Ein Fall für den Staatsanwalt

 

Der Prozess gegen John Cavendish fand zwei Monate später statt. Die Anklage lautete auf Mord an seiner Stiefmutter.

Über die dazwischenliegenden Wochen gibt es wenig zu berichten, aber meine Sympathie und Bewunderung galt uneingeschränkt Mary Cavendish. Sie stellte sich leidenschaftlich hinter ihren Mann, hatte für den bloßen Gedanken, er könne schuldig sein, nichts als Verachtung übrig und kämpfte mit Zähnen und Klauen für ihn.

Ich äußerte meine Bewunderung Poirot gegenüber und er nickte nachdenklich.

«Ja, sie ist eine der Frauen, die sich in der Not eindrucksvoll bewähren. Dann zeigen sie ihre besten Eigenschaften. Ihr Stolz und ihre Eifersucht sind…»

«Eifersucht?», hakte ich nach.

«Ja. Haben Sie noch nicht bemerkt, dass sie eine ungewöhnlich eifersüchtige Frau ist? Wie ich schon sagte, ihr Stolz und ihre Eifersucht sind jetzt vergessen. Sie denkt nur noch an ihren Mann und an das schreckliche Schicksal, das ihn erwartet.»

Er sprach sehr mitfühlend, und ich sah ihn aufmerksam an und erinnerte mich an jenen letzten Nachmittag, als er mit sich gekämpft hatte, ob er sprechen sollte oder nicht. Bei all seiner Sorge um das «Glück einer Frau» war ich froh, dass ihm die Entscheidung abgenommen worden war.

«Selbst jetzt kann ich es immer noch kaum glauben, denn bis zur letzten Minute hatte ich gedacht, es wäre Lawrence gewesen!»

Poirot lächelte. «Das weiß ich.»

«Aber John! Mein alter Freund John!»

«Jeder Mörder hat wahrscheinlich irgendwo einen alten Freund», bemerkte Poirot philosophisch. «Man darf Gefühl und Verstand nicht miteinander vermischen.»

«Ich muss schon sagen, Sie hätten mir doch wirklich einen Tipp geben können.»

«Vielleicht tat ich das gerade deshalb nicht, mon ami, weil Sie sein alter Freund sind.»

Das brachte mich ziemlich aus der Fassung, da mir einfiel, wie eifrig ich damals John die vermeintlichen Ansichten Poirots über Dr. Bauerstein hinterbracht hatte. Der war übrigens freigesprochen worden. Doch obwohl er diesmal alle ausgetrickst hatte und die Anklage wegen Spionagetätigkeit fallen gelassen werden musste, waren ihm doch seine Flügel für die Zukunft sehr gestutzt worden.

Ich fragte Poirot, ob er glaubte, dass John verurteilt werden würde.

Zu meiner großen Überraschung erwiderte er, man würde John ganz im Gegenteil höchstwahrscheinlich freisprechen.

«Aber Poirot!», protestierte ich.

«Ach, mein Freund, habe ich Ihnen nicht schon die ganze Zeit gesagt, dass ich keine Beweise habe? Das Wissen, dass jemand schuldig ist, und es ihm auch nachweisen zu können, das ist zweierlei. In diesem Fall gibt es schrecklich wenige Beweise, das ist der ganze Ärger. Ich, Hercule Poirot, weiß alles, aber das letzte Glied in meiner Beweiskette fehlt. Und erst wenn ich das fehlende Glied finde…» Er schüttelte bekümmert den Kopf.

«Wann haben Sie denn John Cavendish zuerst verdächtigt?», fragte ich ihn kurze Zeit später.

«Haben Sie ihn denn gar nicht verdächtigt?»

«Nein, überhaupt nicht.»

«Auch nicht nach den paar Sätzen, die Sie von der Unterhaltung zwischen Mrs. Cavendish und ihrer Schwiegermutter mitbekommen hatten, und angesichts ihrer auffälligen Zurückhaltung bei der Untersuchung?»

«Nein.»

«Haben Sie nicht zwei und zwei zusammengezählt und daraus geschlossen, dass es nicht Alfred Inglethorp war, der mit seiner Frau stritt? Sie erinnern sich, wie heftig er eine Auseinandersetzung bei der Untersuchung abgestritten hat! Dann musste es aber entweder Lawrence oder John gewesen sein. Aber falls es Lawrence gewesen war, wäre Mary Cavendishs Verhalten völlig unerklärlich. Falls es aber John gewesen war, würde das natürlich die ganze Sache erklären.»

«Ach so!» Mir dämmerte es. «Dann hat John sich an jenem Nachmittag mit seiner Mutter gestritten?»

«Genau.»

«Und Sie wussten das die ganze Zeit?»

«Gewiss. Mrs. Cavendishs Verhalten ließ sich nur so erklären.»

«Und dennoch sagen Sie, dass er freigesprochen wird?»

Poirot zuckte die Schultern. «Natürlich. Wir werden ja demnächst bei der Gerichtsverhandlung sehen, was die Anklage gegen ihn vorzubringen hat, aber höchstwahrscheinlich werden seine Anwälte ihm sagen, dass er erst einmal nichts zu seiner Verteidigung vorbringen soll. Das wird dann später beim Prozess geschehen. Ach, ich muss Sie übrigens warnen, mein Freund. Ich darf dort nicht erscheinen.»

«Was?»

«Nein. Ich habe ja offiziell nichts damit zu tun. Bis ich mein letztes Glied in der Beweiskette gefunden habe, muss ich hinter den Kulissen bleiben. Mrs. Cavendish muss glauben, dass ich für ihren Mann arbeite und nicht gegen ihn.»

«Also ich finde das aber nicht sehr anständig», protestierte ich.

«Ganz und gar nicht. Wir haben es mit einem sehr schlauen und völlig gewissenlosen Mann zu tun, und wir müssen alles gegen ihn einsetzen, was in unserer Macht steht, sonst schlüpft er uns durch die Finger. Deshalb muss ich darauf achten, im Hintergrund zu bleiben. Inspektor Japp hat alle Beweise gefunden und er wird auch alle Lorbeeren dafür einheimsen. Falls ich als Zeuge aufgerufen werde» – er lächelte von einem Ohr zum andern –, «dann wahrscheinlich als Zeuge für die Verteidigung.»

Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte.

«Das ist ganz en règle», fuhr Poirot fort. «Seltsamerweise kann ich mit meiner Aussage die Argumente des Staatsanwalts widerlegen.»

«Welche?»

«Das, was sich auf die Zerstörung des Testaments bezieht. John Cavendish hat das Testament nicht vernichtet.»

Poirot war ein guter Prophet. Ich werde die Einzelheiten der Vorverhandlung überspringen, da sie viele ermüdende Wiederholungen beinhaltete. Ich will nur festhalten, dass John Cavendish jede Aussage verweigerte und dann offiziell Anklage gegen ihn erhoben wurde.

Im September fanden wir uns alle in London wieder. Mary mietete ein Haus in Kensington und Poirot gehörte mit zur Familie.

Ich hatte inzwischen einen Posten beim Kriegsministerium bekommen und konnte sie so regelmäßig besuchen.

Als die Wochen verstrichen, verschlechterte sich der Zustand von Poirots Nerven mehr und mehr. Das letzte Glied, von dem er stets sprach, fehlte immer noch. Ich für meinen Teil hoffte, dass es so bleiben würde, denn wie sollte Mary glücklich werden, wenn John nicht freigesprochen würde?

Am 15. September erschien John Cavendish auf der Anklagebank im Old Bailey und wurde des vorsätzlichen Mordes an seiner Stiefmutter Emily Agnes Inglethorp angeklagt. Er erklärte, er sei «nicht schuldig».

Der berühmte Anwalt Sir Ernest Heavyweather verteidigte ihn.

Der Staatsanwalt Mr. Philips eröffnete die Verhandlung.

Er behauptete, es handele sich um nichts Geringeres als vorsätzlichen und höchst kaltblütigen Mord. Eine liebevolle und vertrauensselige Frau sei von ihrem Stiefsohn, dem sie wie eine Mutter gewesen sei, absichtlich vergiftet worden. Seit seiner Kindheit hatte sie für ihn gesorgt. Er und seine Frau hatten auf Styles Court in allem Luxus gelebt, umgeben von der Fürsorge ihrer großzügigen Wohltäterin.

Er versprach, Zeugen zu laden, die beweisen konnten, dass der Angeklagte ein Wüstling und Verschwender gewesen sei, der unter schwerem finanziellen Druck gestanden und eine Affäre mit einer gewissen Mrs. Raikes, der Frau eines benachbarten Bauern, gehabt habe. Als das der Stiefmutter zu Ohren gekommen sei und sie ihn am Nachmittag vor ihrem Tod damit konfrontiert habe, endete das in einem Streit, der teilweise von anderen Personen mitgehört worden sei. Am Tag zuvor habe der Angeklagte in der Dorfapotheke Strychnin gekauft und sich dabei verkleidet, um den Verdacht auf einen anderen Mann zu lenken, nämlich auf Mrs. Inglethorps Ehemann, auf den er fürchterlich eifersüchtig gewesen sei. Doch zum Glück hatte Mr. Inglethorp ein lückenloses Alibi vorweisen können.

Am Nachmittag des 17. Juli, so fuhr der Staatsanwalt fort, verfasste Mrs. Inglethorp direkt nach dem Streit mit ihrem Sohn ein neues Testament. Dieses Testament wurde am nächsten Morgen verkohlt in ihrem Kamin gefunden, aber es gab Beweise dafür, dass sie darin alles ihrem Mann hinterlassen hatte. Die Tote hatte bereits vor ihrer Heirat ein Testament zu dessen Gunsten verfasst, aber – und hier drohte Mr. Philips viel sagend mit dem Zeigefinger – das hatte der Angeklagte nicht wissen können. Was die Verstorbene dazu veranlasst haben konnte, ein neues Testament aufzusetzen, während noch das ältere existierte, war unklar. Sie war eine alte Dame und hatte das frühere vielleicht vergessen oder – und das erschien ihm wahrscheinlicher – hatte sich gedacht, dass es durch die Heirat ungültig geworden sei, da darüber einmal gesprochen worden war. Damen kannten sich in juristischen Dingen oft nicht sehr gut aus. Sie hatte etwa ein Jahr zuvor ein Testament zu Gunsten des Angeklagten gemacht.

Er würde beweisen, dass der Angeklagte in der Unglücksnacht seiner Stiefmutter letztendlich den Kaffee gebracht hatte. Später am Abend hatte er Zutritt zu ihrem Zimmer verlangt, bei welcher Gelegenheit er dann zweifellos eine Möglichkeit fand, das Testament zu zerstören, denn dann würde seines Wissens das andere zu seinen Gunsten wieder gültig werden.

Der Angeklagte war verhaftet worden, nachdem Inspektor Japp – ein äußerst fähiger Kriminalbeamter – in dessen Zimmer ein Röhrchen Strychnin gefunden hatte, das mit dem identisch war, das von dem vermeintlichen Mr. Inglethorp am Tag vor dem Mord gekauft worden war. Die Geschworenen würden darüber entscheiden müssen, ob diese schwerwiegenden Tatsachen einen unumstößlichen Beweis für die Schuld des Angeklagten darstellten.

Und indem er so sehr subtil hatte durchblicken lassen, dass für die Geschworenen eigentlich keine Alternative in Frage kam, nahm Mr. Philips wieder Platz und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Die ersten Zeugen der Anklage hatten fast alle schon bei der Voruntersuchung ausgesagt. Die medizinischen Beweise kamen als Erste dran.

Sir Ernest Heavyweather, der in ganz England für die rücksichtslose Vorgehensweise berühmt war, mit der er Zeugen einzuschüchtern pflegte, stellte nur zwei Fragen:

«Gehe ich recht in der Annahme, Dr. Bauerstein, dass das Gift Strychnin sehr rasch wirkt?»

«Ja.»

«Und dass Sie in diesem Fall keine Erklärung für die verzögerte Wirkung haben?»

«Ja.»

«Danke schön.»

Mr. Mace sagte aus, das ihm vom Staatsanwalt gezeigte Röhrchen sei das, das er an «Mr. Inglethorp» verkauft hatte. Genauer befragt, gestand er, dass er Mr. Inglethorp nur vom Sehen kannte. Er hatte nie mit ihm gesprochen. Der Zeuge wurde nicht ins Kreuzverhör genommen.

Dann wurde Alfred Inglethorp aufgerufen, und er erklärte, er habe das Gift nicht gekauft. Er habe auch nicht mit seiner Frau gestritten. Verschiedene andere Zeugen bestätigten diese Aussagen.

Dann wurde die Bezeugung des Testaments durch die Gärtner bestätigt, und anschließend kam Dorcas in den Zeugenstand.

Dorcas blieb ihrem «jungen Herrn» treu und verneinte heftig, dass sie Johns Stimme gehört hätte. Sie erklärte resolut, trotz aller gegenteiligen Aussagen sei Mr. Inglethorp in dem Boudoir bei ihrer Herrin gewesen. Ein wehmütiges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Angeklagten. Er wusste nur zu gut, wie nutzlos ihre rührenden Bemühungen waren, da die Verteidigung diesen Anklagepunkt gar nicht bestritt. Mrs. Cavendish wurde natürlich nicht aufgerufen, da Eheleute nicht gegeneinander aussagen können.

Nachdem er sich über verschiedene andere Dinge erkundigt hatte, fragte der Staatsanwalt:

«Erinnern Sie sich, dass im Juni ein Paket von der Firma Parkson für Mr. Lawrence Cavendish kam?»

Dorcas schüttelte den Kopf.

«Daran kann ich mich nicht erinnern, Sir. Das mag so gewesen sein, aber Mr. Lawrence war im Juni einige Zeit verreist.»

«Falls nun in seiner Abwesenheit ein Paket für ihn angekommen wäre, was hätte man damit gemacht?»

«Wir hätten es in sein Zimmer gebracht oder ihm nachgeschickt.»

«Hätten Sie das erledigt?»

«Nein, Sir. Ich hätte es in der Halle auf den Tisch gestellt. Miss Howard hätte sich dann darum gekümmert, das gehörte zu ihren Aufgaben.»

Evelyn Howard wurde aufgerufen und nach der Befragung zu einigen anderen Punkten ebenfalls zu dem Paket vernommen.

«Weiß ich nicht mehr. Kommen jede Menge Pakete. Kann mich an kein bestimmtes mehr erinnern.»

«Sie wissen nicht, ob es Mr. Lawrence nach Wales nachgeschickt oder ob es in sein Zimmer gebracht wurde?»

«Wurde wohl kaum nachgeschickt. Daran würde ich mich erinnern.»

«Wenn nun ein Paket für Mr. Lawrence angekommen und hinterher verschwunden wäre, hätten Sie sein Fehlen bemerkt?»

«Glaube ich nicht. Ich hätte gedacht, dass sich ein anderer darum gekümmert hat.»

«Ich glaube, Miss Howard, Sie haben dieses braune Packpapier gefunden, ja?» Er hielt denselben staubigen Bogen hoch, den Poirot und ich im Morgenzimmer von Styles untersucht hatten.

«Ja, das stimmt.»

«Wieso hatten Sie danach gesucht?»

«Der mit der Bearbeitung des Falles betraute belgische Detektiv bat mich, danach zu suchen.»

«Wo haben Sie es dann gefunden?»

«Oben auf – auf einem Schrank.»

«Auf dem Schrank des Angeklagten?»

«Ich glaube, ja.»

«Haben Sie es denn nicht selbst gefunden?»

«Doch.»

«Dann müssen Sie doch wissen, wo Sie es gefunden haben.»

«Ja, es lag auf dem Schrank des Angeklagten.»

«Dann wäre das also geklärt.»

Ein Angestellter der Firma Parkson, Theaterkostümverleih, bestätigte, dass sie am 29. Juni wie angefordert einen schwarzen Bart an Mr. L. Cavendish geschickt hatten. Er war per Brief angefordert worden und das Geld hatte beigelegen. Nein, den Brief hatten sie nicht aufbewahrt. Alle geschäftlichen Vorgänge wurden in den Büchern festgehalten. Sie hatten den Bart wie geordert an «L. Cavendish, Esq. Styles Court» geschickt.

Sir Ernest Heavyweather erhob sich umständlich.

«Wie lautete der Absender des Briefs?»

«Styles Court.»

«Die gleiche Adresse wie die, an die Sie das Paket schickten?»

«Ja.»

Heavyweather stürzte sich auf den Zeugen wie ein Raubtier auf seine Beute.

«Woher wissen Sie das?»

«Ich – ich verstehe nicht…»

«Woher wissen Sie, dass der Brief von Styles kam? Haben Sie sich den Poststempel angesehen?»

«Nein – aber…»

«Aha! Sie haben sich also den Poststempel nicht angesehen! Und dennoch erklären Sie felsenfest, dass der Brief von Styles kam. Es hätte also eigentlich jedweder Poststempel sein können?»

«Äh – ja.»

«Dieser Brief hätte also überall aufgegeben sein können? In Wales, zum Beispiel?»

Der Zeuge bestätigte, dass das der Fall gewesen sein konnte, und Sir Ernest zeigte sich befriedigt.

Elisabeth Wells, das zweite Hausmädchen, sagte Folgendes aus: Nachdem sie bereits zu Bett gegangen war, sei ihr eingefallen, dass sie die Tür verriegelt hatte, statt sie nur eingeklinkt zu lassen, wie Mr. Inglethorp es gewünscht hatte. Sie war also noch einmal nach unten gegangen, um das Versäumte nachzuholen. Als sie ein leises Geräusch im Westflügel hörte, schaute sie in den Gang und sah, wie Mr. John Cavendish bei Mrs. Inglethorp an die Tür klopfte.

Sir Ernest Heavyweather machte mit ihr kurzen Prozess. Unter seinem unbarmherzigen Kreuzfeuer von Fragen verwickelte sie sich hoffnungslos in Widersprüche, und Sir Ernest nahm mit einem zufriedenen Lächeln wieder Platz.

Nach den Aussagen von Annie zu den Wachsflecken auf dem Boden und dass der Angeklagte den Kaffee ins Boudoir gebracht hatte, wurde die Verhandlung auf den folgenden Morgen vertagt.

Als wir nach Hause gingen, beklagte sich Mrs. Cavendish bitterlich über den Staatsanwalt.

«Dieser grässliche Mann! Wie er meinem armen John eine Falle nach der anderen stellte! Wie er jede kleine Tatsache so verdrehte, bis alles so aussah, wie er wollte!»

«Aber morgen», sagte ich tröstend, «wird es genau andersherum sein.»

«Ja», sagte sie gedehnt, dann wurde ihre Stimme plötzlich ganz leise. «Mr. Hastings, Sie denken doch nicht – aber es kann doch nicht Lawrence gewesen sein – oh nein, das ist doch unmöglich!»

Aber ich war selbst unsicher, und sobald ich mit Poirot allein war, fragte ich ihn, was Sir Ernest wohl vorhätte.

«Ah!», sagte Poirot anerkennend. «Dieser Sir Ernest ist ein kluger Mann.»

«Meinen Sie, er hält Lawrence für schuldig?»

«Ich denke nicht, dass er irgendetwas glaubt oder wichtig findet! Nein, sein einziges Ziel ist, in den Köpfen der Geschworenen eine solche Verwirrung zu stiften, dass sie sich nicht einigen können werden, welcher Bruder der Täter ist. Er versucht zu beweisen, dass es gegen Lawrence genauso viele Beweise gibt wie gegen John – und ich fürchte, das wird ihm auch gelingen.»

Nachdem die Verhandlung am nächsten Tag eröffnet wurde, war Inspector Japp der erste Zeuge. Er schilderte in seiner Aussage klar und knapp, was sich zunächst ereignet hatte. Dann berichtete er:

«Superintendent Summerhaye und ich erhielten eine Information, auf die hin wir das Zimmer des Angeklagten in dessen Abwesenheit durchsuchten. In einer Schublade fanden wir unter einem Stapel Unterwäsche als Erstes einen Kneifer mit Goldrand, ähnlich dem, den Mr. Inglethorp trägt» – der Kneifer wurde gezeigt – «und zweitens dieses Glasröhrchen.»

Das Röhrchen war bereits von dem Verkäufer der Apotheke identifiziert worden, es war ein blaues Glasfläschchen, das weißes kristallines Pulver enthielt und ein Etikett mit der Aufschrift «Chlorsaures Strychnin. Gift» trug.

Ein neues Beweisstück, das die Detektive seit Verhandlungsbeginn entdeckt hatten, war ein langes, fast neues Blatt Löschpapier. Es stammte aus Mrs. Inglethorps Scheckheft und zeigte in Spiegelschrift deutlich lesbar die Worte:

 

«… vermache ich mein gesamtes Vermögen meinem geliebten Mann Alfred Ing…»

 

Damit war der endgültige Beweis erbracht, dass das vernichtete Testament zu Gunsten des Ehemanns der Verstorbenen gelautet hatte. Inspector Japp zeigte das verkohlte Fetzchen, das in dem Kamin gefunden worden war, und das, zusammen mit dem auf dem Dachboden gefundenen Bart, vervollständigte seine Beweise.

Aber jetzt stand ihm noch das Kreuzverhör durch Sir Ernest bevor.

«An welchem Tag durchsuchten Sie das Zimmer des Angeklagten?»

«Am Dienstag, dem 24. Juli.»

«Genau eine Woche nach der Tragödie?»

«Ja.»

«Und Sie sagen aus, Sie fanden zwei Gegenstände in einer Kommodenschublade. War die Kommode unverschlossen?»

«Ja.»

«Finden Sie es nicht etwas unwahrscheinlich, dass ein Mörder belastende Beweisstücke in einer unverschlossenen Schublade aufbewahrt, wo jeder sie finden kann?»

«Vielleicht hat er sie in Eile dort versteckt.»

«Aber Sie sagten doch gerade, dass schon eine ganze Woche seit dem Verbrechen vergangen war. Er hätte doch reichlich Zeit gehabt, sie wegzuschaffen und zu vernichten.»

«Vielleicht.»

«Da gibt es kein Vielleicht. Hätte er reichlich Zeit gehabt oder nicht?»

«Ja.»

«War der Stapel Unterwäsche, unter dem die Sachen versteckt waren, eher leicht oder eher schwer?»

«Eher schwer.»

«Mit anderen Worten, es handelte sich um Winterunterwäsche. Offensichtlich würde der Angeklagte in absehbarer Zeit nicht an diese Schublade gehen. Ja oder nein?»

«Möglicherweise nicht.»

«Bitte beantworten Sie mir doch meine Frage. Würde der Angeklagte in der heißesten Woche des Sommers an die Schublade mit seinem Winterzeug gehen? Ja oder nein?»

«Nein.»

«Ist es in diesem Fall nicht gut möglich, dass die fraglichen Gegenstände von einer dritten Person dorthin gebracht sein konnten und der Angeklagte von ihrer Existenz gar nichts wusste?»

«Das halte ich für unwahrscheinlich.»

«Aber es ist möglich?»

«Ja.»

«Das ist alles.»

Es folgten noch andere Aussagen. Sie bezogen sich auf die finanziellen Schwierigkeiten, in denen sich der Angeklagte Ende Juli befunden hatte, und auf sein Verhältnis mit Mrs. Raikes. Arme Mary, welche Demütigung für solch eine stolze Frau!

Evelyn Howard hatte Recht behalten, obwohl ihr Hass auf Alfred Inglethorp sie zu der Schlussfolgerung verleitet hatte, er sei die betreffende Person.

Dann wurde Lawrence Cavendish in den Zeugenstand gerufen.

Leise beantwortete er Mr. Philips’ Fragen. Er behauptete, er hätte nie etwas bei der Firma Parkson im Juni bestellt. Außerdem wäre er am 29. Juni in Wales gewesen.

Sofort stürzte sich Sir Ernest kampflustig auf ihn.

«Sie behaupten, Sie hätten nicht den schwarzen Bart am 29. Juni bei der Firma Parkson bestellt?»

«Jawohl.»

«Aha! Falls Ihrem Bruder etwas zustößt, wer wird dann Styles Court erben?»

Die Brutalität der Frage ließ Lawrence’ blasses Gesicht erröten. Der Richter verlieh seinem Ärger murmelnd Ausdruck und der Angeklagte beugte sich zornig in der Zeugenbank vor.

Heavyweather machte sich nichts aus dem Zorn seines Klienten.

«Beantworten Sie bitte meine Frage!»

Lawrence sagte leise: «Wahrscheinlich ich.»

«Was meinen Sie mit wahrscheinlich? Ihr Bruder hat keine Kinder. Sie würden also erben, nicht wahr?»

«Ja.»

«Aha, das ist schon besser», meinte Heavyweather mit bösem Lächeln. «Und Sie würden außerdem auch eine Menge Geld erben, nicht wahr?»

«Bitte, Sir Ernest», protestierte der Richter, «diese Fragen sind irrelevant.»

Sir Ernest verbeugte sich, seinen Pfeil hatte er abgeschossen, und nun konnte er fortfahren.

«Am Dienstag, dem 17. Juli, fuhren Sie, soweit ich weiß, mit einem anderen Gast zu einer Apotheke beim Roten-Kreuz-Krankenhaus in Tadminster?»

«Ja.»

«Haben Sie dort – als Sie zufälligerweise gerade allein im Raum waren – den Giftschrank aufgeschlossen und einige der Flaschen betrachtet?»

«Ich – äh, vielleicht habe ich das getan.»

«Soll ich das so verstehen, dass Sie es taten?»

«Ja.»

Sir Ernest schoss die nächste Frage ab.

«Haben Sie ein Fläschchen besonders genau betrachtet?»

«Nein, ich glaube nicht.»

«Seien Sie vorsichtig, Mr. Cavendish, ich beziehe mich auf die kleine Flasche mit dem Strychnin.»

Lawrence’ Gesicht hatte sich inzwischen in ein kränkliches Grün verfärbt.

«Nein… äh… ich bin mir sicher.»

«Wie erklären Sie sich dann die Tatsache, dass Sie ganz eindeutig Ihre Fingerabdrücke darauf hinterlassen haben?»

Die einschüchternde Frage war bei einem nervlichen Wrack wie Lawrence sehr erfolgreich.

«Dann… äh… muss ich wohl die Flasche berührt haben.»

«Das meine ich aber auch! Haben Sie sich von dem Flascheninhalt etwas genommen?»

«Bestimmt nicht.»

«Warum haben Sie sie dann angefasst?»

«Ich habe früher Medizin studiert. Solche Dinge interessieren mich natürlich.»

«Ach? Gifte interessieren Sie natürlich? Aber trotzdem warteten Sie, bis Sie allein waren, bevor Sie Ihr Interesse befriedigten?»

«Das war reiner Zufall. Wenn die anderen dabei gewesen wären, hätte ich dasselbe gemacht.»

«Aber es war ja nun mal so, dass die anderen nicht dabei waren?»

«Nein, aber…»

«Genau genommen waren Sie während des gesamten Nachmittags nur einmal für wenige Minuten allein und dann passierte es – ich sage: passierte es –, dass Sie ausgerechnet während dieser zwei Minuten Ihrem natürlichen Interesse für… Strychnin nachgingen?»

Lawrence stotterte jämmerlich: «Ich… äh… ich…» Mit allen Zeichen der Zufriedenheit bemerkte Sir Ernest: «Ich habe keine weiteren Fragen mehr an Sie, Mr. Cavendish.» Dieser Teil des Kreuzverhörs verursachte im Gerichtssaal große Aufregung. Die vielen elegant gekleideten Damen steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten eifrig, und ihr Geflüster wurde so laut, dass der Richter ärgerlich drohte, den Saal räumen zu lassen, falls nicht sofort Ruhe einkehre.

Danach gab es nur noch wenige Aussagen. Die Handschriftenexperten sollten sich zu der Unterschrift «Alfred Inglethorp» in dem Giftbuch der Apotheke äußern. Sie erklärten einstimmig, dass es sich hierbei nicht um Alfred Inglethorps Handschrift handelte, und äußerten die Vermutung, dass es die verstellte Handschrift des Angeklagten sein könnte. Im Kreuzverhör gaben sie jedoch zu, dass es auch die geschickt gefälschte Handschrift des Angeklagten sein könnte.

Sir Ernest Heavyweathers Plädoyer für die Verteidigung war nicht lang, aber es wirkte durch die volle Wucht seiner überzeugenden Argumentation. Niemals im Laufe seiner langen Erfahrung wäre ihm eine Mordanklage untergekommen, die auf schwächeren Beweisen gefußt hätte. Nicht nur, dass es sich ausschließlich um Indizien handelte, nein, der größte Teil davon sei noch nicht einmal bewiesen. Die Geschworenen sollten die Aussagen sorgfältig prüfen und vorurteilslos betrachten. Das Strychnin war in einer Schublade im Zimmer des Angeklagten gefunden worden. Diese Schublade war unverschlossen, wie er aufgezeigt hatte, und es gab keinerlei Beweise dafür, dass der Angeklagte das Gift dort versteckt hatte. Es war vielmehr der gemeine und bösartige Versuch einer dritten Person, dem Angeklagten das Verbrechen anzuhängen. Die Anklage hatte keinen einzigen Beweis dafür vorlegen können, dass der Angeklagte den schwarzen Bart bei der Firma Parkson bestellt hätte. Der Streit, der zwischen dem Angeklagten und seiner Stiefmutter stattgefunden hatte, war von ihm bereitwillig zugegeben worden, aber sowohl der Streit als auch seine finanzielle Notlage waren stark übertrieben worden.

Sein verehrter Herr Kollege – Sir Ernest nickte kurz in die Richtung von Mr. Philips – hatte behauptet, der Angeklagte hätte im Falle seiner Unschuld bei der Untersuchung seinerzeit aussagen müssen, dass er und nicht Mr. Inglethorp die andere Partei bei dem nachmittäglichen Streit gewesen sei. Doch seiner Meinung nach seien die Tatsachen falsch interpretiert worden. In Wirklichkeit wäre Folgendes passiert: Dem Angeklagten sei, als er am Dienstagabend nach Hause kam, ausdrücklich mitgeteilt worden, dass es zu einem heftigen Streit zwischen Mr. und Mrs. Inglethorp gekommen sei. Deshalb war ihm gar nicht der Verdacht gekommen, jemand könnte seine Stimme mit der von Mr. Inglethorp verwechselt haben. Er hatte natürlich gedacht, dass sich seine Stiefmutter zweimal gestritten hatte.

Die Anklage hatte behauptet, der Angeklagte habe am Montag, dem 16. Juli, als Mr. Inglethorp verkleidet die Dorfapotheke betreten. Der Angeklagte befand sich aber zu dieser Zeit an einem einsamen Ort, dem Wäldchen von Marston Spinney, weil er eine anonyme Botschaft mit der erpresserischen Drohung erhalten hatte, im Falle seines Nichterscheinens würden seiner Frau gewisse Dinge mitgeteilt. Der Angeklagte war also bei dem Treffpunkt erschienen, hätte dort vergeblich eine halbe Stunde gewartet und sei dann wieder nach Hause gegangen. Unglücklicherweise war er auf dem Rückweg niemandem begegnet, der seine Aussage bestätigen könnte, aber glücklicherweise hatte er den Brief aufbewahrt, und der würde als Beweisstück vorgelegt werden.

Was nun die Vernichtung des Testaments betraf, so sei der Angeklagte früher selbst als Anwalt tätig gewesen und wüsste sehr wohl, dass das Testament, das seine Stiefmutter im Jahr zuvor zu seinen Gunsten gemacht hatte, automatisch durch die Heirat ungültig wurde. Die Verteidigung würde Beweise vorlegen, wer das Testament vernichtet habe, und danach würde man den Fall vielleicht in einem ganz neuen Licht sehen.

Schließlich wollte er die Geschworenen noch einmal darauf hinweisen, nicht nur gegen John Cavendish, sondern auch noch gegen andere Personen lägen Beweise vor. Er würde gern ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass das Beweismaterial gegen Mr. Lawrence Cavendish ziemlich belastend sei, wenn nicht sogar noch belastender als das gegen seinen Bruder.

Er würde jetzt den Angeklagten in den Zeugenstand rufen.

John hielt sich gut im Zeugenstand. Unter der Anleitung von Sir Ernests geschickten Fragen erzählte er seine Geschichte glaubwürdig und einleuchtend. Der anonyme Brief wurde vorgelegt und den Geschworenen zur Begutachtung gereicht. Die Bereitwilligkeit, mit der er seine finanziellen Schwierigkeiten und den Streit mit seiner Stiefmutter eingestand, unterstützte seine Glaubwürdigkeit noch.

Gegen Ende der Befragung machte er eine Pause und sagte dann:

«Ich möchte eine Sache klarstellen. Die Unterstellungen von Sir Ernest Heavyweather gegen meinen Bruder weise ich mit aller Entschiedenheit zurück. Ich bin davon überzeugt, dass mein Bruder genauso wenig mit dem Verbrechen zu tun hatte wie ich.»

Sir Ernest lächelte dazu nur und bemerkte mit scharfem Blick, dass Johns Protest bei den Geschworenen einen guten Eindruck hinterließ.

Dann begann Mr. Philips mit dem Kreuzverhör.

«Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie bei der Voruntersuchung damals nie auf die Idee kamen, die Zeugen hätten Ihre Stimme mit der von Mr. Inglethorp verwechselt? Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?»

«Nein, das finde ich nicht. Man hatte mir erzählt, es sei zu einem Streit zwischen meiner Mutter und Mr. Inglethorp gekommen, und mir kam nie in den Sinn, dass dieser Streit gar nicht stattgefunden hatte.»

«Auch nicht, als das Hausmädchen Dorcas einige Bruchstücke der Unterhaltung wiederholte – Bruchstücke, die Sie doch wieder erkannt haben müssen?»

«Ich habe sie nicht wieder erkannt.»

«Dann müssen Sie aber ein schlechtes Gedächtnis haben!»

«Nein, sondern wir waren beide wütend und haben deshalb Dinge gesagt, die wir so nicht gemeint haben. Ich achtete nicht sehr sorgfältig auf die Worte meiner Mutter.»

Mr. Philips’ ungläubiges Schnauben war ein Triumph juristischer Raffinesse. Er wandte sich nun dem anonymen Brief zu.

«Sie haben diesen Brief ja zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt vorgelegt. Sagen Sie mir, erkennen Sie die Handschrift nicht wieder?»

«Nein, ich kenne sie nicht.»

«Finden Sie nicht, dass sie große Ähnlichkeit mit Ihrer eigenen Handschrift hat – schlecht verstellt?»

«Nein, das finde ich nicht!»

«Ich behaupte, dass es sich um Ihre eigene Schrift handelt!»

«Nein.»

«Ich behaupte, dass Sie unbedingt ein Alibi konstruieren mussten und deshalb auf die Idee kamen, eine ziemlich unglaubwürdige fingierte Verabredung zu erfinden. Sie haben dann diesen Brief selbst geschrieben, um Ihre Aussage zu untermauern!»

«Nein.»

«Sie behaupten, Sie hätten an einem einsamen, verlassenen Ort gewartet – aber haben Sie denn nicht vielmehr genau zu diesem Zeitpunkt in der Apotheke von Styles St. Mary unter dem Namen von Alfred Inglethorp Strychnin gekauft?»

«Nein, das ist eine Lüge!»

«Ich behaupte, dass Sie in einem Anzug von Mr. Inglethorp und mit einem schwarzen Bart verkleidet dort waren – und mit seinem Namen unterschrieben haben!»

«Das ist absolut unwahr.»

«Dann will ich die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen der Handschrift des Briefes, der Unterschrift im Giftbuch und Ihrer eigenen Handschrift dem Urteil der Geschworenen überlassen», sagte Mr. Philips und setzte sich mit der Miene eines Mannes hin, der seine Pflicht getan hat, aber angewidert war von solch kaltblütigem Meineid.

Danach war es so spät, dass die Verhandlung auf den nächsten Morgen vertagt wurde.

Ich merkte, dass Poirot äußerst entmutigt dreinsah. Ich kannte die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen nur zu gut.

«Was ist denn, Poirot?»

«Ach, mon ami, die Dinge laufen schlecht, sehr schlecht.»

Gegen meinen Willen tat mein Herz vor Erleichterung einen Sprung. Offensichtlich stand zu erwarten, dass John Cavendish freigesprochen wurde.

Nach unserer Rückkehr lehnte mein kleiner Freund Marys Einladung zum Tee ab.

«Nein, danke, Madame, ich möchte in mein Zimmer gehen.»

Ich folgte ihm. Er hatte immer noch die Stirn gerunzelt und ging zum Tisch, wo er einen Stapel Patience-Karten aufnahm. Dann setzte er sich an den Tisch und begann zu meinem grenzenlosen Erstaunen mit dem Bau eines Kartenhauses!

Ich blieb mit offenem Mund stehen, und er sagte sofort:

«Nein, mon ami, ich bin noch nicht senil, sondern ich beruhige meine Nerven, das ist alles. Dazu muss ich meine Finger beschäftigen. Mit der Präzision der Finger wächst auch die Präzision des Denkens. Und die hatte ich nie nötiger als jetzt!»

«Was ist denn das Problem?»

Mit einem mächtigen Hieb auf den Tisch zerstörte Poirot sein Kartenhaus.

«Das Problem ist Folgendes, mon ami! Ich kann zwar siebenstöckige Kartenhäuser bauen, aber ich kann» – wumm – «nicht herausfinden» – wumm –, «welches das letzte Glied der Kette ist, von dem ich Ihnen erzählt habe.»

Mir fiel dazu keine Entgegnung ein, deshalb hielt ich den Mund, und er fing langsam mit dem Bau eines neuen Kartenhauses an. Dabei stieß er die Worte hervor:

«Geschafft – so! Mit mathematischer Präzision – eine Karte – auf die andere – stellen!»

Ich sah das Kartenhaus unter seinen Händen in die Höhe wachsen. Er zögerte und stockte keinen Augenblick. Es war fast wie ein Zauberkunststück.

«Sie haben sehr ruhige Hände», bemerkte ich. «Ich glaube, ich habe Ihre Hände bisher nur einmal zittern sehen.»

«Bestimmt in einer Situation, wo ich sehr wütend war», bemerkte Poirot sehr gleichmütig.

«Genau! Sie waren von blinder Wut ergriffen. Wissen Sie noch? Als Sie entdeckten, dass das Schloss von Mrs. Inglethorps Aktenkoffer in ihrem Zimmer aufgebrochen worden war. Sie standen am Kamin und rückten Gegenstände gerade, wie Sie das immer zu tun pflegen, und Ihre Hand zitterte wie Espenlaub! Ich muss schon sagen…»

Aber dann hielt ich plötzlich inne, denn Poirot hatte einen heiseren, unartikulierten Schrei ausgestoßen. Er zerstörte abermals sein Meisterwerk aus Spielkarten, legte die Hände über seine Augen und wankte wie unter größten Schmerzen vor und zurück.

«Gütiger Himmel, Poirot!», rief ich. «Was ist los? Sind Sie krank?»

«Nein, nein!» Er rang nach Luft. «Es ist nur – ich – ich habe eine Idee!»

«Oh!» Ich war sehr erleichtert. «Eine von Ihren kleinen Ideen?»

«Ah, ma foi, nein!», erwiderte Poirot. «Diesmal ist es eine gigantische Idee! Wahnsinnig! Und Sie – Sie, mein Freund, haben mich darauf gebracht!»

Plötzlich schloss er mich in seine Arme, küsste mich herzlich auf beide Wangen, und bevor ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, war er aus dem Zimmer gestürzt.

In diesem Augenblick kam Mary Cavendish herein.

«Was ist denn mit Monsieur Poirot los? Er rannte an mir vorbei und rief laut: ‹Eine Autovermietung! Um Himmels Willen, wo finde ich eine Autovermietung, Madame?› Und bevor ich ihm antworten konnte, war er aus dem Haus gerannt.»

Ich eilte zum Fenster. Richtig, da war er und rannte die Straße hinunter, ohne Hut und wild gestikulierend. Ich drehte mich zu Mary um und machte eine hilflose Geste.

«Gleich wird ihn ein Polizist festnehmen – da verschwindet er um die Ecke!»

Unsere Blicke trafen sich und wir starrten uns hilflos an.

«Was kann denn nur passiert sein?»

Ich schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Er baute Kartenhäuser, und plötzlich sagte er, er hätte eine Idee und rannte weg, wie Sie ja gesehen haben.»

«Seltsam», sagte Mary. «Ich hoffe nur, er ist zum Abendessen wieder zurück.»

Aber als es dunkel wurde, war Poirot noch nicht heimgekommen.