Es wurde alles andere als eine ruhige Nacht. Mogens hatte – gemeinsam mit Tom, der ebenso bleich und schweigsam geworden war wie Graves – Miss Preussler zu der Blockhütte begleitet, die Doktor Hyams bis zu diesem Morgen bewohnt hatte. Tom hatte auch hier aufgeräumt und zumindest oberflächlich für Sauberkeit gesorgt; was Miss Preusslers Ansprüchen normalerweise niemals genügt hätte. Heute jedoch nahm sie es nur mit einem knappen, dankbaren Lächeln zur Kenntnis und sagte darüber hinaus gar nichts. Auch sie wirkte schockiert, obwohl sie Hyams und die beiden anderen gar nicht gekannt hatte. Mogens druckste noch eine Weile herum und war dann froh, sich unter einem Vorwand verabschieden zu können.
Obwohl es noch relativ früh war, versuchte er zu schlafen, aber er warf sich bestimmt eine Stunde ruhelos auf seinem Bett hin und her, bevor er endlich in einen unruhigen, von sinnlosen Träumen heimgesuchten Schlummer fiel, aus dem er immer wieder hochschrak.
Das letzte Mal erwachte er nicht von selbst, sondern weil jemand neben seinem Bett stand. Mogens fuhr erschrocken hoch und blinzelte die massige Gestalt für die Dauer von zwei oder drei angsterfüllten Herzschlägen benommen an, bevor er sich weit genug aus den Klauen des Albtraums befreien konnte, den er gerade noch durchlitten hatte, um sie zu erkennen.
In gewissem Sinne zumindest war das, was er sah, selbst ein Bild wie aus einem Albtraum. Miss Preussler stand, in einen dunkelroten Morgenmantel gehüllt, der ganz eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte, neben seinem Bett und hielt eine brennende Kerze in der Rechten. Mit der anderen Hand hielt sie ihren Morgenrock über der Brust zusammen, aber Mogens konnte nicht entscheiden, ob sie nun befürchtete, jemandem einen unschicklichen Einblick in ihre Kleider zu gewähren oder vielmehr Angst davor hatte, deren Inhalt könnte unkontrolliert herausquellen. Sie trug anscheinend keine Korsage, was zur Folge hatte, dass ihr ohnehin nicht gerade elfenhafter Körper in alle Richtungen auseinander zu fließen schien. Ihr Haar hing wirr und strähnig herab, das Gesicht wirkte teigig und ein wenig verquollen, und auch mit ihren Zähnen stimmte etwas nicht. Als sie den Mund öffnete, um zu reden, sah Mogens, dass etliche davon fehlten.
»Miss Preussler«, murmelte er, während er sich, noch immer ein wenig schlaftrunken, aufsetzte.
»Ich … äh … bitte, verzeihen Sie die Störung zu dieser unmöglichen Stunde«, sagte Miss Preussler zögernd. Es war ihr sichtbar peinlich, mitten in der Nacht – und noch dazu in diesem Aufzug! – vor ihm zu erscheinen. »Aber ich kann Cleopatra nicht finden.«
»Cleopatra?«
»Meine Katze, Professor.«
»Ich weiß, wer Cleopatra ist, Miss Preussler«, erwiderte Mogens ruhig.
»Ich … ich kann sie nicht finden, Professor«, sagte Miss Preussler. »Sie ist fort.«
Immer noch ein wenig benommen, setzte er sich vollends auf und angelte umständlich nach seiner Weste, um einen Blick auf das Ziffernblatt der Taschenuhr zu werfen. So unruhig er geschlafen hatte, ebenso schwer fiel es ihm, wirklich aufzuwachen. Er starrte mehrere Sekunden lang auf das Zifferblatt, das unter dem verschnörkelten Deckel zum Vorschein kam, bevor er die Uhrzeit erkannte: Es war ein gutes Stück nach Mitternacht. »Fort«, wiederholte er müde.
Miss Preussler nickte ein paar Mal. Die Kerze in ihrer Hand zitterte stärker und erweckte Schatten und andere, finsterere Dinge zu scheinbarem Leben. »Sie war so unruhig, dass ich sie am Ende hinausgelassen habe. Aber sie ist nicht wieder gekommen. Ich habe länger als eine Stunde gewartet und immer wieder nach ihr gerufen, aber sie ist nicht zurückgekommen. Ich mache mir Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
Mogens starrte weiter auf das Zifferblatt. Es fiel ihm immer noch schwer, so etwas wie Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Es fiel ihm auch schwer, weiterhin die Ruhe zu bewahren. Selbst halb benommen, wie er noch war, konnte ihm nicht entgehen, wie unangenehm Miss Preussler die Situation war – was nichts daran änderte, dass er sich im gleichen Maße mehr über sie ärgerte, in dem sich seine Gedanken klärten.
»Miss Preussler«, sagte er mühsam beherrscht. »Cleopatra ist eine Katze, und Katzen sind vornehmlich nachtaktive Tiere. Ich glaube nicht, dass Sie sich allzu große Sorgen um sie machen sollten, nur weil sie ein wenig herumstreicht.«
»Aber das hier ist eine vollkommen fremde Umgebung für Cleopatra, und so lange ist sie noch nie weggeblieben«, antwortete Miss Preussler. »Sie kommt normalerweise immer, wenn ich sie rufe!«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun, Miss Preussler?«, fragte er.
»Ich dachte, Sie … Sie könnten vielleicht … Tom«, begann Miss Preussler. »Vorhin ist sie doch auch bei ihm gewesen, und … und ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich ihn finde, und außerdem kann ich doch nicht zu ihm gehen, mitten in der Nacht und … und so wie ich bin.«
Mogens klappte den Uhrdeckel zu und sah demonstrativ zu Miss Preussler hoch. Nein, dachte er, das konnte man dem armen Jungen wirklich nicht antun. »Also gut«, seufzte er. »Ich werde zu Tom hinübergehen und ihn fragen, ob er Cleopatra gesehen hat.«
Miss Preussler strahlte. »Das ist wirklich zu freundlich von Ihnen, Professor.« Sie schien darauf zu warten, dass er aufsprang und unverzüglich aus dem Haus stürmte, aber Mogens rührte sich nicht, sondern sah nur seinerseits auffordernd zu ihr hoch. Auf diese Weise vergingen geschlagene fünf Sekunden, bis Mogens sich endlich räusperte und eine Kopfbewegung zur Tür machte.
»Professor?«
»Ich würde mich gerne anziehen«, sagte Mogens sanft.
»Oh.« Miss Preussler fuhr erschrocken zusammen und sah mit einem Male noch verlegener aus. »Natürlich. Bitte verzeihen Sie, Professor. Ich bin aber auch manchmal …« Zu Mogens’ Erleichterung sprach sie den Satz nicht zu Ende, sondern drehte sich endlich um und ging. Ein Windstoß löschte die Flamme ihrer Kerze, als sie das Haus verließ, doch in dem winzigen Bruchteil einer Sekunde, der verging, bevor die Dunkelheit das Licht endgültig besiegte, schienen die Schatten eine andere Qualität anzunehmen, als hätten sie sich zu Dingen verdichtet, Dingen mit Reißzähnen und Klauen und peitschenden Tentakeln voller schrecklicher Saugmünder, die sich auf ihn zu stürzen versuchten. Diesmal war es die Dunkelheit, die sich als sein Verbündeter erwies, denn die grotesken Manifestationen hatten nur in dem zeitlosen Moment zwischen Dunkelheit und Licht Bestand, nicht in einem von beidem. Was zurückblieb, war ein tiefer, namenloser Schrecken, der Mogens auf eine Weise berührte, die er noch nie zuvor kennen gelernt hatte.
Er schüttelte den Gedanken ab, stand auf und tastete im Dunkeln nach seinen Kleidern. Nur noch ein letzter Rest des Albtraumes, aus dem er anscheinend immer noch nicht vollkommen erwacht war, tröstete er sich. Etwas anderes konnte es nicht gewesen sein. Die Bilder waren einfach zu absurd gewesen, so bizarr, dass sie in ihrer Grässlichkeit schon fast wieder lächerlich wirkten.
Warum aber verzichtete er dann darauf, Licht zu machen, sondern zog sich stattdessen in vollkommener Dunkelheit an und tastete sich auf die gleiche Weise auch zur Tür?
Mogens war überrascht, wie hell es war, als er aus dem Haus trat. Der Mond war noch schmaler geworden und stand als sichelförmige Linie am Himmel, die kaum mehr nennenswertes Licht spendete. Aber der abgezogene Sturm hatte auch die Wolken mitgenommen, und am Himmel funkelte eine erstaunliche Anzahl von Sternen, die ein bleiches, farbenverzehrendes Licht verbreiteten, und in dem morastigen Boden hatten sich zahllose Pfützen gebildet, die das Licht zusätzlich reflektierten. Noch etwas hatte sich verändert, aber es dauerte eine Weile, bis Mogens erkannte, was: Die Brücke aus Planken und gehobelten Bohlen, die Tom über den morastigen Platz gelegt hatte, war verschwunden. Tom hatte keine Zeit verloren. Und er schien – so ganz nebenbei – auch keinen Schlaf zu benötigen.
Mogens sah flüchtig zu Graves’ Hütte hin und stellte fest, dass hinter ihren schmalen Fenstern noch Licht brannte – was ihn nicht unbedingt überraschte. Graves würde keine besonders gute Nacht haben. Mogens’ Mitleid mit ihm hielt sich jedoch in Grenzen. Ihm war auch nicht nach einer Unterhaltung mit Graves, sodass er sich in die entgegengesetzte Richtung wandte, um zu Tom zu gehen. Er glaubte nicht, dass Cleopatra dort war – vermutlich trieb sie sich irgendwo im Wald herum oder streifte auf der Suche nach einer fetten Maus durch die Büsche, und Mogens war nicht annähernd so sicher, wie er Miss Preussler gegenüber getan hatte, dass Cleopatra tatsächlich nach ein paar Stunden freiwillig zurückkehren würde. Möglicherweise hatte Miss Preussler einen schweren Fehler gemacht, indem sie ihre Katze mit hierher brachte. Mogens verstand nicht allzu viel von Katzen, aber er wusste, dass selbst lang domestizierte Haustiere manchmal wieder verwilderten, wenn sie einmal die Freiheit geschmeckt hatten, vor allem in einer fremden Umgebung.
Wäre er eine Katze gewesen, hätte er zumindest die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, aus Thompson zu verschwinden. Mogens lächelte über seinen eigenen Gedanken, war aber auch zugleich ein wenig verwirrt, denn solcherlei Albernheiten passten im Grunde gar nicht zu ihm. Aber vielleicht sollte er heute nicht zu streng mit sich selbst sein. Er hatte eine Menge sonderbarer und erschreckender Dinge erlebt, und auch die Nachricht über das schreckliche Unglück, das Mercer und den beiden anderen zugestoßen war, war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wie konnte er da erwarten, so distanziert und logisch zu reagieren wie sonst?
So schwer es ihm gefallen war, wach zu werden, so deutlich spürte er, dass er jetzt vermutlich keinen Schlaf mehr finden würde. Also konnte er ebenso gut auch nachsehen, ob Tom vielleicht noch wach war; und sei es nur, um Miss Preussler nicht anlügen zu müssen. Statt also zu Graves zu gehen, wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung, in der Toms Hütte lag. Er schlug einen komplizierten Slalom-Kurs ein, um den Pfützen auszuweichen. Der Erfolg war allerdings mäßig: Mogens wich zwar den Wasseransammlungen aus, die das Sternenlicht reflektierten, aber der Boden dazwischen fühlte sich jetzt nicht mehr an wie ein Schwamm, wie Mercer es ausgedrückt hatte, sondern hatte eher die Konsistenz von Schokoladenpudding. Er sank bei jedem Schritt beinahe bis an die Knöchel ein und war froh, keinen seiner Schuhe verloren zu haben, als er Toms Hütte erreichte. Vermutlich wäre er besser beraten gewesen, in die Pfützen zu treten.
Auch in Toms Unterkunft brannte noch Licht, aber es war nicht der warme Schein von Kerzen oder einer Petroleumlampe, sondern das viel gleichmäßigere Leuchten einer elektrischen Glühbirne. Offensichtlich hatte Tom den Generator heute Nacht nicht ausgeschaltet. Mogens dachte mit einem schiefen Lächeln daran zurück, wie mühsam er sich durch sein dunkles Zimmer zur Tür getastet hatte, schüttelte den Kopf und klopfte an.
Er bekam keine Antwort. Sicher war es möglich, dass Tom einfach vergessen hatte, das Licht auszuschalten, und eingeschlafen war, und das Letzte, was er wollte, war, Tom zu wecken. So übermäßig, wie Graves Tom in Anspruch nahm, hatte er jede Minute Schlaf, die er bekommen konnte, redlich verdient.
Dennoch klopfte er noch einmal an und schob schließlich den Riegel zur Seite, als er keine Antwort bekam. »Tom?«, fragte er leise. »Bist du noch wach?«
Er bekam auch jetzt keine Antwort, öffnete die Tür aber dennoch weiter und trat ein, wobei er sich bemühte, möglichst wenig Lärm zu machen, um Tom nicht zu wecken, sollte er tatsächlich schlafen.
Tom schlief nicht; zumindest nicht in seinem Bett. Er war gar nicht da. Trotzdem machte Mogens noch einen weiteren Schritt in die Hütte hinein und blieb dann stehen, um sich fassungslos und aus aufgerissenen Augen umzusehen.
Mogens war niemals zuvor hier gewesen, zum einen, weil sich bisher nicht die Gelegenheit ergeben hatte, zum anderen, weil es zu Mogens’ Prinzipien gehörte, die Privatsphäre anderer zu achten.
Vielleicht hätte er sich auch heute Nacht besser daran gehalten.
Der Raum bot ein einziges Bild des Chaos. Mogens hatte noch nie zuvor eine derartige Unordnung gesehen; und auch nicht so viel Schmutz. Auf Tischen, Regalen, Stühlen und Borden stapelten sich wahre Berge von Büchern und Papieren, Werkzeugen und Kleidern, wissenschaftlichen Instrumenten und Karten, Beuteln und Kisten und Kartons, Töpfen und Geschirr und Schuhen, Vorratsbehältern und Steinen und Fundstücken. Über allem lag ein leiser, aber äußerst unangenehmer Geruch nach Verfall und Fäulnis, aber auch noch nach etwas anderem, das undefinierbar, aber viel älter und von üblerer Art war.
Mehr als nur ungläubig sah Mogens sich um. Er war regelrecht schockiert. Er wusste wenig über Tom, aber was er hier sah, das wollte so gar nicht zu dem Bild passen, das er sich von dem Jungen gemacht hatte.
Das Schlimmste war der Schmutz. Es war nicht nur der Gestank, auch wenn er übel genug war und immer schlimmer zu werden schien, statt dass er sich daran gewöhnte. Er sah nicht nur Unordnung und Durcheinander, sondern auch Teller mit schimmelnden Essensresten, angebrannte Töpfe und schmutziges Besteck, und in einer Kanne eine ölig glänzende Flüssigkeit, bei deren bloßem Anblick sich saure Galle unter Mogens’ Zunge ansammelte. Er musste an den Becher denken, aus dem Graves getrunken hatte.
Ein Geräusch, das von draußen hereindrang, ließ Mogens zusammenfahren. Hastig verließ er die Hütte, zog die Tür hinter sich zu und trat mit einem raschen Schritt zur Seite und in den Schatten des Gebäudes. Nach dem, was er gerade gesehen hatte, wäre es ihm umso peinlicher gewesen, hätte Tom erfahren, dass er seine Unterkunft betreten hatte.
Zu seiner Erleichterung war es nicht Tom. Das Geräusch wiederholte sich, und diesmal war es so deutlich, dass Mogens die Richtung identifizieren konnte, aus der es kam. Aufmerksam sah er dorthin und erblickte tatsächlich einen Schatten, der geduckt davonhuschte und in den Büschen jenseits des Zeltes verschwand. Aber er war viel zu klein, um einem Menschen zu gehören.
Eher schon einer Katze.
Mogens stritt einen Moment lang mit sich selbst, aber dann löste er sich aus dem Schatten der niedrigen Blockhütte und bewegte sich in die gleiche Richtung. Er war nicht sehr optimistisch: Selbst wenn es Cleopatra gewesen war, die er gesehen hatte, standen seine Aussichten nicht sonderlich gut, die Katze auch zu finden; gar davon zu reden, sie einzufangen. Aber was hatte er zu verlieren? Seine Schuhe waren ohnehin verdorben, und vielleicht tat ihm ein wenig handfeste Ablenkung ganz gut nach dem, was er gerade erlebt hatte. Er versuchte sich an die genaue Position zu erinnern, an der der Schatten im Gebüsch verschwunden war, und beschleunigte seine Schritte.
Ein Entschluss, den er beinahe augenblicklich bereute.
Schon mit dem ersten Schritt versank er bis über die Knöchel im Schlamm. Mit einem gemurmelten Fluch zog Mogens den Fuß wieder heraus, was ihm auch mit einiger Mühe gelang, aber es gab ein saugendes Geräusch, mit dem ihm der Schuh vom Fuß gezogen wurde. Hastig ließ er sich auf die Knie fallen und grub mit beiden Händen im Schlamm, bevor der Schuh endgültig im Morast versinken konnte, schließlich besaß er nur dieses eine Paar.
Er fand seinen Schuh, drehte ihn um, um Wasser und Morast hinauslaufen zu lassen, und schlüpfte Grimassen schneidend hinein. Als er aufblickte, sah er in ein Paar gelb glühender Augen, das ihn aus den Büschen heraus anstarrte. Hätte er nicht gewusst, dass es vollkommen unmöglich war, wäre er sicher gewesen, dass ihn die Katze schadenfroh angrinste. Als er sich erhob, drehte sich Cleopatra um und verschwand raschelnd im Gebüsch.
Mogens eilte ihr nach, so schnell er konnte – was nicht sonderlich schnell war, denn er hatte keine Lust, schon wieder irgendwo einzusinken und seine Schuhe womöglich endgültig zu verlieren. Die Aussicht, Sheriff Wilson am nächsten Morgen auf Socken gegenüberzutreten, erfüllte ihn nicht unbedingt mit Begeisterung.
Es wurde besser, als er in das Unterholz eindrang. Der Boden war auch hier nass, sodass er leise, quatschende Geräusche verursachte, aber er sank wenigstens nicht mehr bei jedem Schritt ein.
Dafür peitschten ihm Äste und nasses Blattwerk ins Gesicht und zerrten an seinen Kleidern.
Mogens blieb stehen, sah sich in der nahezu vollkommenen Dunkelheit hilflos um und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Seine Aussichten, Cleopatra einzufangen, waren praktisch gleich null, aber er hatte sich immerhin davon überzeugt, dass die Katze unversehrt war und sich kein schlimmeres Vergehen zuschulden kommen ließ, als ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen. Sollte sie es tun, solange sie es konnte. Er jedenfalls sollte jetzt besser zurückgehen, bevor ihm am Ende noch ein Missgeschick zustieß, das womöglich schlimmer war als der Verlust eines Schuhs.
Gerade, als er so weit war, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen, hörte er ein Rascheln irgendwo links von sich, gefolgt von einem wütenden Fauchen und dem Geräusch brechender Zweige. Dann wieder ein Fauchen, das diesmal eindeutig ängstlich klang.
»Cleopatra?«, rief er.
Das Fauchen und die Geräusche splitternder Äste und zerbrechender Zweige hielten an, und Mogens machte einen nun hastigen Schritt in die entsprechende Richtung. Wie es sich anhörte, war Cleopatra auf einen eindeutig größeren Gegner gestoßen als auf eine Maus, und immerhin war sie über Jahre hinweg nahezu das einzige lebende Geschöpf gewesen, das ihm so etwas wie Freundschaft entgegengebracht hatte. Mogens war es sich allein deshalb schuldig, ihr beizustehen.
Aus den Geräuschen war mittlerweile eindeutig der Lärm eines Kampfes geworden. Cleopatras Fauchen steigerte sich zu einem Kreischen und Spucken, und dazu kamen helle, reißende Laute; Cleopatras Krallen schienen eindeutig etwas gefunden zu haben, das zu zerreißen sich lohnte. Aber etwas an diesen Geräuschen sagte Mogens auch, dass der Kampf nicht einseitig war; da war noch mehr als Cleopatras Fauchen und das Geräusch ihrer Krallen, die auf Widerstand trafen. Mogens glaubte etwas wie ein Knurren zu hören, ein Geräusch, so tief und vibrierend, dass er es mehr spürte, als dass seine Ohren es wahrnahmen, und das von etwas ungemein Großem und Böswilligen zu stammen schien.
Mogens hielt instinktiv einen Moment inne, schob seine Bedenken dann aber beiseite und versuchte im Gegenteil, schneller zu gehen. Cleopatra war ganz offensichtlich auf einen gleichwertigen Gegner gestoßen, vielleicht sogar auf ein Wesen, das seinerseits sie als willkommene Beute betrachtete, möglicherweise einen Dachs oder einen Berglöwen, ein Geschöpf also, das selbst einem Menschen unter bestimmten Umständen gefährlich werden konnte. Mogens vertraute jedoch darauf, dass auch ein solches Geschöpf seinen normalen Instinkten folgen und beim Anblick eines Menschen die Flucht ergreifen würde. Das Fauchen und Kreischen steigerte sich noch einmal, und dann hörte Mogens einen schrecklichen, reißenden Laut – und dann nichts mehr.
Er blieb stehen und sah sich mit hektischen, wilden Blicken um. Dunkelheit umgab ihn wie eine kompakte Mauer, die aus allen Richtungen zugleich auf ihn einstürmte und in deren Schutz noch etwas anderes herankroch, etwas Uraltes mit Krallen und schnappenden Mündern und schrecklichen, lichtlosen Augen. Sein Herz hämmerte so laut, dass es jedes andere Geräusch zu übertönen schien. Etwas kam. Etwas Riesiges, das ihn verderben würde und dem er nicht mehr entkommen konnte, ganz egal, wie schnell er lief. Der älteste und schlimmste Albtraum, in dem er rennen konnte, so schnell und so lange es nur ging, ohne seinem unsichtbaren Verfolger entkommen zu können, war Wirklichkeit geworden – einem Verfolger zudem, der ihn unweigerlich einholen musste, sobald er auch nur einen einzigen Blick in seine Richtung warf. Vielleicht hatte es einen Grund, dass so viele Menschen diesen ganz besonderen Nachtmahr kannten und fürchteten. Vielleicht war es gar kein Albtraum, sondern die vorweggenommene Erinnerung an etwas, das noch kam, die Begegnung mit den schrecklichen Wesenheiten, die auf der Schwelle zwischen Leben und Tod lauerten und jeden, der sie überschritt, in ihre Verderben bringende Umarmung schlossen.
Nur mit äußerster Willenskraft gelang es Mogens, diese bizarre Vorstellung abzuschütteln und sich wieder auf den Grund seines Hierseins zu besinnen. Die unheimliche Stille hielt noch immer an, und auch wenn Mogens den Gedanken mit aller Macht unterdrückte, so wusste er doch tief in seinem Herzen genau, dass dieses schreckliche Schweigen nur eines bedeuten konnte.
»Cleopatra?«
Selbst der Klang seiner eigenen Stimme kam ihm in diesem Moment bedrohlich vor, etwas, das in dieser Umgebung nicht sein durfte. Dennoch rief er noch zweimal den Namen der Katze, ohne dass indes auch nur die mindeste Reaktion erfolgte.
Immerhin hatten sich seine Augen weit genug an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt, um ihn erkennen zu lassen, dass die Dunkelheit nicht vollkommen war. Hier und da fand ein verirrter Lichtstrahl seinen Weg durch das Geäst und brach sich auf einem nassen Blatt oder dem feuchten Boden. Dürre Äste schlossen sich zu einem Käfig aus Schattenfingern rings um ihn, und durch das Geräusch des Windes im Blattwerk über seinem Kopf schimmerte noch etwas anderes wie ein rasselndes, schweres Atmen.
Mogens merkte, dass seine Gedanken schon wieder auf Pfade abzugleiten drohten, die nur in den Irrsinn führen konnten, und rief sich mit einer neuerlichen und noch größeren Willensanstrengung zur Ordnung. Er vollendete seine Drehung und strengte die Augen an, um die Dunkelheit irgendwie zu durchdringen, erweckte damit aber nur die Schatten und Umrisse zu neuem, unwillkommenem Leben. Er wollte noch einmal Cleopatras Namen rufen, aber eine innere Stimme hielt ihn zurück. Ganz gleich, wie nachhaltig ihm sein Verstand versicherte, dass es hier rein gar nichts gab, was er zu fürchten hatte – da war noch eine andere Stimme in ihm, und diese Stimme beharrte hartnäckig darauf, dass da vor ihm etwas war, etwas, das nicht hierher gehörte und das die Dunkelheit als Versteck nutzte. Eine von den Kreaturen, die in der Dämmerung lebten.
Mit einer fast schon trotzigen Bewegung ging er weiter. Dürre Äste streiften mit einem Gefühl wie Spinnenbeine über sein Gesicht, und das Wispern in den Baumwipfeln nahm zu. Mogens machte einen weiteren Schritt, den Blick aufmerksam zu Boden gerichtet, und nach einem weiteren Moment glaubte er tatsächlich etwas zu erkennen. Einer der Schatten am Boden vor ihm erschien ihm etwas massiger als die übrigen.
Trotz des Optimismus, den er sich selbst mit einigem Erfolg einredete, blieb Mogens in weitaus größerem Abstand stehen, als notwendig gewesen wäre, und ließ sich in die Hocke sinken, bevor er den Arm ausstreckte, um den Umriss zu berühren. Er fühlte warmes, drahtiges Fell. Es war Cleopatra. Aber sie rührte sich nicht.
Spätestens jetzt konnte er sich selbst nicht mehr darüber belügen, dass der Katze etwas Schlimmes zugestoßen sein musste, doch absurderweise war der erste Gedanke, der ihm bei dieser Erkenntnis durch den Kopf ging, die Frage, wie er diese Nachricht Miss Preussler beibringen sollte, und nicht etwa die, ob er sich womöglich selbst in Gefahr befand.
Er zögerte noch einen allerletzten Moment, dann aber ignorierte er die warnende Stimme in seinem Innern endgültig und schloss die Hand um Cleopatras Hinterläufe. Die Katze reagierte auch darauf nicht, sondern ließ sich widerstandslos von Mogens aus dem Gebüsch zerren. Ihr Körper war zwar noch warm, aber so schlaff, dass sich Mogens keiner Illusion mehr hingab, was er erblicken würde, sobald er sie ins Licht gezogen hatte. Sie kam ihm auch leichter vor, als sie sein sollte.
Möglicherweise lag das daran, dass sie keinen Kopf mehr hatte.
Mogens’ Atem stockte. Ein so eisiges Entsetzen griff nach seinem Herzen, dass er tatsächlich zu spüren glaubte, wie es zuerst einen, dann noch einen und schließlich noch einen Schlag übersprang und auch dann nur so mühevoll und schwer weiterarbeitete, als hätte sich sein Blut in zähflüssigen Teer verwandelt, den es kaum durch seine Adern zu pumpen imstande war. Von einem Entsetzen gepackt, das auf eine eigenartige Weise fast schlimmer zu sein schien als jenes, das er damals in jener schrecklichen Nacht unter dem Mausoleum empfunden hatte, saß er wie zur Salzsäule erstarrt in der Hocke da und starrte Cleopatras geschundenen Körper an, ohne wirklich zu begreifen, was er da sah. Nicht nur Cleopatras Kopf fehlte, sondern auch die rechte Schulter samt des daran befindlichen Laufs. Die schreckliche Wunde hätte heftig bluten müssen, doch zumindest in dem blassen Sternenlicht, das seinen Weg durch das Blätterdach gefunden hatte, konnte Mogens nur wenige dunkelrote Tropfen erkennen. Mogens registrierte all diese – und noch viel mehr, viel schlimmere – Details mit der kalten Sachlichkeit eines Wissenschaftlers, der gelernt hatte, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie zu werten, aber auf einer anderen, tieferen Ebene seines Bewusstseins empfand er noch immer dasselbe lähmende Entsetzen, das es ihm unmöglich machte, auch nur einen Muskel zu rühren, ja, in diesem Moment auch nur zu atmen.
Und vielleicht rettete ihm dieses Entsetzen das Leben.
Noch während er dasaß und versuchte, die eisige Umklammerung der Furcht zu sprengen, erwachte ein weiterer, massiger Schatten vor ihm zum Leben. Was er für einen Busch oder Strauch gehalten hatte, wurde zu einem struppigen, fuchsohrigen Umriss mit kolossaler Schulterbreite, der sich wie ein mythischer Gigant aus der griechischen Sagenwelt langsam vor und über ihm aufrichtete. Das Knurren erklang erneut, aber diesmal war Mogens sicher, es nicht wirklich zu hören, sondern mit jeder Faser seines Körpers zu spüren. Unheimliche, düsterrote Augen starrten aus mehr als sechs Fuß Höhe auf Mogens herab, und ein Geruch, der eine Mischung aus Blut, Verwesung und noch etwas anderem, Unangenehmerem war, schlug ihm entgegen. Das Ungeheuer starrte nicht einfach nur in seine Richtung, es sah ihn an, aus Augen, die in der Dunkelheit besser sahen als die eines Menschen im hellen Licht der Sonne, und der ekelhafte Gestank nahm noch zu, als sich das Ding vorbeugte und dabei das Maul öffnete, wobei ein ganzer Wald nadelspitzer Fang- und Reißzähne im Sternenlicht aufblitzte.
Mogens wusste mit unerschütterlicher Gewissheit, dass er nun sterben würde. Die Kreatur, die Cleopatra auf so entsetzliche Weise zugerichtet hatte, hatte auch ihn entdeckt, und es bestand kein Zweifel daran, dass die kleine Katze kaum mehr als ein Appetithappen für einen Koloss wie diesen gewesen sein konnte, so wenig wie Zweifel daran bestand, was als Nächstes geschehen musste. Mogens empfand eine leise Verwirrung über den Umstand, dass er noch immer keine wirkliche Angst hatte, zugleich aber ein absurdes Gefühl von Dankbarkeit, dass es so war. Ergeben schloss er die Augen und wartete auf den Tod.
Er kam nicht. Der reißende Schmerz, auf den er wartete, blieb aus. Das unheimliche Knurren wiederholte sich und nahm für einen Moment noch an Intensität zu, doch das Nächste, was Mogens hörte, war das scharfe Brechen von Zweigen und dann leise, tappende Schritte, die sich entfernten. Als er die Augen wieder öffnete, war der Schatten verschwunden.
Und dann geschah etwas ganz und gar Unglaubliches.
Mogens spürte, wie sich seine Finger öffneten und den toten Leib der Katze fallen ließen. Sein Herz begann zu rasen, und nur eine Sekunde später begann er am ganzen Leib zu zittern, als die Angst, die er bisher vermisst hatte, nun mit doppelter Wucht zuschlug. Kalter Schweiß erschien auf seiner Stirn, nicht allmählich, sondern so jäh wie eine Explosion, und seine Eingeweide zogen sich zu einem Ball aus reinem Schmerz zusammen, sodass er sich wie unter Krämpfen krümmte.
Und dennoch berührte ihn nichts von alledem wirklich. Mogens war zeit seines Lebens nie ein besonders mutiger Mann gewesen; zwar auch kein Feigling, aber gewiss auch niemand, der die Herausforderung suchte oder sich sogar keck in eine gefährliche Situation gestürzt hätte. Nun aber war es, als beträfe die lodernde Furcht, die er in jeder Faser seines Körpers spürte, gar nicht ihn. Mehr noch, als gäbe es da mit einem Mal zwei Mogens VanAndts, die sich unabhängig voneinander denselben Körper teilten: den einen, der sich wimmernd vor Furcht krümmte und nur deshalb nicht in Panik davonrannte, weil ihn dieselbe Panik zugleich auch lähmte, und auch noch einen anderen, vollkommen neuen Mogens, der alle Furcht abgestreift hatte. Jenseits allen Zweifels war er sich der Tatsache bewusst, derselben Kreatur ins Auge geblickt zu haben, die vor neun Jahren Janice verschleppt und sein Leben verheert hatte, aber er fürchtete es nicht mehr. Es war, als hätte ihn die sichere Gewissheit des Todes, die er gerade verspürt hatte, gleichsam eine Grenze überschreiten lassen. Er wusste nun, dass er den Tod nicht mehr zu fürchten brauchte, unbeschadet der Kreaturen, die auf der Schwelle der Wirklichkeit lauerten. Es spielte keine Rolle mehr, ob er lebte oder starb. Niemand brauchte ihn. Niemand würde ihn vermissen. Sein Leben hatte vor neun Jahren geendet, und seither hatte er allenfalls noch existiert. Er würde nicht mehr davonlaufen. Nie mehr.
Er stand auf, trat aus dem Gebüsch hervor und machte sich auf den Weg, um seinem Schicksal entgegenzutreten.