Das letzte Glied

 

Poirots plötzliche Abreise beschäftigte uns alle sehr. Der Sonntagmorgen verstrich und er kam immer noch nicht wieder. Aber um drei Uhr hupte es draußen lange und heftig, und wir eilten ans Fenster und sahen Poirot begleitet von den Kriminalbeamten Japp und Summerhaye aus einem Auto steigen. Der kleine Mann war völlig verändert, er strahlte große Zufriedenheit aus. Mit übertriebener Höflichkeit verneigte er sich vor Mrs. Cavendish.

«Madame, habe ich Ihre Erlaubnis, im Salon eine kleine réunion abzuhalten? Es ist wichtig, dass alle daran teilnehmen.»

Mary lächelte traurig. «Sie wissen doch, Monsieur Poirot, Sie haben in allem carte blanche.»

«Sie sind zu liebenswürdig, Madame.»

Mit immer noch strahlendem Gesicht ging uns Poirot in den Salon voran und rückte für alle die Stühle zurecht.

«Miss Howard – hierhin. Mademoiselle Cynthia. Monsieur Lawrence. Die brave Dorcas. Und Annie. Bien! Wir müssen noch ein paar Minuten auf Mr. Inglethorp warten. Ich habe ihn brieflich hierher gebeten.»

Miss Howard erhob sich sofort von ihrem Platz.

«Wenn dieser Mann dieses Haus betritt, gehe ich!»

«Nein, nein!» Poirot ging zu ihr und bat sie leise zu bleiben. Schließlich gab Miss Howard nach und setzte sich wieder. Kurze Zeit später betrat Alfred Inglethorp den Raum.

Als alle versammelt waren, erhob sich Poirot in der Pose eines Volksredners von seinem Platz und verbeugte sich höflich vor seinem Publikum.

«Messieurs, mesdames, wie Sie alle wissen, wurde ich von Monsieur Cavendish am Morgen nach dem Verbrechen damit beauftragt, diesen Fall zu untersuchen. Ich besah mir sofort das Schlafzimmer der Verstorbenen, das auf Anraten der Ärzte hin verschlossen worden war und sich folglich noch genau in demselben Zustand befand wie zur Zeit des tragischen Ereignisses. Ich fand als Erstes einen Fetzen grünen Stoff, zweitens einen noch feuchten Fleck auf dem Teppich beim Fenster und drittens eine leere Schachtel, die Schlafpulver enthalten hatte.

Kommen wir zuerst zu dem grünen Stofffetzen. Ich fand ihn festgeklemmt in dem Riegel an der Verbindungstür zu Mademoiselle Cynthias Zimmer. Ich übergab den Fetzen der Polizei, die ihm weiter keine Bedeutung beimaß. Sie erkannten auch nicht, woher er stammte – es waren ein paar Fäden einer grünen Armbinde, wie sie von den freiwilligen Landhelfern getragen wird.»

Unter den Anwesenden war eine leichte Erregung zu spüren.

«Nun gab es aber nur einen Menschen auf Styles, der Landarbeit verrichtete, Mrs. Cavendish. Deshalb muss Mrs. Cavendish den Raum der Verstorbenen durch die Tür von Mademoiselle Cynthia betreten haben.»

«Aber diese Tür war doch von innen verriegelt!», rief ich aus.

«Als ich das Zimmer untersuchte, ja. Aber erst einmal haben wir dafür nur ihr Wort, sie war diejenige, die die Tür aufzumachen versuchte und behauptete, sie sei verschlossen gewesen. In dem allgemeinen Durcheinander hätte sie sehr wohl die Möglichkeit gehabt, den Riegel vorzuschieben. Bald schon überzeugte ich mich von der Richtigkeit meiner Hypothese. Erst einmal passt der Fetzen genau in einen Riss in Mrs. Cavendishs Armbinde. Dann erklärte Mrs. Cavendish auch noch bei der Untersuchung, dass sie in ihrem Zimmer gehört hätte, wie der Tisch neben dem Bett umgestürzt sei. Ich überprüfte diese Aussage bald darauf, indem ich meinen Freund, Mr. Hastings, im linken Flügel genau vor Mrs. Cavendishs Tür Position beziehen ließ und dann in Begleitung der Polizei in das Zimmer der Verstorbenen ging und versehentlich den Tisch umwarf. Doch wie erwartet, hatte Monsieur Hastings nicht das kleinste Geräusch gehört. Das bestätigte mich in meiner Überzeugung, dass Mrs. Cavendish nicht die Wahrheit gesagt hatte, als sie erklärte, sie habe sich zum Zeitpunkt der Tragödie gerade in ihrem Zimmer angekleidet. Ich war sogar im Gegenteil überzeugt davon, dass Mrs. Cavendish gar nicht in ihrem Zimmer war, sondern sich im Zimmer der Verstorbenen befand, als der Alarm gegeben wurde.»

Ich sah rasch hinüber zu Mary. Sie war sehr blass, aber sie lächelte.

«Ich kam also zu folgender Annahme: Mrs. Cavendish befindet sich im Zimmer ihrer Schwiegermutter. Nehmen wir einmal an, dass sie etwas sucht und es noch nicht gefunden hat. Plötzlich wacht Mrs. Inglethorp auf und windet sich in fürchterlichen Krämpfen. Sie wirft die Arme zur Seite, stößt dabei den Tisch um und zieht verzweifelt an der Klingel. Mrs. Cavendish erschrickt, lässt die Kerze fallen, und so gerät Wachs auf den Teppich. Sie hebt die Kerze wieder auf und verschwindet rasch in Mademoiselle Cynthias Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Sie eilt hinaus auf den Flur, denn die Dienstboten sollen sie hier nicht finden. Aber zu spät! Schon sind Schritte auf der Galerie zu hören, die die beiden Flügel des Hauses verbindet. Was soll sie tun? Blitzschnell eilt sie zurück in das Zimmer des jungen Mädchens und rüttelt sie wach. Die aufgeschreckten Dienstboten und Familienmitglieder kommen den Flur entlanggelaufen. Sie klopfen an Mrs. Inglethorps Tür. Niemandem fällt auf, dass Mrs. Cavendish nicht zusammen mit den anderen hergekommen ist, aber – und das ist wichtig – ich kann niemanden finden, der sie aus dem anderen Teil des Hauses kommen sah.» Er sah Mrs. Cavendish an. «Habe ich Recht, Madame?»

Sie neigte den Kopf.

«Sie haben ganz Recht, Monsieur. Sie glauben mir sicherlich, dass ich diese Tatsachen längst enthüllt hätte, wenn ich meinem Mann damit hätte helfen können. Aber es schien sich dadurch an der Frage seiner Schuld oder Unschuld nichts zu ändern.»

«Das ist in gewisser Hinsicht korrekt, Madame. Aber erst nachdem mir das klar war, konnte ich mich von vielen falschen Theorien lösen und bekam den Kopf frei, um andere Tatsachen in ihrer wahren Bedeutung zu erkennen.»

«Das Testament!», rief Lawrence aus. «Dann hast du also das Testament vernichtet, Mary?»

Sie schüttelte den Kopf, genau wie Poirot.

«Nein», sagte sie leise. «Es gibt nur eine Person, die das Testament vernichtet haben kann – das ist Mrs. Inglethorp selbst!»

«Unmöglich!», entfuhr es mir. «Sie hatte es doch erst an diesem Nachmittag gemacht!»

«Trotzdem war es Mrs. Inglethorp, mon ami. Weil es keine andere Erklärung für die Tatsache gibt, dass Mrs. Inglethorp an einem der heißesten Tage des Jahres die Anweisung gab, ein Kaminfeuer in ihrem Schlafzimmer anzuzünden.»

Ich schnappte nach Luft! Wie dumm von uns, dass wir uns über dieses höchst unpassende Feuer nie Gedanken gemacht hatten! Poirot fuhr fort.

«Die Temperatur an diesem Tag betrug annähernd 30 Grad im Schatten, verehrte Zuhörer. Dennoch gab Mrs. Inglethorp Anweisung, ein Kaminfeuer anzuzünden! Warum? Weil sie etwas verbrennen wollte und ihr keine andere Möglichkeit einfiel. Sie werden sich daran erinnern, dass auf Styles infolge der kriegsbedingten Sparmaßnahmen kein Papier weggeworfen wurde. Deshalb konnte sie ein so dickes Dokument wie ein Testament nicht einfach vernichten. Als ich von dem Kaminfeuer in Mrs. Inglethorps Zimmer hörte, kam mir sofort der Gedanke, dass wichtige Papiere vernichtet werden sollten – möglicherweise ein Testament. Deshalb überraschte mich die Entdeckung von verkohlten Papierfetzen nicht. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich noch nicht, dass das Testament erst an diesem Nachmittag verfasst worden war, und ich muss zugeben, dass ich dann, als ich davon erfuhr, einen schwerwiegenden Fehler beging. Ich hielt Mrs. Inglethorps Entschluss, das Testament zu vernichten, für eine Konsequenz des Streits vom Nachmittag. Deshalb folgerte ich, dass der Streit nach und nicht vor dem Abfassen des Testaments stattgefunden haben musste.

Darin irrte ich mich, wie wir jetzt wissen, und ich musste diese Theorie fallen lassen. Ich betrachtete das Problem von einem neuen Standpunkt aus. Um vier Uhr hörte Dorcas, wie Mrs. Inglethorp wütend sagte: ‹Du brauchst nicht zu denken, dass Angst vor Gerede oder vor einem Skandal zwischen Eheleuten mich davon abhalten könnte.› Ich vermutete, und ich vermutete richtig, dass diese Worte nicht gegen ihren Mann, sondern gegen Mr. John Cavendish gerichtet waren. Um fünf Uhr, eine Stunde später, gebraucht sie noch einmal die gleichen Worte, aber aus einer anderen Sicht. Sie gesteht Dorcas gegenüber: ‹Ich weiß nicht, was ich tun soll, ein Skandal zwischen Eheleuten ist eine schreckliche Sache.› Um vier Uhr war sie wütend, aber völlig Herrin ihrer selbst. Um fünf ist sie ganz außer sich und redet davon, dass sie ‹einen großen Schock› erlitten habe.

Ich betrachtete die Angelegenheit nun aus psychologischer Sicht. Ich zog eine Schlussfolgerung, die meiner Überzeugung nach richtig war: Der zweite Skandal, von dem sie sprach, war nicht derselbe wie der erste – der betraf sie nämlich selbst!

Lassen Sie uns die Ereignisse rekonstruieren: Um vier Uhr hat Mrs. Inglethorp mit ihrem Sohn eine heftige Auseinandersetzung und droht ihm, seiner Frau etwas zu verraten – die dieses Gespräch übrigens zum größten Teil belauscht. Um halb fünf macht Mrs. Inglethorp als Folge einer Unterhaltung über die Gültigkeit von Testamenten ein Testament zu Gunsten ihres Mannes, das sie von zwei Gärtnern beglaubigen lässt. Um fünf Uhr findet Dorcas Mrs. Inglethorp in einem Zustand großer Erregung vor, sie hält einen Zettel in der Hand – Dorcas hält ihn für einen ‹Brief› – und dann gibt sie die Anweisung, in ihrem Zimmer ein Kaminfeuer anzuzünden. Offenbar hat sich zwischen halb fünf und fünf etwas ereignet, das sie zutiefst erschüttert und eine Sinnesänderung herbeigeführt hat, da sie nun bestrebt ist, das Testament zu vernichten, das sie erst eben gerade aufgesetzt hat. Was war das?

Soweit wir wissen, war sie in dieser halben Stunde allein. Niemand betrat oder verließ das Boudoir. Was veranlasste sie also zu diesem plötzlichen Sinneswandel?

Hier können wir nur raten, aber ich glaube, dass ich richtig rate. Mrs. Inglethorp hatte keine Briefmarken in ihrem Schreibtisch. Das wissen wir, weil sie später Dorcas bat, ihr welche zu bringen. In der entgegengesetzten Ecke des Raumes stand der Schreibtisch ihres Mannes – und zwar verschlossen. Sie brauchte nun dringend die Briefmarken und meiner Theorie nach versuchte sie mit ihren eigenen Schlüsseln den Schreibtisch zu öffnen. Ich weiß, dass einer ihrer Schlüssel passte. Sie öffnete also den Schreibtisch, suchte nach den Briefmarken und fand etwas anderes – sie fand den Zettel, den Dorcas in ihrer Hand sah und der ganz sicher nicht für Mrs. Inglethorps Augen bestimmt war.

Mrs. Cavendish glaubte jedoch, dass dieser Papierfetzen, den ihre Schwiegermutter so krampfhaft festhielt, ein schriftlicher Beweis für die Untreue ihres Mannes John war. Sie bat Mrs. Inglethorp darum, die ihr wahrheitsgemäß versicherte, das Papier habe damit nichts zu tun. Mrs. Cavendish glaubte ihr nicht. Sie meinte, Mrs. Inglethorp würde ihren Stiefsohn in Schutz nehmen. Doch Mrs. Cavendish ist eine sehr entschlossene Frau und hinter ihrer Maske ruhiger Gelassenheit war sie fürchterlich eifersüchtig auf ihren Mann. Sie wollte um jeden Preis dieses Papier in die Hand bekommen, und der Zufall half ihr dabei. Sie fand zufällig die Schlüssel von Mrs. Inglethorps Aktenkoffer, die an diesem Morgen verloren gegangen waren. Sie wusste, dass ihre Schwiegermutter alle wichtigen Papiere immer in diesem Koffer aufbewahrte.

Mrs. Cavendish plante ihr Vorgehen mit aller Energie einer von Eifersucht getriebenen, verzweifelten Frau. Im Verlauf des Abends entriegelte sie die Tür, die in Mademoiselle Cynthias Zimmer führte. Wahrscheinlich ölte sie die Türangeln, denn als ich es versuchte, stellte ich fest, dass sich die Tür ganz leicht öffnen ließ. Sie wartete mit der Durchführung ihres Plans bis in die frühen Morgenstunden, weil es dann sicherer war, da die Dienstboten daran gewöhnt waren, dass sie um diese Zeit aufstand. Sie kleidete sich vollständig an und schlich sich leise durch Mademoiselle Cynthias Zimmer in das von Mrs. Inglethorp.»

Er machte eine kurze Pause und Cynthia nutzte sie:

«Aber ich wäre doch bestimmt aufgewacht, wenn jemand durch mein Zimmer gegangen wäre!»

«Nicht, wenn Sie ein Schlafmittel bekommen hatten.»

«Ein Schlafmittel?»

«Mais oui!»

Er wandte sich wieder an uns alle:

«Sie erinnern sich, dass Mademoiselle Cynthia trotz des ganzen Tumults und des Lärms nebenan schlief. Dafür kann es nur zwei Gründe geben: Entweder war das vorgetäuscht – was ich nicht glaube – oder ihre Bewusstlosigkeit wurde künstlich herbeigeführt.

Aus diesem Grund, untersuchte ich alle Kaffeetassen sehr sorgfältig, denn ich erinnerte mich, dass Mrs. Cavendish Mademoiselle Cynthia am Abend vorher den Kaffee gebracht hatte. Ich entnahm jeder Tasse eine Probe und ließ sie analysieren – aber ohne Ergebnis. Ich hatte die Tassen gewissenhaft gezählt, für den Fall, dass eine versteckt worden war. Sechs Personen hatten Kaffee getrunken und sechs Tassen wurden auch gefunden. Ich hatte mich also geirrt.

Dann fand ich heraus, dass mir ein schwerwiegender Fehler unterlaufen war. Es war Kaffee für sieben Personen serviert worden, denn an dem Abend war auch Dr. Bauerstein da gewesen. Damit erschien die Sache in einem völlig neuen Licht, denn jetzt fehlte eine Tasse. Die Dienstboten hatten nichts gemerkt, denn Annie servierte sieben Tassen, weil sie nicht wusste, dass Mr. Inglethorp niemals Kaffee trank, wohingegen Dorcas, die sie am folgenden Morgen abräumte, wie gewöhnlich sechs vorfand – genau genommen fand sie fünf, denn die sechste war ja die zerbrochene in Mrs. Inglethorps Zimmer.

Ich war mir sicher, dass die fehlende Tasse die von Mademoiselle Cynthia war, auch deshalb, weil in allen Tassen Zucker gewesen war, Mademoiselle Cynthia aber nie Zucker in ihrem Kaffee nahm. Meine Aufmerksamkeit wurde durch eine Bemerkung Annies geweckt, sie hätte ‹Salz› auf dem Tablett mit dem Kakao gesehen, das sie jeden Abend in Mrs. Inglethorps Zimmer stellte. Also besorgte ich mir eine Probe von diesem Kakao und ließ ihn ebenfalls analysieren.»

«Aber das hatte Dr. Bauerstein doch schon getan», warf Lawrence rasch ein.

«Eben nicht. Er hatte nur einen Bericht darüber verlangt, ob darin Strychnin enthalten war oder nicht. Er hatte es nicht wie ich auf ein Betäubungsmittel untersuchen lassen.»

«Betäubungsmittel?»

«Ja. Hier ist der Bericht des Labors. Mrs. Cavendish gab eine ungefährliche, aber wirksame Dosis eines Betäubungsmittels sowohl in Mrs. Inglethorps als auch in Mademoiselle Cynthias Tasse. Und es ist sehr gut möglich, dass sie deshalb un mauvais quart dheure durchmachen musste! Stellen Sie sich ihre Gefühle vor, als ihre Schwiegermutter plötzlich erkrankt und stirbt, und direkt anschließend hört sie das Wort ‹Gift›! Sie dachte, ihr Schlafmittel sei völlig harmlos, aber eine schreckliche Sekunde lang muss sie geglaubt haben, dass Mrs. Inglethorps Tod ihre Schuld war. Sie gerät in Panik und eilt deshalb nach unten und versteckt die Kaffeetasse und Untertasse von Mademoiselle Cynthia in einer großen Messingvase, wo sie später von Monsieur Lawrence entdeckt wurden. Die Reste des Kakaos wagt sie nicht anzurühren. Zu viele Augen könnten etwas sehen. Stellen Sie sich ihre Erleichterung vor, als Strychnin erwähnt wird und sie dann entdeckt, dass sie die Tragödie nicht verschuldet hatte.

Mittlerweile wissen wir auch, warum die Symptome der Strychninvergiftung so spät auftraten. Wenn Strychnin gleichzeitig mit einem Schlafmittel eingenommen wird, verzögert sich die Wirkung des Gifts um mehrere Stunden.»

Poirot unterbrach sich. Mary sah ihn an und langsam stieg ihr das Blut ins Gesicht.

«Alles, was Sie sagten, stimmt, Monsieur Poirot. Es war die schrecklichste Stunde meines Lebens. Ich werde sie niemals vergessen. Aber Sie sind wunderbar. Jetzt verstehe ich…»

«Was ich meinte, als ich Ihnen sagte, Sie könnten Papa Poirot ruhig alles gestehen, eh? Aber Sie vertrauten mir nicht.»

«Ich verstehe jetzt alles», sagte Lawrence. «Der Kakao mit dem Schlafmittel nach dem vergifteten Kaffee ist die Ursache für die Verzögerung.»

«Genau. Aber war der Kaffee vergiftet oder nicht? Hier stoßen wir auf eine kleine Schwierigkeit, da Mrs. Inglethorp ihn nie getrunken hat.»

«Was?» Ein einstimmiger überraschter Ausruf.

«Nein. Erinnern Sie sich an meine Worte von einem Fleck auf dem Teppich in Mrs. Inglethorps Zimmer? Mit diesem Fleck hat es eine seltsame Bewandtnis. Er war noch feucht, er roch stark nach Kaffee, und tief im Teppich fand ich einige winzige Porzellansplitter. Mir war sofort klar, was geschehen war, denn nur zwei Minuten zuvor hatte ich meinen kleinen Koffer auf den Tisch beim Fenster gestellt, und der Tisch war umgekippt, und mein Koffer war genau auf die gleiche Stelle des Teppichs gefallen. Auch Mrs. Inglethorp hatte ihre Tasse dort abgestellt, nachdem sie in ihr Zimmer gekommen war, und der wacklige Tisch hatte ihr den gleichen Streich gespielt.

Was dann geschah, ist allein meine Vermutung, aber ich denke, dass Mrs. Inglethorp die Scherben auflas und auf den Tisch neben ihrem Bett legte. Da sie aber das Bedürfnis nach einem stimulierenden Getränk verspürte, machte sie ihren Kakao warm und trank ihn dann dort aus. Jetzt stehen wir vor einem neuen Problem: Wir wissen, dass der Kakao kein Strychnin enthielt. Der Kaffee wurde nicht getrunken. Dennoch muss das Strychnin irgendwann zwischen sieben und neun Uhr verabreicht worden sein. Was gab es also für ein drittes Mittel – ein Mittel, das den Geschmack von Strychnin so gut überdeckt, weswegen man kaum glauben kann, dass das niemandem eingefallen ist?»

Poirot sah sich im Raum um und gab dann selber triumphierend die Antwort: «Ihre Medizin!»

«Wollen Sie damit sagen, dass der Mörder das Strychnin in ihr Stärkungsmittel tat?», rief ich.

«Das war gar nicht nötig, es war schon in der Mischung enthalten. Das Strychnin, an dem Mrs. Inglethorp starb, war identisch mit dem, das Dr. Wilkins ihr verschrieben hatte. Um Ihnen das zu erklären, werde ich Ihnen einen Abschnitt aus einem pharmazeutischen Buch vorlesen, das ich in der Apotheke des Roten-Kreuz-Krankenhauses von Tadminster gefunden habe:

 

‹Das folgende Rezept ist in medizinischen Kreisen berühmt geworden:

Strychninae sulph. gr. 1

Potass Bromide 3vi

Aqua ad 3viii

Fiat Mistura

In dieser Lösung bilden die Strychninsalze innerhalb weniger Stunden einen Bodensatz unlöslicher Bromkristalle. Eine Patientin in England starb, weil sie die Medizinflasche niemals schüttelte und auf diese Weise fast den ganzen Strychningehalt mit der letzten Dosis einnahm.›

 

In Dr. Wilkins’ Rezept war natürlich kein Brom aufgeführt, aber Sie erinnern sich, dass ich die leere Schachtel mit dem Pulver erwähnte. Wenn man ein oder zwei dieser Pulver in die Medizin schüttete, würde sich das Strychnin, wie im Buch beschrieben, kristallisieren und absetzen und deshalb erst mit der letzten Dosis eingenommen werden. Sie werden später hören, dass die Person, die Mrs. Inglethorp die Medizin eingoss, immer sehr darauf achtete, dass die Flasche nicht geschüttelt wurde, damit die Ablagerung sich nicht wieder mit der Flüssigkeit vermischte. Bei der Untersuchung des Falls gab es immer wieder Hinweise, dass die Tragödie am Montagabend stattfinden sollte. An diesem Tag wurde die Klingelschnur in Mrs. Inglethorps Zimmer sauber durchgeschnitten, und den Montagabend verbrachte Mademoiselle Cynthia mit Freunden, sodass Mrs. Inglethorp ganz allein in dem Flügel des Hauses gewesen wäre, völlig abgeschnitten von jedweder Hilfe, und sie wäre wahrscheinlich gestorben, bevor ärztliche Hilfe geholt werden konnte. Aber weil sie zu der Veranstaltung pünktlich kommen wollte, vergaß Mrs. Inglethorp vor lauter Eile, ihre Medizin zu nehmen, und am nächsten Tag aß sie mittags auswärts, sodass die letzte und tödliche Dosis vierundzwanzig Stunden später als vom Mörder geplant eingenommen wurde – und es hängt mit genau dieser Zeitverschiebung zusammen, dass ich jetzt das letzte Beweisstück – das letzte Glied in der Kette – in meinen Händen halte.»

Atemloses Schweigen herrschte, während er drei dünne Papierstreifen vorzeigte.

«Ein Brief in der Handschrift des Mörders, mes amis! Wenn er ein bisschen klarer formuliert gewesen wäre, hätte Mrs. Inglethorp, rechtzeitig gewarnt, ihrem Schicksal entkommen können. Ihr wurde zwar klar, dass sie in Gefahr schwebte, aber sie wusste nicht, wie die aussah.»

Alle hielten die Luft an und schwiegen. Poirot hielt die drei Papierstreifen aneinander, räusperte sich und las:

 

«‹Liebste Evelyn,

Du machst dir sicherlich Sorgen, weil du nichts gehört hast. Aber alles ist in Ordnung – es wird nur statt gestern erst heute passieren. Der Plan bleibt der gleiche. Wenn die alte Frau erst einmal tot und aus dem Weg ist, werden goldene Zeiten anbrechen. Mir wird wohl niemand etwas anhängen können. Deine Idee mit dem Brom war ein genialer Einfall1. Doch wir müssen sehr vorsichtig sein. Ein falscher Schritt…›

 

Hier, meine Freunde, bricht der Brief ab. Zweifellos wurde der Schreiber unterbrochen, aber bezüglich seiner Identität gibt es keinen Zweifel. Wir alle kennen seine Handschrift und…»

Ein Aufheulen, das sich fast zu einem Kreischen steigerte, durchbrach die Stille.

«Du Teufel! Wie bist du daran gekommen?»

Ein Stuhl fiel um. Poirot wich geschickt zur Seite. Eine rasche Bewegung seinerseits und der Angreifer stürzte krachend zu Boden.

«Messieurs, mesdames», sagte Poirot mit schwungvoller Geste, «ich möchte Sie mit dem Mörder bekannt machen: Mr. Alfred Inglethorp!»