Es ist kein Strychnin, nicht wahr?

 

«Wo haben Sie das gefunden?», fragte ich Poirot neugierig.

«Im Papierkorb. Erkennen Sie die Handschrift?»

«Ja, es ist Mrs. Inglethorps Schrift. Aber was hat das zu bedeuten?»

Poirot zuckte mit den Achseln.

«Das weiß ich nicht, aber es ist sehr viel sagend.»

Ich hatte eine verrückte Idee. War es vielleicht möglich, dass Mrs. Inglethorp geistig verwirrt gewesen war? Hatte sie unter der phantastischen Zwangsvorstellung gelitten, sie wäre von einem Dämonen besessen? Und falls das so war, hatte sie sich vielleicht deshalb das Leben genommen?

Ich wollte diese Theorien gerade mit Poirot erörtern, als mich seine nächsten Worte verwirrten.

«Kommen Sie», sagte er, «wir wollen jetzt die Kaffeetassen untersuchen!»

«Mein lieber Poirot! Was soll das denn noch nützen, wenn wir doch jetzt den Kakao haben?»

«Oh, là là! Dieser dumme Kakao!», rief Poirot geringschätzig.

Er lachte mit offensichtlicher Freude und rang in gespieltem Entsetzen die Hände über dem Kopf, was in meinen Augen eindeutig eine Geschmacklosigkeit war.

«Und außerdem», sagte ich mit wachsender Befremdung, «hat Mrs. Inglethorp ihren Kaffee ja mit nach oben genommen – ich wüsste also nicht, was Sie da finden wollen. Es sei denn, Sie halten es für möglich, dass wir ein Päckchen Strychnin auf dem Kaffeetablett finden!»

Sogleich war Poirot wieder ernst.

«Aber, aber, mein Freund, ne vous fâchez pas!» Er hakte sich bei mir ein. «Gestatten Sie mir mein Interesse für Kaffeetassen und ich lasse Ihnen Ihren Kakao. Na, ist das ein Angebot?»

Er war so komisch, dass ich gegen meinen Willen lachen musste, und wir gingen gemeinsam zum Salon, wo die Kaffeetassen und das Tablett noch genau so dastanden, wie wir sie zurückgelassen hatten.

Poirot ließ mich die Szene des gestrigen Abends noch einmal rekapitulieren, hörte sehr aufmerksam zu und überprüfte, wo die verschiedenen Tassen gestanden hatten.

«Demnach stand also Mrs. Cavendish beim Tablett und schenkte ein. Ja. Dann kam sie dorthin zum Fenster, wo Sie mit Mademoiselle Cynthia saßen. Ja. Hier sind die drei Tassen. Und die halb ausgetrunkene Tasse auf dem Kaminsims ist dann wohl die von Mr. Lawrence Cavendish. Und die auf dem Tablett?»

«Das war die von John Cavendish. Ich sah, wie er sie dort abstellte.»

«Gut. Eins, zwei, drei, vier, fünf – aber wo ist denn dann die Tasse von Mr. Inglethorp?»

«Er trinkt keinen Kaffee.»

«Dann haben wir ja alle. Einen Augenblick, mein Freund.»

Mit unendlicher Behutsamkeit nahm er ein oder zwei Tropfen von dem Kaffeerest aus jeder Tasse, probierte davon und füllte ihn jeweils in ein Röhrchen, das er dann verschloss. Seine Mimik veränderte sich von Mal zu Mal auf seltsame Weise. Zum Schluss hatte er einen Ausdruck im Gesicht, den ich nur mit halb verdutzt und halb erleichtert beschreiben kann.

«Bien!», sagte er schließlich. «Es ist sonnenklar! Mir kam so eine Idee – aber ich habe mich wohl offensichtlich geirrt. Ja, ich habe mich völlig geirrt. Aber es ist sonderbar. Na, egal.»

Und mit einem charakteristischen Achselzucken verwarf er, was auch immer ihm Sorgen gemacht hatte. Ich hätte ihm schon zu Anfang sagen können, dass seine Dickköpfigkeit bezüglich des Kaffees ihn in eine Sackgasse führen würde, aber ich hielt mich zurück. Schließlich war Poirot seinerzeit ein bedeutender Mann gewesen, auch wenn er jetzt gealtert schien.

«Das Frühstück ist fertig.» John Cavendish war aus der Halle in den Salon gekommen. «Sie essen doch mit uns, Monsieur Poirot?»

Poirot nahm die Einladung dankend an. Ich sah mir John genauer an. Er war schon fast wieder ganz sein früheres Selbst. Der Schock nach den Ereignissen der letzten Nacht hatte ihm zeitweilig sehr zugesetzt, aber er hatte schon bald sein inneres Gleichgewicht wiedergewonnen. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder besaß er nicht viel Phantasie. Der wiederum hatte eher zu viel.

Seit den frühen Morgenstunden hatte John hart gearbeitet, Telegramme verschickt – eins der ersten ging an Evelyn Howard –, Anzeigen für die Zeitungen verfasst und all die traurigen Pflichten erfüllt, die der Tod mit sich bringt.

«Darf ich fragen, wie die Dinge stehen?», erkundigte er sich. «Weisen Ihre Untersuchungen darauf hin, dass meine Mutter eines natürlichen Todes starb oder müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen?»

«Ich glaube, Mr. Cavendish, dass Sie sich lieber keine falschen Hoffnungen machen sollten», sagte Poirot ernst. «Können Sie mir sagen, wie die anderen Mitglieder Ihrer Familie darüber denken?»

«Mein Bruder Lawrence ist davon überzeugt, dass wir viel Lärm um nichts machen. Er sagt, alles deute darauf hin, dass es ein einfacher Fall von Herzversagen war.»

«Ach, das denkt er? Das ist ja hochinteressant – hochinteressant», murmelte Poirot leise. «Und Mrs. Cavendish?»

Johns Gesicht verfinsterte sich für einen Moment.

«Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie meine Frau darüber denkt.»

Diese Antwort wirkte auf uns wie ein Guss kaltes Wasser.

John unterbrach die ziemlich peinliche Stille, indem er sich einen Ruck gab und sagte: «Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Mr. Inglethorp wieder da ist?»

Poirot neigte den Kopf.

«Wir befinden uns da alle in einer sehr peinlichen Situation. Natürlich müssen wir uns ihm gegenüber so wie sonst benehmen – aber verdammt noch mal, da steigt einem doch die Galle hoch, wenn man sich neben einen mutmaßlichen Mörder an den Tisch setzen soll!»

Poirot nickte verständnisvoll.

«Das verstehe ich. Es ist eine schwierige Situation für Sie, Mr. Cavendish. Ich würde Ihnen gern eine Frage stellen. Mr. Inglethorp ist gestern Nacht nicht zurückgekommen, weil er, wenn ich mich recht erinnere, seinen Hausschlüssel vergessen hatte. Stimmt das?»

«Ja.»

«Sie sind also ganz sicher, dass der Hausschlüssel auch wirklich vergessen wurde – dass er ihn nicht doch mitgenommen hatte?»

«Keine Ahnung. Ich kam nie auf die Idee nachzuschauen. Wir bewahren ihn immer in der Kommode in der Halle auf. Ich gehe mal nachschauen, ob er da ist.»

«Nein, nein, Mr. Cavendish, jetzt ist es dafür zu spät. Bestimmt werden Sie ihn nun dort vorfinden. Falls Mr. Inglethorp ihn mitgenommen hatte, wird er ihn inzwischen bestimmt zurückgelegt haben.»

«Aber Sie denken…»

«Ich denke gar nichts. Falls jemand vor seiner Rückkehr zufälligerweise hineingesehen und den Schlüssel dort bemerkt hätte, wäre das ein wichtiger Beweis zu Mr. Inglethorps Gunsten gewesen. Das ist alles.»

John sah verwirrt drein.

«Machen Sie sich keine Sorgen», beruhigte ihn Poirot, «ich versichere Ihnen, dass Sie sich deshalb nicht zu beunruhigen brauchen. Da Sie so freundlich waren, mich einzuladen, lassen Sie uns jetzt frühstücken gehen.»

Alle waren im Esszimmer versammelt. Unter den gegebenen Umständen waren wir natürlich keine fröhliche Gesellschaft. Das schreckliche Ereignis hatte uns allen stark zugesetzt und wir litten noch darunter. Der Anstand und die guten Sitten verlangten natürlich, dass wir uns nichts anmerken ließen, aber ich musste mir doch die Frage stellen, ob diese Selbstbeherrschung große Anstrengung erforderte. Es gab keine rot geweinten Augen, keinerlei Anzeichen für stille Trauer. Ich gelangte zu der Einschätzung, dass Dorcas diejenige war, die am meisten unter der Tragödie litt.

Ich spreche nicht von Alfred Inglethorp, der die Rolle des trauernden Witwers auf höchst abstoßende, heuchlerische Weise spielte. Wusste er, dass wir ihn verdächtigten? Sicherlich musste ihm das klar sein, mochten wir es auch noch so zu verheimlichen suchen. Empfand er ein leises Raunen der Angst oder vertraute er darauf, dass sein Verbrechen ungesühnt bleiben würde? Er musste den Verdacht spüren, der gegen ihn in der Luft lag.

Aber verdächtigten ihn denn alle? Was war mit Mrs. Cavendish? Ich beobachtete sie, wie sie anmutig, beherrscht und geheimnisvoll am Ende des Tisches saß. Sie trug ein hellgraues Kleid mit weißen Rüschen an den Ärmeln, die ihr über die schlanken Handgelenke fielen, und sah sehr schön aus. Wenn sie wollte, konnte ihr Gesicht jedoch sphinxhaft undurchdringlich sein. Sie war sehr still und sagte kaum etwas, doch auf eine seltsame Weise fühlte ich, dass ihre starke Persönlichkeit uns alle beherrschte.

Und die kleine Cynthia? Hatte sie einen Verdacht? Ich fand, dass sie sehr müde und krank aussah, und auch ihre Bewegungen waren matt und schwerfällig. Ich fragte sie, ob sie sich krank fühle, und sie antwortete offen: «Ja, ich habe schreckliche Kopfschmerzen.»

«Wollen Sie noch eine Tasse Kaffee, Mademoiselle?», erkundigte sich Poirot fürsorglich. «Er wird Sie aufmuntern. Es gibt nichts Besseres gegen mal de tête.» Er sprang auf und nahm ihre Tasse.

«Ohne Zucker.» Cynthia hatte gesehen, wie Poirot die Zuckerzange in die Hand genommen hatte.

«Keinen Zucker? Wohl wegen der Kriegszeiten, eh?»

«Nein, ich trinke Kaffee immer ohne Zucker.»

«Sacré!», murmelte Poirot leise und brachte ihr die gefüllte Tasse.

Nur ich hatte ihn gehört, und als ich dem kleinen Mann einen neugierigen Blick zuwarf, sah ich, wie es in seinem Gesicht vor unterdrückter Erregung arbeitete und dass seine Augen grün wie die einer Katze funkelten. Er hatte irgendetwas gesehen oder gehört, das ihn stark bewegte – aber was? Eigentlich halte ich mich nicht für begriffsstutzig, aber ich muss gestehen, dass ich nichts Ungewöhnliches bemerkt hatte.

Gleich darauf öffnete sich die Tür und Dorcas teilte John mit: «Mr. Wells möchte Sie sprechen, Sir.»

Mir fiel ein, dass das der Name von Mrs. Inglethorps Anwalts war, dem sie gestern Abend geschrieben hatte.

John stand sofort auf.

«Führen Sie ihn in mein Arbeitszimmer.» Dann wandte er sich an uns. «Der Anwalt meiner Mutter.» Dann fuhr er leiser fort: «Er ist auch der Untersuchungsrichter – Sie verstehen. Vielleicht möchten Sie mitkommen?»

Wir waren einverstanden und verließen mit ihm das Zimmer. John ging voraus und ich nutzte die Gelegenheit, um Poirot zuzuflüstern: «Es wird also eine gerichtliche Untersuchung geben?»

Poirot nickte geistesabwesend. Er schien so tief in Gedanken versunken, dass meine Neugier erregt wurde.

«Was ist denn? Sie hören mir ja gar nicht zu.»

«Das stimmt, mein Freund, ich mache mir große Sorgen.»

«Warum?»

«Weil Mademoiselle Cynthia ihren Kaffee ohne Zucker trinkt.»

«Was? Das meinen Sie doch nicht im Ernst?»

«Das ist mein völliger Ernst. Hm. Da gibt es etwas, was ich nicht verstehe. Mein Instinkt war richtig.»

«Welcher Instinkt?»

«Der Instinkt, der mich dazu verleitete, diese Kaffeetassen zu untersuchen. Chut! Leise jetzt.»

Wir folgten John in sein Arbeitszimmer und er schloss die Tür hinter uns.

Mr. Wells war ein sympathischer Mann in mittleren Jahren mit scharfen Augen und dem typischen Mund eines Rechtsanwalts. John stellte uns beide vor und erläuterte den Grund unserer Anwesenheit.

«Sie werden verstehen, Wells, dass das hier streng vertraulich ist. Wir hoffen immer noch, dass sich jedwede Untersuchung als überflüssig erweisen wird.»

«Ganz recht, ganz recht», erwiderte Mr. Wells besänftigend. «Ich wünschte, ich könnte Ihnen die Unannehmlichkeiten einer öffentlichen Voruntersuchung ersparen, aber da es keinen ärztlichen Totenschein gibt, lässt sich das nicht vermeiden.»

«Ja, das ist begreiflich.»

«Ein kluger Mann, dieser Bauerstein. Ein bedeutender Toxikologe, wie ich gehört habe.»

«In der Tat», sagte John mit einer gewissen Reserviertheit. Dann fügte er eher zögernd hinzu: «Werden wir dort als Zeugen erscheinen müssen? Alle – meine ich?»

«Sie natürlich – und, hm, äh – Mister, äh, Inglethorp.»

Eine kurze Pause trat ein, bevor der Rechtsanwalt in seiner beschwichtigenden Art fortfuhr: «Alle anderen Zeugenaussagen haben lediglich eine bestätigende Funktion, reine Formsache.»

«Ich verstehe.»

Über Johns Gesicht huschte ein Ausdruck der Erleichterung. Das wunderte mich, denn ich sah keinen Anlass dafür.

«Wenn Sie gestatten, würde ich gern den Freitag dafür ansetzen. Dann hätten wir noch ausreichend Zeit, um den Bericht des Arztes abzuwarten. Die Autopsie soll heute Abend durchgeführt werden, nicht wahr?»

«Ja.»

«Dann sind Sie mit dem Termin einverstanden?»

«Aber ja.»

«Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr mich diese höchst unglückselige Angelegenheit erschüttert hat, mein lieber Cavendish.»

«Könnten Sie uns vielleicht etwas bei der Klärung der Angelegenheit unterstützen, Monsieur?», schaltete sich Poirot ein, der bisher kein Wort gesprochen hatte.

«Ich?»

«Ja. Wir hörten, dass Mrs. Inglethorp Ihnen gestern Abend noch geschrieben hat. Sie hätten den Brief heute Morgen erhalten haben müssen.»

«Das stimmt, aber er enthält keine Information, lediglich die Aufforderung, sie heute Morgen aufzusuchen, da sie meinen Rat in einer höchst dringenden Angelegenheit brauche.»

«Sie gab keinerlei Hinweis, worauf sich das bezog?»

«Leider nein.»

«Das ist bedauerlich», sagte John.

«Sehr bedauerlich», stimmte Poirot ihm ernst zu.

Es entstand ein Schweigen. Poirot schien wieder in Gedanken versunken. Schließlich wandte er sich erneut an den Rechtsanwalt.

«Mr. Wells, da gibt es noch etwas, das ich Sie fragen möchte – das heißt, falls es nicht gegen die berufliche Etikette verstößt. Wer wird nach Mrs. Inglethorps Tod ihr Vermögen erben?»

Der Rechtsanwalt zögerte kurz, dann antwortete er: «Das wird ohnehin demnächst bekannt – wenn Mr. Cavendish also nichts dagegen hat – »

«Überhaupt nichts», warf John ein.

«Dann sehe ich keinen Grund, weshalb ich Ihre Frage nicht beantworten sollte. In ihrem letzten Testament vom August vergangenen Jahres vermachte sie ihr gesamtes Vermögen nach Abzug einiger unbedeutender Summen an Dienstboten ihrem Stiefsohn, Mr. John Cavendish.»

«War das – verzeihen Sie die Frage, Mr. Cavendish – nicht ziemlich ungerecht gegenüber ihrem anderen Stiefsohn, Mr. Lawrence?»

«Nein, das finde ich nicht. Denn sehen Sie, nach den Bestimmungen im Testament seines Vaters sollte John den Landbesitz erben, Lawrence hingegen sollte nach dem Tod seiner Stiefmutter ein beträchtliches Vermögen erben. Mrs. Inglethorp hinterließ ihr eigenes Geld ihrem älteren Stiefsohn, weil sie wusste, dass er Styles erhalten musste. Es war meiner Ansicht nach eine sehr gerechte und gleichmäßige Verteilung.»

Poirot nickte nachdenklich.

«Ich verstehe. Aber wurde das Testament durch die Heirat mit Mr. Inglethorp auf Grund des englischen Erbrechts nicht automatisch ungültig?»

Mr. Wells neigte den Kopf.

«Wie ich gerade ausführen wollte, Monsieur Poirot, ist dieses Dokument jetzt null und nichtig.»

«Cest ca!», sagte Poirot. Er überlegte kurz und fragte dann: «War Mrs. Inglethorp diese Tatsache bekannt?»

«Das weiß ich nicht. Vielleicht wusste sie es.»

«Sie wusste es», sagte John überraschenderweise. «Erst gestern sprachen wir darüber, dass ein Testament durch eine Heirat aufgehoben wird.»

«Aha! Noch eine Frage, Mr. Wells. Sie betonten ‹ihr letztes Testament›. Hatte Mrs. Inglethorp denn schon mehrere Testamente gemacht?»

«Sie machte im Jahr im Durchschnitt mindestens eins», sagte Mr. Wells ungerührt. «Sie änderte häufig ihre Meinung, welches Familienmitglied von ihrem Testament profitierten sollte – mal war es der eine, mal der andere.»

«Nehmen wir einmal an, dass sie, ohne Ihnen etwas davon zu sagen, ein neues Testament zu Gunsten einer Person gemacht hat, die kein Familienmitglied ist – zum Beispiel von Miss Howard – würde Sie das überraschen?»

«Nicht im Geringsten.»

«Aha!» Poirot schien keine weitere Frage mehr einzufallen.

Während John und der Rechtsanwalt darüber debattierten, ob man Mrs. Inglethorps Papiere durchsehen könne, näherte ich mich Poirot.

«Glauben Sie wirklich, dass Mrs. Inglethorp in ihrem Testament alles Geld Miss Howard vermachte?», flüsterte ich neugierig.

Poirot lächelte.

«Nein.»

«Warum haben Sie dann gefragt?»

«Pssst!»

John Cavendish hatte sich zu Poirot umgedreht.

«Werden Sie uns begleiten, Monsieur Poirot? Wir wollen die Papiere meiner Mutter durchsehen. Mr. Inglethorp ist gern dazu bereit, das alles Mr. Wells und mir zu überlassen.»

«Was die ganze Angelegenheit beträchtlich vereinfacht», murmelte der Rechtsanwalt. «Technisch gesehen, wäre er natürlich berechtigt…» Er ließ den Satz unbeendet.

«Wir wollen mit dem Schreibtisch im Boudoir beginnen», erklärte John. «Danach gehen wir dann hoch in ihr Schlafzimmer. Sie bewahrte ihre wichtigsten Papiere in einem violetten Aktenkoffer auf. Den müssen wir sorgfältig durchsehen.»

«Ja», sagte der Rechtsanwalt. «Es ist gut möglich, dass es noch ein späteres Testament gibt als das, was sich in meiner Obhut befindet.»

«Es gibt ein späteres Testament.» Das hatte Poirot gesagt.

«Oder vielmehr», fuhr mein Freund ungerührt fort, «es gab eins.»

«Was wollen Sie damit sagen – es gab eins? Wo ist es jetzt?»

«Verbrannt!»

«Verbrannt?»

«Ja. Sehen Sie hier.» Poirot holte den verkohlten Papierfetzen hervor, den er in Mrs. Inglethorps Kamin gefunden hatte, und reichte ihn dem Rechtsanwalt mit einer kurzen Erklärung, wann und wo er ihn entdeckt hatte.

«Aber möglicherweise ist das ein altes Testament?»

«Das glaube ich nicht. Ich bin mir eigentlich sogar ziemlich sicher, dass es erst gestern Nachmittag verfasst wurde.»

«Was?»

«Unmöglich!», stießen beide hervor.

Poirot wandte sich an John.

«Würden Sie mir bitte gestatten, Ihren Gärtner rufen zu lassen? Dann kann ich es Ihnen beweisen.»

«Selbstverständlich – aber ich verstehe nicht…»

Poirot hob die Hand.

«Tun Sie, worum ich Sie gebeten habe. Hinterher können Sie dann fragen, soviel Sie wollen.»

«Nun gut.» John läutete.

Kurze Zeit später erschien Dorcas.

«Dorcas, würden Sie Manning bestellen, er möchte zu mir kommen? Ich muss etwas mit ihm bereden.»

«Sehr wohl, Sir.»

Dorcas ging wieder.

Wir warteten in angespanntem Schweigen. Nur Poirot schien völlig gelassen und staubte die übersehene Ecke eines Regals ab.

Das Geräusch von derben Stiefeln auf dem Kies draußen kündigte die Ankunft von Manning an. John sah Poirot fragend an, der nickte.

«Kommen Sie herein, Manning», sagte John. «Ich möchte Sie etwas fragen.»

Manning kam langsam und zögernd durch die Terrassentür herein, blieb so nahe wie möglich bei der Tür stehen und drehte seine Mütze unablässig in den Händen. Sein Rücken war stark gekrümmt, obwohl er wahrscheinlich noch nicht so alt war wie er aussah, aber seine Augen waren scharf und intelligent und standen im Gegensatz zu seiner langsamen und eher zögernden Sprechweise.

«Dieser Herr wird Ihnen ein paar Fragen stellen, Manning», sagte John, «und ich möchte, dass Sie sie ihm beantworteten.»

«Sehr wohl, Sir», grummelte Manning.

Poirot machte einen raschen Schritt nach vorn, Manning ließ seinen Blick mit leiser Verachtung über ihn schweifen.

«Sie haben gestern Nachmittag an der Südseite des Hauses Begonien gepflanzt, nicht wahr?»

«Ja, Sir, ich und Willem.»

«Und Mrs. Inglethorp kam ans Fenster und rief Sie, nicht wahr?»

«Ja, Sir.»

«Bitte erzählen Sie jetzt mit Ihren eigenen Worten, was danach passiert ist.»

«Na ja, Sir, eigentlich nichts. Sie hat Willem nur gesagt, er soll mit dem Fahrrad ins Dorf fahren und so ein Testamentsformular holen – ich kenne mich da nicht so aus –, sie hat es ihm aufgeschrieben.»

«Und?»

«Na ja, er hat das dann gemacht.»

«Und was geschah danach?»

«Wir machten mit den Begonien weiter, Sir.»

«Hat Mrs. Inglethorp Sie nicht noch einmal zu sich gerufen?»

«Doch, Sir, uns beide, mich und Willem.»

«Und dann?»

«Wir sollten reinkommen und unsere Namen unten auf ein langes Papier schreiben – und dann schrieb sie ihren Namen drunter.»

«Haben Sie irgendetwas von dem lesen können, was über ihrem Namen stand?», fragte Poirot scharf.

«Nein, Sir, da lag ein Blatt Löschpapier drüber.»

«Und Sie haben da unterschrieben, wo sie es Ihnen gesagt hat?»

«Ja, Sir. Erst ich und dann Willem.»

«Was hat sie dann mit dem Papier gemacht?»

«Das hat sie in einen großen Umschlag gesteckt und in so einen lila Kasten gelegt, der auf ihrem Tisch stand.»

«Um wieviel Uhr hat sie Sie zum ersten Mal gerufen?»

«Das war so gegen vier, glaube ich.»

«Nicht früher? Könnte es nicht schon um halb vier gewesen sein?»

«Nein, das würde ich nicht sagen, Sir. Es war eher ein bisschen nach vier – nicht früher.»

«Ich danke Ihnen, Manning, das war alles», sagte Poirot freundlich.

Der Gärtner sah kurz zu seinem Arbeitgeber hinüber, der ihm zunickte, woraufhin Manning grüßend an die Stirn tippte und durch die Terrassentür nach draußen verschwand.

Wir sahen einander an.

«Du lieber Himmel!», sagte John. «Was für ein seltsamer Zufall.»

«Zufall – wie meinen Sie das?»

«Dass meine Mutter an ihrem Todestag ein Testament gemacht haben soll!»

Mr. Wells räusperte sich und bemerkte trocken: «Sind Sie sicher, dass das ein Zufall war, Cavendish?»

«Was meinen Sie damit?»

«Sie haben mir erzählt, dass Ihre Mutter einen heftigen Streit mit – jemandem gestern Nachmittag –»

«Was wollen Sie damit sagen?», rief John. Seine Stimme zitterte und er war sehr blass geworden.

«Als Folge dieses Streits macht Ihre Mutter sehr plötzlich und übereilt ein neues Testament, dessen Inhalt wir nie erfahren werden. Sie erzählt niemandem von den Verfügungen, die sie darin getroffen hat. Heute Morgen hätte sie mich zweifellos in dieser Angelegenheit zu Rate gezogen – aber dazu bekam sie keine Gelegenheit mehr. Das Testament verschwindet und sie nimmt sein Geheimnis mit ins Grab. Cavendish, ich fürchte, das ist kein Zufall. Monsieur Poirot, ich bin sicher, Sie stimmen mit mir darin überein, dass diese Tatsachen nur einen Schluss zulassen.»

«Jedenfalls», unterbrach ihn John, «sind wir Monsieur Poirot äußerst dankbar, dass er diese Angelegenheit ans Licht gebracht hat. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir nie von diesem Testament erfahren. Ich darf Sie wohl nicht fragen, Monsieur, was Sie auf diese Vermutung gebracht hat?»

Poirot lächelte und antwortete: «Ein bekritzelter alter Briefumschlag und ein frisch angelegtes Begonienbeet.»

Ich glaube, John hätte hier gern weiter nachgefragt, aber in diesem Moment hörte man lautes Motorengeräusch und wir drehten uns alle zum Fenster um und sahen ein Auto vorbeifahren.

«Evie!», rief John. «Entschuldigen Sie, Wells.» Er eilte hinaus in die Halle.

Poirot sah mich fragend an.

«Miss Howard», erklärte ich.

«Ah, ich bin froh, dass sie gekommen ist. Sie ist eine Frau mit Verstand und hat das Herz auf dem rechten Fleck, Hastings. Obwohl der liebe Gott sie nicht gerade mit Schönheit gesegnet hat.»

Ich folgte Johns Beispiel und ging auch in die Halle, wo Miss Howard sich gerade aus mehreren Schichten von Schals auswickelte, die sie um ihren Kopf geschlungen hatte. Als ihr Blick mich traf, durchzuckte mich ein Stich – ich fühlte mich schuldig. Diese Frau hatte mich sehr ernsthaft gewarnt und ich hatte dieser Warnung keinerlei Beachtung geschenkt – leider. Wie rasch und wie verächtlich hatte ich sie stattdessen als Hirngespinst abgetan. Jetzt wo sich ihre Berechtigung auf so tragische Weise gezeigt hatte, schämte ich mich. Sie hatte Alfred Inglethorp nur zu gut durchschaut. Ich fragte mich, ob die Tragödie auch geschehen wäre, wenn sie in Styles geblieben wäre, oder hätte der Mann ihre wachsamen Augen gefürchtet?

Ich war erleichtert, als sie mir mit ihrem wohlvertrauten schmerzhaften Griff die Hand schüttelte. Der Blick, mit dem sie meinem begegnete, war traurig, aber nicht vorwurfsvoll. Ihre roten Lider verrieten mir, dass sie geweint hatte, aber ihre unverblümte barsche Art war immer noch die alte.

«Bin gleich los, nachdem ich das Telegramm bekommen hatte. Kam gerade von der Nachtschicht. Hab mir ein Auto gemietet. War die schnellste Möglichkeit herzukommen.»

«Hast du heute Morgen schon etwas gegessen, Evie?», fragte John.

«Nein.»

«Das dachte ich mir. Komm mit, der Frühstückstisch ist noch nicht abgeräumt und du bekommst frischen Tee.» Er wandte sich an mich. «Kümmere dich um sie, Hastings, ja? Wells wartet auf mich. Oh, das ist Monsieur Poirot. Er hilft uns, weißt du, Evie.»

Miss Howard gab Poirot die Hand, aber sie warf John über die Schulter einen misstrauischen Blick zu.

«Was meinst du damit – hilft uns?»

«Er hilft bei der Untersuchung.»

«Da braucht man nichts zu untersuchen. Haben sie ihn denn noch nicht ins Gefängnis gesteckt?»

«Wen sollen sie ins Gefängnis stecken?»

«Wen? Alfred Inglethorp natürlich!»

«Meine liebe Evie, bitte halte dich etwas zurück. Lawrence denkt, dass unsere Mutter an einem Herzanfall starb.»

«Dann ist Lawrence ein Trottel!», gab Miss Howard zurück. «Selbstverständlich hat Alfred Inglethorp die arme Emily ermordet – genau wie ich es immer vorausgesagt habe.»

«Meine liebe Evie, bitte nicht so laut. Was wir auch denken oder welchen Verdacht wir hegen mögen, momentan ist es am besten, wenn wir so wenig wie möglich sagen. Die gerichtliche Untersuchung ist erst am Freitag.»

«So ein Riesenblödsinn!» Miss Howard schnaubte höchst verächtlich. «Ihr seid ja alle verrückt geworden. Bis dahin hat der Mann das Land bestimmt schon verlassen. Wenn er auch nur einen Funken Verstand hat, bleibt er doch nicht brav hier und wartet darauf, dass man ihn hängt.»

John Cavendish sah sie hilflos an.

«Ich weiß schon, was los ist», beschuldigte sie ihn, «du hast auf die Ärzte gehört. Sollte man nie tun. Was wissen die schon? Gar nichts – oder gerade so viel, dass sie gefährlich sind. Ich muss es schließlich wissen – mein Vater war Arzt. Der kleine Dr. Wilkins ist so ziemlich der größte Trottel, den ich je gesehen habe. Herzanfall! Genau so was würde er sagen. Jeder mit ein bisschen Grips müsste doch sehen, dass ihr Mann sie umgebracht hat. Ich habe immer gesagt, er würde sie in ihrem Bett ermorden, die arme Seele. Und jetzt hat er es getan. Und ihr könnt nur dummes Zeug plappern wie ‹Herzanfall› und ‹gerichtliche Untersuchung am Freitag›. Du solltest dich schämen, John Cavendish.»

«Und was soll ich deiner Meinung nach tun?» John konnte ein kleines Lächeln nicht ganz unterdrücken. «Zum Teufel noch mal, Evie, ich kann ihn doch nicht am Schlafittchen nehmen und zur Polizeiwache im Dorf schleppen.»

«Aber du solltest irgendetwas tun! Zum Beispiel herausfinden, wie er es getan hat. Er ist ein schlauer Fuchs. Wahrscheinlich mit eingeweichtem Fliegenpapier. Frag doch mal die Köchin, ob sie welches vermisst.»

Bei diesen Argumenten wurde mir klar, dass es wahrscheinlich herkulische Anstrengungen erfordern würde, Miss Howard und Alfred Inglethorp unter einem Dach zu beherbergen und zwischen ihnen für Frieden zu sorgen, und ich beneidete John nicht um diese Aufgabe. Ich konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er sich seiner schwierigen Lage völlig bewusst war. Fürs Erste suchte er sein Heil im Rückzug und verließ eilig den Raum.

Dorcas brachte frischen Tee. Als sie wieder gegangen war, kam Poirot vom Fenster, wo er gestanden hatte, und setzte sich Miss Howard gegenüber an den Tisch.

«Mademoiselle», sagte er ernst, «ich möchte Sie etwas fragen.»

«Nur zu», sagte sie und betrachtete ihn mit ziemlicher Abneigung.

«Ich möchte auf Ihre Hilfe zählen können.»

«Ich helfe Ihnen mit Freuden, Alfred an den Galgen zu bringen», erwiderte sie barsch. «Hängen ist noch viel zu gut für ihn. Er sollte gerädert und gevierteilt werden, wie in den guten alten Zeiten.»

«Dann sind wir uns ja einig», sagte Poirot. «Denn auch ich will den Verbrecher hängen sehen.»

«Alfred Inglethorp?»

«Ihn oder einen anderen.»

«Ein anderer kommt nicht in Frage. Die arme Emily wurde erst ermordet, als er hier auftauchte. Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht von Blutsaugern umgeben gewesen wäre – das war sie. Aber die waren nur hinter ihrem Geldbeutel her und wollten ihr nicht ans Leben. Doch dann kommt Alfred Inglethorp – und schon nach zwei Monaten – schwupps! ist es passiert!»

«Glauben Sie mir, Miss Howard», sagte Poirot sehr ernst, «falls Mr. Inglethorp der Täter ist, soll er mir nicht entwischen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: dann soll er hängen!»

«Das klingt schon besser», sagte Miss Howard etwas freundlicher.

«Aber ich muss Sie bitten, mir zu vertrauen. Ihre Hilfe kann jetzt sehr wertvoll für mich sein. Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil in diesem ganzen großen Trauerhaus Ihre Augen die einzigen rot geweinten sind.»

Miss Howard blinzelte und in ihrer barschen Stimme war ein neuer Unterton.

«Wenn Sie damit sagen wollen, dass ich sie gern hatte – ja, das stimmt. Wissen Sie, Emily war auf ihre Weise eine egoistische alte Frau. Sie war sehr großzügig, aber sie verlangte immer eine Gegenleistung. Sie ließ die Leute nie vergessen, was sie für sie getan hatte – und auf diese Weise erntete sie keine Liebe. Aber glauben Sie nur nicht, das hätte sie nicht gewusst, oder nicht gespürt. Jedenfalls glaube ich das nicht. Bei mir lagen die Dinge anders. Ich habe das gleich zu Anfang klar gestellt. ‹Ich koste Sie so und so viel Geld im Jahr. Aber damit hat sich’s. Keinen einzigen Penny mehr, kein Paar Handschuhe, keine Theaterkarte.› Das verstand sie nicht – manchmal war sie deshalb ziemlich beleidigt. Sagte, ich hätte einen albernen Stolz. Das war es aber nicht, ich kann es nur schwer erklären. Jedenfalls bewahrte ich mir so meine Selbstachtung. Und deshalb war ich die Einzige von der ganzen Meute, die sich liebevolle Gefühle für sie leisten konnte. Ich passte auf sie auf. Ich beschützte sie vor den anderen. Und dann kam dieser Süßholz raspelnde Lump ins Haus und wutsch! waren meine jahrelangen Mühen für die Katz.»

Poirot nickte verständnisvoll.

«Ich verstehe, Mademoiselle, ich verstehe, was Sie fühlen. Das ist nur natürlich. Sie halten uns für gleichgültig – Sie denken, es mangelt uns an Begeisterung und Energie –, aber glauben Sie mir, das stimmt nicht.»

Da steckte John seinen Kopf durch den Türspalt und forderte uns auf, nach oben in Mrs. Inglethorps Zimmer mitzukommen, da er und Mr. Wells mit der Durchsuchung des Schreibtischs im Boudoir fertig seien.

Als wir die Treppe hochgingen, blickte John zum Esszimmer zurück und senkte vertraulich seine Stimme: «Guter Gott, was wird nur sein, wenn diese beiden aufeinander treffen?»

Ich schüttelte ratlos den Kopf.

«Ich habe Mary gebeten, sie nach Möglichkeit auseinanderzuhalten.»

«Ob ihr das gelingen wird?»

«Das weiß nur der liebe Gott. Aber Inglethorp selbst ist auch nicht gerade scharf darauf, ihr zu begegnen.»

«Sie haben doch noch die Schlüssel, Poirot, nicht wahr?», fragte ich, als wir vor der Tür des verschlossenen Zimmers standen.

John erhielt von Poirot die Schlüssel und schloss auf, und wir gingen hinein. Der Rechtsanwalt ging direkt zum Tisch und John folgte ihm.

«Meine Mutter bewahrte meines Wissens ihre wichtigsten Papiere in diesem Aktenkoffer auf.»

Poirot holte einen kleinen Schlüsselbund hervor.

«Gestatten Sie. Ich habe ihn heute Morgen vorsichtshalber abgeschlossen.»

«Aber jetzt ist er offen.»

«Unmöglich!»

«Hier!» Während er das sagte, hob John den Deckel hoch.

«Mille tonnerres!», rief Poirot überrascht. «Und ich – ich habe beide Schlüssel in meiner Tasche!» Er stürzte sich auf den Koffer. Plötzlich erstarrte er. «En voilà une affaire! Dieses Schloss wurde gewaltsam geöffnet!»

«Was?»

Poirot legte den Koffer wieder hin.

«Aber wer brach es auf? Und warum? Wann? Aber die Tür war doch abgeschlossen!», stießen wir unzusammenhängend hervor.

Poirot antwortete kategorisch – fast mechanisch.

«Wer? Das ist die Frage. Warum? Ach, wenn ich das nur wüsste. Wann? In der vergangenen Stunde, nachdem ich hier war. Die Tür war zwar verschlossen, aber das ist ein sehr einfaches Schloss. Wahrscheinlich passt dazu jeder andere Zimmerschlüssel von diesem Flur.»

Wir sahen einander ratlos an. Poirot war zum Kaminsims gegangen.

Nach außen hin war er ruhig, aber ich sah, dass seine Hände heftig zitterten, als er aus alter Gewohnheit die Vasen auf dem Sims gerade rückte.

«Es gibt dafür nur eine Erklärung», sagte er schließlich. «In diesem Koffer war irgendetwas – irgendein Beweisstück, vielleicht ganz unscheinbar, aber immer noch verräterisch genug, um den Mörder mit dem Verbrechen in Zusammenhang zu bringen. Es war für ihn absolut wichtig, dass er es zerstörte, bevor es entdeckt und seine Bedeutung erkannt wurde. Deshalb nahm er das Risiko auf sich – das große Risiko – und kam her. Er fand den Koffer verschlossen, also musste er das Schloss aufbrechen und damit seine Anwesenheit verraten. Es muss also etwas äußerst Wichtiges gewesen sein, weil er dieses Risiko einging.»

«Aber was war das?»

«Ha!» Poirot machte eine wütende Handbewegung. «Das weiß ich nicht! Zweifellos irgendein wichtiges Dokument, möglicherweise das Blatt Papier, das Dorcas gestern Nachmittag in ihrer Hand sah. Und ich» – hier brach sich sein Zorn freie Bahn –, «ich Unglückswurm, der ich bin! Ich habe das nicht erraten! Ich habe mich wie ein Dummkopf aufgeführt! Ich hätte den Koffer niemals hier stehen lassen dürfen. Ich hätte ihn mitnehmen müssen. Ah, gleich dreimal gepatzt! Und jetzt ist es verschwunden. Es ist zerstört – aber ist es wirklich zerstört? Gibt es nicht noch eine kleine Chance? Wir dürfen nichts unversucht lassen…»

Er rannte wie ein Verrückter aus dem Zimmer, und ich folgte ihm, sobald ich meine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Aber als ich oben auf dem Treppenabsatz ankam, war er nicht mehr zu sehen.

Mrs. Cavendish stand dort, wo die Treppe sich gabelte, und starrte hinunter in die Halle in die Richtung, in der er verschwunden war.

«Was ist denn Ihrem seltsamen kleinen Freund widerfahren, Mister Hastings? Er ist gerade wie ein wütender Stier an mir vorbeigestürmt…»

«Er hat sich über etwas sehr aufgeregt», bemerkte ich wenig überzeugend. Ich wusste wirklich nicht, wieviel ich mit Poirots Einverständnis verraten durfte. Um Mrs. Cavendishs ausdrucksvollen Mund spielte ein leises Lächeln, bei dessen Anblick ich es wagte, das Thema zu wechseln: «Sie sind sich noch nicht begegnet, die beiden, oder?»

«Wer?»

«Mr. Inglethorp und Miss Howard.»

Sie sah mich auf eine irritierende Weise an.

«Halten Sie es für ein solches Unglück, wenn sie sich begegnen würden?»

«Na, Sie etwa nicht?», fragte ich erstaunt.

«Nein.» Sie lächelte auf ihre zurückhaltende Art. «Mir wäre ein ordentlicher Wutausbruch ganz recht. Der würde die Luft reinigen. Im Augenblick grübeln alle nur vor sich hin und sagen kaum etwas.»

«John ist da anderer Meinung. Er möchte sie unbedingt auseinander halten.»

«Ach, John!»

Irgendetwas in ihrer Stimme reizte mich, und ich platzte heraus: «Der alte John ist ein unheimlich netter Kerl!»

Ein paar Sekunden lang sah sie mich aufmerksam an, dann sagte sie zu meiner großen Überraschung: «Sie halten Ihrem Freund die Treue. Das mag ich an Ihnen.»

«Sind wir nicht auch Freunde?»

«Ich bin eine sehr schlechte Freundin.»

«Warum sagen Sie das?»

«Weil es wahr ist. Heute bin ich nett zu meinen Freunden und morgen schon habe ich sie vergessen.»

Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich war gekränkt, und so sagte ich törichterweise und nicht gerade sehr taktvoll: «Aber zu Dr. Bauerstein sind Sie immer nett!»

In der nächsten Sekunde bereute ich meine Worte. Ihr Gesicht wurde zur Maske: Es war so, als würde sich ein eiserner Vorhang senken und die wirkliche Mary Cavendish verbergen. Wortlos drehte sie sich um und schritt rasch die Treppe hoch, während ich ihr wie ein Idiot mit offenem Mund hinterherstarrte.

Ein lauter Streit in der Halle unten holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich hörte Poirot brüllen und argumentieren. Es kränkte mich, dass meine ganze Diplomatie umsonst gewesen sein sollte. Der kleine Mann war offensichtlich dabei, alle Hausbewohner ins Vertrauen zu ziehen, eine Vorgehensweise, deren Klugheit zumindest ich bezweifelte. Wieder einmal bedauerte ich, dass mein Freund dazu neigte, in stürmischen Situationen den Kopf zu verlieren. Rasch ging ich die Treppe herunter. Bei meinem Anblick beruhigte Poirot sich beinahe sofort. Ich zog ihn beiseite.

«Mein lieber Freund», sagte ich, «ist das klug? Bestimmt wollen Sie doch nicht, dass alle im Haus von diesem Vorfall erfahren? Sie spielen damit dem Täter ja in die Hände.»

«Glauben Sie, Hastings?»

«Ich bin mir ganz sicher.»

«Na gut, mein Freund, ich werde Ihrem Rat folgen.»

«Gut. Obwohl es dafür jetzt ein bisschen zu spät ist.»

«Wie wahr.»

Er sah so niedergeschlagen und beschämt aus, dass er mir schon wieder Leid tat, obwohl ich immer noch glaubte, dass meine Kritik korrekt und begründet gewesen war.

«Dann lassen Sie uns gehen, mon ami», sagte er schließlich.

«Sind Sie hier fertig?»

«Ja, zumindest im Augenblick. Begleiten Sie mich zurück ins Dorf?»

«Gern.»

Er ergriff sein Köfferchen und wir gingen durch die offene Terrassentür in den Salon. Cynthia Murdoch kam gerade herein und Poirot trat zurück, um sie vorbei zu lassen.

«Entschuldigen Sie, Mademoiselle, nur eine Minute.»

«Ja?» Sie drehte sich fragend um.

«Haben Sie jemals die Medizin für Mrs. Inglethorp zubereitet?»

Sie errötete leicht, während sie eher steif antwortete: «Nein.»

«Nur ihre Schlafpulver.»

Sie errötete noch stärker, während sie antwortete: «Oh ja, ich habe ihr mal ein Schlafpulver zubereitet.»

«Das hier?»

Poirot zeigte ihr die leere Schachtel, in der die Schlafmittel gewesen waren.

Sie nickte.

«Können Sie mir sagen, woraus sie bestanden? Sulfonal? Veronal?»

«Nein, es war ein Brompräparat.»

«Aha! Danke schön, Mademoiselle, auf Wiedersehen.»

Als wir uns mit schnellem Schritt vom Haus entfernten, sah ich ihn mehr als einmal an. Ich hatte schon oft bemerkt, dass seine Augen grün wurden wie die einer Katze, wenn ihn etwas erregte. Jetzt funkelten sie wie Smaragde.

«Mein Freund», brach es schließlich aus ihm heraus, «ich habe eine kleine Idee, eine sehr seltsame und wahrscheinlich gänzlich unmögliche Idee. Und dennoch – so passt alles zusammen.»

Ich zuckte die Achseln. Ich fand, dass Poirot ohnehin viel zu viele dieser phantastischen Einfälle hatte. In dem Fall hier war die Wahrheit ja nur zu klar ersichtlich.

«Das ist also die Erklärung für das leere Etikett auf der Schachtel», stellte ich fest. «Sehr einfach, wie Sie schon sagten. Ich wundere mich wirklich, dass ich nicht selber darauf gekommen bin.»

Aber Poirot schien mir gar nicht zuzuhören.

«Sie haben eine weitere Entdeckung gemacht, là-bas.» Er wies mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung von Styles. «Mr. Wells erzählte mir davon, als wir nach oben gingen.»

«Was denn?»

«Im Schreibtisch im Boudoir fanden sie ein Testament von Mrs. Inglethorp, das sie vor ihrer Ehe verfasst haben muss, in dem sie ihr gesamtes Vermögen Alfred Inglethorp hinterlässt. Sie muss es zur Zeit ihrer Verlobung gemacht haben. Mr. Wells war davon sehr überrascht – und John Cavendish ebenfalls. Es war auch auf einem dieser vorgedruckten Formulare geschrieben und von zwei Zeugen beglaubigt – aber nicht von Dorcas.»

«Wusste Mr. Inglethorp davon?»

«Er sagt, nein.»

«Das muss man ja nicht unbedingt glauben», bemerkte ich skeptisch. «All diese Testamente sind ziemlich verwirrend. Verraten Sie mir doch bitte, wie Ihnen diese Kritzeleien auf dem Briefumschlag verraten konnten, dass gestern Nachmittag ein Testament gemacht wurde.»

Poirot lächelte.

«Mon ami, haben Sie niemals beim Briefeschreiben erlebt, dass Sie plötzlich nicht mehr wussten, wie ein bestimmtes Wort geschrieben wird?»

«Ja, oft. Ich glaube, das passiert jedem mal.»

«Genau. Und haben Sie nicht auch in so einem Fall das Wort ein- oder zweimal auf den Rand vom Löschpapier gekritzelt? Genau das hat Mrs. Inglethorp getan. Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass das Wort ‹besessen› zuerst mit ß – ‹beseßen› – und danach richtig mit zwei s geschrieben wurde. Um sicher zu gehen, hatte sie es auch noch in einem Satz ausprobiert: ‹ich habe besessen›. Eh bien, und was verriet mir das? Ich erfuhr dadurch, dass Mrs. Inglethorp an diesem Nachmittag das Wort ‹besessen› geschrieben hat, und im Zusammenhang mit dem verkohlten Papierfetzen aus dem Kamin fiel mir sofort ein, dass es sich dabei um ein Testament handeln könnte, da ein solches Dokument mit ziemlicher Sicherheit dieses Wort enthalten würde. Diese Möglichkeit wurde durch einen anderen Umstand noch bestätigt. In der allgemeinen Aufregung war das Boudoir heute Morgen nicht gefegt worden, und in der Nähe des Schreibtischs lagen einige Erd- und Humusklümpchen. Das Wetter in den letzten Tagen war jedoch ausnehmend schön, und deshalb konnte kein gewöhnlicher Schuh diese Spuren hinterlassen haben.

Ich schlenderte ans Fenster und sah sogleich, dass die Begonien in dem Beet erst vor kurzem eingepflanzt worden waren. Der Humus auf dem Beet war genau der gleiche wie der auf dem Fußboden im Boudoir, und von Ihnen erfuhr ich dann, dass die Blumen gestern Nachmittag gepflanzt worden waren. Ich war mir jetzt sicher, dass einer oder möglicherweise beide Gärtner – denn in dem Beet gab es zwei verschiedene Spuren – in das Boudoir gekommen waren, denn wenn Mrs. Inglethorp mit ihnen nur hätte sprechen wollen, hätte sie sich höchstwahrscheinlich ans Fenster gestellt und die Gärtner hätten das Zimmer gar nicht betreten. Ich war nun ziemlich überzeugt davon, dass sie ein neues Testament gemacht und die Gärtner hereingerufen hatte, um es mit ihrer Unterschrift zu bezeugen. Die Ereignisse zeigten dann, dass ich mit meinen Annahmen Recht hatte.»

«Das war sehr scharfsinnig», musste ich zugeben. «Ich muss gestehen, dass ich ganz andere Schlussfolgerungen aus den paar hingekritzelten Worten gezogen habe.»

Er lächelte.

«Sie haben Ihrer Phantasie freien Lauf gelassen! Phantasie ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Die einfachste Erklärung ist meistens die wahrscheinlichste.»

«Ein anderer Punkt: woher wussten Sie, dass der Schlüssel des Koffers verloren gegangen war?»

«Das wusste ich nicht; das war eine Annahme, die sich dann als richtig herausstellte. Sie haben doch bemerkt, dass an dem Schlüssel ein Stückchen Draht hing. Daran erkannte ich gleich, dass er von einem nicht sehr stabilen Schlüsselring abgerissen worden war. Wenn es aber der wiedergefundene Schlüssel gewesen wäre, hätte Mrs. Inglethorp ihn wieder an ihrem Schlüsselbund befestigt. Doch an ihrem Bund befand sich der klar erkennbare Zweitschlüssel, sehr neu und glänzend. Das verleitete mich zu der Hypothese, dass ein anderer den Originalschlüssel in den Koffer gesteckt hatte.»

«Ja», sagte ich. «Zweifellos Alfred Inglethorp.»

Poirot sah mich neugierig an.

«Sie sind sich seiner Schuld sehr sicher?»

«Aber natürlich. Jeder neue Umstand scheint das zu bestätigen.»

«Ganz im Gegenteil», sagte Poirot leise, «es gibt mehrere Umstände, die für ihn sprechen.»

«Das meinen Sie doch nicht im Ernst!»

«Doch.»

«Ich sehe nur einen.»

«Der wäre?»

«Dass er gestern Nacht nicht im Haus war.»

«Daneben!, wie ihr Engländer sagt. Sie haben genau den Punkt angesprochen, der meiner Ansicht nach gegen ihn spricht.»

«Wieso?»

«Wenn Mr. Inglethorp wusste, dass seine Frau gestern Nacht vergiftet werden sollte, musste er es auf jeden Fall so einrichten, dass er nicht im Haus war. Seine Erklärung war offensichtlich konstruiert. Das lässt zwei Möglichkeiten offen: entweder wusste er, was passieren würde, oder er hatte einen bestimmten Grund für seine Abwesenheit.»

«Was war das für ein Grund?», fragte ich skeptisch.

Poirot zuckte mit den Schultern. «Woher soll ich das wissen? Zweifellos nichts Ehrenhaftes. Mir scheint, dieser Mr. Inglethorp ist ein ziemlicher Lump, aber das macht ihn nicht automatisch zum Mörder.»

Ich war noch nicht überzeugt und schüttelte den Kopf.

«Wir sind uns da nicht einig, eh?», sagte Poirot. «Na, lassen wir das für den Augenblick. Die Zukunft wird zeigen, wer von uns Recht hat. Lassen Sie uns jetzt noch einen anderen Aspekt des Falles betrachten. Was halten Sie von der Tatsache, dass alle Türen im Schlafzimmer von innen verriegelt waren?»

«Tja…» Ich überlegte. «Man muss das logisch betrachten.»

«Stimmt.»

«Ich möchte mal so sagen: Die Türen waren verriegelt – das haben wir mit eigenen Augen sehen können –, doch das Kerzenwachs auf dem Boden und die Vernichtung des Testaments beweisen, dass jemand während der Nacht das Zimmer betreten hat. Sind Sie so weit einverstanden?»

«Völlig. Sie haben das mit bewundernswerter Klarheit dargelegt. Fahren Sie fort.»

Derart ermutigt, erläuterte ich weiter: «Die Person, die dann eintrat, kam nicht etwa durchs Fenster oder zauberte sich sonst wie hinein. Daraus folgt, dass die Tür von innen geöffnet worden sein muss, und zwar von Mrs. Inglethorp selbst. Das wäre aber ein weiterer Beweis dafür, dass es ihr Mann gewesen sein muss. Sie würde doch ihrem Mann bestimmt die Tür aufmachen.»

Poirot schüttelte den Kopf. «Warum sollte sie das tun? Sie hatte die Tür zu seinem Zimmer verriegelt – eine höchst ungewöhnliche Maßnahme –, und sie hatte am gleichen Nachmittag einen äußerst heftigen Streit mit ihm. Nein, er wäre der Letzte gewesen, den sie hereingelassen hätte.»

«Aber Sie stimmen mit mir doch darin überein, dass die Tür von Mrs. Inglethorp selbst geöffnet worden sein muss?»

«Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht hatte sie vor dem Einschlafen vergessen, die Tür zum Flur abzusperren, und ist später, so gegen Morgen, noch einmal aufgestanden und hat sie dann verriegelt.»

«Poirot, sind Sie ernsthaft dieser Meinung?»

«Nein, ich halte das für unwahrscheinlich, aber es wäre möglich. Jetzt wollen wir uns noch einem anderen Umstand zuwenden. Was halten Sie von der Unterhaltung zwischen Mrs. Cavendish und ihrer Schwiegermutter, von der Sie das kurze Stück mitbekamen?»

«Das hatte ich ganz vergessen», sagte ich nachdenklich. «Die ist und bleibt für mich rätselhaft. Es scheint unglaublich, dass eine so stolze und zurückhaltende Frau wie Mrs. Cavendish sich so heftig in etwas einmischt, das sie überhaupt nichts angeht.»

«Genau. Für eine Frau ihrer Herkunft ein erstaunliches Verhalten.»

«Gewiss merkwürdig», gab ich zu. «Aber es ist doch unwichtig und muss uns deshalb nicht weiter beschäftigen.»

Von Poirot kam ein Stöhnen. «Was habe ich Ihnen immer gesagt? Alles muss berücksichtigt werden. Falls die Tatsache nicht zur Theorie passt, muss die Theorie fallen gelassen werden.»

«Wir werden ja sehen», sagte ich pikiert.

«Ja, wir werden sehen.»

Wir hatten Leastways Cottage erreicht und Poirot nahm mich mit nach oben in sein Zimmer. Er bot mir eine der winzigen russischen Zigaretten an, die er gelegentlich rauchte. Amüsiert beobachtete ich, wie er die abgebrannten Streichhölzer höchst penibel in einer kleinen Porzellandose verwahrte. Meine Verärgerung von vorhin schwand.

Poirot hatte zwei Stühle vor das offene Fenster gestellt, von wo aus man die Dorfstraße überblicken konnte. Die frische Luft war warm und angenehm, es würde ein heißer Tag werden.

Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit von einem jungen Mann gefesselt, der in großer Eile die Straße entlang gelaufen kam. Sein Gesichtsausdruck war eigenartig – eine seltsame Mischung aus Entsetzen und Aufregung.

«Sehen Sie nur, Poirot», sagte ich.

Er beugte sich vor. «Tiens!», sagte er. «Das ist Mr. Mace von der Apotheke. Er kommt anscheinend hierher.»

Der junge Mann hielt vor Leastways Cottage an, zögerte einen Moment und klopfte dann heftig an die Tür.

«Einen Augenblick», rief Poirot aus dem Fenster. «Ich komme.»

Er winkte mir, ihm zu folgen, und rannte schnell die Treppe hinunter. Mr. Mace begann sofort zu sprechen.

«Oh, Monsieur Poirot, es tut mir Leid, dass ich störe, aber ich hörte, dass Sie gerade von Styles zurückgekommen sind.»

«Ja, das stimmt.»

Der junge Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. In seinem Gesicht arbeitete es seltsam.

«Im ganzen Dorf spricht man von der alten Mrs. Inglethorp, die so plötzlich starb. Sie sagen…», er senkte vorsichtig die Stimme, «dass es Gift war…»

Poirots Gesicht blieb unbewegt. «Das können uns nur die Ärzte sagen, Mr. Mace.»

«Ja, genau, natürlich…» Der junge Mann zögerte, aber dann übermannte ihn die Erregung. Er umklammerte Poirots Arm und flüsterte: «Sagen Sie mir nur eins, Mr. Poirot, es ist doch nicht Strychnin, oder?»

Ich hörte kaum, was Poirot antwortete, es war offensichtlich irgendetwas Unverbindliches. Der junge Mann ging wieder, und als Poirot die Tür schloss, begegneten sich unsere Blicke.

«Ja.» Er nickte ernst. «Er wird bei der Untersuchung aussagen müssen.»

Wir gingen langsam wieder nach oben. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, als Poirot mich mit einer Handbewegung davon abhielt.

«Nicht jetzt, nicht jetzt, mon ami. Ich muss nachdenken. Meine Gedanken sind durcheinander geraten – das ist nicht gut.»

Ungefähr zehn Minuten lang saß er in absolutem Schweigen völlig regungslos da, und nur seine Augenbrauen zuckten einige Male vielsagend. Dabei verstärkte sich das Funkeln seiner Augen und sie wurden immer grüner. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus.

«Gut. Der schlimme Augenblick ist vorbei. Jetzt ist alles geordnet und eingereiht. Niemals darf man ein Chaos in seinen Gedanken dulden. Der Fall ist noch nicht klar – nein. Er ist sogar höchst kompliziert. Er ist mir ein Rätsel. Mir, Hercule Poirot! Es gibt zwei Tatsachen von Bedeutung.»

«Und die wären?»

«Die erste betrifft das gestrige Wetter. Das ist sehr wichtig.»

«Aber es war ein wunderschöner Tag!», unterbrach ich ihn. «Poirot, Sie machen sich über mich lustig!»

«Keineswegs. Das Thermometer zeigte dreißig Grad im Schatten. Vergessen Sie das nicht, mein Freund. Das ist der Schlüssel zu des Rätsels Lösung.»

«Und der zweite Punkt?», fragte ich.

«Die bedeutsame Tatsache, dass Mr. Inglethorp sich sehr merkwürdig kleidet, einen schwarzen Bart hat und eine Brille trägt.»

«Poirot, ich kann nicht glauben, dass Sie das ernst meinen!»

«Ich bin absolut ernst, mein Freund.»

«Aber das ist kindisch!»

«Nein, das ist höchst wichtig.»

«Nehmen wir einmal an, die Untersuchung ergibt einen Urteilsspruch, sodass Alfred Inglethorp des Mordes angeklagt wird. Was wird dann aus Ihren Theorien?»

«Die würden doch nicht dadurch erschüttert, dass zwölf dumme Menschen zufälligerweise einen Fehler gemacht haben! Aber das wird nicht geschehen. Erstens ist eine Jury auf dem Lande nicht so wild darauf, eine solche Verantwortung zu übernehmen, und Mr. Inglethorp hat hier gewissermaßen die Stellung des Gutsherrn. Zweitens», fügte er selbstzufrieden hinzu, «werde ich es nicht erlauben!»

«Sie werden es nicht erlauben?»

«Nein.»

Ich betrachtete den außergewöhnlichen kleinen Mann und wusste nicht, ob ich mich ärgern oder lachen sollte. Er war so unglaublich selbstsicher. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, nickte er freundlich.

«Oh ja, mon ami. Ich würde tun, was ich sage.» Er stand auf und legte seine Hand auf meine Schulter. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich gänzlich. Tränen traten in seine Augen. «Bei all dem, wissen Sie, denke ich an die arme tote Mrs. Inglethorp. Sie wurde nicht überschwänglich geliebt – nein. Aber sie war sehr gut zu uns Belgiern – ich stehe in ihrer Schuld.»

Ich wollte ihn unterbrechen, aber Poirot fuhr fort.

«Lassen Sie mich Ihnen eins sagen, Hastings. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich zuließe, dass man Alfred Inglethorp, ihren Mann, jetzt verhaften würde – wenn ein Wort von mir ihn retten könnte!»