AnubisTrotz der Dunkelheit fiel es ihm nicht schwer, der Spur des Geschöpfes zu folgen. Seine Füße hatten tiefe Abdrücke im aufgeweichten Boden hinterlassen, in denen sich Wasser zu sammeln begann, aber Mogens hätte seine Spur wohl auch dann nicht verloren, wäre es nicht so gewesen. Es war weniger die Fährte der Bestie, der er folgte, sondern vielmehr die bloße Spur ihres Vorhandenseins, die sie zurückgelassen hatte, so als hätte ihre bloße Existenz eine Wunde in die Wirklichkeit gerissen, die nur ganz allmählich wieder verheilte.

Die Fährte bewegte sich ein kurzes Stück in westlicher Richtung vom Lager weg, und Mogens’ gerade neu gewonnene Entschlossenheit geriet schon wieder ins Wanken, als ihm klar wurde, dass sie in direkter Linie zum Friedhof führte. Er war nicht sicher, ob sein Mut reichen würde, der Bestie auch dorthin zu folgen, denn die Friedhofsmauer zu übersteigen hieße nicht nur, dem Ungeheuer gegenüberzutreten, sondern dies auch auf seinem ureigensten Gebiet zu tun, einem Terrain, auf dem nicht nur das Ungeheuer zu Hause war, sondern auch alle Schrecken aus seiner eigenen Vergangenheit.

Die Entscheidung blieb ihm jedoch erspart. Unmittelbar vor der Friedhofsmauer, die an dieser Stelle halb niedergebrochen war, schwenkte die Spur scharf nach links, und als Mogens ihr folgte, erreichte er nach wenigen Dutzend Schritten die Straße, die parallel zu der halbhohen Mauer verlief. Die Fährte aus sich langsam mit Wasser füllenden Fußabdrücken endete hier, aber die zweite, unsichtbare Spur der Bestie war nach wie vor da. Sie führte weiter vom Lager fort und folgte der Straße.

Mogens zögerte nun doch. Die an Panik grenzende Angst, die er überwunden hatte, war nicht zurückgekehrt, aber an ihrer Stelle machte sich nun eine ganz andere, rein intellektuell begründete Furcht in ihm breit, nämlich die Frage, ob die Kreatur ihn vielleicht ganz bewusst vom Lager weglockte, um dann über ihn herzufallen. Fast gleichzeitig wurde ihm klar, wie lächerlich dieser Gedanke war. Das Monstrum konnte ihm antun, was immer es wollte – und vor allem wo immer es das wollte. Wäre es sein Tod gewesen, den die Kreatur im Sinn hatte, dann wäre er jetzt schon nicht mehr am Leben.

Aber vielleicht gab es ja Dinge, die schlimmer waren als der Tod …

Mogens verdrängte den Gedanken und ging weiter. Er stellte sich auch ganz bewusst nicht der Frage, was er eigentlich tun würde, wenn es ihm tatsächlich gelang, die groteske Kreatur einzuholen. Er hatte nichts bei sich, was er als Waffe nutzen konnte, ganz zu schweigen davon, dass der bloße Gedanke, die Kreatur anzugreifen, absolut lächerlich war. Dennoch ging er weiter und beschleunigte seine Schritte sogar noch, blieb aber in fast regelmäßigen Abständen stehen, um zu lauschen. Er hörte nichts, aber er konnte nach wie vor spüren, dass das unheimliche Wesen irgendwo dort vor ihm war; nicht einmal besonders weit entfernt. Mogens verspürte ein eisiges Frösteln bei der Vorstellung, es könne vielleicht seinerseits ab und zu stehen bleiben und aus seinen unheimlichen glühenden Augen zu ihm zurückblicken, um sich davon zu überzeugen, dass der Abstand nicht etwa zu groß wurde und Mogens seine Spur verlor. Er ging trotzdem weiter. Er war nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch kehrtmachen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Mogens fühlte sich in der Lage eines Mannes, der leichtsinnigerweise angefangen hatte, einen immer steiler und steiler werdenden Hang hinabzulaufen, und nun nicht mehr anhalten konnte.

Jetzt, eingehüllt in Dunkelheit und Kälte, die beide auf unterschiedliche Weise, aber gleich heftig an seinen Nerven zerrten, kam ihm der Weg ungleich länger vor als an dem Tag, als Tom mit dem Wagen hier entlanggefahren war. Sein Zeitempfinden war hoffnungslos erloschen, aber er hatte das Gefühl, Stunden an der unregelmäßig ausgebrochenen Mauer entlangzumarschieren. Aber auch realistisch betrachtet legte er eine halbe Meile zurück, wenn nicht mehr. Er hatte nicht gewusst, dass der Friedhof so groß war; eigentlich viel zu groß für eine so kleine Stadt wie die, zu der er gehörte.

Mogens blieb stehen, als er ein Geräusch hörte. Es war nicht das Knurren der Bestie, sondern ein anderer Laut, den er nicht zu identifizieren vermochte, der aber irgendetwas in ihm berührte und ihn beunruhigte. Mit aller Konzentration, die er aufzubringen imstande war, versuchte er die Dunkelheit vor sich mit Blicken zu durchdringen. Vor ihm stieg der schmale asphaltierte Weg jäh an und ging dann in die kaum nennenswert breitere Hauptstraße über, beschrieb auf halber Strecke jedoch einen scharfen Knick, der in Mogens ungute Erinnerungen wachrief, war es doch genau die Stelle, an der ihm schon auf der Herfahrt der Angstschweiß auf die Stirn getreten war.

Erst dann wurde ihm klar, dass es nicht nur diese Erinnerung war, die ihn mit solchem Unbehagen erfüllte. Dies war die Stelle, von der Graves vorhin erzählt hatte. Der Ort, an dem der Wagen abgestürzt war.

Mogens zögerte nun aus ganz anderen Gründen, weiterzugehen. Er hatte nie zu jenen Menschen gehört, die voller morbider Faszination zum Ort eines Unglücks eilten oder sich beispielsweise ein brennendes Haus ansahen, und diesen speziellen Ort wollte er ganz gewiss nicht sehen. Denn auch wenn es nicht den mindesten Anlass dazu gab, fühlte er sich doch auf sonderbare Weise mitverantwortlich für das Schreckliche, das Hyams und den beiden anderen zugestoßen war. Ja, er fragte sich sogar, ob es nicht in Wahrheit dieses furchtbare Geschehen war, das ihn hergelockt hatte, und ob seine Fantasie den Anblick eines fuchsohrigen Ungeheuers mit glühenden Augen vielleicht nur erschaffen hatte, um ihn hierher zu locken. Allein die Vorstellung, dass ein ihm bisher selbst unbekannter Teil seines Bewusstseins zu einer solchen Morbidität imstande sein könnte, war so erschreckend, dass er auf der Stelle den Rückweg angetreten hätte, hätte er nicht in diesem Moment erneut jenen sonderbar klagenden Laut gehört, und diesmal so deutlich, dass er sicher war, ihn auch tatsächlich gehört zu haben und ihn sich nicht nur einzubilden. Es war ein Klagen, etwas wie das Seufzen des Windes, nur qualvoller. Und es war eindeutig eine menschliche Stimme.

Mogens erschauerte erneut, und fast gegen seinen Willen hörte er noch einmal Miss Preusslers Stimme. Und wenn die arme Frau vielleicht doch noch lebt und nun schwer verletzt dort draußen liegt? Aber das konnte nicht sein. So grausam durfte das Schicksal nicht sein.

Wie um ihn zu verhöhnen, drehte sich der Wind, und das leise Wehklagen drang nun deutlicher an sein Ohr. Vielleicht war es nur das, was seine Fantasie dem Laut hinzufügte, doch für Mogens wurde er nun eindeutig zum herzzerreißenden Flehen einer Frau, und nun gab es kein Zurück mehr. Er ging weiter, näherte sich vorsichtig der Stelle, an der die Straße in einen jähen Abgrund überging, und beugte sich mit klopfendem Herzen vor.

Wider alle Vernunft hatte er sich bisher immer noch an die verzweifelte Hoffnung geklammert, doch am falschen Ort zu sein, aber der Wagen war da, trotz des schwachen Lichts und der Entfernung deutlich zu erkennen, wie er zertrümmert und ausgebrannt unter ihm auf der Seite lag. Die Böschung war nicht einmal so tief, wie er sie in Erinnerung gehabt zu haben glaubte – vielleicht fünfzig, sechzig Fuß, allerhöchstens –, doch dafür um etliches steiler und mit zahllosen Felsbrocken und dürrem Gestrüpp übersät. Vermutlich waren es diese Felsbrocken gewesen, überlegte Mogens, die den Sturz zu einer solchen Katastrophe hatten werden lassen. Überall im nassen Gras schimmerten Glassplitter und Bruchstücke von zerfetztem Metall und trotz des reinigenden Regens lag noch immer ein scharfer Brandgeruch in der Luft.

Wäre der Wagen nur die Böschung hinabgeschlittert, wäre er möglicherweise sogar auf den Rädern geblieben oder hätte sich allerhöchstens am Ende seiner Rutschpartie behäbig überschlagen, was, wie Mogens wusste, spektakulärer und vor allem gefährlicher aussah, als es im Allgemeinen war. Die tonnenschweren, scharfkantigen Felsbrocken aber hatten aus dem fast harmlosen Abrutschen einen tödlichen Spießrutenlauf gemacht, indem sie das Automobil wie mit Riesenfäusten zertrümmerten, bis es am Ende zerbrach und in Flammen aufging. Mogens’ Herz begann abermals schneller zu schlagen, während sein Blick über den abschüssigen Hang tastete und er sich fragte, wie um alles in der Welt er dort hinunterkommen sollte, ohne sich den Hals zu brechen.

Aber das musste er. Das Wimmern und Wehklagen war nicht mehr zu hören, doch das machte es beinahe noch schlimmer. Selbst wenn man Hyams’ Leichnam niemals fand, ja, selbst wenn man ihn fand und sich herausstellen sollte, dass sie zu diesem Zeitpunkt längst tot gewesen war, würden ihn die klagenden Laute doch bis ans Ende seines Lebens verfolgen, wenn er jetzt nicht dort hinunterging.

Er versuchte es. Graves’ Warnung, wonach dieses Gelände schon bei Tageslicht und gutem Wetter nicht ungefährlich sei, klang ihm noch deutlich im Ohr, und er begriff schon nach den ersten Schritten, dass sie bitter ernst gemeint gewesen war. Der Hang war noch abschüssiger, als er ausgesehen hatte, und mit dichtem Gras bewachsen, das die Nässe so glatt wie Schmierseife gemacht hatte. Mogens schlitterte die Böschung mehr hinab, als er ging, und mehr als einmal drohte er zu fallen und fand nur im letzten Moment an einem Ast oder einem Felsbrocken Halt. Dazu kam, dass der sich überschlagende Wagen nicht nur tiefe Furchen in die Grasnarbe gerissen hatte, in denen matschig aufgeweichter Boden zum Vorschein kam, der seinen Füßen noch weniger Halt bot, sondern auch zahllose mehr oder wenig spitze Trümmerstücke aus dem Erdreich ragten. Es kam Mogens selbst fast wie ein kleines Wunder vor, dass er das Ende des Abhangs erreichte, ohne zu stürzen oder sich an den scharfkantigen Trümmern und Glasscherben auf andere Weise verletzt zu haben. Mit der Frage, wie er diese Böschung wieder hinaufkommen sollte, beschäftigte er sich vorsichtshalber noch gar nicht.

Das Wrack des ausgebrannten Wagens lag jetzt nur noch wenige Schritte vor ihm. Selbst bei der herrschenden Dunkelheit konnte Mogens erkennen, wie schrecklich es zerstört war. Das Wrack war kaum noch als Automobil zu erkennen, und was der Sturz nicht zertrümmert, zerbrochen, verbogen und zermalmt hatte, das hatte das nachfolgende Feuer verheert. Obwohl der Brand Stunden zurücklag, strahlte der ausgeglühte Metallklumpen noch immer eine spürbare Hitze aus. Selbst der Boden, über den er ging, war trocken und warm.

Mogens riss seinen Blick mühsam vom Wrack des Fords los und trat einen Schritt zur Seite, um sich aus angestrengt zusammengekniffenen Augen umzusehen. Jetzt wäre er froh gewesen, das herzzerreißende Wehklagen noch einmal zu hören, doch mittlerweile war selbst das Wispern des Windes verstummt, und es war fast unheimlich still.

»Hyams?«, rief er.

Natürlich bekam er keine Antwort. Er machte zwei zögernde Schritte, blieb stehen und ging abermals weiter, wobei er instinktiv einen deutlich größeren Abstand zum Wagen hielt, als es selbst angesichts der davon ausgehenden Hitze notwendig gewesen wäre. Das Fahrzeug war zum Grab zweier Menschen geworden, vielleicht sogar von dreien, und seine bloße Nähe machte ihm Angst. Er hätte nicht den Mut gehabt, den Friedhof zu betreten, aber das hatte ihm nichts genutzt, denn der Friedhof war ihm nachgekommen.

Sein Fuß stieß gegen etwas, das hörbar raschelte. Mogens blieb stehen und erkannte einen verschwommenen länglichen Umriss, der mit einer schwarzen Plane abgedeckt war. Behutsam ließ er sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, um das Tuch beiseite zu schlagen.

Im nächsten Moment prallte er mit einer so entsetzten Bewegung zurück, dass er das Gleichgewicht verlor und rücklings zu Boden fiel. Sein Hinterkopf schrammte an einem Stein entlang, und der dumpfe Schmerz war so heftig, dass ihm für einen Moment übel wurde. Er lief nicht Gefahr, das Bewusstsein zu verlieren, aber für endlose Sekunden drehte sich die Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern so heftig um sich selbst, dass er es nicht wagte, auch nur die Augen zu öffnen, aus Angst, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Und noch länger dauerte es, bis er die Kraft fand, sich aufzurappeln und erneut dem schrecklichen Anblick zu stellen, den die schwarzen Segeltuchplane bisher barmherzig verborgen hatte.

Es waren zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper. Mogens nahm an, dass es sich um Mercer und McClure handelte, aber das konnte er nur noch raten, und er hätte auch nicht sagen können, wer nun wer war. Die Flammen hatten ihnen die Kleider vom Leib gebrannt, Haare und Augenbrauen verzehrt und jedwedes Vertraute aus ihren Zügen getilgt. Sie schienen deutlich kleiner geworden zu sein, als hätte die ungeheure Hitze, die ihre Haut geschwärzt und ihre Glieder im Tode sich hatte zusammenziehen lassen, sie gleichsam schrumpfen lassen. Nicht einmal mehr der Unterschied zwischen dem fast asketischen McClure und Mercers beleibter Erscheinung war noch wirklich zu erkennen, zumindest nicht auf den ersten Blick, als hätte das Feuer sein Fett einfach wegschmelzen lassen wie Butter in einer zu heißen Pfanne.

Obwohl dieser Anblick vielleicht das Schrecklichste war, das Mogens jemals gesehen hatte, zwang er seinen rebellierenden Magen gewaltsam zur Ruhe und hielt ihm so lange stand, wie er nur konnte, und sei es nur, um ihm auf diese Weise wenigstens den schlimmsten Schrecken zu nehmen. Ein Teil seines Verstandes reagierte empört auf die Erkenntnis, dass Wilson die Leichen der beiden Wissenschaftler einfach hier liegen gelassen hatte, als wären auch sie nichts mehr als zwei weitere Trümmerstücke, aber zugleich erinnerte er sich auch zu gut daran, wie schwer es ihm gefallen war, den schlüpfrigen Abhang hinunterzusteigen. Bei der Heftigkeit des Unwetters, das am Nachmittag hier getobt hatte, musste es vollkommen unmöglich gewesen sein, die beiden Toten den Hang hinaufzuschaffen. Wilson oder seine Leute hatten sie hier hingelegt und zugedeckt, um sie am nächsten Tag abzutransportieren, ohne dabei Leib und Leben zu riskieren.

Aber es waren nur zwei Leichen. Wo war Hyams?

Bevor er sich erhob, zog er die Plane wieder an Ort und Stelle, dann drehte er sich langsam einmal um sich selbst und versuchte dem Durcheinander aus Schatten und verschwommenen grauen Umrissen irgendeinen Sinn abzugewinnen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es vorhin hier ausgesehen haben mochte, nicht nur bei einer Dunkelheit, die fast ebenso tief gewesen war wie jetzt, sondern auch bei strömendem Regen und inmitten eines heulenden Gewittersturms. Vermutlich hatten Wilson und seine Leute die berühmte Hand vor Augen nicht mehr gesehen. Aber Mogens hielt Wilson – obwohl er ihn kaum kannte – für einen sehr gewissenhaften Mann, der zumindest die nähere Umgebung des Wagens sorgsam abgesucht haben würde – auch wenn er gar nicht hatte wissen können, dass noch eine dritte Person im Wagen gesessen hatte. Er konnte es sich also sparen, die unmittelbare Nähe in Augenschein zu nehmen.

Aber genau das war das Problem. Der Wagen war auf einem relativ ebenen Flecken zum Liegen gekommen, der von Trümmerstücken und einem Gewirr scharfkantiger Felsen begrenzt wurde. Einige davon waren kaum größer als Hundehütten, andere halb so hoch wie ein Haus, ausnahmslos aber waren sie scharfkantig und gefährlich. Selbst wenn Hyams aus dem Wagen geschleudert worden war, bevor dieser in Flammen aufging, hatte sie keine Überlebenschance gehabt, wenn sie in diese Felsen gestürzt war.

Dennoch ließ sich Mogens nicht davon abhalten, zwischen den kreuz und quer daliegenden Findlingen umherzuklettern und den Boden abzusuchen. Auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass niemand einen Sturz zwischen diese Felsen überleben konnte, so war er doch zugleich sicherer denn je, sich das Stöhnen und Flehen nicht nur eingebildet zu haben.

Wie weit mochte ein Körper fliegen, der aus einem sich überschlagenden Automobil geschleudert wurde? Sicher nicht allzu weit, vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig Fuß. Wenn Hyams hier irgendwo war, dann vermutlich in unmittelbarer Nähe. Ansonsten hätte er wohl auch kaum noch oben auf der Straße ihre vermeintlichen Hilferufe hören können.

Mogens suchte die Umgebung in gut dreißig Schritten Umkreis ab, und er fand zwar Hyams nicht, aber er stieß auf etwas anderes. Fast in gerader Linie hinter dem ausgebrannten Wagen und kaum zehn Schritte entfernt türmten sich die Felsen zu einer Art steinernem Baldachin, der den Regen in einem dreieckigen Bereich abgehalten hatte. Dennoch gab es einen dunklen Fleck auf dem Boden, wo keiner hätte sein sollen. Mogens beugte sich vor, streckte die Hand aus und fühlte etwas Feuchtes und Warmes. Als er den Arm wieder hob, sahen seine Handfläche und Finger im Sternenlicht scheinbar schwarz aus, aber Mogens wusste, dass sie in Wirklichkeit rot waren. Es hätte des charakteristischen Geruchs nicht mehr bedurft, um ihm zu sagen, dass der Boden voller Blut war. Und es war warmes Blut. Hyams lebte also noch. Mehr noch: Obschon der große Blutfleck, vor dem er kniete, bewies, wie schwer verletzt sie sein musste, war sie ganz offensichtlich noch in der Lage gewesen, sich zu bewegen. Unglückseligerweise hatte der Regen nur einen kleinen Bereich des Bodens unmittelbar vor ihm verschont, alles andere hatte sich in braunen Morast verwandelt, der kaum zähflüssiger war als wirklicher Sumpf und in dem keine Spur länger als wenige Augenblicke Bestand hatte. Es war nicht zu erkennen, in welche Richtung sich Hyams davongeschleppt hatte.

Mogens überlegte, wie ein Mensch mit so schweren Verletzungen wohl reagieren mochte. Sicherlich nicht mehr vernünftig. Eher schon wie ein waidwundes Tier, das sich irgendwo einen geschützten dunklen Ort suchte, um zu sterben. Andererseits wusste er auch, dass gerade so schwer verwundete Menschen manchmal zu unglaublichen Leistungen imstande waren. Kurz: Dies war ein Rätsel, das er kaum durch bloßes Überlegen würde lösen können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf gut Glück weiterzusuchen und zu hoffen, dass er Hyams fand, bevor es zu spät war.

In regelmäßigen Abständen den Namen der Ägyptologin rufend, begann Mogens den Fundort in größer werdenden Kreisen abzusuchen. Er bekam weder eine Antwort, noch stieß er auf weitere Blutspuren oder gar Hyams selbst. Mogens sah in jede Felsspalte, tastete in jeden Schatten und lugte hinter Steine, die nicht einmal annähernd groß genug waren, dass sich ein Mensch dahinter verbergen konnte, aber schließlich gab er es auf. So schwer es ihm fiel, es zuzugeben: Es war sinnlos, die Suche auf diese Weise fortzusetzen. Auch wenn er mehr denn je das Gefühl hatte, Hyams feige im Stich zu lassen, so gab es doch nur noch eines, was er für sie tun konnte: Er würde ins Lager zurückgehen und Graves und Tom alarmieren. In wenigen Stunden wurde es hell, und dann konnte Tom mit dem Wagen in die Stadt fahren und Wilson und so viele weitere Männer wie nur möglich holen, sodass sie die Suche bei Tageslicht und unter besseren Bedingungen fortsetzen konnten.

Falls es dann nicht zu spät war für Hyams.

Niedergeschlagen machte er sich auf den Rückweg. Er brauchte wesentlich länger dazu, als er erwartet hatte, denn er hatte sich deutlich weiter vom Wrack des Ford entfernt, als ihm bewusst gewesen war; aber immerhin war es jetzt heller geworden, sodass er nicht mehr Gefahr lief, blindlings gegen einen Felsen zu stoßen. Alles in allem musste mehr als eine halbe Stunde seit dem Moment verstrichen sein, in dem er hier unten angelangt war, bis er das ausgebrannte Wrack wieder erreichte.

Die beiden Leichname waren verschwunden.

Mogens trat in gut fünfzehn oder zwanzig Schritten Entfernung zwischen den Felsen hervor, aber er sah es trotz des blassen Lichts sofort: Die Zeltplane, die er sorgsam wieder über die beiden verkohlten Körper gezogen hatte, lag in Fetzen gerissen da, und Mercers und McClures sterbliche Überreste waren definitiv verschwunden. Mogens blieb wie vom Donner gerührt sekundenlang stehen und starrte die zerfetzte schwarze Plane an, ohne wirklich zu begreifen, was er da sah, dann ging er mit fast schleppenden Schritten weiter und sank unmittelbar daneben in die Hocke. Zögernd streckte er den Arm aus, aber er stockte, ehe er die Bewegung zu Ende bringen konnte. Seine Finger begannen zu zittern.

Die zerfetzte Plane war nicht alles. Von dort aus, wo die beiden verbrannten Körper gelegen hatten, führten zwei tiefe Schleifspuren weg und verschwanden zwischen den Felsen, und unmittelbar daneben gewahrte Mogens einen tiefen, bizarr verzerrten Fußabdruck. Auf den allerersten Blick hätte man ihn für den eines Menschen halten können, aber Mogens wusste nur zu gut, welche Kreatur ihn wirklich hinterlassen hatte. Zitternd vor mühsam unterdrückter Angst und von einem Entsetzen gepackt, das ihn daran hinderte, klar zu denken, hob er den Kopf und folgte der Schleifspur weiter mit Blicken. Obwohl sie nach wenigen Schritten zwischen den Felsen verschwand, konnte er sie noch ein gutes Stück weit verfolgen. Allein in dem kurzen Bereich, den er im diffusen Licht des sichelförmigen Neumonds einigermaßen überblicken konnte, entdeckte er zwei weitere riesige Fußabdrücke.

Mogens drehte sich in der Hocke um und stand auf, und im gleichen Moment fiel ein so grelles, blendend weißes Licht in sein Gesicht, dass er erschrocken die Hand vor die Augen hob. »Stehen bleiben!«, herrschte ihn eine wütende Stimme an.

Mogens hätte sich nicht einmal rühren können, wenn er es gewollt hätte. Das grelle Licht paralysierte ihn regelrecht, und es bohrte sich so schmerzhaft in seine Augen, dass er nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken konnte. Hastig hob er auch noch die andere Hand, um seine Augen zu schützen, und blinzelte durch einen Schleier aus Tränen in den gleißenden Lichtschein. Schatten bewegten sich dahinter, und statt nachzulassen, nahm die quälende Helligkeit sogar noch zu, als sich ein zweiter Scheinwerferstrahl dem ersten hinzugesellte.

»Was zum Teufel tun Sie hier, Professor VanAndt?«, herrschte ihn Sheriff Wilson an.