängnis eingeliefert, des Wuchers für schuldig gesprochen und erschossen.«

Lochart starrte den Mann an. »Das … das muß ein Irrtum sein.«

»Kein Irrtum, Agha«, wiederholte Teymour nicht unfreundlich und musterte Lochart. »Wir wissen, daß Sie Kanadier sind und Pilot, daß Sie fort waren, daß Sie mit einer der Töchter des Verräters verheiratet sind und für seine Verbrechen nicht verantwortlich – oder für die seiner Tochter, wenn sie welche begangen haben sollte.« Er streckte seine Hand nach der Luger aus, als er die Röte sah, die Lochart ins Gesicht stieg. »Ich sagte, ›wenn‹, Agha. Beherrschen Sie sich. Wir sind kein primitiver Pöbelhaufen. Wir sind Freiheitskämpfer und Profis. Wir halten uns hier nur auf, um diese Unterkunft für Persönlichkeiten zu bewachen, die erst eintreffen werden. Wir wissen, daß Sie kein Feind sind, also bleiben Sie ruhig! Natürlich ist das ein Schock für Sie, das verstehen wir. Aber wir haben das Recht, uns zu nehmen, was uns gehört.«

»Recht? Was für Recht haben Sie …«

»Das Recht der Eroberer. War es nicht immer schon so, Agha?« Seine Stimme blieb ruhig, und die Frauen beobachteten Lochart mit kaltem, hartem Blick. »Beruhigen Sie sich! Wir haben Ihr Eigentum nicht angerührt. Noch nicht.« Er machte eine Handbewegung. »Überzeugen Sie sich selbst!«

»Wo ist meine Frau?«

»Das weiß ich nicht, Agha. Es war niemand hier, als wir gekommen sind. Wir sind heute früh gekommen.«

Lochart war krank vor Sorge. Wenn ihr Vater für schuldig befunden worden ist, wird die Familie darunter zu leiden haben? Alle? Augenblick mal! Alles konfisziert … ausgenommen das Stadthaus. Sie muß dort sein. O Gott, das sind ja Kilometer bis dorthin, und ich habe keinen Wagen …

Er bemühte sich, klare Gedanken zu fassen. »Sie haben gesagt, Sie hätten nichts angerührt noch nicht. Soll das heißen, daß dies bald geschehen wird?«

»Ein kluger Mann schützt sein Eigentum. Es wäre klug, Ihr Eigentum an einen sicheren Ort zu bringen. Von Bakravan bleibt alles da, aber Ihr persönlicher Besitz?« Er zuckte mit den Achseln. »Natürlich können Sie ihn mitnehmen. Wir sind doch keine Diebe.«

»Und die Sachen meiner Frau?«

»Auch die. Selbstverständlich. Persönliche Dinge. Ich sagte es Ihnen schon: Wir sind keine Diebe.«

»Wie lange habe ich Zeit?«

»Bis morgen 17 Uhr. Möchten Sie etwas essen?«

»Nein, danke.«

»Dann leben Sie wohl, Agha. Aber zuerst geben Sie mir Ihre Schlüssel.«

Wieder stieg Lochart die Röte ins Gesicht. Er nahm die Schlüssel aus der Tasche und gab sie dem Mann, der neben ihm stand. »Sie haben von Persönlichkeiten gesprochen. Welche Persönlichkeiten?«

»Einfach Persönlichkeiten, Agha. Die Wohnung hat einem Staatsfeind gehört; jetzt ist sie Eigentum des Staates, der sie jedem zuweisen kann, den sie für würdig hält. Tut mir leid, aber das verstehen Sie sicher.«

Lochart musterte ihn und dann den anderen Mann. Die Erschöpfung lähmte ihn beinahe – und seine Hilflosigkeit. »Bevor ich gehe, möchte ich mich noch umziehen – und rasieren. Okay?«

Nach einer Pause antwortete Teymour: »Ja. Hassan, geh mit ihm!«

Lochart verließ das Zimmer. Er haßte diese Männer und alles, was hier geschah. Hassan folgte ihm, den Gang hinunter bis in sein Zimmer. Man hatte nichts angerührt, obwohl die Schränke offenstanden und die Laden herausgezogen waren. Es roch nach Tabak, aber es gab keine Anzeichen von Gewalt oder einer überstürzten Flucht. Das Bett war benützt worden. Reiß dich zusammen und denk dir einen Plan aus! Kann ich nicht. Also gut, dann rasier dich! Stell dich unter die Dusche, zieh dich um und geh zu McIver, das ist nicht weit! Du kannst zu Fuß gehen, und er wird dir helfen, wird dir Geld leihen und einen Wagen. Du wirst sie im Stadthaus finden – und denk nicht an Jared, denk nicht an ihn!

In der Nähe der Universität: 20 Uhr 10. Rákóczy schob die Öllampe näher an das Bündel Papiere, Tagebücher, Akten und Dokumente heran, die er aus dem Safe im Obergeschoß der Amerikanischen Botschaft gestohlen hatte, und fuhr fort, sie auszusortieren. Er war allein in einem kleinen Raum, der zu einer Mietwohnung mit sieben kleinen Zimmern gehörte, wo hauptsächlich Studenten lebten. Farmad, der Studentenführer der Tudeh, der in der Nacht des Tumults getötet worden war, hatte das Zimmer für ihn gemietet. Es war ein armseliges Zimmer ohne Heizung: ein Bett, ein wackeliger Tisch, ein Stuhl und ein winziges Fenster mit zerbrochenen Scheiben.

Rákóczy lachte laut auf. So viel erreicht bei so geringem Einsatz. Eine gute Planung. Der zur Tarnung so perfekt in Szene gesetzte Krawall vor den Toren der Botschaft – dann plötzlich Feuer auf den gegenüberliegenden Dächern, das Panik auslöste. Rasch waren die Tore aufgebrochen und das Gelände gestürmt worden. Die mit Gewehren bewaffneten Marineinfanteristen boten kaum Widerstand, da man sie angewiesen hatte, nicht zu schießen. Gerade Zeit genug, ehe die Khomeini-Anhänger angriffen. Er war zur Rückseite des Gebäudes gerast und hatte die Hintertür eingedrückt. Dann die Hintertreppe hinauf, während der Kader draußen die Ablenkungsmanöver fortsetzte, schrie, brüllte und in die Luft ballerte, sorgfältig darauf bedacht, niemanden zu töten. Ein Geschoß und das nächste, einen Gang hinunter, vor ihm zwei verängstigte alte Amerikanerinnen. »Legt euch auf den Boden, sonst erschieße ich euch!« hatte er sie angebrüllt.

Hinein ins Schlafzimmer. Leer bis auf einen vor Angst wie gelähmten einheimischen Diener, der sich, die Arme über dem Kopf, schon halb unter dem Bett verkrochen hatte. Schnell den Safe geknackt, alles in die Reisetasche, wieder runter, drei Stufen auf einmal, und, von Ibrahim Kyabi und den anderen gedeckt, untergetaucht in der wogenden Menge. Ein perfekter Rückzug.

Die Zentrale wird beeindruckt sein. Der Beförderung zum Major steht nichts mehr im Wege, und Vater wird so stolz auf mich sein. »Bei Allah und dem Propheten«, sagte er laut. »Noch nie war mein Leben so erfüllt.«

In bester Laune machte er sich von neuem an die Arbeit. Bis jetzt hatte das Safe keine Schätze freigegeben, aber eine ganze Menge von Dokumenten, welche die Einflußnahme der CIA im Iran bewiesen, ein paar Privatstempel des Botschafters, private Rechnungen, etwas Schmuck von nicht sehr hohem Wert und ein paar alte Münzen. Macht nichts, dachte er, ich habe noch viel durchzusehen. Tagebücher und persönliche Papiere.

Die Zeit verging schnell. Bald würde Ibrahim Kyabi da sein, um über die Frauendemo zu sprechen. Er wollte wissen, wie man sie stören und spalten könne, um die Ziele der Tudeh zu fördern und Khomeini und den Schiiten zu schaden. Khomeini ist die wirkliche Gefahr, dachte Rákóczy, die einzige Gefahr: dieser sonderbare Greis mit seiner eisernen Unbeugsamkeit.

Ein eisiger Luftzug kam durch das zerbrochene Fenster. Es machte ihm nichts aus. Ihm war nicht kalt. Er trug seine schwere Lederjacke, Hemd, Pullover und warme Unterwäsche, dicke Socken und feste Schuhe. »Zieh immer dicke Socken und feste Schuhe an«, hatten seine Lehrmeister ihm eingetrichtert. »Sei immer darauf vorbereitet, laufen zu müssen …«

Belustigt erinnerte er sich, wie er vor Erikki Yokkonen davongelaufen war. Sicher werde ich ihn eines Tages töten müssen, dachte er, ihn und seine Schreckschraube von Frau. Was ist mit Azadeh? Was ist mit der Tochter von Abdullah Khan, Abdullah dem Grausamen, der uns zwar als Doppelagent gute Dienste leistet, aber zu arrogant und unabhängig geworden ist und zu gefährlich für unsere Sicherheit? Wie auch immer: Jetzt möchte ich den Mann und seine Frau in Täbris haben, wo sie tun sollen, was wir von ihnen verlangen. Und was mich angeht, ich möchte wieder auf Urlaub gehen, wieder einmal daheim, wieder Igor Mzytryk, Hauptmann des KGB sein, zu Hause mit meiner schönen Delaurah, in unserem schönen Bett mit der feinen Bettwäsche aus Irland. Nur noch sieben Wochen, und unser Erstgeborener ist da. Ich hoffe so sehr, daß es ein Sohn sein wird …

Er hörte die Muezzins zum Abendgebet rufen und fing an, den Tisch freizumachen. Sehr bald schon würde Ibrahim Kyabi kommen, und es bestand keine Notwendigkeit, daß der junge Mann Dinge erfuhr, die ihn nichts angingen. Rasch schob er die Papiere in die Reisetasche. Er hob ein Bodenbrett auf und steckte die Reisetasche in den darunter befindlichen Hohlraum, der auch eine geladene, sorgfältig in Öltuch gewickelte automatische Pistole, wie er sie am Tisch liegen hatte, und ein halbes Dutzend Splittergranaten britischer Herkunft beherbergte. Ein wenig Schmutz über die Ritzen gescharrt, und von dem Versteck war nichts mehr zu sehen. Er schraubte den Docht der Lampe herunter und zog die Vorhänge zurück. Auf dem Fensterbrett lag ein bißchen Schnee. Zufrieden wartete Rákóczy. Eine halbe Stunde verging. Es war nicht Kyabis Art, sich zu verspäten.

Dann hörte er Schritte. Er richtete die automatische Pistole auf die Tür. Das Klopfzeichen war in Ordnung, trotzdem ging er an der Wand in Deckung, immer bereit, den Feind zu durchlöchern, wenn es ein Feind war. Aber es war Ibrahim Kyabi, warm angezogen und erleichtert, hier zu sein.

»Tut mir leid«, sagte er, »aber es gibt fast keine Autobusse.«

Rákóczy schloß die Tür hinter ihm. »Pünktlichkeit ist sehr wichtig. Du wolltest doch wissen, wer der Mullah in dem Hubschrauber in Bandar-e Delam war, als dein Vater ermordet wurde. Ich weiß seinen Namen.« Er sah, wie es in den Augen des Jungen aufblitzte, und verbarg ein Lächeln. »Er heißt Hussain Kowissi und ist der Mullah von Kowiss. Kennst du Kowiss?«

»Nein, nein, ich war noch nie dort. Hussain Kowiss? Gut. Ich danke dir.«

»Ich habe Erkundigungen über ihn angestellt. Er scheint ein fanatischer Antikommunist und ein ebenso fanatischer Khomeini-Anhänger zu sein, gehört aber in Wirklichkeit der CIA an.«

»Was?«

»Ja«, sagte Rákóczy, die Desinformation weiter ausspinnend. »Der Schah schickte ihn in die Vereinigten Staaten, wo er einige Jahre blieb. Er spricht fließend Englisch und wurde, als er dort studierte, von den Amis umgedreht. Sein Haß auf Amerika ist genauso falsch wie sein Fanatismus.«

»Wie machst du das bloß, Dimitri? Wie erfährst du so schnell so viel – ohne Telefon, ohne Telex oder sonst etwas?«

»Du vergißt, daß wir überall unsere Leute haben: in jedem Bus, in jedem Taxi, Lastwagen, Dorf oder Postamt. Vergiß nicht«, fügte er hinzu und glaubte es selbst, »die Massen stehen auf unserer Seite. Wir sind ein Teil der Massen.«

»Ja.«

Er sah den Glaubenseifer des jungen Mannes und wußte, daß Ibrahim das richtige Werkzeug für ihn war. »Mullah Hussain befahl den hezbollahis, deinen Vater zu erschießen, nachdem er ihn beschuldigt hatte, ein Spitzel der Fremden zu sein.«

Alle Farbe wich aus Kyabis Gesicht. »Dann … dann kaufe ich ihn mir. Der gehört mir.«

»Wir sollten ihn besser einem Profi überlassen. Ich werde …«

»Nein. Bitte! Ich will meinen Vater rächen.«

Rákóczy verbarg seine Befriedigung und tat, als überlege er. Hussain Kowissi war schon seit geraumer Zeit als Todeskandidat vorgemerkt. »In ein paar Tagen werde ich Waffen besorgen, einen Wagen und ein paar Leute, die dich begleiten.«

»Ich danke dir. Aber ich brauche nichts weiter als das.« Mit zitternden Fingern zog Kyabi ein Taschenmesser heraus. »Das, ein paar Stunden und ein Stück Stacheldraht. Ich werde ihm zeigen, wie ein Sohn seinen Vater rächt.«

»Gut. Also jetzt zur Frauendemo: Sie soll definitiv in drei Tagen stattfinden. Wir …« Entsetzt brach er ab, sprang auf die gegenüberliegende Wand zu und drückte einen kaum sichtbaren Knopf. Ein Teil der Wand schwang auf und gab den Weg zur unbeleuchteten, schwankenden Notstiege frei. »Komm!« rief er und raste los, Kyabi hastete ihm in blinder Panik nach. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgebrochen, fast aus den Angeln gerissen, und mehrere Männer drängten ins Zimmer. Es waren Iraner und alle trugen grüne Armbinden. Mit gezogenen Pistolen setzten sie den Flüchtenden nach. Die Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal, Jäger und Gejagte, stolpernd, fast stürzend, hinaus auf die Straße in die Nacht, wo sie in der Menge untertauchten. Doch Rákóczy hetzte direkt in die Falle und in die Arme der Häscher. Ibrahim Kyabi zögerte nicht, änderte nur die Richtung, floh quer über die Straße, bog in eine belebte Seitengasse ein und verschwand in der Dunkelheit.

Robert Armstrong saß in einem geparkten Wagen auf der anderen Straßenseite und hatte beobachtet, wie die Männer in das Haus eingedrungen waren, wie sie Rákóczy gefaßt und Kyabi entkommen lassen hatten. Noch bevor viele Leute auf der Straße merkten, was vorging, war Rákóczy auf ein Lastauto gehievt worden. Zwei hezbollahis, besser gekleidet als üblich, kamen auf Armstrong zu. Die Leute wichen ihnen aus, beobachteten sie, ohne zu beobachten, weil sie keine Schwierigkeiten bekommen wollten. Die zwei Männer stiegen in den Wagen, Armstrong legte den Gang ein und fuhr los. Die zurückgebliebenen hezbollahis mischten sich unter die Fußgänger.

Wenige Augenblicke später war Robert Armstrong einer der Teilnehmer des abendlichen Spitzenverkehrs. Die zwei Männer streiften ihre grünen Armbänder ab und steckten sie in die Tasche. »Schade, daß wir diesen Studenten nicht erwischt haben, Robert«, sagte der ältere der beiden in tadellosem Englisch mit amerikanischem Akzent. Der glattrasierte Mann Mitte 50 war Oberst Haschemi Fazir, der stellvertretende Chef des Inneren Sicherheitsrates, in den Vereinigten Staaten ausgebildet und Angehöriger der SAVAK, bevor man die separate Geheimdienstabteilung gegründet hatte.

»Mach dir nichts draus, Haschemi«, versuchte Armstrong ihn zu beruhigen.

»Wir haben Kyabi auf Film bei den Krawallen vor der Botschaft und bei der Universität!« sagte der junge Mann im Fond. Er war Mitte 20, trug einen buschigen Schnurrbart und verzog nun sein Gesicht zu einem gemeinen Grinsen. »Morgen schnappen wir ihn uns.«

»Jetzt auf der Flucht? Das würde ich nicht empfehlen, Herr Leutnant«, sagte Armstrong. »Bleiben Sie lieber an ihm dran, beschatten Sie ihn, er wird Sie zu einem größeren Fisch führen. Er hat Sie auch zu Dimitri Yazernow geführt.«

Der Mann lachte. »Ja, das hat er.«

»Und Yazernow wird uns noch zu allerhand interessanten Leuten führen.« Haschemi zündete sich eine Zigarette an und bot das Päckchen auch Armstrong an. »Robert?«

»Danke.« Armstrong machte einen Zug und schnitt eine Grimasse. »Mein Gott, Haschemi, die sind ja furchtbar! Die bringen einen glatt um.«

»Wie es Allah gefällt.« Dann zitierte Haschemi auf Persisch: »›Wasch mich in Wein, wenn ich sterbe. Bei meinem Begräbnis sprich einen Vers, der mit Wein zu tun hat. Und wenn du mich am Tage des Gerichts finden willst, such mich im Staub vor der Tür eines Weinhändlers.‹«

»Die Zigaretten, nicht der Wein, werden dich umbringen«, bemerkte Armstrong trocken.

»Der Herr Oberst hat aus den ›Robā'iāt‹ des Omar Hayyām zitiert«, sagte der hilfsbereite junge Mann im Fond. »Es bedeutet …«

»Er weiß, was es bedeutet, Mohammed«, unterbrach ihn Haschemi. »Mr. Armstrong spricht perfekt Persisch. Sie haben noch viel zu lernen.« Nachdenklich paffte er seine Zigarette. »Würdest du bitte kurz anhalten, Robert?« Als der Wagen stehenblieb, sagte Haschemi: »Fahren Sie in die Zentrale zurück, Mohammed, und warten Sie dort auf mich! Sehen Sie zu, daß niemand – niemand – vor mir an Yazernow herankommt. Unsere Freunde sollen nur alles vorbereiten. Ich möchte um Mitternacht anfangen.«

»Jawohl, Herr Oberst.« Der junge Mann stieg aus.

Haschemi sah ihm nach. »Jetzt könnte ich einen großen Whisky-Soda vertragen. Fahr noch ein bißchen herum, Robert!«

»Gern.« Armstrong legte den Gang ein und streifte den Oberst mit einem Blick. Er glaubte, einen gewissen Unterton gehört zu haben. »Ein Problem?«

»Viele.« Haschemi beobachtete den Verkehr und die Fußgänger. Seine Gesichtszüge waren starr. »Ich weiß nicht, wie lange wir noch operieren können, wie lange wir noch sicher sind und wem ich noch vertrauen kann.«

»Sonst fehlt dir nichts?« Armstrong lächelte trübe. »Das ist unser Berufsrisiko«, sagte er – eine Lektion, die er nach elfjähriger Tätigkeit im Inneren Sicherheitsrat und davor bei der Polizei in Hongkong gelernt hatte.

»Möchtest du dabei sein, wenn Yazernow verhört wird, Robert?«

»Wenn ich euch nicht störe, ja. Ich bin doch nur ein alter CID-Mann vom Sonderdezernat mit einem Privatvertrag, der mich verpflichtet, euch Burschen dabei zu helfen, einen gleichwertigen Dienst aufzuziehen. Weißt du noch?«

»Ich erinnere mich sogar sehr gut. Zwei Fünfjahresverträge, der letzte bis zum nächsten Jahr verlängert. Dann kannst du dich mit einer Rente ins Privatleben zurückziehen.«

»Meinst du wirklich? Khomeini und die Regierung werden mir eine Rente zahlen? Daß ich nicht lache!« Er mußte damit rechnen, daß seine Dienstjahre im Iran verloren waren; dazu kam die Entwertung des Hongkong-Dollars seit seiner Pensionierung im Jahre 1966. Seine Rente würde recht karg ausfallen. »Da ist nicht mehr viel zu holen.«

Haschemis Augen verdunkelten sich. »Robert, was will MI 6 von diesem Yazernow?«

Armstrong legte die Stirn in Falten. Etwas stimmt heute abend ganz und gar nicht. Der junge Kyabi hätte nicht entkommen dürfen, und Haschemi ist so nervös wie ein Polizist, der den ersten Tag auf Streife geht. »Soviel ich weiß, gar nichts. Ich interessiere mich für ihn. Ich«, ließ er beiläufig fallen.

»Warum?«

Eine lange Geschichte, dachte Armstrong. Soll ich dir erzählen, daß Dimitri Yazernow ein Deckname für Rákóczy ist, den russischen islamischen Marxisten, hinter dem du seit Monaten her bist? Soll ich dir den wahren Grund nennen, warum man mich angewiesen hat, dir heute abend zu helfen, ihn zu fassen? Von einem tschechischen Überläufer hat MI 6 ganz zufällig erfahren, daß es sich hier in Wirklichkeit um Igor Mzytryk handelt, den Sohn von Pjotr Oleg Mzytryk, der in meinen Tagen in Hongkong als Gregor Suslew bekannt war – ein Meisterspion, von dem wir alle glaubten, er wäre längst tot.

Nein, Yazernow brauchen wir nicht. Wen wir haben wollen – wen ich haben will –, das ist der Vater, der angeblich in Reichweite irgendwo nördlich der Grenze lebt. Nur allzu gern würden wir diesen Saukerl durch die Mangel drehen und auseinandernehmen, diesen Exchef des Geheimdienstes Fernost, Dozent für Spionage an der Universität Wladiwostok, ranghohes Parteimitglied und Gott weiß was noch alles.

»Warum bist du an Yazernow interessiert, Robert?«

»Ich glaube, er ist mehr als nur ein Verbindungsmann der Tudeh zu den Studenten. Er sieht deinem kurdischen Dissidenten Ali bin Hassan Karakose zum Verwechseln ähnlich.«

»Du meinst, er ist derselbe Mann?«

»Ja.«

»Unmöglich!«

Armstrong hob die Schultern. Er hatte ihm einen Knochen hingeworfen; wenn er nicht daran nagen wollte, war das seine Sache.

Haschemi stieß nach. »Warum interessieren dich Karakose und die Kurden – wenn es wahr ist, was du mir da erzählst.«

»Die Kurden sitzen an allen Grenzen«, antwortete er leichthin. »Das kurdische Nationalbewußtsein ist sehr sensibel und für die Sowjets leicht auszunützen – mit weitreichenden Folgen für Kleinasien. Natürlich sind wir interessiert.«

Gedankenverloren starrte der Oberst aus dem Fenster. »Setz mich bitte hier ab, Robert! Wir fangen um Mitternacht mit Yazernow an. Du bist natürlich willkommen.« Er legte die Hand an den Türgriff.

»Nicht so hastig, alter Junge! Wir sind Freunde. Was ist denn los mit dir?« Der Oberst zögerte. Dann nahm er die Hand wieder von der Klinke. »Die Regierung hat die SAVAK verboten, ebenso alle nachrichtendienstlichen Abteilungen, also auch unsere, und angeordnet, daß sie unverzüglich aufzulösen sind.«

»Ja, aber das Büro des Ministerpräsidenten hat dich bereits angewiesen, heimlich weiterzuarbeiten. Du hast nichts zu fürchten, Haschemi. Du bist nicht belastet. Du wurdest angewiesen, die Tudeh zu zerschlagen, die Fedajins, die islamischen Marxisten – du hast mir selbst den Befehl gezeigt. Hat die Operation heute abend nicht diesen Richtlinien entsprochen?«

»Ja, ja, schon.« Haschemi verstummte und fügte mit dumpfer Stimme hinzu: »Ja, das hat sie schon. Was weißt du über das Islamische Revolutionäre Komitee?«

»Nur daß es aus Männern bestehen soll, die Khomeini persönlich ausgesucht hat«, antwortete Armstrong aufrichtig. »Seine Vollmachten wurden nie genau definiert, und wir wissen nicht exakt, wer dabei ist, aus wie vielen Leuten es besteht, wo und wann es zusammentritt, ob Khomeini den Vorsitz führt oder ein anderer …«

»Aber ich weiß jetzt genau, daß das Komitee von Khomeini mit einem Höchstmaß an Macht ausgestattet wurde, und daß Bazargan eine kurzfristige Galionsfigur darstellt und nur so lange im Amt bleiben wird, bis das Komitee die neue islamische Verfassung promulgiert hat, die uns alle in die Zeit des Propheten zurückwerfen wird.«

»Verdammt!« knurrte Armstrong. »Keine gewählte Regierung?«

»Nein!« stieß Haschemi wütend hervor.

»Vielleicht wird diese Verfassung abgelehnt. Das Volk muß doch dafür stimmen, und nicht alle sind so fanatisch …«

»Mach dir doch nichts vor, Robert!« fuhr der Oberst ihn an. »Die große Mehrheit der Bevölkerung besteht aus Fundamentalisten, und Bewußtsein, das zu sein, ist auch schon alles, was diese Leute haben. Unsere Bourgeois, die Reichen und die Mittelklasse, das sind Teheraner, Bürger von Täbris, Abadan, Isfahan – alle vom Schah gefördert und nur eine Handvoll im Vergleich zu den anderen 36 Millionen Iranern, von denen die meisten weder lesen noch schreiben können. Natürlich werden sie für alles stimmen, was Khomeini gutheißt. Und wir beide wissen, wie er den Islam, den Koran und die Scharia sieht.«

»Wann … wann werden sie die neue Verfassung proklamieren?«

»Verstehst du uns Iraner immer noch nicht nach so langer Zeit? Die neue Verfassung trat in dem Augenblick in Kraft, als dieser arme Hund Bachtiar von Carter und von den Generälen fallengelassen wurde und fliehen mußte. Was Bazargan angeht, diesen frommen, rechtschaffenen, anständigen und demokratisch gesinnten, von Khomeini ernannten Ministerpräsidenten – der arme Kerl ist nur ein Gimpel und wird für alles und jedes geradestehen müssen, was zwischen jetzt und dann schiefgeht.«

»Du meinst, er wird der Sündenbock sein? Wird man ihm den Prozeß machen?«

»Prozeß? Was für einen Prozeß? Habe ich dir nicht schon mal erklärt, was das Komitee unter einem Prozeß versteht? Wenn er angeklagt wird, wird er auch erschossen. Inscha'Allah. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hat man mir heute nachmittag mitgeteilt, daß die SAVAK heimlich umorganisiert wurde; sie wird in Zukunft SAVAMA heißen – und Abrim Pahmudi wurde zum Chef bestellt!«

»Allmächtiger Gott!« Armstrong war, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Abrim Pahmudi war einer der drei besten Freunde des Schahs gewesen und hatte im Iran und später in der Schweiz mit ihm zusammen studiert. Unter Schah Mohammed hatte er eine hohe Stellung bekleidet und war in der SAVAK zum Stellvertretenden Kommandeur avanciert. Wie es hieß, hielt er sich jetzt irgendwo versteckt und wartete auf eine Gelegenheit, im Namen des Schahs mit der Regierung Bazargan über die Möglichkeit zu verhandeln, eine konstitutionelle Monarchie zu errichten. Der Schah hatte sich für diesen Fall bereit erklärt, zugunsten seines Sohnes Reza abzudanken. »Du lieber Himmel! Das erklärt natürlich vieles.«

»Genau«, sagte Haschemi bitter. »Jahrelang hat dieser Bastard an fast jeder militärischen oder politischen Sitzung teilgenommen, an jeder Zusammenkunft mit Staatsoberhäuptern und gerade in den letzten Tagen an allen Besprechungen mit dem amerikanischen Botschafter und amerikanischen Generälen.« Er war so zornig, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. »Alles ist verraten: der Schah, die Revolution, das Volk, du, ich, alle. Wie oft haben wir beide ihm in den vergangenen Jahren Bericht erstattet? Einschließlich Namenslisten, Kontonummern, Liebesverhältnissen, die nur wir entdecken und kennen konnten. Und alles schriftlich. Wir sind verraten!«

Armstrong lief es kalt über den Rücken. Natürlich wußte Pahmudi von seiner Zugehörigkeit zum Inneren Sicherheitsrat. Pahmudi mußte alles wissen, was von Belang war: von George Talbot, von Masterton, seinem Gegenspieler in der CIA, von Lawenow, seinem sowjetischen Gegenspieler, von allen militärischen Notstandsplanungen und von jenen Operationen zur Neutralisierung der streng geheimen Radarstationen der CIA.

»Verdammte Scheiße«, murmelte er und ärgerte sich, daß ihre eigenen Informationsquellen sie nicht gewarnt hatten. Dieser stets zuvorkommende, intelligente, diskrete und drei Sprachen sprechende Pahmudi! In all den Jahren hatte es nie auch nur den leisesten Verdacht gegen ihn gegeben.

Niemals. Wie hatte er das nur geschafft, zumal doch der Schah seine höchsten Beamten immer wieder überprüfen ließ? Völlig zu Recht, dachte Armstrong. O Gott, wie soll das enden?

Im gleichen Verkehrsgewühl: 21 Uhr 15. McIver fuhr in südliche Richtung zu jenem Stadtteil, in dem das Haus der Familie Bakravan stand. Tom Lochart saß neben ihm.

»Es wird schon alles gutgehen«, tröstete ihn McIver, krank vor Sorge.

Als er nach seiner Vorsprache bei Ali Kia guter Dinge wieder nach Hause gekommen war, hatte Tom Lochart schon auf ihn gewartet. Seine Freude über Locharts Ankunft wurde rasch durch dessen Aussehen und die Nachrichten gedämpft, wonach Starke zur Vernehmung über die ›Flucht aus Isfahan‹ vor das Revolutionäre Komitee von Kowiss gebracht worden war.

»Es ist alles meine Schuld, Mac«, sagte Tom Lochart.

»Ist es nicht, Tom. Wir sitzen beide in der Falle – ich habe den Flug ja schließlich genehmigt. Aber wie bist du überhaupt rausgekommen, wenn alle an Bord waren? Erzähl uns doch, was passiert ist – dann rufe ich Freddy an. Möchtest du einen Drink?«

»Nein, nein, danke. Hör mal, Mac, ich muß Scharazad finden. Sie war nicht daheim, aber ich hoffe, sie ist im Stadthaus ihrer Familie.«

»Sie ist dort. Ich weiß es, weil Erikki es mir erzählt hat, bevor er heute früh nach Täbris geflogen ist. Du hast das mit ihrem Vater gehört?«

»Ja. Entsetzlich. Bist du sicher, daß sie dort ist?«

»Ja.« Mit schweren Schritten ging McIver zur Anrichte, um sich einen Drink zu mixen. »Sie ging schon nach deinem Abflug nicht mehr in eure Wohnung zurück. Und es schien ihr auch gut zu gehen, bis … Erikki und Azadeh haben noch vorgestern mit ihr gesprochen. Gestern …«

»Wie hat sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters aufgenommen?«

»Den Umständen entsprechend – du weißt ja, wie das bei iranischen Familien ist. Was ihren Vater angeht, wissen wir nur, was Erikki uns erzählt hat: daß er als Zeuge vorgeladen wurde und daß die Familie noch am gleichen Tag aufgefordert wurde, seine Leiche abzuholen. Er hätte ›Verbrechen gegen den Islam‹ begangen und sei deswegen erschossen worden.« Er nahm einen kräftigen Schluck und fühlte sich gleich ein wenig wohler. »Aber erzähle uns doch einmal, wie es dir ergangen ist! Dann rufe ich Freddy an, und dann fahren wir zu Scharazad.«

Rasch kam Lochart seinem Wunsch nach. Fassungslos hörten sie zu. »Als Rudi mir dann erzählte, daß dieser islamische Luftwaffenoffizier Abbasi die HBC abgeschossen hat, wurde ich fast wahnsinnig. Aber Mac, glaubst du, Charlies Idee mit einer Entführung, die wird standhalten? Bestimmt nicht.«

»Das wissen wir, Tom«, sagte McIver. »Aber erzähl erst mal fertig!«

»Ich konnte nicht zurückfliegen, also mietete ich einen Wagen, kam vor ein paar Stunden hier an und mußte feststellen, daß die Wohnung von hezbollahis beschlagnahmt worden war – zusammen mit dem ganzen Besitz meines Schwiegervaters, seinen Laden im Basar und das Stadthaus ausgenommen.«

»Unglaublich!«

»Ich bin obdachlos. Scharazad und ich haben alles verloren.« Er lachte bitter. »Das Haus hat natürlich Jared gehört, und die Wohnung auch, obwohl – sie war ein Teil von Scharazads Mitgift. Können wir jetzt fahren, Mac?«

»Laß mich zuerst Freddy anrufen. Dann …«

»Natürlich, natürlich. Tut mir leid. Ich bin ganz durcheinander.«

McIver ging zum Sendegerät. »Tom«, sagte er traurig, »was hast du im Hinblick auf Zagros vor?«

»Wenn Scharazad in Ordnung ist, fliege ich morgen mit Jean-Luc zurück; wir wollen sehen, wie wir zurechtkommen, und dann fliegt sie mit dem nächsten Pendler nach Al Schargas«, antwortete Lochart. »Es hängt davon ab, welche Zustände wir auf der Basis vorfinden … Wenn wir schließen müssen, Inscha'Allah, bringen wir alle auf den Ölfeldern Beschäftigten nach Schiras, von wo sie mit regulären Flügen weiterreisen können. Ihre Firmen werden ihnen schon sagen, wo sie hin sollen. Und wir schaffen alles nach Kowiss: Helis, Ersatzteile und Personal. Okay?«

»Ja, okay.« McIver schaltete das Sendegerät ein: »Kowiss. Hier spricht Zentrale. Hören Sie mich?«

Nur einen Augenblick später: »Zentrale. Hier spricht Kowiss, Captain Ayre. Bitte sprechen Sie, Captain McIver!«

»Zunächst bezüglich Zagros 3: Teilen Sie Captain Gavallan mit, daß Captain Lochart und Captain Sessone morgen mit neuen Anweisungen zurück sein werden. Mittlerweile entwickeln Sie Pläne, den Wünschen des Komitees zu entsprechen.« Verdammte Saukerle, dachte er und fügte mit Rücksicht auf die Zuhörenden hinzu: »Der IranOil-Verwalter des Stützpunktes Zagros sollte das Komitee daran erinnern, daß der Ayatollah und die Regierung befohlen haben, die Ölproduktion ab sofort zu normalisieren. Sollte Zagros stillgelegt werden müssen, würde das eine ordnungsgemäße Produktion in diesem Gebiet ernstlich behindern. Informieren Sie Captain Gavallan, daß ich mich in dieser Sache unverzüglich an Minister Kia wenden werde, der mir die Anordnungen der Regierung vor einer Stunde persönlich bestätigt und mir gleichzeitig schriftliche Genehmigung erteilt hat, mit unserer eigenen 125 Crews auszufliegen und zu ersetzen, bis …«

»Mann, Mac, das ist eine gute Nachricht!« kam es impulsiv aus dem Lautsprecher.

»… bis der normale Flugverkehr wieder aufgenommen wird. Denken Sie an die Ersatzcrews und Ersatzteile für die viele zusätzliche Arbeit, dazu die Guerney-Verträge, in die wir auf Wunsch der Regierung einsteigen sollen – ich kann die Maßnahmen des örtlichen Komitees wirklich nicht begreifen. Haben Sie verstanden, Captain Ayre?«

»Jawohl, Sir, alles verstanden.«

»Ist Captain Starke schon zurück?«

Langes Schweigen und dann: »Nein.«

McIvers Stimme wurde kühler. »Informieren Sie mich unverzüglich, wenn er zurückkommt. Und noch etwas, Captain Ayre, aber das bleibt unter uns: Wenn er irgendwelche Probleme hat und nicht bis Tagesanbruch auf den Stützpunkt zurückgekehrt ist, werde ich allen unseren Flugzeugen im ganzen Iran Startverbot erteilen, unseren ganzen Betrieb stillegen und unser gesamtes Personal zu 100 Prozent aus dem Iran abziehen. Haben Sie mich verstanden, Kowiss?«

Schweigen, und dann: »Verstanden, Zentrale.«

»Was Sie angeht«, fügte McIver hinzu, »richten Sie Major Changiz und dem Klugscheißer von mir aus, daß ich Ihnen befohlen habe, sofort alle Operationen einschließlich der CASEVACS einzustellen, bis Starke auf den Stützpunkt zurückgekehrt ist. Haben Sie verstanden?«

Schweigen, und dann: »Jawohl. Die Mitteilung wird sofort weitergegeben.«

»Gut. Aber nur, soweit sie Ihren Stützpunkt betrifft. Der Rest ist vertraulich – bis morgen früh!« Er lächelte grimmig. »Sobald die 125 wieder da ist, werde ich eine Inspektionsreise unternehmen, um mich zu vergewissern, daß alles auf dem letzten Stand ist. Sonst noch etwas?«

»Nein, Sir. Im Augenblick nicht. Wir freuen uns schon darauf, Sie zu sehen.«

»Zentrale. Ende der Durchsage.«

Pettikin lächelte. »Das dürfte genügen, Mac. Damit hast du ihnen eine Wespe in den Hintern gesteckt.«

»Kann sein, kann auch nicht sein.« McIver leerte sein Glas und sah auf die Uhr. »Komm, Tom! Wir werden nicht auf Jean-Luc warten. Fahren wir zu Scharazad!«

Der Verkehr hatte inzwischen ein wenig nachgelassen, staute sich aber immer noch vor den Kreuzungen. Die Straßen waren glatt und von schmutzigen Schneehaufen gesäumt.

»Bei der nächsten Ecke mußt du rechts abbiegen«, sagte Lochart jetzt.

»Okay.« Schweigend fuhren sie weiter. McIver bog ab. »Hast du in Isfahan für das Benzin mit deinem Namen unterschrieben, Tom?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Hat dir jemand Fragen gestellt? Dich nach deinem Namen gefragt? Hezbollahis vielleicht?«

Lochart dachte konzentriert nach. »Nicht daß ich wüßte. Ich war einfach nur der ›Captain‹ und gehörte zur Dekoration. Ich wurde auch niemandem vorgestellt. Valik, Annousch und die Kinder gingen gleich nach der Landung etwas essen, zusammen mit dem anderen General – wie hieß er doch gleich? – Seladi. Ich blieb die ganze Zeit über beim Heli im Hangar, überwachte das Auftanken, sah einiges nach – man brachte mir sogar das Essen auf einem Tablett, und ich verzehrte es in der Kabine. Da saß ich die ganze Zeit, bis diese verdammten hezbollahis mich überfielen, mich wegschleppten und einsperrten. Es kam alles völlig unerwartet. Sie hatten den Stützpunkt umstellt, konnten aber dabei sicher auf Hilfe von innen zählen. Die Burschen, die mich schnappten, brüllten mich an, ich wäre Amerikaner, von der CIA. Es ging ihnen wohl nicht so sehr um mich als um den Stützpunkt. Bei der Gabelung links, Mac. Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Mit leichtem Unbehagen fuhr McIver weiter. Es war ein sehr heruntergekommenes Viertel, und die Vorübergehenden glotzten sie an. »Vielleicht können wir ungeschoren davonkommen, wenn wir angeben, die HBC sei von Unbekannten aus Doschan Tappeh gekapert worden. Vielleicht verfolgen sie dann die Sache nicht von Isfahan aus.«

»Aber warum haben sie dann Duke Starke geschnappt?« fragte Lochart.

»Routine.« McIver seufzte. »Ich weiß, es ist eine riskante Angelegenheit, aber es könnte klappen. Möglicherweise erinnern sie sich nur an den ›Amerikaner von der CIA‹, und weiter an nichts. Laß dir für alle Fälle einen Schnurrbart wachsen oder einen Bart!«

Lochart schüttelte den Kopf. »Das bringt nichts. Mein Name steht auf der ursprünglichen Starterlaubnis. Meiner und deiner, das ist der Haken.«

»Als du von Doschan Tappeh gestartet bist, wer hat dich verabschiedet?«

Lochart überlegte kurz. »Niemand. Ich glaube, es war Nogger, der am Tag zuvor das Auftanken überwacht hatte. Er …«

»Das stimmt. Ich erinnere mich jetzt. Er hat noch gemeckert und gesagt, ich gäbe ihm zuviel Arbeit, wo doch seine Paula in der Stadt sei. War irgendwelches iranisches Personal dabei? Wachtposten? Hast du jemandem ein Trinkgeld gegeben?«

»Nein, es war niemand dabei.« Lochart steckte den Kopf aus dem Fenster. Seine Erregung nahm zu, und er deutete hinaus: »Da ist die Abzweigung!« McIver bog in eine enge Straße ein, die nur zwei Fahrspuren hatte. Hohe Mauern auf beiden Seiten, Schneehaufen, Türen und Tore. McIver, der noch nie hier gewesen war, wunderte sich, daß ein so reicher Mann wie Bakravan in einer offensichtlich so armen Gegend wohnte. So reich, dachte er, und jetzt ist er tot wegen ›Verbrechen gegen den Staat‹. Was ist eigentlich ein Verbrechen gegen den Staat? Es schauderte ihn.

»Das ist das Tor, da links!«

Sie blieben stehen. Ein unauffälliger Torbogen war in die hohe, modrige Mauer eingelassen, die Tür mit Eisen beschlagen, das Eisen rostig.

»Komm mit rein, Mac!«

»Ich warte hier eine kleine Weile. Wenn alles in Ordnung ist, fahre ich zurück. Ich bin geschlaucht.« Es gibt nur eine Lösung, dachte McIver, streckte den Arm aus und hielt Lochart am Arm fest. »Wir haben die Bewilligung, drei 212 auszufliegen. Du nimmst eine. Morgen. Zum Teufel mit Zagros, Jean-Luc schafft das leicht. Ich weiß natürlich nicht, ob sie Scharazad gehen lassen werden, aber du mußt hier raus, und so schnell du kannst. Es gibt keine andere Möglichkeit. Scharazad setzen wir in den nächsten Pendler.«

»Und was ist mir dir, Mac?«

»Mit mir? Was soll schon sein? Du mußt raus – und wenn sie sie gehen lassen, nimm Scharazad mit! Alles klar?«

Lochart sah ihn an. »Laß mich darüber nachdenken, Mac. Und vielen Dank! Ich komme gleich nach Tagesanbruch – laß Jean-Luc nicht eher abfliegen. Wir können uns dann entscheiden. Okay?«

»Ja.« McIver sah vom Auto aus zu, wie sein Freund den altmodischen Klopfer betätigte. Die zwei Männer warteten. Lochart war ganz übel vor Sorge. Er bereitete sich auf die trauernde Familie vor, auf die Tränen und die Fragen. Er würde höflich sein müssen, obwohl er nichts anderes im Sinn hatte, als mit Scharazad in ihre eigenen vier Wände zu fliehen, sie in die Arme zu nehmen und festzuhalten und alle Alpträume zu vergessen. Er stand vor der Tür und wartete, klopfte noch einmal, diesmal lauter. Und wartete wieder. McIver schaltete den Motor ab, um Benzin zu sparen, aber die Stille machte das Warten noch schlimmer. Schneeflocken blieben auf der Windschutzscheibe haften.

Da näherten sich gedämpfte Schritte, und das vergitterte Guckloch öffnete sich einen Spalt. Die Augen, die Lochart anblickten, waren kalt und hart, und er konnte den kleinen Teil des Gesichtes, den er sah, nicht erkennen.

»Ich bin es, Exzellenz Lochart«, begann er auf Persisch. »Meine Gemahlin Scharazad ist hier.«

»Bitte warten Sie, Agha!«

Wieder mußte er warten. Er bewegte sich ungeduldig, um sich gegen die Kälte zu wehren. Er hätte die Tür einschlagen wollen und wußte, daß er das nicht konnte. Endlich wieder Schritte. Wieder öffnete sich das Guckloch. Ein anderes Gesicht, andere Augen. »Wie heißen Sie, Agha?«

Lochart hätte den Mann anbrüllen mögen, aber er beherrschte sich. »Mein Name ist Exzellenz Captain Tom Lochart, ich bin der Gemahl von Scharazad. Öffnen Sie die Tür! Es ist kalt. Ich bin müde und da, um nach meiner Frau zu sehen.«

Schweigend schloß sich das Guckloch. Nach einem Augenblick quälenden Wartens hörte er zu seiner Erleichterung, wie die Riegel zurückgeschoben wurden. Die Tür öffnete sich. Der Diener hielt eine Öllampe hoch. Hinter ihm sah Lochart den von einer hohen Mauer umgebenen Hof mit einem prächtigen Springbrunnen in der Mitte. Die Bäume und Pflanzen waren gegen die Kälte geschützt. Am anderen Ende wieder eine Tür, auch sie eisenbeschlagen. Diese Tür stand offen, und er sah Scharazad, die sich als Silhouette gegen das Lampenlicht abhob. Er stürzte auf sie zu, und weinend und jammernd lag sie in seinen Armen.

Die Tür zur Straße schlug zu, und die Riegel wurden zugeschoben. »Warten Sie!« rief Lochart dem Diener zu und dachte dabei an McIver. Dann hörte er den Motor anspringen und den Wagen losfahren.

Er führte Scharazad ins Haus und in die Wärme. Als er sie im Licht sah, schwand sein anfängliches Glücksgefühl, und sein Magen krampfte sich zusammen. Ihre Wangen waren schmutzig, die Augen geschwollen, die Haare glanzlos und strähnig, ihre Kleidung zerknittert.

»Du lieber Himmel …«, murmelte er, aber sie schien ihn nicht zu hören. Sie klammerte sich an ihn, wimmerte in einer Mischung aus Persisch und Englisch, während ihr Tränen über die Wangen rollten. »Ist ja schon gut, Scharazad«, versuchte er sie zu beruhigen. Aber sie lallte monoton weiter. »Scharazad, Scharazad, mein Liebling. Ich bin wieder da. Ist ja schon gut. Ist ja schon gut …« Er brach ab. Es war, als hätte er überhaupt nichts gesagt, und plötzlich erstarrte er bei dem Gedanken, daß sie den Verstand verloren haben könnte. Er begann, sie sanft zu schütteln, aber auch das zeigte keine Wirkung. Dann sah er, daß der alte Diener immer noch an der Treppe stand und auf Befehle wartete. »Wo … wo ist die Gnädigste, Frau Bakravan?« fragte er. Scharazad hatte ihre Arme fest um seinen Hals gelegt.

»Sie ist in ihrem Zimmer, Agha.«

»Bitte, sagen Sie ihr, daß ich da bin und gern meine Aufwartung machen möchte.«

»Oh, sie empfängt niemanden, Agha. Niemanden. Wie es Allah gefällt. Sie hat niemanden mehr empfangen seit dem Tag …« Tränen glitzerten in den alten Augen. »Exzellenz sind fort gewesen, vielleicht wissen Exzellenz nicht, daß …«

»Ich weiß es. Ja, ich habe es schon erfahren.«

»Inscha'Allah, Agha, Inscha'Allah. Aber welche Verbrechen hätte der Herr verüben sollen? Inscha'Allah, daß man ihn …«

»Inscha'Allah. Bitte, sagen Sie der Gnädigsten … Scharazad, hör auf! Komm, Liebling«, fuhr er auf Englisch fort; ihr Winseln machte ihn wahnsinnig. »Hör auf!« Und auf Persisch zum Diener: »Bitte, ersuchen Sie die Gnädigste, mich zu empfangen.«

»O ja, ich werde sie ersuchen, Agha. Aber die Gnädigste wird die Tür nicht aufmachen und mir nicht antworten. Ich gehe jedoch sofort, um Ihren Befehl auszuführen.« Er setzte sich in Bewegung.

»Warten Sie! Wo sind denn alle? Wo ist der Rest der Familie?«

»Ah, die Familie. Die Gnädigste ist in ihrem Zimmer, und die Dame Scharazad ist hier.«

»Ich meine, wo ist Exzellenz Meschang mit seiner Frau und den Kindern, und wo sind meine Schwägerinnen und ihre Männer?«

»Zu Hause natürlich, Agha.«

»Dann sagen Sie Exzellenz Meschang, daß ich da bin.« Als ältester Sohn waren Meschang und seine Familie die einzigen, die mehr oder weniger ständig hier wohnten.

»Gewiß, Agha. Wie es Allah gefällt. Ich werde in den Basar gehen.«

»Er ist im Bazar?«

Der Alte nickte. »Selbstverständlich, Agha. Er und seine Familie sind im Bazar. Jetzt ist er der Herr und muß das Geschäft führen, wie es Allah gefällt, Agha. Er ist jetzt das Oberhaupt des Hauses Bakravan. Ich gehe schon.«

»Nein, schicken Sie jemand anderen.« Der Basar war ganz in der Nähe. »Haben wir – Scharazad, hör endlich auf!« fuhr er sie grob an – »haben wir heißes Wasser im Haus?«

»Wir sollten welches haben, Agha. Der Kessel ist sehr gut, aber nicht eingeschaltet.«

»Habt ihr kein Heizöl?«

»Oh, Heizöl sollte da sein, Agha. Wünschen Sie, daß ich nachsehe?«

»Ja, machen Sie den Kessel an, und bringen Sie uns etwas zu essen und Tee!«

»Gewiß, Agha. Was wünscht die Exzellenz zu speisen?«

Lochart bemühte sich, bei Verstand zu bleiben; Scharazads Wimmern brachte ihn langsam zur Verzweiflung. »Irgend etwas – nein, Reis und Khoresch, Hühner-Khoresch.«

»Wenn Sie es wünschen, Agha. Aber der Koch ist stolz auf seinen Hühner-Khoresch, und er braucht Stunden, um ihn zuzubereiten.« Höflich wartete der alte Mann, während seine Blicke von Lochart zu Scharazad und wieder zurück wanderten.

»Dann … einfach Obst. Irgendwelches Obst. Obst und Tee …« Lochart ertrug es nicht länger, hob Scharazad in seine Arme und ging mit ihr die Treppe hinauf und durch die Gänge bis zu den Zimmern, die sie beide für gewöhnlich in dem prächtigen, weitläufigen, dreigeschossigen Haus bewohnten. Er öffnete die Tür und schloß sie mit einem Tritt. »Scharazad, hör mir zu! Verdammt noch mal, hör doch zu!« Aber sie stand nur da, lehnte sich an ihn, jammerte und lallte. Er trug sie in das muffige Schlafzimmer – Fenster und Rolläden waren fest geschlossen – und nötigte sie, sich auf das ungemachte Bett zu setzen. Dann eilte er ins Badezimmer.

Kein heißes Wasser. Das kalte Wasser floß und schien auch nicht allzu abgestanden zu sein. Er fand Handtücher, feuchtete eines an und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Seine Brust schmerzte ihn, und er wußte, daß er überfordert war. Scharazad hatte sich nicht bewegt. Er versuchte, ihr das Gesicht abzuwischen, aber sie leistete Widerstand und fing an zu schluchzen, womit sie ihr Gesicht noch mehr entstellte.

»Scharazad … Scharazad, mein Liebling!« Er hob sie auf und drückte sie an sich, aber sie reagierte nicht. Nur das Wimmern hielt an, und er konnte es kaum mehr ertragen. »Reiß dich zusammen!« stieß er hervor und wollte sich von ihr lösen, aber ihre Hände krallten sich in seine Jacke und klammerten sich an ihn.

O Gott, gib mir Kraft … Er sah, wie seine Hand ihr mitten ins Gesicht schlug. Einen Augenblick lang verstummte sie, starrte ihn nur ungläubig an; dann umflorten sich ihre Augen von neuem, sie begann abermals zu wimmern und zerrte wieder an seiner Jacke. »Gott steh mir bei!« stammelte er und fing an, sie ins Gesicht zu schlagen, fester und fester, mit der offenen Hand. Dann legte er sie mit dem Gesicht nach unten auf das Bett und bearbeitete ihr Hinterteil, kräftig, bis seine Hände brannten und sein Arm schmerzte. Plötzlich hörte er Schreien, richtiges Schreien, kein winselndes Lallen mehr. »Tommy, bitte hör auf! Tommy … du tust mir weh, was hab ich denn getan, o Allah? Tommy, hör auf …«

Er ließ seine Hand sinken. In seinen Augen brannte Schweiß, seine Kleider klebten ihm am Leib. Mühsam richtete er sich auf. Sie krümmte sich vor Schmerzen, ihr Hinterteil und ihr Gesicht waren blutrot, aber ihre Tränen strömten jetzt als richtige Tränen, und auch ihr Verstand regte sich wieder. »Du hast mir wehgetan, Tommy«, schluchzte sie. »Warum nur? Ich schwöre dir, daß ich dich liebe … Ich habe nie etwas getan, um dich zu verletzen, und jetzt …« Sie schämte sich, ihn so wütend gemacht zu haben, begriff nicht, wie es dazu gekommen war, und wußte nur, daß sie ihm helfen mußte, seine Wut zu vergessen. Sie flehte ihn unter Tränen an, ihr zu verzeihen. Ihre Tränen versiegten, als die Wirklichkeit sie einholte. »Oh, Tommy«, sagte sie und blickte ihn schmerzvoll an. »Vater ist tot … Ermordet, ermordet von hezbollahis.«

»Ja, mein Liebling, ich weißes. Ich weiß es … Es tut mir so leid.« Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest und gab ihr von seiner Kraft, wie auch sie ihm von der ihren gab.

Sie schliefen unruhig ein, während das Licht der Öllampe freundliche Schatten warf. Kurz vor Mitternacht erwachte sie. Ihre Augen beobachteten ihn; als sie sich näher an ihn heranschieben wollte, um ihn zu küssen, hinderten sie brennende Schmerzen daran.

Sogleich legte er seinen Arm um sie. »Bitte, sei vorsichtig! Tut mir leid … es ist …«

Sie blickte an sich hinunter und sah, daß ihre Kleider schmutzig waren. »Oh, dieses Kleid, entschuldige, Liebling …« Unbeholfen stand sie auf, um sich auszuziehen. Ihre Schönheit benahm ihm den Atem. Sie griff nach dem noch feuchten Handtuch und säuberte ihr Gesicht. Dann ging sie näher ans Licht, bürstete ihr Haar und sah im Spiegel, daß sich ein Auge schon leicht blau verfärbte und daß ihr Hinterteil Prellungen und Druckstellen aufwies. »Was habe ich getan … habe ich dich beleidigt?«

»Nein, überhaupt nicht«, entgegnete er bestürzt und erzählte ihr, wie er sie angetroffen hatte.

Verständnislos starrte sie ihn an. »Aber … ich erinnere mich an gar nichts … nur, daß du mich geschlagen hast.«

»Es tut mir so furchtbar leid, aber ich wußte mir keinen anderen Rat.«

Sie kam zum Bett zurück und legte sich vorsichtig auf den Bauch. »Wenn du nicht gewesen wärst … wie es Allah gefällt. Aber wenn ich mich in so einem Zustand befunden habe, wie du sagst … Wie seltsam, daß ich mich an nichts erinnern kann.« Ihre Stimme drohte zu versagen, doch sie fuhr gleich fort: »Wenn du nicht gewesen wärst … ich hätte vielleicht für immer den Verstand verloren.« Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn. »Ich liebe dich, Geliebter.«

»Ich liebe dich auch, Geliebte.«

Nach einer Weile sagte sie mit gepreßter Stimme: »Ich glaube, ich weiß, was mich in diesen Zustand versetzt hat. Als ich gestern – oder war es vorgestern? – Vater sah … tot … kam er mir so klein vor … Mit den vielen Löchern in seinem Gesicht, in seinem Kopf … Ich hatte ihn nicht so klein in Erinnerung … Sie haben ihn so klein gemacht, sie haben ihn …«

»Nicht!« sagte er sanft und sah die Tränen in ihren Augen. »Inscha'Allah. Denk nicht daran!«

»Gewiß, mein Gemahl, wenn du es wünschst«, erwiderte sie sogleich förmlich auf Persisch. »Selbstverständlich ist alles, wie Allah es will, aber für mich ist es wichtig, mit dir darüber zu sprechen, die Schande von mir zu nehmen, daß du mich so angetroffen hast … Ich würde es dir gern eines Tages erzählen.«

»Dann erzähl es mir jetzt, Scharazad, und dann können wir es für immer vergessen. Bitte erzähl es mir jetzt!«

»Sie haben dem Mann, der nach dir der wichtigste Mann in meiner Welt war, seine Bedeutung genommen. Haben ihn zu einem unbedeutenden Menschen gemacht. Grundlos. Er war immer gegen den Schah und ein begeisterter Parteigänger dieses Mullah Khomeini.« Ganz ruhig sagte sie Mullah und nicht Ayatollah oder Imam oder farmandeh. »Grundlos und ohne Prozeß haben sie meinen Vater ermordet und ihn klein gemacht; sie haben ihm alles genommen, was er als Mann, als Vater, als geliebter Vater, besessen hat. Wie Allah will, soll ich sagen, und ich werde es versuchen. Aber ich kann nicht glauben, daß es Allahs Wille war. Vielleicht war es Khomeinis Wille. Ich weiß es nicht. Aber wir Frauen werden es bald erfahren.«

»Was meinst du damit?«

»In drei Tagen werden sich die Frauen zu einem Protestmarsch versammeln – alle Frauen Teherans.«

»Gegen was wollt ihr protestieren?«

»Gegen Khomeini und die Mullahs, die den Frauen ihre Rechte nehmen. Wenn sie sehen, wie wir ohne Tschador marschieren, werden sie sich das überlegen.«

Halb hörte Lochart ihr zu, halb erinnerte er sich, wie sie noch vor wenigen Tagen mit sich zufrieden gewesen war, glücklich darüber, daß sie nur eine Ehefrau und keine ›Progressive‹ wie Azadeh war. Er sah ihre Augen und ihre Entschlossenheit. »Ich möchte nicht, daß du an dieser Demonstration teilnimmst.«

»Gewiß, mein Gemahl. Aber jede Frau in Teheran wird marschieren, und du wirst mich doch im Gedenken an meinen Vater nicht beschämen wollen – würdest du vor den Vertretern seiner Mörder stumm bleiben?«

»Es ist eine reine Zeitverschwendung«, argumentierte Lochart und wußte, daß er verlieren würde. »Und wenn alle Frauen des Iran oder in allen Ländern des Islam an einem Protestmarsch teilnehmen würden, es hätte auf Khomeini überhaupt keine Wirkung. In seinem islamischen Staat werden die Frauen nur sein, was ihnen der Koran zubilligt. Er ist unbeugsam – und das ist seine Stärke.«

»Du hast natürlich recht, aber wir marschieren, um zu protestieren, und dann wird ihm Allah die Augen öffnen und ihm alles klarmachen. Es soll sein, wie es Allah gefällt, nicht wie es Khomeini gefällt.«

Er nahm sie in die Arme. Mit Marschieren ist nichts getan, dachte er. O Scharazad, es gibt so viel zu sagen, zu berichten, zu entscheiden, aber jetzt ist nicht die Zeit dazu. Da sind Zagros und die 212, die überführt werden muß. Dann ist nur noch Mac da, um den Kopf hinzuhalten. Was wäre, wenn ich ihn auch mitnehmen würde? Das ginge natürlich nur mit Gewalt. »Ich muß ein Flugzeug überführen«, sagte er, »eine 212 nach Nigeria. Würdest du mitkommen?«

»Selbstverständlich, Tommy. Wie lange würden wir fortbleiben?«

Er zögerte. »Ein paar Wochen, vielleicht auch länger.« Er fühlte, wie sie sich kaum merklich in seinen Armen regte. »Wann würdest du starten wollen?«

»Sehr bald. Vielleicht morgen.«

Ohne sich zu bewegen, entzog sie sich seiner Umarmung. »Es wäre mir nicht möglich, Mutter in nächster Zeit allein zu lassen. Sie hat sich ganz in ihren Kummer vergraben, und wenn ich fortginge, hätte ich keine ruhige Minute. Auch darf ich den armen Meschang nicht vergessen. Er muß die Geschäfte führen, er braucht Hilfe. Es gibt so viel zu tun, so viele Dinge, um die man sich kümmern muß.«

»Weißt du schon vom Konfiskationsbescheid?«

»Von was für einem Bescheid?«

Er erzählte es ihr. Wieder hatte sie Tränen in den Augen. »Dann haben wir also kein Heim mehr, nichts. Wie es Allah gefällt«, sagte sie niedergeschlagen. Doch dann plötzlich mit veränderter Stimme: »Nein, nicht wie es Allah gefällt! Wie es den hezbollahis gefällt! Jetzt müssen wir zusammenhalten, um die Familie zu retten. Wenn wir das nicht tun, werden sie Vater ganz auslöschen – wir können nicht zulassen, daß sie ihn ermorden und dann auch noch ganz auslöschen, das wäre furchtbar.«

»Ich stimme dir zu, aber dieser Überführungsflug würde unsere Probleme für ein paar Wochen lösen.«

»Du hast recht wie immer, das würde er, Tommy, wenn wir fortgehen müßten. Aber das Haus hier ist jetzt genauso unser Heim, wenn nicht noch mehr. Wie glücklich werden wir hier sein! Schon morgen kümmere ich mich um Personal und bringe alle unsere Sachen aus der Wohnung hierher. Was sind schon ein paar Teppiche und ähnlicher Plunder, wenn wir dieses Haus und uns selbst haben! Ich werde mich um alles kümmern … Wir werden hier sehr glücklich sein.«

»Aber wenn du …«

»Nach diesem Verlust ist es noch wichtiger, daß wir hier bleiben und Widerstand leisten, protestieren.« Als sie sah, daß er ihr antworten wollte, legte sie ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Wenn du diesen Überführungsflug machen mußt – und natürlich mußt du deine Arbeit tun –, dann flieg nur, Liebster. Aber komm bald zurück! In ein paar Wochen wird in Teheran alles wieder normal und liebenswert sein. Ich weiß, daß es das sein wird, weil es Allah gefällt.«

O ja, dachte sie zuversichtlich, und Glückseligkeit besiegte ihre Schmerzen, und dann bin ich im zweiten Monat, und Tommy wird so stolz auf mich sein. Hier im Schoß der Familie werden wir ein wunderbares Leben führen. »Alle werden uns helfen«, sprudelte sie heraus. Sie war so müde, aber auch so glücklich. »O Tommy, ich bin so froh, daß du daheim bist, daß wir daheim sind. Es wird herrlich werden.« Ihre Worte wurden gedehnter, als der Schlaf sie zu übermannen begann. »Wir werden Meschang helfen … und die im Ausland sind, werden zurückkommen. Tante Annousch und die Kinder … sie werden mithelfen … und Onkel Valik wird Meschang beraten …«

Lochart hatte nicht das Herz, ihr die Wahrheit zu sagen.