AnubisMogens war verstört, und das Gefühl wurde mit jedem Schritt schlimmer, den er Graves und dem zitternden bleichen Finger aus Licht folgte, den dieser in die Dunkelheit vorausschickte. Hätte er versucht, sich diese Situation vorher in Gedanken auszumalen, so hätte er erwartet, dass er am Anfang verstört und ungläubig reagieren würde, später dann zweifelnd und schließlich, nachdem er eine angemessene Schamfrist eingehalten und seinem akademischen Verstand hinlänglich Zeit gewährt hatte, alle notwendigen Bedenken vorzubringen und alle Argumente gegeneinander abzuwägen, freudig erregt. Aber das genaue Gegenteil war der Fall.

Der Anblick der tanzenden Sterne hatte ihn einfach überwältigt. Da war gar kein Platz mehr gewesen für Zweifel, für irgendein Wenn und Aber oder logische Argumente. Er hatte gesehen, und das, was er gesehen hatte, das hatte die Barrieren seines Intellekts einfach überrannt, blitzschnell und ohne ihm auch nur die mindeste Chance zur Gegenwehr zu lassen. In dem Moment, als er in der uralten Höhle gestanden und dem faszinierenden Tanz eines Sternbildes zugesehen hatte, das in dieser Konstellation schon seit fünftausend Jahren nicht mehr existierte, hatte er gewusst, dass Graves die Wahrheit sagte. Er hatte es wissen wollen.

Nun kamen die Zweifel.

Selbstredend gab auch der hartnäckig kritischste Teil seines Verstandes – der Wissenschaftler in ihm, den er für seinen Geschmack in letzter Zeit entschieden zu oft bemühen musste – zu, dass es mit der Höhle der Dogon etwas Besonderes auf sich hatte. Selbst der größte Zweifler konnte das, was er gerade mit eigenen Augen gesehen hatte, nicht einfach wegdiskutieren. Aber waren eine fünftausend Jahre alte Felszeichnung und eine Hand voll tanzender Lichter tatsächlich schon Beweis genug für das, was Graves behauptete? Die ganz eindeutige Antwort auf diese Frage war natürlich nein. Mogens kannte die Gefahr, in die gerade Menschen mit einem vermeintlich wissenschaftlich geschulten Verstand gerne gerieten, wenn sie etwas glauben wollten. Die Geschichten geradezu lächerlich großer Irrtümer, Täuschungen und Lügen hätten ganze Bände gefüllt, hätte sich jemand die Mühe gemacht, sie niederzuschreiben, und Graves und er hatten in ihrer Zeit als Studenten zahlreiche Nächte damit zugebracht, sich über die Irrtümer und Fehlinterpretationen zu amüsieren, denen gestandene Professoren und hoch angesehene Experten aufgesessen waren. Die schwebenden Lichter allein bedeuteten nichts, gar nichts.

»Tom!« Graves’ Stimme drang so warnungslos in seine Gedanken, dass er erschrocken zusammenzuckte und sich alarmiert umsah. Sie hatten den Hieroglyphengang erreicht und schon beinahe zur Gänze durchschritten, ohne dass er es wirklich zur Kenntnis genommen hätte. Jetzt war Graves stehen geblieben und hatte den Arm ausgestreckt. Das Licht der Grubenlampe, die er in der anderen Hand hielt, verlor sich in der Schwärze des Gangs vor ihnen, aber Mogens war nervös genug, um eine Bewegung darin zu gewahren, die es nicht gab.

»Bring mir das Gewehr!«, verlangte Graves. Tom beeilte sich, an Mogens vorbeizukommen und die Waffe hinüberzureichen, und Graves fügte in Mogens’ Richtung und in wenig überzeugendem Ton hinzu: »Eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

Er nahm das Gewehr entgegen, klemmte es sich mit einer Bewegung, die eine beunruhigende Routine in solcherlei Dingen verriet, unter den Arm und fuhr fort: »Vielleicht wäre es trotzdem besser, wenn du ein Stück zurückbleiben würdest. Um ein wenig auf Miss Preussler aufzupassen.«

Seine Worte klangen nicht besonders überzeugend, fand Mogens. Wenn es sich wirklich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handelte, warum wirkte Graves dann plötzlich so nervös?

Er ging nicht zu Miss Preussler zurück, sondern wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte, und wollte weitergehen, doch Graves wedelte noch einmal mit der Hand und sagte: »Bitte entzündet die Lampen. Wir sind jetzt gleich da.«

Miss Preussler gehorchte sofort, und auch Mogens versuchte es, aber er stellte sich dabei so ungeschickt an, dass Tom es schließlich aufgab und zurückkam, um ihm zu helfen. Das fast unmerkliche Zischen der Grubenlampen vereinigte sich zu einem hellen Wispern, das von den verzierten Wänden aufgenommen wurde und uralte, verbotene Geschichten erzählte, auf die irgendetwas aus der Dunkelheit heraus zu antworten schien.

»Danke«, sagte Mogens, als Tom ihm die Lampe reichte. Tom nickte wortlos und schickte eines seiner üblichen, jungenhaften Lächeln hinterher, aber Mogens meinte trotzdem, eine gewisse Anspannung in ihm zu fühlen und einen Ernst, den er zuvor nur ein einziges Mal an ihm bemerkt hatte: damals, als er vom Tod seiner Eltern berichtete.

Tom hielt ihm auch das zweite Gewehr hin, aber Mogens schüttelte fast erschrocken den Kopf und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht ein Stück zurückzuweichen. Er verabscheute Waffen noch immer genauso wie vor zehn Minuten, und darüber hinaus war er sicher, dass der Junge mit dem Gewehr deutlich besser umgehen konnte als er.

»Wie Sie meinen, Professor«, sagte Tom achselzuckend. »Bleiben Sie einfach hinter mir. Ich passe schon auf Sie auf.«

»Sollen wir jetzt ein paar Schritte zurückbleiben, oder dicht hinter Ihnen?«, fragte Miss Preussler stirnrunzelnd, nachdem sie sich herumgedreht hatte und wieder an Graves’ Seite getreten war. Graves schoss einen ärgerlichen Blick über die Schulter in ihre Richtung zurück, zuckte knapp mit den Achseln und ging dann weiter.

Sie waren nicht mehr allzu weit vom Ende des Gangs entfernt. Das vereinigte Licht ihrer Lampen fiel bereits auf die Schutthalde und verlor sich in der Schwärze der Tempelkammer dahinter. Mogens wartete darauf, dass der Anblick Erinnerungen an die zurückliegende Nacht weckte, doch alles, was er spürte, war eine stärker werdende Furcht. Er erinnerte sich immer noch nicht, was er hinter dem offen stehenden Tor gesehen hatte – nur, dass es durch und durch grässlich gewesen war.

Unbeschadet ihrer eigenen Worte ging Miss Preussler etwas langsamer, sodass der Abstand zwischen Graves und ihnen wieder größer wurde, und als sie weitersprach, wusste Mogens auch, warum. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, was allerdings nicht viel nutzte; die verzierten Wände fingen jeden Laut auf und warfen ihn zischelnd verstärkt und verzerrt zurück: die Stimme der bösen Hexe aus dem Märchen, die die Kinder in die offen stehende Tür des Backofens lockt.

»Wie konnte ein so netter junger Mann wie Sie nur an jemanden wie Doktor Graves geraten?«, fragte sie.

»Wir waren einmal …«, begann Mogens ganz automatisch, brach aber dann ab und schwieg einen Moment nachdenklich. Um ein Haar hätte er »Freunde« gesagt, aber das Wort wollte ihm einfach nicht über die Lippen, und das lag nicht nur an den vergangenen neun Jahren. Miss Preussler sah ihn fragend und auf eine ganz besondere Art an, und schließlich fuhr er mit einem angedeuteten Achselzucken fort: »Studienkollegen.«

»An der Universität, nehme ich an«, sagte Miss Preussler.

Graves warf ihr im Gehen einen unverhohlen verächtlichen Blick über die Schulter hinweg zu, den Miss Preussler so wenig übersah, wie er ihre Worte überhört hatte. Von seiner ungewohnten Sanftmütigkeit und Ruhe war nichts mehr geblieben. Der Moment, in dem sie in der Höhle gestanden und dem faszinierenden Tanz der Sternbilder zugesehen hatten, hatte sie beide für einen kurzen Augenblick verändert; vielleicht hatte er sowohl in Mogens als auch in Graves etwas geweckt, was bisher sogar von ihnen selbst unerkannt geschlummert hatte. Aber nun war er vorbei, und sie fielen beide wieder in ihre gewohnten Verhaltensmuster zurück. Seltsamerweise beruhigte dieser Gedanke Mogens eher, statt ihn zu stören.

»Lassen Sie mich raten, Professor«, fuhr Miss Preussler fort. Sie hatte natürlich genau wie er bemerkt, wie sinnlos es war, zu flüstern, und dass Graves ihre Worte trotzdem hörte, ja, wie es aussah, sogar konzentriert darauf lauschte. Es schien sie jedoch nicht zu stören, denn sie sprach in ganz normalen Tonfall und Lautstärke weiter. Jetzt schien die sonderbare Akustik dieses Gangs ihre Worte jedoch eher zu dämpfen. »Es hat mit dieser Frau zu tun, von der Sie mir erzählt haben.«

Graves beließ es jetzt nicht mehr bei einem schrägen Blick über die Schulter zurück, sondern drehte mit einem Ruck Kopf und Oberkörper, sodass sein Scheinwerferstrahl für einen Moment einen wütenden Tanz über Wände, Decke und Boden vor ihm aufführte, und funkelte Mogens fast hasserfüllt an, enthielt sich aber auch jetzt jeden Kommentars und wandte sich nach einer weiteren Sekunde wieder um.

»Janice, ja«, antwortete Mogens leise. »Aber nicht so, wie Sie vielleicht meinen, Miss Preussler.«

Er hatte nicht mit diesem Tiefschlag gerechnet, aber sie verzichtete darauf, nachzuhaken, wofür ihr Mogens im Stillen sehr dankbar war, und so fuhr er – obwohl er es eigentlich gar nicht vorgehabt hatte – fort: »Es war eine schreckliche Geschichte. Ich möchte nicht darüber reden, nur so viel: Sie ist damals ums Leben gekommen. Durch meine Schuld. Allein meine Schuld.«

Er musste sie nicht einmal ansehen, um zu spüren, wie wenig sie ihm diese Version glaubte. Miss Preussler war weder dumm noch unsensibel; beide Attribute hatte er im Zusammenhang mit ihr in Gedanken – und nicht nur da – in den letzten Jahren großzügig und oft verwendet, aber ihm war längst klar geworden, wie bitter Unrecht er ihr damit getan hatte. Sie war weder das eine noch das andere. Ganz im Gegenteil. Wenn auch auf eine Art, zu der er erst jetzt ganz allmählich Zugang fand, und innerhalb der festen Regeln einer kleinen, scharf umrissenen Welt, war sie doch im Grunde eine sehr kluge und äußerst warmherzige Person, selbst wenn sie von einer Sekunde auf die andere zur Furie werden konnte.

»Falls wir diese Nacht überleben, Professor«, sagte sie, »dann müssen wir beide uns unterhalten.«

»Woran ich immer größere Zweifel habe«, fügte Graves gehässig und in einer Lautstärke, die eingedenk seiner eigenen Worte geradezu absurd schien, hinzu. »Ich verderbe euch beiden Turteltäubchen ja nur ungern den Moment eurer großen Versöhnung, aber ich würde euch dennoch dringend bitten, jetzt endlich die Klappe zu halten!«

Die letzten Worte hatte er beinahe geschrien. Miss Preussler blinzelte nur und sah ihn konzentriert an. Sie sagte nichts mehr, was nach Mogens’ Einschätzung aber weniger an Graves’ scharfem Ton lag als vielmehr daran, dass sie es für einfach unter ihrer Würde hielt, auf ein derartiges Benehmen überhaupt zu reagieren, während Mogens ein erschrockenes Gesicht machte und für einen Sekundenbruchteil innehielt. Graves nickte zufrieden, machte ein grimmiges Gesicht und setzte seinen Weg mit stampfenden Schritten fort.

Seine Zufriedenheit war jedoch fehl am Platze; auch Mogens’ Reaktion war keineswegs darauf zurückzuführen, dass er ihn eingeschüchtert hätte – das konnte er schon lange nicht mehr –, vielmehr hatte er am Rande seines Scheinwerferstrahles für einen kurzen Moment etwas aufblitzen sehen. Janice war natürlich nur für ihn wirklich zu sehen, und sie war auch nicht wirklich da – zum allerersten Mal war er sich dieses Umstandes vollkommen bewusst –, aber er wusste zugleich auch, dass sie irgendwo in den Schatten dort vorne auf ihn wartete. Und – und auch das zum allerersten Mal – dieser Gedanke hatte plötzlich rein gar nichts Erschreckendes oder Furchteinflößendes mehr, sondern ganz im Gegenteil etwas zutiefst Beruhigendes.

»Was für ein unmöglicher Mensch«, sagte Miss Preussler schließlich; gerade so leise, dass Graves die Worte hören musste, aber nicht sicher sein konnte, ob er es auch sollte. Diesmal reagierte er auch nicht darauf, sondern beschleunigte ganz im Gegenteil seine Schritte noch einmal, bis er den Trümmerberg erreicht hatte und stehen blieb. Tom setzte dazu an, ihn unverzüglich zu erklimmen, doch Graves hielt ihn mit einer entsprechenden Bewegung zurück und winkte Mogens und Miss Preussler zugleich mit dem anderen Arm zu, rascher zu ihnen aufzuschließen. »Bitte verzeihen Sie meinen groben Ton«, sagte er, als sie neben ihm angelangt waren. »Ich bin wohl … ein bisschen nervös.«

Miss Preussler musterte ihn ausdruckslos und dachte gar nicht daran, ihm in irgendeiner Form Absolution zu erteilen.

»Wir sollten jetzt leise sein«, fuhr Graves in leicht verschnupftem Tonfall, tatsächlich aber nun flüsternd, fort. »Und sehr vorsichtig.«

»Glauben Sie, dass Sie das da«, Miss Preussler deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gewehr in Graves’ linker Armbeuge, »wirklich brauchen?«

»Ich hoffe nicht«, antwortete Graves. »Ich fürchte sogar, wenn wir es brauchen, wird es uns nicht mehr viel nutzen.« Er schüttelte trotzig den Kopf. »Aber sicher ist sicher, nicht wahr?«

»Nicht wahr«, bestätigte Miss Preussler. Mogens hatte alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Miss Preussler war wirklich in jeder Situation für eine Überraschung gut.

Graves schien diese Antwort nicht im Geringsten komisch zu finden. Er war jedoch – ausnahmsweise – klug genug, nichts darauf zu erwidern, sondern sah Miss Preussler ganz im Gegenteil plötzlich sehr ernst und voller echter Sorge an. »Das ist jetzt unwiderruflich der letzte Moment, es sich noch einmal zu überlegen, Ma’am«, sagte er. »Noch können Sie kehrtmachen. Sie müssen den Weg nur zurückgehen und kommen automatisch wieder zum Ausgang.«

»Haben Sie Probleme mit Ihrem Gehör, Doktor?«, antwortete Miss Preussler mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ich dachte doch, ich hätte mich klar genug ausgedrückt.«

»Wenn wir jetzt weitergehen«, antwortete Graves ungerührt, »können wir vielleicht nicht mehr umkehren.«

Statt ihm zu antworten, maß ihn Miss Preussler nur noch einmal mit einem langen, ganz offen verächtlichen Blick, dann raffte sie ihren Rock, drehte sich auf dem Absatz herum und begann mit erstaunlichem Geschick die Schutthalde hinaufzusteigen.

Graves starrte sie einen Herzschlag lang verblüfft an und versuchte dann den Arm auszustrecken, um sie zurückzuhalten, doch Miss Preussler hatte nicht nur bereits die Hälfte der aus Schutt und Trümmern bestehenden Halde erklommen, sie überraschte sie alle auch ein weiteres Mal. Als sie gerade so weit war, dass sie von der anderen Seite aus sichtbar geworden wäre, ließ sie sich auf Hände und Knie herabsinken und kroch das allerletzte Stück des Weges auf allen vieren. Oben angekommen, legte sie sich flach auf den Bauch und spähte aufmerksam und vollkommen reglos über den Rand ihrer Deckung hinweg; wäre sie hundert Pfund leichter gewesen, hätte man sie für einen Indianer halten können, der sich im Gebüsch anpirscht, um einen Hinterhalt für die weißen Eindringlinge zu legen.

Mogens schenkte Graves einen fast triumphierenden Blick, auf den dieser jedoch nur mit einem Ausdruck noch größerer Sorge reagierte. »Das gefällt mir nicht«, flüsterte er. »Es könnte wirklich gefährlich werden, weißt du?« Er machte eine Bewegung mit dem Gewehr. »Ich habe das ernst gemeint. Wenn wir die Dinger brauchen, dann werden sie uns vielleicht nicht mehr viel nutzen.«

»Warum schleppen wir sie dann mit?«, fragte Mogens.

»Weil wir … ach, vergiss es!« Graves machte mit einem Ruck auf dem Absatz kehrt und folgte Miss Preussler – schneller und auf eine Art, die auch noch Mogens’ letzte Zweifel daran beseitigten, dass er so etwas nicht zum ersten Mal tat, aber kein bisschen leiser als sie. Ganz im Gegenteil ließ er sich erst sehr viel später auf alle viere hinab, sodass die Gefahr, von der anderen Seite aus gesehen zu werden, viel größer war. Mogens sah ihm kopfschüttelnd nach, doch dann machte Tom eine auffordernd-ungeduldige Handbewegung, und auch er begann den Trümmerberg zu erklettern. Tom bildete den Abschluss, und nur wenige Augenblicke später lagen sie nebeneinander auf dem Kamm der Schutthalde, wie vier ungleiche Soldaten, die aus ihrem Schützengraben herausspähten und mit klopfendem Herzen nach ihrem Feind Ausschau hielten.

Auf der anderen Seite war jedoch – zumindest im ersten Moment – rein gar nichts zu sehen. Sowohl Graves als auch Tom hatten ihre Scheinwerferstrahlen direkt in die große Tempelkammer gerichtet, doch das weiße Licht schien mit jedem Meter, den es zurücklegte, mehr an Substanz und Leuchtkraft zu verlieren – als fiele es nicht in einen leeren Raum, sondern in das schwarze Wasser auf dem tiefsten Grund der Ozeane, in dem es keine Existenzberechtigung mehr hatte und keine Macht. Nur hier und da tauchte ein Umriss aus der Schwärze auf, der sich jedoch beharrlich weigerte, einen Sinn oder gar eine vertraute Form zu ergeben. Hier ein Trümmerstück, das aus dem einzigen Grund da war, die Vergänglichkeit alles von Menschen Geschaffenen zu demonstrieren und die Sinnlosigkeit all ihren Bemühens, sich gegen dieses Urgesetz des Universums aufzulehnen. Da die zerbrochene Hälfte einer Götterstatue, halb Mensch, halb Vogel, deren halbierter Blick höhnisch und warnend zugleich war. Dort ein heruntergefallenenes Stück der Wandverkleidung, auf dem sich zerbrochene Hieroglyphen zu einem neuen, finsteren Sinn gruppiert hatten. Erst als auch Miss Preussler und als Letzter Mogens selbst ihre Lampen hoben und in die Schwärze hineinrichteten, wurde es ein wenig besser.

Dennoch erschrak Mogens bis ins Mark. Er war selbst hier gewesen, als die Katastrophe die Tempelkammer traf und in einer einzigen Sekunde zerstörte, was annähernd fünf Jahrtausende überdauert hatte, und doch hatte er das Ausmaß der Verheerung nicht einmal annähernd so groß in Erinnerung. Säulen waren umgestürzt und zerborsten, prachtvolle Götterstatuen und Standbilder von ihren Sockeln gestürzt und in Stücke gebrochen. Ganze Abschnitte der Wandverkleidung waren heruntergefallen und zu unansehnlichen Schutthalden am Fuße schwarzgrauer Felswände geworden, und der ehemals grandiose Mosaikfußboden hatte sich in den Grund eines ausgetrockneten, seit einem Jahrhundert von der Sonne verbrannten Sees verwandelt, der von einem Labyrinth haarfeiner bis handbreiter klaffender Risse und Spalten durchzogen wurde.

Graves und Tom schwenkten ihre Scheinwerferstrahlen langsam und methodisch hin und her. Obwohl die Lampen sehr stark waren, reichte ihr Licht nicht, den ganzen Raum auszuleuchten, sehr wohl aber, Mogens zu zeigen, dass sich die Zerstörung nicht nur auf einen kleinen Bereich vor dem Eingang beschränkte, sondern im Gegenteil im hinteren Teil des Raumes noch größer zu sein schien. Er war jetzt sicher, diesen Raum das letzte Mal nicht in diesem Zustand gesehen zu haben, und nach einer Weile brachte er dies auch gegenüber Graves zum Ausdruck.

»Ich fürchte, du hast Recht«, sagte dieser. »Es muss zu einem weiteren Einsturz gekommen sein, seit wir das letzte Mal hier unten waren.«

Seiner Stimme war eine gewisse Sorge anzuhören, die wohl aber eher der Standfestigkeit des Bodens galt, der vor ihnen lag, und möglicherweise den hunderttausend Tonnen Fels, die über ihren Köpfen hingen; keine Spur von dem Bedauern, das Mogens empfand. Es war noch nicht lange her, da war dieser Raum mit all seinen Wundern und uralten Schätzen und Kostbarkeiten vollkommen unversehrt gewesen: ein Fund, der nicht nur die Geschichte der Archäologie revolutioniert hätte, sondern für Mogens auch einem Geschenk Gottes gleichkam. Nun war hier alles zerstört. Bedachte man, wie wenig Hinterlassenschaften es aus dem Jahrtausende währenden Reich der Pharaonen noch gab, stellte selbst diese verwüstete Kammer noch einen ungeheuerlichen Schatz dar; aber sie war nicht mit dem zu vergleichen, was er noch vor zwei Tagen mit eigenen Augen gesehen und zum Teil in den Händen gehalten hatte. In das Bedauern, das Mogens verspürte, mischte sich Zorn. Ein Zorn, der kein wirkliches Ziel hatte, vielleicht gerade deshalb aber umso schlimmer war. Warum machte ihm das Schicksal ein solches Geschenk, um es ihm dann sofort wieder wegzunehmen?

»Es scheint alles ruhig zu sein«, sagte Graves. Warum klang seine Stimme dann besorgt?

»Sie meinen, diese Ungeheuer sind nicht da?«, fragte Miss Preussler.

Statt zu antworten, schwenkte Graves seinen Scheinwerfer abermals herum und machte eine entsprechende Geste, woraufhin auch Tom seine Lampe in dieselbe Richtung schwenkte und nach einem kurzen Augenblick auch Mogens und Miss Preussler.

Selbst die vereinigten Lichtbündel reichten kaum aus, auf der anderen Seite mehr als vage Schemen aus der Dunkelheit zu reißen. Mogens glaubte einen verschwommenen Lichtreflex zu erkennen, vielleicht die Stufen, die hinauf zu dem monströsen Tor und seinen gigantischen Wächterstatuen führte, vielleicht auch nur ein Trümmerstück – was, dachte er erschrocken, wenn das Beben das Tor verschüttet hatte? Aber das tanzende Licht erschuf auch dort Bewegung, wo keine sein sollte, und seine Fantasie drohte schon wieder außer Kontrolle zu geraten.

Graves schwenkte seine Laterne wieder zur Seite, sodass ihr Lichtschein sich den Weg zurücktastete und schließlich auf der anderen Seite der Halde zur Ruhe kam. Tom erhob sich, ohne dass es einer weiteren Aufforderung bedurfte, huschte geduckt und nahezu lautlos nach unten und hob sein Gewehr, um die Schwärze jenseits des zitternden Lichtkreises zu bedrohen.

»Miss Preussler«, sagte Graves.

»Ja, ich weiß – meine unwiderruflich letzte Chance, umzukehren«, antwortete sie, während sie sich bereits schnaubend in die Höhe stemmte. »Sie erwähnten es bereits.«

Graves schien wohl endgültig kapituliert zu haben, denn er zuckte nur beiläufig mit den Schultern und eilte dann hinter Tom her, und Miss Preussler streckte die Hand aus, um Mogens aufzuhelfen. Jetzt war nicht der Moment für Stolz, ganz davon abgesehen, dass sich die Schnitte in seiner Seite und seinem Oberschenkel den allerunpassendsten aller Augenblicke ausgesucht hatten, um sich mit pochenden Schmerzen wieder zurückzumelden, sodass er das Angebot dankbar annahm und ohne Überraschung feststellte, wie wenig Mühe es ihr machte, ihn hochzuziehen.

»Ich wünschte, Sie würden auf Doktor Graves hören«, sagte er. »Dieses Mal hat er ausnahmsweise Recht, Miss Preussler.«

»Und Sie mit diesem schrecklichen Menschen allein lassen?«, antwortete sie. »Ganz gewiss nicht.«

»Vielen Dank für deine Hilfe, Mogens«, sagte Graves spöttisch. »Aber wir sollten jetzt trotzdem weitergehen. Und mach dir keine Sorgen: Sollten wir dieser Ungeheuer mit unseren Gewehren nicht Herr werden, hetzen wir einfach Miss Preussler auf sie.«

Mogens beendete das sinnlose Gespräch, indem er mit balancierend ausgebreiteten Armen die Halde hinunterschlitterte, ebenso schnell wie Graves und Tom zuvor, aber zu seinem Leidwesen nicht einmal annähernd so leise. Seine Bewegung löste eine ganze Lawine winziger Steinchen und Trümmerstücke aus, die ihn polternd ein- und überholten und ein nicht enden wollendes klickendes, kollerndes und wisperndes Echo in der lastenden Dunkelheit ringsum wachrief. Mogens verspürte ein kurzes, aber heftiges Gefühl von Entsetzen, als er einen fast faustgroßen Stein beobachtete, der in einen der Risse im Boden rollte und einfach darin verschwand, und das ohne den mindesten Laut. Bisher war er davon ausgegangen, dass dieser Tempel aus dem massiven Fels herausgemeißelt war und sich der Boden unter ihren Füßen fest und solide bis zum Mittelpunkt der Erde fortsetzte – aber woher wusste er das eigentlich?

»Zurückbleiben«, sagte Graves. »Und leise – bitte.«

Sie gingen weiter, und Mogens bemühte sich tatsächlich, die Füße möglichst leise aufzusetzen, um nicht noch mehr überflüssige Geräusche zu verursachen, obwohl er das Gefühl hatte, das Hämmern seines Herzens allein müsse schon ausreichen, um die Kammer endgültig zum Einsturz zu bringen.

Und er glaubte auch nicht, dass es einen Unterschied machte. Die Ghoule waren nicht hier. Hätten die Ungeheuer tatsächlich irgendwo in der Dunkelheit hier unten auf sie gelauert, wären sie langst über sie hergefallen.

Vor ihnen stolperte Tom über ein Trümmerstück, das er in der Dunkelheit übersehen hatte. Er fing sich rasch wieder, ohne dass es zu einem größeren Unglück kam, stieß aber einen lautstarken Fluch aus und warf fast im gleichen Augenblick einen um Verzeihung heischenden Blick zu Miss Preussler zurück, den diese jedoch ebenso wenig zur Kenntnis zu nehmen schien wie seine Entgleisung zuvor. Ihre Aufmerksamkeit galt vielmehr dem, worüber Tom gestolpert war: der oberen Hälfte einer zerbrochenen Statue, die einen Menschen mit einem stilisierten Raubvogelkopf zeigte.

»Das ist … unheimlich«, sagte sie zögernd. »Eine faszinierende Arbeit, aber irgendwie auch unheimlich. Welches Volk hat so etwas gemacht?«

»Es ist auf jeden Fall nicht das Werk des Teufels, Miss Preussler«, sagte Graves spöttisch, »das kann ich Ihnen versichern, sondern vielmehr das einer Kultur, die schon gewaltige Wunderwerke geschaffen hat, als das Christentum noch nicht einmal eine Idee war.«

»Ich bin durchaus mit der Kunst des alten Ägypten vertraut, Doktor Graves«, beschied ihn Miss Preussler. »Der Herr Professor hat mich oft genug an seinem Wissen teilhaben lassen, und selbst eine dumme alte Frau wie ich erkennt eine Statue des Horus, wenn sie vor ihr liegt.«

Graves warf ihr einen leicht irritierten Blick zu, und auch Mogens war nicht wenig überrascht. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sich mit Miss Preussler über seine Arbeit und die Kultur des alten Ägypten unterhalten hatte, waren die, bei denen sie ihre Missbilligung zum Ausdruck brachte, dass sich ein doch so vernünftiger, intelligenter junger Mann wie er mit solchen abstrusen Dingen abgab. Das Eingeständnis schien Miss Preussler auch ein wenig peinlich zu sein, und Mogens nahm an, dass ihr Wissen zweifellos aus den Büchern auf den Regalen in seinem Zimmer stammte, die sie in seiner Abwesenheit gründlich durchgeblättert hatte. Mogens vermochte allerdings nicht zu sagen, was ihr an diesem Eingeständnis unangenehmer war – die Tatsache, dass sie damit praktisch zugab, in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsucht zu haben, oder der Umstand, dass sie den Inhalt seiner gotteslästerlichen Machwerke immerhin so sehr interessiert hatte, dass sie sich den Namen mindestens einer dieser heidnischen Gottheiten gemerkt hatte.

»Trotzdem«, fuhr sie in mehr verunsichertem als zweifelndem Ton fort, »ist hier etwas … sonderbar.«

»Nur sehr wenige Menschen haben jemals ein echtes Kunstwerk aus dem alten Ägypten in Händen gehalten, Miss Preussler«, sagte Mogens. »Das meiste, was in unseren Museen steht, und fast alles, was Sie in meinen Büchern gesehen haben, sind Kopien von Kopien.«

Miss Preussler gab sich zwar mit dieser Erklärung zufrieden, warf ihm aber dennoch einen weiteren, noch verwirrteren Blick zu, und auch Mogens war ganz und gar nicht sicher, ob diese Erklärung tatsächlich ausreichte. Selbst er hatte den Odem des Fremden und irgendwie Nichtmenschlichen gespürt, als er das erste Mal hier heruntergekommen war, und eigentlich spürte er ihn immer noch; jetzt vielleicht sogar stärker denn je. Vielleicht war es eben nicht nur die Faszination eines uralten Originals, die diese Statuen und Bilder ausstrahlten. Mogens sah sich schaudernd nach rechts und links um, aber er war mit einem Male fast froh, nicht sehr viel mehr als verschwommene Schatten erkennen zu können.

Sie waren dem Tor mittlerweile nahe genug gekommen, um Einzelheiten zu erkennen. Mogens hatte es bisher fast krampfhaft vermieden, direkt dorthin zu sehen, schon aus Angst, den vergessenen Schrecken der vergangenen Nacht wieder zu begegnen. Nun aber ging es nicht mehr anders. Mogens brachte all seinen Mut zusammen und zwang sich, geradeaus nach vorne zu blicken.

Die allgemeine Zerstörung hatte auch vor diesem Teil der Kammer nicht Halt gemacht, auch wenn die schlimmsten und sichtbarsten Beschädigungen vielleicht nicht einmal unmittelbar auf das Erdbeben zurückzuführen waren. Die Treppe mit ihren sonderbar flachen Stufen war geborsten und mit Felstrümmern und heruntergefallenen Steinen übersät. Einer der gewaltigen Stützpfeiler war umgefallen, der andere stand noch, wirkte aber sonderbar gestaucht und schien sich nach unten deutlich zu verdicken. Die beiden riesigen, dämonischen Wächter, die rechts und links des Tores gestanden hatten, waren von ihren Sockeln gestürzt und in tausend Stücke zerborsten, was Mogens mit einem Gefühl vollkommen unwissenschaftlicher Erleichterung erfüllte. Er versuchte sich einzureden, dass der Grund dafür hauptsächlich in Miss Preusslers Anwesenheit zu suchen war, die spätestens beim Anblick dieser grotesken, krakenköpfigen Gestalten kaum noch daran geglaubt hätte, es mit fünftausend Jahre alten Artefakten aus dem Reich der Pharaonen zu tun zu haben. Aber er wusste, dass das nicht stimmte. Auch ihm selbst hatte schon die bloße Erinnerung an die monströsen, übermenschlich großen Gestalten fast körperliches Unbehagen bereitet. Er war froh, ihnen nicht mehr gegenübertreten zu müssen.

Es war jedoch nicht das Erdbeben, das die beiden Figuren zerstört hatte. Vielmehr hatte etwas das Tor, das sich nach innen öffnete, mit solcher Gewalt aufgestoßen, dass die beiden riesigen schwarzen Hälften der Statuen einfach von ihren Sockeln gefegt worden waren. Mogens konnte ein Schaudern nicht mehr unterdrücken, als er sich die gewaltigen Kräfte vorzustellen versuchte, die dazu notwendig waren. Nicht einmal die übermenschlich starken schakalköpfigen Ghoule wären dazu in der Lage gewesen.

»Haben sie Sie dorthin verschleppt?«, fragte Graves.

Die Frage galt Miss Preussler, die nur mit einem wortlosen Kopfnicken die Lippen zusammenpresste. Graves sah nicht einmal zu ihr zurück, doch ihr Schweigen schien ihm als Antwort zu genügen. Er schwenkte seinen Scheinwerferstrahl kurz nach rechts und links, ohne dass das Licht in der allgemeinen Zerstörung mehr als zerbrochene Statuen und zerborstene Hieroglyphen sichtbar werden ließ, und richtete den Strahl dann direkt auf das offen stehende Tor. Mogens’ Herz begann zu klopfen.

Hinter dem Tor war nichts Außergewöhnlicheres zu sehen als die gleiche Licht verzehrende Dunkelheit, die auch rings um sie herum herrschte, nur dass sie dort fast noch intensiver zu sein schien. Möglicherweise war sie von dort gekommen, eine lautlose schwarze Springflut, die aus den Tiefen der Erde emporgestiegen und in diesen Raum hinübergeschwappt war.

»Tom!«, sagte Graves.

Tom eilte, ohne zu zögern, die flachen Stufen hinauf. Mogens stockte der Atem, als er das riesige Tor erreichte und sich vorbeugte, aber nichts geschah. Tom trat, mit der gebotenen Vorsicht zwar, aber dennoch ohne zu zögern durch das Tor, sah sich rasch nach beiden Seiten um und schien dann einen Moment lang konzentriert in eine unbekannte Tiefe zu blicken. Er hatte seine Lampe mitgenommen, aber ihr Licht war zu einem kaum noch sichtbaren Schimmer geworden, und Mogens hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, dass die Dunkelheit selbst damit anfing, seine Umrisse aufzulösen.

Graves setzte seine Inspektion noch einige Sekunden lang fort, dann wandte er sich halb zu ihnen um und winkte ihnen mit dem Gewehr zu. »Hier ist nichts«, sagte er. »Nur eine Art Treppe.«

»Eine Art?«, fragte Miss Preussler leise. »Was ist ›eine Art Treppe‹?«

Mogens kämpfte seine Furcht nieder und setzte sich in Bewegung, um es herauszufinden.

Hinter dem monströsen Tor lag nichts Schlimmeres als ein großer, vollkommen leerer Raum. Das hin und her tanzende Licht ihrer Lampen tastete über Wände aus schwarzem, nur grob bearbeitetem Fels ohne Inschriften oder Verzierungen. Mogens war nicht unbedingt enttäuscht; nach der barbarischen Pracht des Tores hatte er irgendetwas Außergewöhnliches auf der anderen Seite erwartet – was genau, hätte er nicht sagen können. Aber die kalte Nüchternheit dieser Felsenkammer verwirrte ihn. Das einzig Außergewöhnliche, das ihm auffiel, war ein leichter Geruch wie nach Salzwasser, der in der Luft lag.

Tom deutete mit seiner Lampe nach links, in die Richtung, in die er gerade so konzentriert geblickt hatte. Graves ging wortlos dorthin, und auch Mogens folgte ihm. Sein Herz jagte noch immer, und er merkte erst jetzt, wie stark seine Hände zitterten, und ballte sie rasch zu Fäusten.

Was Tom entdeckt hatte, das schien tatsächlich der Anfang von etwas zu sein, was man mit einiger Fantasie und noch mehr gutem Willen als Treppe bezeichnen konnte: ein enger, unregelmäßig geformter Schacht, der in schwindelnd machendem Winkel in die Tiefe führte und in dem es eine unregelmäßige Reihe noch unregelmäßigerer … nun ja: Stufen gab.

Keine von ihnen sah aus wie die andere. Manche waren flach und winzig, eher für die Füße von Zwergen gedacht als von Menschen, andere wieder so monströs und riesig, dass es fast unmöglich schien, sie zu überwinden, in schrägem Winkel gegeneinander geneigt oder gebrochen, manche auch auf eine Art und Weise verdreht und verbogen, dass allein ihr Anblick ein leises Gefühl von Übelkeit in Mogens’ Magen auslöste. Er verstand plötzlich, was Graves gemeint hatte, als er von »einer Art Treppe« sprach. Er war nicht sicher, ob es sich tatsächlich um eine solche handelte oder nur um etwas, das ihre menschlichen Sinne in Ermangelung eines anderen Begriffes als Treppe deuteten.

»Und Sie sind ganz sicher, dass Sie auf diesem Weg fortgebracht worden sind, Miss Preussler?«, fragte Graves.

Mogens konnte den zweifelnden Ton in seiner Stimme verstehen. Er war nicht sicher, ob er sich selbst zutraute, diese Treppe hinunterzusteigen – auch wenn er das ungute Gefühl hatte, dass er es in nicht allzu ferner Zukunft herausfinden würde. Aber ein sich noch dazu heftig wehrendes Opfer von Miss Preusslers Gewicht und Körpermaßen gegen seinen Willen dort hinunterzuschleppen, traute er nicht einmal den Ghoulen zu.

Auch Miss Preussler antwortete nicht sofort, sondern blickte einen Moment lang mit zweifelndem Gesicht in den vermeintlichen Treppenschacht hinab.

»Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Es ging alles sehr schnell, und …« Sie unterbrach sich, schüttelte den Kopf und verbesserte sich dann mit plötzlich entschiedener, fester Stimme: »Nein. Ich bin sicher. Es geht dort hinunter.«

»Wenn Sie es sagen …«, murmelte Graves wenig begeistert. Dennoch ließ er seinen Lichtstrahl noch einmal und sehr langsam durch den großen, unregelmäßig geformten Raum schweifen. Aber da war nichts – nur rauer, rissiger Fels, auf dem hier und da Nässe glänzte, vielleicht auch Salzkristalle, wenn man den sonderbaren Meeresgeruch bedachte, der in der Luft lag. Die Kammer kam Mogens immer sonderbarer vor. Warum hatte man dieses aufwendige Tor mit seinen beiden monströsen Wächterstatuen erschaffen, wenn dahinter … nichts war?

»Wir brauchen ein Seil«, sagte Graves.

Tom lehnte sein Gewehr gegen die Wand, machte aber keine Anstalten, seinen Rucksack abzusetzen oder irgendwie hinein zu greifen, sondern begann wortlos in den Schacht hinunterzuklettern.

»Tom?«, fragte Graves.

»Einen Moment, Doktor Graves«, antwortete Tom zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lassen Sie mich was überprüfen.«

Graves wirkte nicht begeistert, aber er schwieg, und auch Mogens enthielt sich jeden Kommentars, sog aber plötzlich und erschrocken die Luft ein, als Tom den Halt verlor und ein ganzes Stück absackte. Seine Finger fanden jedoch sofort wieder Halt an dem rauen Fels. Er hielt einen Moment inne, lächelte Mogens beruhigend zu und kletterte dann noch vorsichtiger weiter. Schon nach einem Augenblick waren auch Kopf und Schultern in der Tiefe verschwunden, und nur einen Atemzug später auch sein überdimensionaler Tornister. »Dacht ich’s mir doch«, drang seine Stimme aus dem Schacht hervor.

»Was?«, fragte Graves.

»Weiter unten wird es leichter.«

Auch Mogens beugte sich mit klopfendem Herzen vor und spähte an Graves vorbei und direkt in Toms Gesicht, der sich keine zwei Meter unter ihnen befand und sich mit leicht gespreizten Beinen und durchgedrückten Armen an den Wänden des Schachtes abstützte, wie ein Bergsteiger, der einen Felskamin hinabklettert.

»Hier ist ein Knick«, sagte er. »Danach wird es viel einfacher. Vielleicht, wenn Miss Preussler als Erste …?«

»Wenn sie es denn wirklich will …«, sagte Graves.

Miss Preussler streifte ihn nur mit einem verächtlichen Blick, drehte sich um und ließ sich schnaufend auf Hände und Knie hinabsinken, dann begann sie mit dem rechten Bein nach unten zu tasten. Mogens wusste nicht, wie und vor allem wo Tom sie festhielt – und er wollte es auch gar nicht so genau wissen –, aber irgendwie gelang es ihm wohl, denn als Graves und er nach ihren ausgestreckten Armen griffen und sie festhielten, sank sie nur ganz allmählich in den Schacht hinab; auch wenn Mogens dabei das Gefühl hatte, dass ihm die Arme aus den Schultergelenken gerissen wurden. Sie hörten Tom ächzen, dann jedoch rief er: »Alles klar. Sie können loslassen.«

Mogens gehorchte nur zu gern. Die Schnittwunden in seiner Seite pochten wie wild, als er erschöpft die Arme sinken ließ und zurücktrat, und er spürte etwas Nasses und Warmes an seiner Brust hinunterlaufen. Mindestens einer der kaum verheilten Risse war wieder aufgebrochen. Es tat höllisch weh.

Graves betrachtete ihn einen Moment kritisch. »Schaffst du es noch?«, fragte er.

»Bestimmt«, antwortete Mogens kurzatmig. »Ich brauche nur … einen Augenblick …«

Graves schien dazu seine eigene, etwas andere Meinung zu haben, aber er beließ es bei einem wortlosen Achselzucken und begann auf die gleiche Weise wie Miss Preussler zuvor in den Schacht hinunterzusteigen. Nur deutlich schneller.

Als er sich an dem rauen Felsen festklammerte, verrutschte einer seiner Handschuhe. Nicht sehr weit, und auch nur für einen ganz kurzen Moment, sodass Mogens nur einen einzelnen Blick darunter werfen konnte.

Doch das war schon eindeutig mehr, als er eigentlich sehen wollte.

Er konnte nicht einmal genau sagen, was er sah. Keine Haut, und ganz sicher auch kein menschliches Fleisch. Der schwarze Handschuh rollte ein Stück nach oben, wie eine Wurstpelle, die man nach dem Kochen abzieht, und darunter kam etwas Weißes, Wimmelndes zum Vorschein, wie Bündel glänzender, ineinander gedrehter, pulsierender Nervenfäden.

Bevor Mogens genauer hinsehen konnte, verschwand Graves’ Hand in der Tiefe, und er war allein.

Sein Herz jagte. Nachdem Graves fort war, hatte er nur noch eine einzige Lampe, die eigentlich ausreichen sollte, den kleinen Raum hinlänglich zu erhellen, es aber einfach nicht tat. Die Dunkelheit stürmte aus allen Richtungen zugleich auf ihn ein und nahm ihm nicht nur die Sicht, sondern in zunehmendem Maße auch den Atem.

»Komm, Mogens!« Graves’ Stimme drang so hohl und verzerrt wie aus einem unendlich tiefen, hallenden Schacht zu ihm herauf, von den Echos zu etwas gemacht, das seiner Furcht noch zusätzliche Nahrung gab. »Tom hat Recht. Hier unten wird es leichter. Bring sein Gewehr mit!«

Mogens nahm mit spitzen Fingern die Büchse von der Wand und reichte sie Graves in die Tiefe hinab, bevor er sich ebenfalls auf Hände und Knie sinken ließ und dann rücklings in den Schacht zu klettern begann. Er rechnete damit, dass Tom oder Graves ihm halfen, wie sie es bei Miss Preussler getan hatten, aber deren Stimmen entfernten sich eher unter ihm, und eingedenk der unheimlichen, Übelkeit erregenden Geometrie dieses Schachtes, die er vorhin gesehen hatte, wagte er es nicht, nach unten zu blicken, sondern kletterte Hand über Hand und mit fest zusammengepressten Augenlidern, bis er endlich wieder festen, wenn auch leicht abschüssigen Boden unter den Füßen spürte.

»Gib Acht, Mogens«, sagte Graves’ Stimme hinter ihm. »Pass auf deinen …«

Mogens drehte sich mit immer noch geschlossenen Augen herum, richtete sich mit einem erleichterten Seufzen auf und knallte so hart mit dem Schädel gegen den Fels, dass er Sterne sah.

»… Kopf auf«, schloss Graves. Mogens war sicher, sich den schadenfrohen Unterton in seiner Stimme nicht nur einzubilden.

Stöhnend hob er die Hand an den Kopf, fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar und spürte zu seiner eigenen Überraschung zwar kein Blut, dafür aber einen so heftig pochenden Schmerz, dass ihm übel wurde.

»Mach dir nichts draus«, sagte Graves fröhlich. »Das ist uns allen passiert.«

Mogens konnte nicht wirklich erkennen, was daran so komisch sein sollte, doch dann öffnete er endlich die Augen, blickte in Graves’ grinsendes Gesicht und legte dann den Kopf in den Nacken. Verblüfft riss er die Augen auf.

»Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie ein unmöglicher Mensch sind, Doktor Graves?«, fragte Miss Preussler.

»Mehrmals, meine Liebe«, antwortete Graves. »Mehrmals.«

Mogens hörte kaum hin, denn was er sah, das war so verblüffend und unmöglich zugleich, dass er selbst den pochenden Schmerz unter seiner Schädeldecke für einen Moment einfach vergaß. Der Gang, in dem sie sich befanden, bestand aus dem gleichen glänzend schwarzen Gestein wie der Raum hinter dem Tor, und seine Decke befand sich mindestens zwei Meter über ihren Köpfen. Aber als er den Arm ausstreckte, stießen seine Finger fast unmittelbar auf harten Widerstand.

»Aber das ist doch … unmöglich«, murmelte er. Es war nicht so, dass er auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen wäre, nein, er konnte sehen, wie seine Fingerspitzen den Fels zwei Meter über seinem Kopf berührten, obwohl er den Arm noch nicht einmal halb ausgestreckt hatte!

»Interessant?«, fragte Graves. Seine Stimme war von einem absurden Stolz erfüllt.

»Ich finde es eher erschreckend«, sagte Miss Preussler. »Mit diesem Ort stimmt etwas nicht.«

»Ich denke eher, dass mit unseren Sinnen etwas nicht stimmt«, antwortete Graves.

»Vielleicht mit den Ihren, Doktor«, versetzte Miss Preussler spitz.

»Nein, nein«, beharrte Graves. »Ich meine das ernst, meine Liebe. Mit diesem Ort ist alles in Ordnung. Ich vermute, dass unsere unzulänglichen menschlichen Sinne mit seiner Geometrie nichts anfangen können.«

»Was für ein fürchterlicher Unsinn!«, sagte Miss Preussler.

Graves schüttelte lächelnd den Kopf. »Ganz wie Sie meinen«, sagte er. »Aber bis wir eine bessere Erklärung gefunden haben, sollten wir uns dennoch darauf einigen, unseren Sinnen nicht mehr vollkommen zu vertrauen.«

Mogens folgte dem albernen Disput der beiden nur mit halbem Ohr. Gerade nach dem, was er vorhin mit eigenen Augen gesehen hatte, tendierte er stark dazu, Graves Recht zu geben. Er verstand nur nicht, wie Graves das Kunststück fertig brachte, etwas so ganz und gar Unvorstellbares mit einer solchen Gelassenheit auszusprechen. Zögernd hob er noch einmal den Arm und registrierte mit kein bisschen weniger Verblüffung als beim ersten Mal, wie seine Fingerspitzen gegen rauen Widerstand stießen, obwohl er keinerlei perspektivische Verzerrung oder irgendeinen anderen Hinweis auf eine optische Täuschung gleich welcher Art erkennen konnte. Es war ein zutiefst verstörender Anblick.

»Aus diesem Grund wollt ich auch kein Seil benutzen«, sagte Tom. »Ich war nicht ganz sicher, woran ich es festbinden sollte.«

»Also hast du dich lieber auf das verlassen, was dir dein Tastsinn verraten hat«, fügte Graves mit einem anerkennenden Nicken hinzu. »Das war sehr klug von dir, Tom.«

Tom lächelte geschmeichelt, und auch Mogens musste die Voraussicht des Jungen anerkennen; zugleich aber war an dem, was er gesagt hatte, zwar nichts auszusetzen, aber irgendetwas, was ihn störte.

»Gehen wir weiter«, schlug Graves vor. »Vorsichtig.«

Er selbst ging – wortwörtlich – mit gutem Beispiel voran, denn er wandte sich zwar um und ging mit festen, ruhigen Schritten los, hielt aber die linke Hand mit dem Gewehr sichernd vor und ein Stück über dem Gesicht, die andere, die die Lampe hielt, weit nach vorne ausgestreckt, wie ein Blinder, der sich behutsam in einem ihm vollkommen unbekanntes Zimmer vorantastet. Zugleich ging er eigentlich nicht im klassischen Sinne, sondern ließ die Füße vor sich über den Boden schleifen, als misstraue er auch der Festigkeit des scheinbar massiven Felsens. Es sah einigermaßen albern aus, aber schon nach wenigen Schritten sah Mogens den Sinn dieser übertrieben erscheinenden Vorsichtsmaßnahme ein. Graves’ tastend vorgestreckte Hand prallte so unsanft gegen einen Felsvorsprung, der noch meterweit entfernt schien, dass die Lampe scheppernd hin und her schaukelte und für einen Moment zu erlöschen drohte. Nur einen Augenblick später stolperte er über eine Unebenheit im Boden, die Mogens einen Lidschlag zuvor noch nicht einmal gesehen hatte, und auch ihm und den beiden anderen erging es nicht viel besser. Trotz aller Vorsicht stießen sie sich mehrmals hart und schmerzhaft an Felsen, die sie regelrecht anzuspringen schienen, und einmal wäre Mogens fast gestürzt, als er sich auf einem Vorsprung abzustützen versuchte, der ungleich weiter entfernt war, als es aussah.

Sie tasteten sich auf diese Weise ein gehöriges Stück weit durch den unheimlichen Gang, dann verschwand Graves plötzlich hinter einem Knick, der eigentlich noch mindestens fünfundzwanzig oder dreißig Schritte weit entfernt sein sollte, und als Mogens ihm mit klopfendem Herzen folgte, weitete sich der Stollen zu einer großen, unregelmäßig geformten Höhle, in der sich das Licht ihrer Laternen verlor, ohne auf Widerstand zu stoßen.

»Und jetzt?«, fragte Graves.

Die Frage galt Miss Preussler, die dicht hinter Mogens aus dem unheimlichen Stollen heraustrat und hörbar erleichtert aufatmete. Dennoch konnte sie Graves’ Frage nur mit einem hilflosen Schulterzucken beantworten und mit einem ebenso irritierten wie angsterfüllten Blick in die Runde. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie zögernd. »Aber ich glaube nicht, dass wir hier entlanggekommen sind. Jedenfalls erinnere ich mich nicht.«

Graves wirkte ein bisschen verärgert, gab sich aber redliche Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen, hob seine Laterne und streckte vorsichtig die Hand nach einem fast mannshohen Stalagmiten aus, der gute zehn Schritte entfernt in ihrem Licht auftauchte. Seine Finger griffen ins Leere. Graves nickte, als wäre er mit dem, was er gerade erlebte, äußerst zufrieden, ging, auf die gleiche, übervorsichtige Weise wie bisher auch, auf den emporgereckten Zeigefinger aus schwarzem Stein zu und berührte ihn flüchtig. Mogens sah, wie sich seine Lippen lautlos bewegten, als er zurückkam. Vermutlich zählte er seine Schritte.

»Ich glaube, es ist vorbei«, sagte er. »Hier scheint wieder alles normal zu sein. Aber wir sollten uns trotzdem in Acht nehmen.«

»Das ist nicht der richtige Weg«, sagte Miss Preussler.

»Gerade sagten Sie noch, Sie wüssten nicht, ob Sie schon einmal hier waren oder nicht«, sagte Graves.

»Ich könnte mich bestimmt …«, begann Miss Preussler, wurde diesmal aber sofort und in leicht schärferem Ton von Graves unterbrochen.

»Miss Preussler, ich bitte Sie!«, sagte er. »Sie haben es selbst gesagt – Sie haben ein paarmal das Bewusstsein verloren, und Sie waren vermutlich – mit Verlaub – ein wenig aufgeregt.«

»Warum sagen Sie nicht hysterisch, wenn Sie es schon meinen?«, fragte Miss Preussler schnippisch.

»Weil ich es nicht gemeint habe«, erwiderte Graves. Er seufzte. »Miss Preussler, ich habe es längst aufgegeben, Ihnen irgendetwas vormachen zu wollen. Sie sind gegen meinen erklärten Willen hier, und ich habe Ihnen gesagt, dass wir vielleicht nicht in der Lage sein würden, Rücksicht auf Sie zu nehmen; so wenig wie auf irgendeinen von uns. Also lassen Sie es dabei, dass ich Ihren Einwand zur Kenntnis genommen habe. Vielleicht ist das der Weg, den Sie genommen haben, vielleicht auch nicht. Es mag durchaus mehr als einen Weg nach unten geben.«

Auch in diesem Punkt gab ihm Mogens im Stillen Recht, und auch in diesem Punkt schürten Graves’ Worte sein Unbehagen nur noch. Er fragte sich, was genau Graves unter »unten« verstand.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, antwortete Miss Preussler: »Sie wissen nicht, was dort unten auf uns wartet, Doktor Graves!«

»Nein«, bekannte Graves ungerührt. »Aber ich denke, dass wir es herausfinden, wenn wir weitergehen.« Er schüttelte – heftiger – den Kopf, um Miss Preusslers Widerspruch im Keim zu ersticken. »Es ist zu spät, umzukehren«, sagte er, und wie um seinen Worten zusätzliches Gewicht zu verleihen, fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte die nächsten Schritte regelrecht dahin, bevor seine Vernunft wieder die Oberhand gewann und er ein etwas gemäßigteres Tempo einschlug, sodass sie zu ihm aufschließen konnten.

Mogens konnte hinterher nicht sagen, wie lange sie durch diese fast vollkommene Dunkelheit gegangen waren, an deren Rand nur dann und wann ein verschwommener Schatten auftauchte – ein scharfkantiger Dolch aus schwarzer Lava oder Obsidian, der sich trotzig dem unsichtbaren steinernen Himmel über ihren Köpfen entgegenreckte; ein gedrungener Umriss wie ein versteinerter Gnom, der darüber wachte, dass sie nicht vom Weg abkamen; einmal auch ein fast schon filigranes Gespinst, das eher an eine Koralle als an harten Fels erinnerte –, aber vermutlich war es nicht einmal sehr lange. Und obwohl diese Umgebung mit ihrer Dunkelheit, ihren bizarren steinernen Wächtern und den lang anhaltenden, aufs Unheimlichste gebrochenen und verzerrten Echos, die aus der Dunkelheit zu ihnen zurückkehrten, alles hatte, um selbst das Herz eines tapferen Mannes mit Furcht zu erfüllen, atmete er ganz im Gegenteil innerlich eher auf. Hier unten mochte es unheimlich sein – Mogens konnte nicht einmal die Möglichkeit von der Hand weisen, dass es hier durchaus ernst zu nehmende Gefahren gab, die in der Dunkelheit verborgen auf sie lauerten oder in deren Rachen sie geradewegs hineinmarschierten, ohne es zu ahnen –, und doch war es trotz allem eine vertraute Welt, eine vertraute Angst, nicht dieses grässliche, die Sinne verdrehende Schattenreich, durch das sie am Anfang gekommen waren. Mogens versuchte fast verzweifelt, eine logische Erklärung für diesen unheimlichen Effekt zu finden, und er hatte auch Erfolg damit: Vielleicht war der Treppenschacht mit einem unsichtbaren und geruchlosen Gas gefüllt gewesen, das ihre Wahrnehmungen verzerrte, vielleicht gab es dort eine Anomalie in der Schwerkraft oder einem der anderen Naturgesetze, denen die menschlichen Sinne unterliegen, ohne dass man es im Allgemeinen spürt. Ihm fielen noch mehr, mindestens genauso überzeugende Erklärungen ein – und doch spürte er zugleich, dass keine von ihnen der Wahrheit auch nur nahe kam.

Endlich verlor sich der zitternde Lichtstrahl vor ihnen nicht mehr in der Dunkelheit, sondern traf auf Widerstand. Noch ein Dutzend Schritte, und sie standen vor einer Felswand, in der sich nicht einmal ein handbreiter Riss zeigte, geschweige denn ein Durchgang.

»Und jetzt, meine liebe Miss Preussler?«, fragte Graves.

»Ich sagte doch, dass ich nichts …«, begann sie.

»Sagen Sie eine Richtung«, fiel ihr Graves ins Wort.

»Also gut. Rechts.«

»Gut«, sagte Graves und wandte sich nach links. »Spüren Sie den Luftzug, meine Liebe?«, fragte er, während er bereits losmarschierte, ohne sich auch nur mit einem Blick zu vergewissern, ob sie ihm folgten oder nicht. »Diesen leichten Salzwassergeruch? Ich würde doch vorschlagen, dass wir in seine Richtung gehen, statt uns von ihm zu entfernen.«

Mogens warf Miss Preussler einen fast flehenden Blick zu, nicht darauf zu antworten, und sie schluckte zu seiner Erleichterung auch alles herunter, was ihr dazu sichtbar auf der Zunge lag. Graves’ plötzliche Streitlust verwirrte ihn, aber vielleicht war das auch nur seine Art, mit der Nervosität fertig zu werden.

Davon abgesehen hatte er Recht. Der Luftzug wurde allmählich stärker, und auch der Salzwassergeruch nahm spürbar zu. Sie legten vielleicht noch zwei Dutzend Schritte zurück, bevor Graves wieder langsamer wurde und schließlich stehen blieb.

»Das Licht«, sagte er. »Löscht eure Lampen.«

Mogens war nicht wohl dabei, und er sagte es auch. »Und was, wenn diese Bestien irgendwo hier auf uns lauern?«

»Dann locken wir sie mit unseren Lichtern allerhöchstens an«, antwortete Graves. »Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass sie im Moment anderweitig beschäftigt sind.«

»Darf ich auch fragen, womit?«

»Sicher dürfen Sie das, mein lieber Professor«, antwortete Graves ironisch und löschte seine Laterne.

Mogens tat es ihm gleich und verbiss es sich, noch einmal nachzuhaken. Irgendwie war ihm Graves beinahe sympathischer gewesen, als er sich noch wortkarg und hochnäsig gegeben hatte. Nachdem auch Tom und Miss Preussler ihre Laternen gelöscht hatten, wurde es für einen Moment dunkel, allerdings wirklich nicht für sehr lange. Schon nach zwei oder drei Sekunden begann Graves’ Gestalt als zerfaserter Schemen wieder vor ihm aus der Dunkelheit aufzutauchen, eingefasst von einem blassgrünen, seltsam unwirklichen Schein. Zögernd ging er weiter und blieb unmittelbar neben Graves wieder stehen. Nur ein paar Schritte vor ihnen gähnte ein kaum meterhoher, aber mehr als zehnmal so breiter Spalt in der Felswand, bei dessen Anblick Mogens unwillkürlich an das grinsende Maul eines Drachen denken musste. In dem mattgrünen Schein dahinter schien sich etwas zu bewegen, aber Mogens konnte nicht sagen, was.

»Du warst schon einmal hier unten«, vermutete er.

»Keineswegs«, antwortete Graves. »Aber es ist eine einfache logische Schlussfolgerung, dass es hier unten Licht geben muss. Diese Kreaturen mögen sehr empfindliche Augen haben, aber sie haben Augen. Würden sie in absoluter Dunkelheit leben, bräuchten sie die nicht.«

Er ging weiter. Unendlich behutsam – und mit einer Bewegung, aus der deutlich mehr Furcht sprach, als ihm vermutlich selbst bewusst war – ließ er sich vor dem Spalt in die Hocke sinken and spähte hindurch. »Alles ruhig«, sagte er. »Ihr könnt kommen.«

Er wartete ihre Reaktion auch diesmal nicht ab, sondern bückte sich mit einer unerwartet raschen Bewegung unter dem überhängenden Felsen hindurch und richtete sich drüben wieder auf. Die Barriere war nicht besonders dick – weniger als einen halben Meter, schätzte Mogens –, sodass er eigentlich weiter hätte sichtbar bleiben müssen. Seine Gestalt schien sich jedoch in dem blassgrünen Schein auf der anderen Seite einfach aufzulösen, wie die eines Schwimmers, der in ein Becken mit vollkommen veralgtem Wasser tauchte.

»Jonathan?«, fragte Mogens alarmiert.

Er bekam keine Antwort, sodass er sich dicht vor dem Spalt in die Hocke sinken ließ und konzentriert hindurchspähte. Er glaubte einen Schatten zu erkennen, war aber nicht sicher.

»Graves?«, fragte er noch einmal, und jetzt gab er sich gar keine Mühe mehr, den besorgten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken.

Etwas scharrte, und dann hörte er Graves’ halb erstickte, qualvolle Stimme: »Mogens – in Gottes Namen, hilf mir!«

Mogens bückte sich hastig unter dem Fels hindurch und sprang auf der anderen Seite so hastig wieder auf, dass er sich abermals den Schädel anschlug und die Bewegung nicht zu Ende führte, sondern mit zusammengebissenen Zähnen gleich wieder auf die Knie sank.

»Ich wusste, dass es funktioniert«, sagte Graves feixend. »In dir steckt eben doch ein guter Kerl.«

Mogens musste die finsteren Blicke nicht spielen, mit denen er Graves maß, während er aufstand und sich zugleich den schmerzenden Schädel rieb. »Ich spare es mir, dir zu sagen, was in dir steckt, meiner Meinung nach.«

»Sehr vernünftig«, antwortete Graves. Dann erlosch sein Grinsen wie abgeschaltet. »Pass auf, Mogens. Wir können uns keine Verletzungen leisten.«

Mogens vergaß alles, was er Graves hatte sagen wollte, als er sich aufrichtete und sein Blick an ihm vorbeifiel.

Hinter und unter Graves erstrecke sich eine gewaltige Höhle, deren Dimensionen nicht nur seine Vorstellungskraft sprengten, sondern auch schlichtweg seine Sinne überforderten. Er war nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich noch um eine Höhle handelte oder nicht vielmehr um etwas, wofür man eigentlich ein eigenes Wort hätte erfinden müssen.

Der Raum war schlichtweg gigantisch. Der höchste Punkt des gewaltigen, steinernen Firmaments musste sich eine viertel Meile, wenn nicht mehr, über ihren Köpfen befinden, und seine Ausdehnung wagte Mogens nicht einmal zu schätzen. Die Entfernung zwischen hier und dem gegenüberliegenden Ende des gewaltigen Felsendomes betrug sicherlich eine Meile, wenn nicht gar ein Mehrfaches. Und diese riesige, tief unter der Erde gelegene Kammer – aber so tief konnte sie nicht sein, flüsterte eine leise, beruhigende Stimme irgendwo in Mogens’ Hinterkopf; sie waren ein gutes Stück nach unten geklettert, und auch der Schattengang und die anschließende Höhle hatten sie weiter abwärts geführt, aber nicht so weit – war nicht leer.

Unter ihnen erstreckte sich die bizarrste Stadt, die Mogens jemals gesehen hatte.

Im allerersten Moment hätte er nicht einmal sagen können, ob es sich tatsächlich um eine Stadt handelte oder um eine willkürliche Ansammlung sonderbar geometrischer Felsformen und -formationen, die sein wissenschaftlicher Verstand nur als eine solche deutete, um wenigstens den Anschein von Ordnung in das unvorstellbare Chaos dort unten zu bringen. Da waren riesige, bizarr verformte Gebilde, die aussahen wie lebende Dinge, die vielleicht einmal hatten Häuser werden wollen, aber auf halbem Wege dorthin zu sonderbar organischer Form erstarrt waren. Es gab Linien und Parallelen, die sich auf vollkommen unmögliche Weise bogen, verzerrten und schnitten, an Stellen endeten, wo sie es nicht hätten tun dürfen, oder sich in Winkeln berührten, die vollkommen unmöglich waren. Ein Großteil dieser bizarren Bauwerke schien zerstört und halb verfallen – auch wenn dies angesichts der absurden Geometrie nur sehr schwer einzuschätzen war –, anderes machte den Eindruck, niemals wirklich zu Ende gebaut worden zu sein. Das Allerschlimmste aber war, dass Mogens trotz aller dieser Fremdartigkeit, trotz der Übelkeit erregenden, nicht-euklidischen Geometrie, die ihr zugrunde lag, etwas auf schreckliche Weise Vertrautes in der Anlage dieser Stadt zu erkennen glaubte.

»Nun?«, flüsterte Graves neben ihm. »Habe ich dir zu viel versprochen, Mogens?«

Mogens konnte nicht antworten. Er konnte nicht einmal nicken. Obwohl ihn der Anblick dieser monströsen unterirdischen Stadt so sehr entsetzte wie selten etwas zuvor im Leben, obwohl ihr bloßes Dasein irgendetwas in ihm zu verletzen schien, sodass er sich wie ein getretener Wurm zu krümmen begann und lautlose Schmerzensschreie ausstieß, obwohl dieses grässliche Bild schlicht und einfach seine Menschlichkeit beleidigte, war es ihm zugleich auch unmöglich, sich seiner morbiden Faszination zu entziehen oder auch nur den Blick zu wenden. Er hörte, wie Tom hinter ihm durch den Felsspalt gekrochen kam und erschrocken die Luft ausstieß, als er des unglaublichen Anblicks gewärtig wurde, aber er war nicht imstande, auch nur irgendwie darauf zu reagieren. Das schreckliche Bild brannte sich wie Säure in seine Gedanken, und das Entsetzen, mit dem es ihn erfüllte, begann allmählich die Qualität eines echten, körperlichen Schmerzes anzunehmen und hielt ihn dennoch zugleich mit eiserner Kraft gefangen.

Erst als Graves ihn am Arm berührte und ihm einen auffordernden Blick zuwarf, schrak er aus seiner Erstarrung hoch und drehte sich hastig herum. Hinter ihnen kroch als Letzte nun auch Miss Preussler durch den Spalt im Fels, hatte aber sichtbare Schwierigkeiten, ihre Körpermasse durch die schmale Öffnung zu quetschen. Mogens und Graves taten ihr Möglichstes, um ihr behilflich zu sein, und es gelang ihnen auch, sie ins Freie zu ziehen, ohne dass sie sich mehr als ein paar harmlose Schrammen einhandelte – und vermutlich ein paar nicht ganz so harmlose in ihrem Stolz. Statt sich bei ihnen zu bedanken, schenkte sie jedenfalls zuerst Graves und dann auch Mogens einen vernichtenden Blick, warf mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und drehte sich dann abrupt weg.

»Wenigstens wissen wir jetzt, dass Miss Preussler nicht auf diesem Weg hier herunter gekommen sein kann«, sagte Graves amüsiert.

Mogens war ziemlich sicher, dass Miss Preussler die Worte gehört hatte – und es auch sollte –, und sie setzte auch sofort zu einer entsprechenden Antwort an. Alles, was sie jedoch hören ließ, war ein entsetztes Keuchen. Dann schlug sie die Hand vor den Mund. Trotz der unheimlichen grünen Beleuchtung konnte Mogens erkennen, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich und ihre Augen vor Entsetzen dunkel wurden.

»Großer Gott«, stammelte sie. »Was ist das?«

Graves legte den Kopf auf die Seite. Seine Augen wurden schmal. »Sagten Sie nicht, Sie wären schon einmal hier unten gewesen?«, fragte er misstrauisch.

»Nicht …« Miss Preussler warf einen fast Hilfe suchenden Blick in Mogens’ Richtung, dann drehte sie sich wie magisch angezogen wieder herum. »Ich meine … nicht hier. Ich habe es nicht …« Ihre Stimme versagte.

»Sie haben es noch nie zur Gänze gesehen, nicht wahr?«, fragte Mogens.

»Ich war … in … in einem Haus«, stammelte Miss Preussler. »Einer Art Haus. Ich meine … ich dachte, es …«

»Schon gut«, sagte Mogens, als ihre Stimme ihr endgültig den Dienst verweigerte. Miss Preussler nickte hilflos. Mogens warf Graves, der schon wieder zu einer spitzen Bemerkung ansetzte, einen so vernichtenden Blick zu, dass er es nicht wagte, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

»Was ist das, Professor?«, wimmerte Miss Preussler. »Bitte, sagen Sie mir, was das hier ist!«

Wie gern hätte Mogens ihr diese Frage beantwortet. Wie gern hätte er sie sich selbst beantwortet. Doch alles, was er zustande brachte, war ein hilfloses Kopfschütteln. Selbst der unermüdlich um eine rationale Erklärung bemühte Teil in ihm, den er bisher niemals – außer bei einer einzigen, schrecklichen Gelegenheit vor vielen Jahren – wirklich zum Schweigen hatte bringen können, war nun verstummt. Er fühlte sich leer. Erschlagen von der Größe und bizarren Fremdartigkeit dieser unterirdischen Stadt.

Und doch – wie schon einmal – spürte er etwas auf schreckliche Weise Vertrautes an diesem unvertrauten Anblick.

»Ist das … so etwas wie ihre Stadt?«, fragte er, ohne ihn anzusehen, aber an Graves gewandt.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Graves. »Ich meine: Ich habe nicht angenommen, dass sie in Erdlöchern oder Höhlen hausen. Dazu erschienen sie mir trotz allem zu zivilisiert, und ihre Physiologie zu weit entwickelt. Aber das …« Er schüttelte erneut den Kopf und sah plötzlich ebenso hilflos aus, wie Mogens sich fühlte. »Ich weiß es nicht«, gestand er.

»Woher kommt das Licht?«, fragte Tom. Mogens sah ihn fast hilflos an, doch Graves hatte bereits eine Antwort parat – für Mogens’ Geschmack beinahe eine Spur zu schnell, obgleich er zugeben musste, dass sie durchaus einleuchtend klang.

»Seht ihr diese leuchtenden Flecken überall auf den Felsen und unter der Decke?«, fragte er mit einer entsprechenden Geste. Nicht nur Toms, sondern auch Mogens’ Blicke folgten der Bewegung. Tatsächlich erkannten sie überall auf dem Stein – hier und da selbst auf dem Boden – große, unregelmäßig geformte Flecken, achtlos eingestreuten Fetzen aus grünem Segeltuch gleich, die eben jenes blassgrüne Licht ausstrahlten, das den gesamten riesigen Raum erfüllte. Das Schimmern der einzelnen Flecken war kaum zu bemerken, in seiner Gesamtheit war dieser sonderbare Schein jedoch fast so hell wie der Vollmond in einer wolkenlosen Nacht.

»Ich nehme an, es handelt sich um leuchtende Pilze oder anderweitige unbekannte Organismen, die aus sich heraus leuchten.«

»Und das nennen Sie nicht das Werk des Teufels?«, fragte Miss Preussler. In Graves’ Augen blitzte es schon wieder verärgert auf, doch Mogens warf ihm einen raschen, mahnenden Blick zu. Miss Preussler hatte den Schock, den dieser Anblick für sie bedeuten musste, noch lange nicht überwunden. Ebenso wie er sich in Momenten wie diesem fast verzweifelt an seinen wissenschaftlichen Verstand und seine Logik klammerte, war es für sie ihr unerschütterlicher Glaube, an dem sie sich nun festhielt, um nicht vollends den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren. Auch Graves schien das wohl im allerletzten Moment zu begreifen, denn er verzichtete auf eine seiner üblichen, boshaften Spitzen, sondern antwortete ganz im Gegenteil in sachlichem, nur erklärendem Tonfall.

»So etwas ist nicht ungewöhnlich, meine Liebe«, sagte er. »Der Wissenschaft sind zahlreiche Lebensformen bekannt, die Licht erzeugen. Haben Sie etwa noch nie ein Glühwürmchen gesehen?«

»Selbstverständlich«, antwortete Miss Preussler. »Aber das ist doch wohl ein Unterschied!«

»Wieso?«, fragte Graves. Er schüttelte den Kopf. »Im Prinzip ist es genau dasselbe. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie Mogens. Er wird Ihnen bestätigen, dass so etwas gar nicht so ungewöhnlich ist. Es gibt Tiefseefische, die regelrechte Laternen vor sich hertragen, um Beute damit anzulocken, und zahlreiche Pflanzen, die dasselbe tun, um Insekten anzuziehen, die sie bestäuben. Das hier«, er deutete wahllos auf den nächstbesten mattgrün leuchtenden Flecken, »ist im Grunde nichts anderes. Erstaunlich und bisher sicherlich unbekannt, aber kein Wunder. Und auch kein Teufelswerk.«

Mogens hatte nicht den Eindruck, dass sich Miss Preussler mit dieser Erklärung wirklich zufrieden gab, aber sie widersprach auch nicht, sondern warf ihm nur einen neuerlichen, Beistand heischenden Blick zu und schien ein wenig verletzt zu sein, als er nicht in der erhofften Form darauf reagierte. Schließlich machte sie eine beinahe schon trotzig wirkende Handbewegung in die Höhle hinab. »Und gleich wollen Sie mir erzählen, dass das dort unten alles Menschenwerk ist.«

»Keineswegs«, sagte Graves. Er schüttelte traurig den Kopf und schien noch mehr sagen zu wollen, dann aber stockte er und sah Miss Preussler auf eine Art an, die auch Mogens dazu bewog, ihr noch einmal und aufmerksamer ins Gesicht zu blicken.

Er hatte ganz automatisch angenommen, dass sich ihre Frage auf die monströse Stadt dort unten bezog, aber nun, als er sie aufmerksamer ansah, wurde ihm klar, dass das nicht stimmte. Sie sah zwar in die entsprechende Richtung, aber ihr Blick – und vor allem das Entsetzen, das er darin gewahrte – galt nicht den bizarren Häusern und Ruinen. Vielmehr starrte sie die schräg abfallende Böschung vor ihnen an, die mit Millionen spitzer, heller Steintrümmer übersät war. Und das war der zweite Irrtum, dem Mogens erlegen war.

Was er für Stein gehalten hatte, waren Knochen. Schädel, Rippen, Becken, Ellen und Speichen, Oberschenkel- und Schienbeinknochen, Hand- und Fußknöchelchen, Wirbel und Jochbeine, Schulterblätter und Kniescheiben.

Es waren Gebeine. Millionen von menschlichen Gebeinen.