AnubisCleopatra kam nicht innerhalb der nächsten halben Stunde zurück, aber dafür begann sich der Himmel zuzuziehen. Zuerst waren es nur vereinzelte, lockere Wolken, über das Firmament verteilt wie Baumwollblüten, die dem Pflücker aus seinem Beutel gefallen waren. Aber sie blieben nicht einzeln, sondern wurden mehr, und als Mogens einmal zufällig aus dem Fenster sah, hatte er das unheimliche Gefühl, eine vage Bewegung oben am Himmel zu erkennen; als strebten die Wolken einem gemeinsamen Mittelpunkt zu, der nur ein kleines Stück abseits des Lagers war. Zwanzig Minuten nach seinem Gespräch mit Graves rollte der erste, noch entfernte Donnerschlag über den Himmel, und weitere zwanzig Minuten darauf hing eine geschlossene Decke aus kompakten, nahezu schwarzen Wolken über dem Land, und es begann zu regnen.

»Wir werden wohl auf unseren Spaziergang verzichten müssen«, sagte Miss Preussler betrübt.

Mogens antwortete nicht darauf, aber er wusste, dass sie Recht hatte. Im Moment war der Regen noch nicht mehr als ein seidiges Rauschen, das über die Fenster strich, aber der Donner hatte zugenommen, und er war auch deutlich lauter geworden. Was jetzt noch ein sanfter Frühlingsregen war, mochte sich binnen kürzester Zeit zu einem Unwetter auswachsen. Drei Meilen können ein verdammt langer Spaziergang sein, in einem Gewittersturm.

Es wurde zusehends dunkler. Das Unwetter entwickelte sich genau so, wie Mogens es vorausgesehen hatte, und bald war aus dem seidigen Streicheln des Regens das wütende Trommeln unsichtbarer Fäuste geworden, laut genug, um selbst das Grollen der Donnerschläge nahezu zu verschlucken, und aus dem Wind war ein heulender Sturm geworden, der an den Fensterläden zerrte und selbst die schwere Tür vibrieren ließ. Mogens hatte das elektrische Licht eingeschaltet und blätterte in seinen Notizen; nicht weil ihm wirklich der Sinn danach stand, zu arbeiten, sondern weil er auf diese Weise nicht mit Miss Preussler reden musste. Ihre Nähe war ihm nicht wirklich unangenehm, aber sie machte alles schrecklich kompliziert. Wäre sie nicht gewesen, hätte er sich vielleicht trotz des Unwetters auf den Weg gemacht. Irgendetwas hier hatte sich verändert, seit Hyams und die anderen fort waren. Vielleicht war es auch umgekehrt. Vielleicht waren sie gegangen, weil sich etwas verändert hatte und weil sie die Gefahr spürten, die langsam aus der Tiefe der Erde zu ihnen heraufkroch.

»Ich weiß zwar, dass es mich nichts angeht«, sagte Miss Preussler, »und dass ich es wahrscheinlich sowieso nicht begreifen werde, aber trotzdem: Worum geht es bei Ihrer Arbeit hier eigentlich?«

Mogens löste widerstrebend den Blick von seinen Notizen und drehte sich noch widerstrebender zu Miss Preussler um. Ihm war klar, dass sie nur ein wenig Konversation machen wollte, denn mit der Dunkelheit und dem Trommeln der Regenfäuste auf dem Dach hatte auch die Langeweile in die Blockhütte Einzug gehalten. Der Raum war so klein, dass selbst Miss Preussler nichts mehr zum Putzen oder Aufräumen gefunden hatte. Aber ihm war nicht nach Reden. Schon gar nicht über dieses Thema.

»Es ist sehr kompliziert, Miss Preussler«, sagte er ausweichend. »Und wir reden im Allgemeinen nicht über unsere Arbeit.«

»Weil dieser unmögliche Doktor Graves es Ihnen verboten hat«, vermutete Miss Preussler.

Mogens schüttelte den Kopf. »Nein.« Einen Moment später verbesserte er sich: »Ja.«

Miss Preussler runzelte vielsagend die Stirn, und Mogens kapitulierte innerlich und klappte die Mappe mit seinen Notizen zu, bevor er sich endgültig zu ihr umdrehte. Sie hatte ihre Konversation, aber Mogens registrierte beinahe überrascht, dass ihm dies im Grunde gar nicht so ungelegen kam. Vielleicht war der Klang einer menschlichen Stimme genau das, was er im Moment brauchte, um die Geister zu vertreiben, die zwischen den Zeilen seiner Aufzeichnungen hervorgekrochen waren und seine Gedanken vergifteten.

»Doktor Graves hat uns tatsächlich verboten, außerhalb der Grabungsstätte über unsere Arbeit zu sprechen – aber was Jonathan Graves sagt, interessiert mich nicht mehr.«

Miss Preussler schenkte ihm ein beifälliges Nicken. Sie schwieg.

»Es ist nur so, dass ich nicht darüber reden möchte«, fuhr er nach einer unbehaglichen Pause fort. Zwischen Miss Preusslers sorgsam nachgezogenen Augenbrauen entstand eine steile Falte, aber sie schwieg beharrlich weiter, sodass Mogens sich genötigt sah, zumindest noch den Versuch einer Erklärung hinzuzufügen. »Es gibt Dinge, über die sollte man nicht reden, Miss Preussler. Ich möchte nur noch möglichst schnell von hier fort und nie wieder daran denken.«

Die Falte zwischen Miss Preusslers Augenbrauen vertiefte sich, und Mogens hatte plötzlich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben – auch wenn er sich beim besten Willen nicht denken konnte, welchen. »Sie beschäftigen sich hier doch nicht etwa mit gotteslästerlichen Dingen, Professor?«, fragte sie.

»Nein!«, antwortete Mogens hastig – vielleicht eine Spur zu hastig, denn zu der steilen Falte über Miss Preusslers Nasenwurzel gesellte sich nun auch noch ein Ausdruck von mit Missbilligung gepaartem Misstrauen in ihren Augen. Und vielleicht hatte er ihr auch nicht die Wahrheit gesagt, dachte er. Da er nicht an Gott glaubte, konnte er ihn auch schwerlich lästern. Aber vielleicht kam es ja auf die Definition des Wortes Gott an.

»Sagen Sie mir die Wahrheit, Professor.« Miss Preussler hob die Hand, um ihm mit dem Zeigefinger zu drohen. »Ich habe diesem schrecklichen Menschen nie getraut, vom ersten Augenblick an nicht.«

»Es hat nichts mit Graves zu tun«, sagte Mogens. Es war ein Fehler gewesen. Aus einer harmlosen Konversation war er unversehens in eine Situation abgeglitten, sich verteidigen zu müssen. »Wir haben etwas gefunden, was … besser nicht gefunden worden wäre, Miss Preussler. Das ist alles, was ich Ihnen darüber sagen kann.«

»Manche Dinge sind vielleicht zu Recht vergessen«, sagte Miss Preussler mit einer Weisheit, die er niemals von ihr erwartet hätte. Noch viel weniger hätte er das erwartet, was sie als Nächstes sagte. »Wenn Sie es wünschen, Professor, können wir gehen. Das bisschen Regen macht mir nichts aus. Ich bin nicht aus Zucker.«

»Das würde ich Ihnen auf gar keinen Fall empfehlen.« Graves trat ein, begleitet von einem Regenschauer und einer Sturmböe, die mit einem triumphierenden Heulen hereinfauchte und sich unverzüglich auf Mogens’ Papiere stürzte, um sie in einen wirbelnden Schneesturm rechteckiger weißer Flocken zu verwandeln, drückte die Tür mit sichtlicher Mühe hinter sich ins Schloss und stampfte mehrmals und heftig mit den Füßen auf, um das Wasser abzuschütteln, das in wahren Sturzbächen an seiner schwarzen Regenjacke herablief. »Um nicht zu sagen, ich würde es nicht zulassen, meine liebe Miss Preussler.«

Er drehte sich schnaubend zu Mogens und ihr um. »Das Unwetter wird noch schlimmer, fürchte ich. Sie könnten diesen Spaziergang durchaus mit dem Leben bezahlen.«

Miss Preussler sah ihn einen Herzschlag lang vorwurfsvoll an, sagte aber nichts, sondern stand wortlos auf, um die Papiere aufzuheben, die der Wind durcheinander gefegt hatte. Auch Mogens starrte Graves an, wenn auch aus einem vollkommen anderen Grund. Graves hatte ganz eindeutig auf Miss Preusslers Vorschlag geantwortet, aber wie hatte er sie überhaupt verstehen können, auf der anderen Seite der massiven Tür und noch dazu eingehüllt in Regen und brüllenden Sturm?

»Bei diesem Wetter jagt man nicht einmal den sprichwörtlichen Hund vor die Tür.« Graves kam näher und sah stirnrunzelnd auf Miss Preussler hinab, die sich bereits in die Hocke hatte sinken lassen und darauf wartete, dass auch die letzten Blätter schaukelnd zu Boden sanken.

»Oh«, sagte er. »Das … tut mir Leid.«

Miss Preussler tat ihm nicht den Gefallen, Aber das macht doch nichts oder etwas in dieser Art zu sagen, sondern schenkte ihm nur einen kühlen Blick und fuhr fort, die heruntergefallenen Papiere einzusammeln. Graves wartete noch einen Moment auf eine Absolution, die nicht kam, dann zuckte er mit den Schultern und nahm unaufgefordert auf dem Stuhl Platz, den Miss Preussler gerade notgedrungen geräumt hatte. »Das ist noch lange nicht alles«, fuhr er mit einer Kopfbewegung zur Tür hin fort. »Da braut sich ein Sturm zusammen, wie ich ihn hier noch nicht erlebt habe. Ich hoffe, das Wetter hat sich bis morgen früh beruhigt.« Er wandte sich zu Miss Preussler um. »Tom hat die Hütte für Sie hergerichtet, die Doktor Hyams bisher bewohnt hat. Ich dachte mir, dass Sie lieber in einem Bett schlafen, in dem auch bisher eine Frau gelegen hat.«

Miss Preussler reagierte auch darauf nicht, aber Mogens, der ihr Gesicht zumindest im Profil sah, konnte ein flüchtiges Gefühl von Zufriedenheit nicht ganz verleugnen. Graves hatte weitere Minuspunkte bei ihr gesammelt; einfach, indem er die Worte Frau und Bett zusammen in einem Satz verwendet hatte.

»Aber es bleibt doch bei unserer Verabredung zum Abendessen?«, fuhr Graves fort.

»Ich bin nicht besonders hungrig.« Miss Preussler richtete sich auf die Knie hoch und stampfte den ersten Stapel Papier auf die Tischplatte vor Mogens. »Und es wäre mir auch peinlich, wenn Sie sich meinetwegen eigens so viel Mühe machen würden.«

»Aber ich bitte Sie!« Graves winkte mit beiden Händen ab. »So selten, wie wir hier Besuch haben, ist es mir ein Vergnügen. Außerdem«, fügte er mit einem angedeuteten Lächeln hinzu, »bereitet es mir keine Mühe. Allenfalls die, Tom ein paar zusätzliche Anweisungen zu geben. Er ist ein ausgezeichneter Koch, Sie werden sehen.«

Miss Preussler würdigte ihn auch jetzt noch keiner Antwort, aber sie unterbrach ihre Arbeit für einen kurzen Moment, um einen Blick in die Runde zu werfen, der dafür umso beredter war. Vielleicht überlegte sie, ob Toms Fähigkeiten als Koch wohl ebenso zu wünschen übrig ließen wie die als Haushälter.

»Also gut.« Graves stand auf und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über die Entwicklung, die dieses Gespräch genommen hatte. Anscheinend war er mit einer bestimmten Absicht hierher gekommen, die er nun offensichtlich nicht mehr verwirklichen zu können glaubte. »Dann werde ich mal wieder nach dem Rechten sehen. Es bleibt dann dabei: in zwei Stunden drüben in meiner Hütte.« Er machte ein paar Schritte in Richtung Tür und blieb dann wieder stehen, um sich noch einmal zu Miss Preussler umzudrehen.

»Ach, Miss Preussler – machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Katze. Sie hat sich vor dem Unwetter in Sicherheit gebracht. Tom kümmert sich um sie.«

»Cleopatra ist bei Ihnen?«, fragte Miss Preussler zweifelnd.

»Ich fürchte, Ihre vierbeinige Freundin hat mich nicht unbedingt in ihr Herz geschlossen«, bekannte Graves mit einem verlegenen Lächeln. »Dafür scheint sie einen um so größeren Narren an Tom gefressen zu haben. Ich gebe ihm Bescheid, dass er sie zum Essen mitbringt.«