Poirot bezahlt seine Schulden
Als wir aus dem Gasthof traten, zog Poirot mich durch einen sanften Druck auf den Arm zur Seite. Ich begriff, was er vorhatte. Er wartete auf die Männer von Scotland Yard.
Kurz darauf kamen sie heraus und Poirot ging sogleich auf den kleineren zu und begrüßte ihn.
«Ich fürchte, Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern, Inspektor Japp.»
«Na, wenn das nicht Mr. Poirot ist!», rief der Inspektor aus. Er drehte sich zu seinem Kollegen um. «Ich habe Ihnen doch schon von Mr. Poirot erzählt? Wir haben 1904 zusammengearbeitet – der Falschmünzerskandal Abercrombie. Sie erinnern sich, er wurde in Brüssel gefasst. Ach, das waren wunderbare Zeiten, Mussjöh! Erinnern Sie sich noch an den ‹Baron› Altara? Das war vielleicht ein Gauner! Die halbe Polizei Europas war ihm auf den Fersen, doch er entkam immer wieder. Aber wir erwischten ihn dann in Amsterdam – dank Mr. Poirot hier.»
Während sie in Erinnerungen schwelgten, kam ich hinzu und wurde Inspektor Japp vorgestellt, der uns dann seinerseits seinem Kollegen Summerhaye vorstellte.
«Ich brauche Sie ja wohl kaum zu fragen, was Sie hier tun, meine Herren», bemerkte Poirot.
Japp zwinkerte viel sagend mit einem Auge.
«Nein, wohl kaum. Ziemlich eindeutiger Fall, würde ich sagen.»
Aber Poirot widersprach ernst: «Da bin ich anderer Ansicht.»
«Ach, was sagen Sie da!» Summerhaye machte zum ersten Mal den Mund auf. «Die ganze Sache ist doch sonnenklar. Der Mann ist auf frischer Tat ertappt worden. Ich begreife nicht, wie er so dumm sein konnte!»
Aber Japp sah Poirot aufmerksam an.
«Schonen Sie Ihre Kräfte, Summerhaye», bemerkte er scherzhaft.
«Ich und der Mussjöh kennen uns von früher – und es gibt kaum jemanden, dessen Urteil ich mehr vertraue. Wenn ich mich nicht gewaltig irre, dann hält er mit irgendwas hinterm Berg. Stimmt doch, Monsieur?»
Poirot lächelte.
«Ich habe gewisse Schlussfolgerungen gezogen – ja.»
Summerhaye sah immer noch zweifelnd drein, aber Japp blickte Poirot prüfend an.
«Bisher kennen wir den Fall nur von außen. Wenn sich erst bei der gerichtlichen Untersuchung herausstellt, dass es um einen Mord geht, ist der Yard natürlich im Nachteil. Es hängt viel davon ab, dass man gleich von Anfang an dabei ist, und hier ist Mr. Poirot uns gegenüber im Vorteil. Wir wären ja noch nicht mal jetzt da gewesen, wenn nicht dieser schlaue Arzt uns durch den Untersuchungsrichter einen Tipp hätte zukommen lassen. Aber Sie waren von Anfang an dabei und vielleicht haben Sie ein paar kleine Hinweise aufgeschnappt. Nach den Zeugenaussagen von eben zu urteilen, hat Mr. Inglethorp seine Frau ermordet, so wahr, wie ich hier stehe, und ich würde jedem, der das Gegenteil behauptet, ins Gesicht lachen. Ich muss gestehen, es erstaunte mich, dass die Geschworenen ihn nicht gleich des vorsätzlichen Mordes angeklagt haben. Ich denke, sie hätten es auch getan, wenn der Untersuchungsrichter nicht gewesen wäre – er schien sie davon zurückzuhalten.»
«Vielleicht, obwohl Sie ja jetzt einen Haftbefehl für ihn in der Tasche haben», warf Poirot ein.
Ober Japps ausdrucksvolle Miene legte sich eine Art starre Beamtenmaske.
«Vielleicht habe ich einen, vielleicht auch nicht», erwiderte er trocken.
Poirot sah ihn nachdenklich an.
«Es läge mir viel daran, Messieurs, wenn er nicht verhaftet würde.»
«Das glaube ich gern», bemerkte Summerhaye ironisch.
Japp betrachtete Poirot mit verblüffter Belustigung.
«Wollen Sie uns nicht etwas mehr darüber verraten, Mr. Poirot? Ein Augenzwinkern von Ihnen ist so gut wie ein Nicken. Sie waren von Anfang an dabei – und der Yard möchte nicht gern Fehler machen, wie Sie wissen.»
Poirot nickte ernst.
«Genau das habe ich mir gedacht. Nun gut, ich werde Ihnen etwas sagen: Nehmen Sie Ihren Haftbefehl und verhaften Sie Mr. Inglethorp. Aber das wird Ihnen keine Belobigung einbringen – die Anklage gegen ihn wird sofort fallen gelassen werden. Comme ca!» Und er schnippte vielsagend mit den Fingern.
Japp machte ein sehr ernstes Gesicht, aber Summerhaye schnaubte ungläubig.
Ich hingegen war buchstäblich geplättet vor Staunen. Ich konnte aus all dem nur noch schließen, dass Poirot verrückt geworden war.
Japp hatte ein Taschentuch herausgezogen und betupfte seine Stirn.
«Das wage ich nicht, Monsieur Poirot. Ich würde Sie gern beim Wort nehmen, aber da gibt es auch noch meine Vorgesetzten, die mich fragen werden, was zum Teufel das soll. Können Sie mir nicht ein bisschen mehr verraten?»
Poirot dachte kurz nach.
«Ich gebe zu, ich mache das ungern. Das zwingt mich, meine Karten aufzudecken. Ich hätte gern noch eine Weile unbemerkt weitergearbeitet, aber was Sie da sagen, ist berechtigt – das Wort eines pensionierten belgischen Polizisten genügt nicht! Und Alfred Inglethorp darf nicht verhaftet werden. Das habe ich geschworen, wie mein Freund Hastings hier weiß. Sagen Sie, mein guter Japp, fahren Sie jetzt gleich nach Styles?»
«Nein, erst in einer halben Stunde. Wir wollen zuerst mit dem Arzt und dem Untersuchungsrichter sprechen.»
«Gut. Sie können mich ja dann mitnehmen – ich wohne im letzten Haus im Dorf. Ich werde Sie begleiten. In Styles wird Mr. Inglethorp Ihnen solche Beweise vorlegen – und wenn er es nicht tut, was wahrscheinlich ist, werde ich das tun –, dass man die Anklage gegen ihn unmöglich aufrechterhalten kann. Ist das ein Angebot?»
«Das ist ein Angebot», bestätigte Japp herzlich. «Und im Namen des Yard bin ich Ihnen sehr verpflichtet, obwohl ich Ihnen gestehen muss, dass ich momentan nicht das kleinste Schlupfloch in der Beweiskette sehen kann, aber Sie waren schon immer ein Zauberer! Also, bis dann, Mussjöh.»
Die zwei Detektive schlenderten davon, Summerhaye mit einem ungläubigen Grinsen im Gesicht.
«Na, mein Freund», rief Poirot, bevor ich den Mund aufmachen konnte, «was sagen Sie dazu? Mir wurde bei dem Verhör einige Mal sehr warm: ich hätte nicht geglaubt, dass der Mann so dickköpfig sein und überhaupt nichts sagen würde. Es war wirklich ein absolut idiotisches Verhalten.»
«Hm. Es gibt noch andere Erklärungen für sein Verhalten als Idiotie», bemerkte ich. «Wenn er schuldig ist, wie sollte er sich dann anders als durch Schweigen verteidigen?»
«Na, durch tausend verschiedene Möglichkeiten», rief Poirot. «Sehen Sie, wenn ich zum Beispiel den Mord begangen hätte, könnte ich mindestens sieben höchst überzeugende Geschichten auftischen! Viel überzeugender als Mr. Inglethorps eisernes Schweigen.»
Ich konnte nicht anders – ich musste lachen.
«Mein lieber Poirot, ich bin sicher, Sie wüssten auch siebzig! Aber mal ernsthaft, ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie immer noch an Alfred Inglethorps Unschuld glauben.»
«Warum jetzt nicht mehr als vorher? Es hat sich nichts geändert.»
«Aber die Beweise sind doch ganz eindeutig.»
«Ja, viel zu eindeutig.»
Wir bogen durch das Gartentor von Leastways Cottage ein und gingen die mir nun schon so vertrauten Stufen hinauf.
«Ja, viel zu eindeutig», wiederholte Poirot, wie zu sich selbst. «Echte Beweise sind meistens vage und unbefriedigend. Man muss sie untersuchen – sieben. Aber diese ganze Sache liegt bereits fix und fertig auf dem Silbertablett. Nein, mein Freund, diese Beweise wurden sehr schlau gefälscht – so schlau, dass sie das Gegenteil beweisen.»
«Wie kommen Sie denn darauf?»
«Ganz einfach: solange die Indizien gegen ihn vage und nicht greifbar waren, konnte man sie nur schwer widerlegen. Aber in seiner Angst hat der Täter das Netz so dicht gezogen, dass sich Alfred Inglethorp mit einem einzigen Ruck befreien wird.»
Ich schwieg. Kurz darauf nahm Poirot den Faden wieder auf.
«Lassen Sie uns die Angelegenheit mal so betrachten. Sagen wir mal, hier ist ein Mann, der seine Frau vergiften will. Er hat sich früher seinen Lebensunterhalt selbst verdient, er ist demnach kein kompletter Dummkopf. Wie geht er also vor? Er kauft dreist beim Dorfapotheker Strychnin unter seinem Namen, mit einer erfundenen Geschichte von einem Hund, die garantiert als falsch entlarvt wird. Er verwendet das Gift nicht an diesem Abend. Nein, er wartet, bis er einen heftigen Streit mit ihr hat, von dem der ganze Haushalt weiß und der natürlich den Verdacht auf ihn lenkt. Er verschafft sich nichts zu seiner Verteidigung – nicht die Spur eines Alibis, obwohl er weiß, dass der Apotheker bestimmt alles erzählen wird. Bah! Wollen Sie mir einreden, dass ein Mann so dumm sein kann? Nur ein Verrückter, jemand, der am Galgen Selbstmord begehen will, würde so handeln!»
«Aber trotzdem – ich verstehe nicht…», fing ich an.
«Ich verstehe auch noch nichts. Ich sage Ihnen, mon ami, ich bin verwirrt. Ich – Hercule Poirot!»
«Aber wenn Sie ihn für unschuldig halten, wie erklären Sie sich dann, dass er Strychnin gekauft hat?»
«Ganz einfach. Er hat es nicht gekauft.»
«Aber Mace hat ihn erkannt!»
«Ich bitte um Verzeihung – er hat einen Mann gesehen mit einem schwarzen Bart wie Mr. Inglethorp, mit einer Brille wie Mr. Inglethorp, auffällig gekleidet wie Mr. Inglethorp. Er konnte doch keinen Mann erkennen, den er wahrscheinlich nur aus der Entfernung kannte, da er ja, wie Sie sich erinnern, erst seit vierzehn Tagen im Dorf wohnt und Mrs. Inglethorp ja bisher hauptsächlich bei Coots in Tadminster einkaufte.»
«Dann glauben Sie also…»
«Mon ami, wissen Sie noch, welche zwei Punkte ich von Anfang an so betonte? Lassen wir den ersten mal beiseite: Welcher war der zweite?»
«Der wichtige Umstand, dass Mr. Inglethorp seltsam gekleidet ist, einen schwarzen Bart trägt und eine Brille aufhat», zitierte ich.
«Genau. Nehmen Sie mal an, jemand wollte sich als John oder Lawrence Cavendish verkleiden – wäre das leicht?»
«Nein», sagte ich nachdenklich. «Ein Schauspieler könnte natürlich…»
Aber Poirot schnitt mir einfach das Wort ab.
«Und warum wäre es nicht einfach? Ich werde es Ihnen sagen, mein Freund: Weil beide glattrasierte Männer sind. Wenn man sich erfolgreich im hellen Tageslicht als einer der beiden verkleiden wollte, bräuchte man das Talent eines Genies und eine grundsätzliche Ähnlichkeit. Aber im Fall von Alfred Inglethorp ist das ganz anders. Seine Kleidung, sein Bart, die Brille, die seine Augen verdeckt – das sind die entscheidenden Punkte seiner äußerlichen Erscheinung. Und was ist der Urinstinkt eines Verbrechers? Er will den Verdacht von sich ablenken. Und wie gelingt ihm das am ehesten? Indem er den Verdacht auf jemand anderen lenkt, nicht wahr? In diesem Fall bot sich ihm einer geradezu an. Alle waren bereit, an Mr. Inglethorps Schuld zu glauben. Man war sich von vornherein einig, dass man ihn verdächtigen würde, aber um sicher zu gehen, brauchte es auch noch eines handfesten Beweises – zum Beispiel, dass er das Gift selbst gekauft hat, aber das ist bei einem Mann von solch einer auffallenden Erscheinung nicht weiter schwierig. Denken Sie daran, dass dieser junge Mace nie wirklich mit Mr. Inglethorp gesprochen hat. Wie sollte er dann bezweifeln, dass der Mann mit dieser Kleidung, diesem Bart und der Brille Alfred Inglethorp ist?»
«Das mag wahr sein», sagte ich, fasziniert von Poirots Beredsamkeit. «Aber wenn das der Fall ist, warum sagt er dann nicht, wo er am Montagabend war?»
«Ja, warum wohl nicht?» Poirot beruhigte sich allmählich wieder. «Wenn er verhaftet würde, dann würde er wahrscheinlich sprechen, aber ich möchte nicht, dass es so weit kommt. Ich möchte, dass er den Ernst seiner Lage erkennt. Es steckt natürlich irgendetwas Ehrenrühriges hinter seinem Schweigen. Auch wenn er nicht seine Frau ermordete, ist er nichtsdestotrotz ein Lump, und er hat irgendetwas zu verbergen.»
«Was könnte das sein?», überlegte ich. Poirot hatte mich fast überzeugt, obwohl ich immer noch die schwache Hoffnung hegte, dass die offensichtliche Schlussfolgerung die richtige war.
«Können Sie das nicht erraten?», Poirot lächelte.
«Nein, und Sie?»
«Oh ja, ich hatte vor kurzem eine kleine Idee – und die hat sich als richtig erwiesen.»
«Davon haben Sie mir nie erzählt», sagte ich vorwurfsvoll.
Poirot breitete entschuldigend seine Hände aus.
«Verzeihen Sie mir, mon ami, aber Sie waren nicht unbedingt sympathique.» Er fuhr ernst fort: «Sagen Sie mir – verstehen Sie jetzt, dass er nicht verhaftet werden darf?»
«Vielleicht», gab ich unsicher zu, denn das Schicksal von Alfred Inglethorp war mir herzlich gleichgültig, und meiner Meinung nach hätte es ihm gut getan, wenn er mal ordentlich Angst eingejagt bekäme.
Poirot beobachtete mich und seufzte. «Kommen Sie, mein Freund, abgesehen von Mr. Inglethorp – wie fanden Sie die Aussagen bei der Untersuchung?» Er hatte das Thema gewechselt.
«Ach, es war ziemlich so, wie ich erwartet hatte.»
«Fanden Sie denn nichts merkwürdig?»
Meine Gedanken wanderten zu Mrs. Cavendish, aber ich zögerte: «Was meinen Sie damit?»
«Na, zum Beispiel die Aussage von Mr. Lawrence Cavendish?»
Ich war erleichtert. «Ach, Lawrence! Nein, da fiel mir nichts auf. Er ist immer so nervös.»
«Fanden Sie seine Theorie, dass seine Mutter versehentlich an einer Überdosis ihrer Medizin starb, nicht seltsam? Nein?»
«Nein, nicht dass ich wüsste. Die Ärzte machten sich natürlich darüber lustig, aber ich fand es eine ganz natürliche Ansicht für einen Laien.»
«Aber Monsieur Lawrence ist kein Laie. Sie selbst haben mir erzählt, dass er Medizin studiert und sogar den Doktor gemacht hat.»
«Ja, das stimmt. Das hatte ich ganz vergessen.» Ich war ziemlich verblüfft. «Das ist seltsam.»
Poirot nickte.
«Sein Verhalten war von Anfang an merkwürdig. Er allein von allen Hausbewohnern hätte die Symptome einer Strychninvergiftung erkennen können, aber des ungeachtet ist er der Einzige in der ganzen Familie, der an der Theorie eines natürlichen Todes festhält. Bei Monsieur John hätte ich das verstanden. Er hat keine Sachkenntnis und ist von Natur aus phantasielos. Aber Monsieur Lawrence – nein! Und heute liefert er noch eine Theorie, von der er gewusst haben muss, dass die absolut lächerlich ist. Darüber sollten wir einmal nachdenken, mon ami!»
«Das ist sehr verwirrend», gestand ich.
«Dann wäre da noch Mrs. Cavendish», fuhr Poirot fort. «Noch jemand, die nicht alles erzählt, was sie weiß! Wie fanden Sie ihr Verhalten?»
«Ich werde daraus nicht schlau. Eigentlich erscheint es undenkbar, dass sie Alfred Inglethorp zu schützen versucht, aber es sieht ganz danach aus.»
Poirot nickte nachdenklich. «Ja, das ist seltsam. Eins ist sicher – sie hat einen Gutteil mehr von diesem ‹Privatgespräch› gehört, als sie zugeben wollte.»
«Und trotzdem ist sie der letzte Mensch, dem man unterstellen würde, dass er an der Wand lauscht!»
«Ganz recht. Ein Punkt in ihrer Aussage hat mir gezeigt, dass ich mich geirrt habe. Dorcas hatte völlig Recht. Der Streit fand früher am Nachmittag statt, so gegen vier, wie sie es gesagt hat.»
Ich sah ihn fragend an, denn ich hatte seine Hartnäckigkeit in diesem Punkt nie verstanden.
«Ja, heute sind einige merkwürdige Fakten aufgetaucht», nahm Poirot den Faden wieder auf. «Zum Beispiel dieser Dr. Bauerstein – wieso lief er schon so früh am Morgen dort herum? Ich habe mich gewundert, dass dazu niemand etwas gesagt hat.»
«Vielleicht leidet er unter Schlaflosigkeit», sagte ich zweifelnd.
«Das könnte eine gute oder eine sehr schlechte Erklärung sein», bemerkte Poirot. «Das bezeichnet alles und erklärt gar nichts. Ich werde diesen klugen Dr. Bauerstein mal im Auge behalten.»
«Haben Sie noch mehr Widersprüche bei den Aussagen gefunden?», fragte ich ironisch.
«Mon ami», erwiderte Poirot ernst, «wenn Sie merken, dass die Leute nicht die Wahrheit sagen, dann passen Sie auf! Falls ich mich nicht sehr irre, hat heute bei der Untersuchung nur einer – oder höchstens zwei Personen – die Wahrheit gesagt, rückhaltlos und ohne Täuschungsabsicht.»
«Ach, jetzt übertreiben Sie aber, Poirot! Bei Lawrence oder Mrs. Cavendish mögen Sie ja Recht haben. Aber was ist mit John und Miss Howard – die beiden haben doch bestimmt die Wahrheit gesagt?»
«Alle beide, mein Freund? Einer vielleicht, aber beide?»
Seine Worte versetzten mir einen Schock. Miss Howards Aussage war ja möglicherweise unwichtig gewesen, aber bei so viel Klarheit und Eindeutigkeit hätte ich niemals ihre Ehrlichkeit angezweifelt. Doch ich empfand große Hochachtung für Poirots Klugheit – außer wenn er das zeigte, was ich bei mir seine «schreckliche Dickköpfigkeit» nannte.
«Glauben Sie wirklich?», fragte ich. «Miss Howard machte auf mich immer einen so absolut ehrlichen Eindruck, dass es manchmal fast ein wenig übertrieben erschien.»
Poirot warf mir einen rätselhaften Blick zu, aus dem ich nicht schlau wurde. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann ließ er es bleiben.
«Auch Miss Murdoch hat so gar nichts Unehrliches an sich», fuhr ich fort.
«Nein. Aber es war seltsam, dass sie nicht das kleinste Geräusch hörte, obwohl sie nebenan schlief, wohingegen Mrs. Cavendish viel weiter weg ganz deutlich den Tisch umfallen hörte.»
«Na ja, sie ist eben noch jung und schläft fest.»
«Also wirklich, dann muss diese junge Frau schlafen können wie ein Murmeltier!»
Der Ton seiner Stimme gefiel mir nicht besonders, aber in diesem Augenblick klopfte jemand energisch an die Tür, und als wir aus dem Fenster schauten, sahen wir die zwei Detektive, die unten auf uns warteten.
Poirot nahm seinen Hut, zwirbelte noch einmal heftig seinen Schnurrbart, wischte ein unsichtbares Staubkorn von seinem Ärmel und bedeutete mir, vor ihm die Treppe hinunterzugehen. Zusammen mit den Detektiven marschierten wir dann nach Styles.
Ich glaube, das Erscheinen der zwei Männer von Scotland Yard war ein ziemlicher Schock – vor allem für John, obwohl er sich natürlich nach dem Urteil der Geschworenen hätte denken können, dass das nur noch eine Frage der Zeit war. Doch die Anwesenheit der Kriminalbeamten konfrontierte ihn mit der Wahrheit mehr als irgendetwas anderes.
Poirot hatte sich auf dem Weg hierher leise mit Japp ausgetauscht, und der Letztere verlangte nun, dass sich alle Hausbewohner mit Ausnahme der Dienstboten im Salon versammeln sollten. Mir war klar, was dahinter steckte. Poirot sollte jetzt beweisen, ob er sein kühnes Versprechen halten konnte.
Ich für meine Person war nicht sehr zuversichtlich. Poirot mochte ja die allerbesten Gründe für seinen Glauben an Inglethorps Unschuld haben, aber ein Mann wie Summerhaye würde handfeste Beweise verlangen, und ich zweifelte, ob Poirot die vorlegen konnte.
Bald waren wir alle im Salon versammelt, und Japp schloss die Tür. Poirot stellte höflich für alle Stühle bereit. Alle Augen waren auf die Männer von Scotland Yard gerichtet. Ich glaube, uns allen wurde zum ersten Mal klar, dass das hier kein Albtraum, sondern knallharte Wirklichkeit war. Wir hatten von solchen Dingen zwar schon gelesen, aber jetzt waren wir selbst die Schauspieler in dem Drama. Morgen würden in ganz England die Schlagzeilen der Tageszeitungen die Nachricht verkünden:
Geheimnisvolle Tragödie in Essex
Reiche Dame vergiftet
Es würden Fotos von Styles zu sehen sein, Schnappschüsse von den «Familienmitgliedern nach der Untersuchung» – der Dorffotograf war nicht untätig gewesen! Über solche Dinge hatte man schon hundertmal gelesen, aber immer widerfuhr so etwas nur anderen Leuten, nie einem selbst. Und jetzt war in diesem Haus ein Mord geschehen. Vor uns standen die «mit dem Fall betrauten Kriminalbeamten». Solche wohl bekannten glatten Formulierungen schossen mir durch den Kopf, bevor Poirot das Wort ergriff.
Ich glaube, alle waren etwas überrascht, dass er und nicht einer der offiziell mit dem Fall befassten Kriminalinspektoren die Initiative ergriff.
«Mesdames et messieurs», Poirot verbeugte sich, als ob er ein berühmter Redner wäre, der einen Vortrag halten wollte. «Ich habe Sie alle aus einem bestimmten Grund hierher gebeten. Es geht um Mr. Alfred Inglethorp.»
Inglethorp saß allein ein bisschen abseits – weil wahrscheinlich alle ihren Stuhl unbewusst ein wenig von ihm abgerückt hatten – und zuckte leicht zusammen, als Poirot seinen Namen nannte.
«Mr. Inglethorp», Poirot redete ihn nun direkt an, «auf diesem Haus lastet ein dunkler Schatten – der Schatten eines Mordes.»
Inglethorp schüttelte traurig den Kopf.
«Meine arme Frau», murmelte er. «Arme Emily! Es ist schrecklich.»
«Ich weiß nicht, Monsieur, ob Sie ganz begriffen haben, wie schrecklich das ist – und zwar für Sie», sagte Poirot nachdrücklich. Und als Inglethorp immer noch nicht zu begreifen schien, fügte er hinzu: «Mr. Inglethorp, Sie befinden sich in sehr großer Gefahr.»
Die zwei Kriminalbeamten wanden sich unbehaglich. Ich sah schon die offizielle Formel: «Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden», auf Summerhayes Lippen. Poirot fuhr fort:
«Begreifen Sie es jetzt, Monsieur?»
«Nein. Was wollen Sie damit sagen?»
«Ich will damit sagen», entgegnete Poirot mit Nachdruck, «dass Sie verdächtigt werden, Ihre Frau vergiftet zu haben.»
Bei diesen unverblümten Worten hielten alle im Raum den Atem an.
«Du lieber Himmel!», schrie Inglethorp und sprang auf, «was für eine grauenvolle Vorstellung! Ich – ich soll meine liebste Emily vergiftet haben!»
«Ich glaube nicht», Poirot beobachtete ihn scharf, «dass Sie sich über die ungünstige Wirkung Ihrer Aussage bei der Untersuchung im Klaren sind. Mr. Inglethorp, weigern Sie sich jetzt immer noch zu sagen, wo Sie am Montagabend um sechs waren?»
Stöhnend ließ Alfred Inglethorp sich wieder niedersinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Poirot ging zu ihm und stellte sich vor ihn.
«Reden Sie!», rief er drohend.
Inglethorp hob mühsam das Gesicht und ließ die Hände sinken. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
«Sie wollen nicht reden?»
«Nein. Ich glaube einfach nicht, dass jemand so eine fürchterliche Anklage gegen mich vorbringen könnte.»
Poirot nickte, wie jemand, der sich zu etwas entschlossen hat.
«Soit!», sagte er. «Dann muss ich für Sie sprechen.»
Alfred Inglethorp sprang wieder auf.
«Sie? Wie können Sie denn sprechen? Sie wissen doch gar nicht…» Er brach ab.
Poirot wandte sich zu uns um. «Mesdames et messieurs! Ich werde sprechen! Hören Sie zu! Ich, Hercule Poirot, bestätige hiermit, dass der Mann, der letzten Montag um sechs Uhr abends die Apotheke betrat und Strychnin kaufte, nicht Mr. Inglethorp war, denn um sechs Uhr begleitete Mr. Inglethorp Mrs. Raikes von einem benachbarten Gutshof nach Hause. Ich kann mindestens fünf Zeugen beibringen, die schwören, dass sie die beiden um sechs Uhr oder kurze Zeit später zusammen gesehen haben. Und wie Sie vielleicht wissen, liegt Abbey Farm, Mrs. Raikes’ Zuhause, mindestens zweieinhalb Meilen vom Dorf entfernt. Sein Alibi ist also absolut wasserdicht!»