31
Lord Senedai erwachte und roch klamme Feuchtigkeit, den Rauch der Lagerfeuer und das kochende Fleisch. Die Schamanen sangen mit den Kriegern, riefen die Geister und die alten Kriegsherren an, ihnen an diesem Tag zur Seite zu stehen.
Er rollte sich auf der niedrigen Pritsche herum und blickte zum leise flatternden Dach seines Zeltes hinauf. Er lauschte seinen Männern, hörte das Flüstern des Windes im Lager und seufzte schwer und gedehnt, bevor er sich aufrichtete und sich mit einer Hand übers Gesicht und durch das verfilzte Haar fuhr.
»Adjutant!«, rief er. Sofort wurde die Zeltplane am Eingang zurückgezogen, und ein großer junger Krieger, fast noch ein Jüngling, trat ein. Unter dem knappen, ärmellosen Hemd spannten sich kräftige Muskeln, und sein Haar war sehr kurz geschnitten, wie es seinem Rang entsprach.
»Mein Lord?«
»Meine Felle für die Schlacht und mein Frühstück«, befahl Senedai.
»Mein Lord.« Eine knappe Verbeugung, und er ging hinaus.
Senedai quälte sich mühsam aus dem Bett, ging ein wenig steifbeinig zum Eingang und öffnete ihn einen Spalt. Draußen war es noch stockdunkel, Nieselregen fiel vom bewölkten Himmel. Hier und dort waren Kochfeuer im Lager zu sehen. Er verzog missmutig das Gesicht und kehrte in sein geringfügig wärmeres Zelt zurück.
»So viel zu den Geistern, die uns gewogen sein sollen«, murmelte er. Ein regennasses Schlachtfeld, das fehlte gerade noch. Auch Blut machte den Boden glitschig, aber wenn es regnete, fand man gleich von Anfang an keinen sicheren Stand, und er hatte trotz ihrer überwältigenden zahlenmäßigen Überlegenheit den Eindruck, dass sie unbedingt darauf achten sollten, alle nur denkbaren Vorteile auf ihrer Seite zu haben.
In seiner schlaflosen Nacht hatte er sich alle Möglichkeiten überlegt und die Tatsache verwünscht, dass seine Katapulte noch in Julatsa standen, wo sie auf die Verlegung nach Dordover warteten. Er konnte versuchen, den Gegner einfach zu überrennen und ihn mit der schieren Überzahl seiner Krieger zu erdrücken, doch einen solchen Angriff hätte er persönlich anführen müssen, und er hatte einfach keine Lust, an diesem Tag zu sterben.
Er aß, kleidete sich rasch an und ging nach draußen. Allmählich wurde es hell. Ein Krieger kam und drückte ihm eine ungeöffnete Botschaft in die Hand.
»Wer hat die Botschaft gebracht?«
»Ein schneller Reiter von Understone, mein Lord. Er ist eingetroffen, kurz bevor Ihr erwacht seid.«
Tessaya hatte eine Nachricht geschickt. Ausgezeichnet. Senedai wandte sich ab und brach auf dem Weg zum nächsten Kochfeuer, wo er genug Licht hatte, um die Nachricht zu lesen, das Siegel. Er drängte sich zwischen Kriegern hindurch, die ihre Waffen schärften, mit Fellmänteln hantierten, Schläge trainierten oder einfach nur redeten.
Überall waren die Geräusche des erwachenden Lagers zu hören. Hunde knurrten und bellten, Befehle wurden gerufen, Lagerfeuer knisterten und knackten, Zeltplanen knatterten. Wer ihn sah, nahm Haltung an, und überall war Gesang zu hören. Es war schwer, nicht zuversichtlich zu sein. Die Feinde waren eingekesselt, und selbst dem ungeübten Auge konnte nicht entgehen, dass sie viel zu wenige waren.
Doch Senedai wurde von tiefen Zweifeln geplagt, und als er die Botschaft von Tessaya las, fanden seine Ängste neue Nahrung. Er hatte gehofft, seinen Lord bald über die Felder anrücken zu sehen, um noch an diesem Morgen gemeinsam mit ihm den Sieg zu erringen. Doch die Pläne hatten sich geändert. Tessaya hatte von Taomis restlichen Streitkräften die Nachricht bekommen, dass eine große Streitmacht von Süden her anrückte. Tessaya wollte sich mit Taomis Truppen zusammentun und den Feind vernichten. Dann würden sie auf der Hauptstraße nach Korina marschieren, während die Verstärkungseinheiten die Besatzungstruppen in Julatsa ergänzten.
Der Sieg war sicher, hieß es am Ende der Botschaft. Die Geister lächelten auf sie herab, und die feindlichen Götter würden ihren Gegnern ihre Gunst entziehen. In dieser Hinsicht war Tessaya völlig sicher.
Aber Tessaya wusste nicht, was Senedai vor sich hatte. Und als die Sonne den Himmel erhellte und ihm abermals die maskierten Kämpfer zeigte, die stocksteif vor den Ruinen standen, immer noch so, wie sie bei Einbruch der Nacht gestanden hatten, da verzagte der Lord der Wesmen innerlich und betete, dass ihm eine Lösung offenbart werde, die ihm die Schmach einer Niederlage ersparte.
Hinter ihm bellte ein Hund, ein barscher Ruf brachte ihn zum Schweigen. Ja, dort war ein Teil der Antwort. Er warf die Botschaft ins Feuer und rief seine Hauptleute, um seine Befehle für den Kampf zu geben.
Am Spätnachmittag saß General Darrick mit Blackthorne, Gresse und einem müden Kommunionsmagier an einem eilig aufgebauten Kartentisch. Die Wesmen hatten Halt gemacht und sich verschanzt. Die Späher berichteten, dass Tessaya und die Reste der Streitkräfte aus dem Süden miteinander Verbindung aufgenommen hatten.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Gresse. Er hatte gerade den Bericht des Magiers gehört, und jetzt sahen er und Blackthorne den General verständnislos an.
»Also, es sind einige Dinge geschehen, von denen Ihr nichts wisst. Es tut mir Leid, dass ich es Euch noch nicht gesagt habe, und wir hatten ja mit den Wesmen sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen.«
»Was meint Ihr?«, fragte Gresse.
»Es mag unglaublich klingen, aber es ist die reine Wahrheit, ich schwöre es«, sagte der General. Er sah sich um und vergewisserte sich, dass niemand lauschte. »Es gibt … am Himmel über Parve ist ein Loch. Es wächst, und wenn sein Schatten zur Mittagsstunde die ganze Stadt bedeckt, dann werden Drachen eindringen. Fragt mich nicht wie oder warum, aber es wird geschehen. Der Rabe und Styliann sind unterwegs, um einen Weg zu finden, das Loch zu schließen. Er ist nach Xetesk gereist, sie nach Julatsa. Ich konnte nur beten, dass sie es schaffen, und wie es scheint, sind sie angekommen. Aber jetzt bringen die Wesmen sich sogar selbst in Gefahr, und so lächerlich es klingen mag, wir müssen sie davon abhalten.«
»Warum haben die Wesmen sie überhaupt gehetzt? Ich meine, wir reden hier über mehr als zehntausend, die sechs Leute jagen.«
»Das stimmt, aber sie glauben, der Rabe werde mit einer Drachenarmee zurückkehren. Das stimmt natürlich nicht, doch sie fürchten es, und man wird sie kaum davon abbringen können«, berichtete Darrick. »Und außerdem«, fuhr er fort, »erklärt dies auch, warum Tessaya sich in Bewegung gesetzt hat. Seht her.« Er deutete auf die Karte. »Tessaya wollte eigentlich nach Korina marschieren, sobald sein südliches Teilheer Gyernath und die nördlichen Abteilungen Julatsa eingenommen hatten. Sein Plan war, die stärksten Kollegien, Xetesk und Dordover, vom Nachschub abzuschneiden. Lystern konnte er auch später noch erledigen. Er hat tausende von Männern in Reserve, um beide Städte und den Pass zu verteidigen, und deshalb ist er gelassen. Er weiß auch, oder er glaubt zu wissen, dass es im Osten keine koordinierte Verteidigung gibt, und obwohl Dawnthief die Wytchlords und seine eigene Magie ausgeschaltet hat, glaubt er immer noch, er könne ganz Balaia erobern. Deshalb wollte er möglichst schnell Korina einnehmen, um den wichtigsten Nachschubweg von Westen nach Osten zu unterbrechen und außerdem die Moral von Balaia zu untergraben.
Aber es ging nicht wie geplant. Zunächst einmal hat Gyernath den Angriff überstanden, und die Stadt hat überlebt. Zweitens habt Ihr mit Eurer bunten Truppe von Bauernjungen« – trotz der Ironie war die Bemerkung mit großer Achtung und großem Respekt unterlegt – »den Rest seiner südlichen Streitmacht in Stücke gehauen, was ihm erst vor kurzem bewusst geworden ist. Als Nächstes ist dann der Rabe wieder im Osten aufgetaucht, ebenso Styliann und ich selbst. Der Rabe ist aus einer belagerten Stadt ausgebrochen, und wahrscheinlich haben die Wesmen durch Folterungen in Julatsa einige Dinge erfahren, auch wenn sie größtenteils wohl nicht zutreffen dürften.
Tessaya weiß, dass er schnell handeln muss, und deshalb zerstört er unterwegs alles, was ihm begegnet. Er weiß auch, dass wir den Pass derzeit nicht zurückerobern können, und wir haben mit dem Nachschub noch viel größere Schwierigkeiten als er. Deshalb hat er Understone zerstört. Er ist jetzt direkt nach Korina unterwegs, aber er will uns nicht an Septerns Haus vorbeiführen, und er will auch verhindern, dass wir seine zweite Armee – die übrigens ebenfalls nach Korina unterwegs ist – aufreiben, ehe sie den Raben findet und tötet. Wenn ich so abergläubisch wäre wie die Wesmen, würde ich es nicht anders machen. Der Rabe hat ganz allein schon einige scheinbar unbesiegbare Kräfte vernichtet, und ich bin sicher, dass sie es wieder tun können. Also darf man kein Risiko eingehen.«
»Dann will er gegen uns kämpfen, damit wir Senedai nicht erreichen?«, fragte Gresse skeptisch.
»Das ist ein Grund, aber außerdem ist es für ihn besser, wenn er hier gegen uns kämpft, nicht dicht vor Korina, wo wir, wie er abermals irrigerweise glaubt, beträchtliche Unterstützung bekämen. Vielleicht fürchtet er sogar, wir könnten ihn dort besiegen.« Darricks Herz raste, und er konnte sehen, wie sich in den Köpfen der Barone alle Hinweise von selbst zu einem Gesamtbild zusammensetzten.
»Aber das ist alles bedeutungslos, wenn Senedai den Raben tötet«, sagte Blackthorne. »Denn wenn Ihr mit diesen Drachen Recht habt …«
»… dann haben wir alle, ob Wesmen oder Balaianer, nur eine Chance, wenn wir Senedai aufhalten«, beendete Darrick den Satz.
»Und Tessaya wird uns nicht glauben«, ergänzte Gresse. »Bei den fallenden Göttern, ich bin nicht einmal sicher, ob ich selbst uns glauben würde.«
»Nehmen wir mal an, das trifft alles zu. Wie lange können die Protektoren die Stellung halten? Lange genug, damit der Rabe seine Aufgabe vollenden kann? Lange genug, damit wir Tessaya umgehen und Senedai angreifen können?« , fragte Blackthorne.
Darrick schüttelte den Kopf. »Was den Raben angeht, so kann ich nichts weiter sagen. Ich weiß nur, dass wir Tessaya nicht umgehen können. Nicht, wenn er eine so große Armee hat. Er hat Späher ausgeschickt und lässt uns beobachten.«
»Dann werden wir gegen ihn kämpfen?« Gresse schien nicht gerade unangenehm berührt, als er diesen Gedanken aussprach.
»Der Kampf würde uns mindestens zwei Tage aufhalten, auch wenn wir siegen. Nein.« Er lächelte selbst über das, was er sagen wollte. »Wir haben nur eine Möglichkeit, und so unglaublich es auch klingen mag, wir brauchen seine Hilfe.«
»Wie soll das gehen?«, fragte Blackthorne, doch Darrick sah ihm an, dass er die Antwort schon kannte und mit sich rang, weil von ihm verlangt wurde, ebenso wie Darrick seine Rachegelüste vorübergehend zur Seite zu schieben.
»Wir marschieren direkt auf ihn los, so schnell wir können, wir versuchen, so stark wie möglich auszusehen, und dann überzeugen wir ihn, eine Botschaft an Senedai zu schicken.«
Hirad hatte gewusst, dass es schön war. Das hatte ihm schon sein Gefühl gesagt, als Sha-Kaan darüber gesprochen hatte, doch die Realität übertraf seine Vorstellungen bei weitem. Sie waren einen mehrere hundert Fuß hohen, steilen Hang voller Felsblöcke hinaufgestiegen. Die orangefarbene Sonne loderte am blauen Himmel, an dem seit ihrer Ankunft in der Dimension der Drachen kein Wölkchen zu sehen gewesen war.
Der Rest ihrer Reise war ein nervenaufreibender Eilmarsch über die von Bränden verwüstete Ebene gewesen. Die Überlebenden hatten sich eine Marschstunde von der Stelle entfernt gesammelt, wo der Drache der Veret sie angegriffen hatte. Die Rabenkrieger waren, von ein paar Kratzern abgesehen, unverletzt. Von den sechs Protektoren, die durch den Riss gekommen waren, lebten nur noch Cil und zwei weitere, und Jatha hatte sieben seiner Leute verloren.
Styliann hatte nichts darüber erzählt, wie er seine Protektoren hatte sterben sehen, doch als ein Kaan auf dem Rückweg ins Brutland über ihnen vorbeiflog, zuckte er zusammen, und mehr brauchte Hirad nicht zu wissen. Der Meister aus Xetesk war bleich und sichtlich erschüttert, und zum ersten Mal, seit er ihn kannte, empfand Hirad ein wenig Mitgefühl für ihn.
Die Kaan hatten die Schlacht am Himmel mit knapper Not gewonnen. Hirad hatte Sha-Kaans Kummer gespürt, als dieser darüber gesprochen hatte, wie sie ihren Angriff auf eine andere Brut, die Veret, konzentriert hatten. Die Kaan hatten sie vertrieben und ihren Kampfgeist gebrochen und damit auch das noch frische Bündnis zwischen den Bruten geschwächt. Schließlich war er auch von seiner vorherigen Einschätzung abgerückt und hatte vier Kaan eingeteilt, die den Raben unterwegs beschützen sollten, auch wenn dies unweigerlich die Aufmerksamkeit der feindlichen Bruten erregte.
So waren sie gewandert, niedergeschlagen nach ihren Erfahrungen und im Bewusstsein der schrecklichen Zerstörungskräfte, die schon ein einziger Drache entfesseln konnte. Besonders deutlich wurde dies, als sie nach einer weiteren Tagesreise die Ebene verließen und in die Vorberge des Gebirges gelangten, das sie vom toten Wald aus gesehen hatten. Wenn sie zurückschauten, konnten sie die Narben und die offenen Wunden im Land erkennen, die wahrscheinlich nie mehr verheilen würden.
Auf der Ebene schimmerte das Gras nicht mehr hellblau und rot. Unter einer riesigen, wabernden Wolke aus Rauch und Asche loderte es gelb und orangefarben, die Brände verzehrten die erstaunliche Vegetation und fraßen sich erbarmungslos und unersättlich weiter. Wo das Gras abgebrannt war, lag das Land schwarz und verkohlt, freigelegt bis auf die Wurzeln und noch tiefer. Die Pflanzen waren widerstandsfähig und würden wieder ausschlagen, aber das machte den Anblick nicht weniger schrecklich.
»Nur ein Drache«, hatte der Unbekannte gesagt, als sie wie gebannt und stumm den Rauch und die Flammen betrachteten. »Ein einziger nur.« Seine Worte trieben sie zu größerer Eile an.
Jetzt hielt sich der Rabe, wie es sich für den Drachenmann des Großen Kaan und seine Freunde gehörte, ein wenig abseits von den Dienern und blickte zum ersten Mal auf das Brutland der Kaan hinab. Die Bergflanke, die sie hinaufgestiegen waren, lief in eine zerklüftete Hochfläche aus. Ein Vorsprung bot einen guten Ausblick über das Brutland, und nun standen sie dort auf dem überhängenden Fels. Unter ihnen verlor sich die Wand im Dunst. Sie waren in einer anderen Welt.
Links und rechts erstreckte sich vor ihnen ein weites, üppig bewachsenes Tal, dessen Wände gerade eben noch durch den Nebel zu erkennen waren. Dicke Blätter, die an gewaltigen, nur schemenhaft zu erkennenden Ästen saßen, nickten leise. Hirad konnte sich kaum vorstellen, wie mächtig die Stämme waren, die solche Äste trugen. Auf der Oberfläche der Nebelbänke, die ständig in Bewegung waren, spielten orangefarbene Sonnenstrahlen, die hier und dort einen Weg durch die bleichen Dunstschwaden fanden. Hohe Gipfel mit weißen Kappen, die das dunkle Tal umringten, vervollständigten die Idylle.
Hirad sah jedoch mehr als nur die Schönheit der Landschaft. Am Himmel über dem Blätterdach flogen und tanzten die Kaan, bewegten sich mit langsamen Flügelschlägen oder glitten schwerelos dahin, kreisten anmutig oder tauchten mit angelegten Flügeln zwischen die Bäume. Ihre Körper schimmerten golden im orangefarbenen Licht der Sonne, und wenn sie in der Luft wendeten und im Dunst verschwanden, zogen sie Wirbelschleppen aus Nebel hinter sich her.
Und sie riefen. Sie hießen einander willkommen oder nahmen Abschied, ihre Rufe kündeten von Trauer oder Liebe und von unendlicher Hingabe. Hingabe an die Brut und füreinander und für ihr Heim. Die Rufe waren heiser und kehlig, oder es waren gespenstische Schreie, die hohl zwischen den Talwänden hallten. Sie berührten Hirads Herz und erfüllten alle seine Sinne, sie gaben ihm das Gefühl, daheim zu sein und erzählten von einem sinnlosen Krieg, der jeden Tag neue Kaan für immer vom Himmel holte.
Hirad wurden die Beine schwach. Er hockte sich hin, ein Bein untergeschlagen, und stützte sich mit der rechten Hand ab, um sich vorzubeugen und sich umzusehen. So hätte er den ganzen Tag hocken mögen, um die überwältigende Schönheit der Kaan und ihres Brutlandes in sich aufzunehmen. Als jemand ihm eine Hand auf die Schulter legte, schaute er auf. Es war Ilkar.
»Kann man das glauben?«, fragte Hirad. Er deutete auf die Ehrfurcht gebietende Aussicht, die sich ihnen erschloss, und wollte den Blick nicht mehr von den Kaan, von den Bäumen und von dem Nebel über ihrem Tal abwenden. Ein warmer Wind wehte ihm ins Gesicht.
»Und wenn ich fünfhundert Jahre alt werde, dies wird meine letzte Erinnerung sein, wenn ich sterbe«, sagte der Elf, der von der Großartigkeit der Landschaft nicht minder beeindruckt war als Hirad.
»Vergesst Balaia. Die Leute dort reiben sich im Alltagsleben und mit ihren Alltagssogen auf. Das hier ist es, was wir eigentlich retten wollen. Und das hier ist der Grund dafür, dass wir nicht versagen dürfen.« Hirad stand auf und wischte sich die feuchten Augen. Links von ihm blickte Jatha mit einem beinahe ergriffenen Ausdruck hinunter.
»Heimat«, sagte er.
»Seht ihr, was es für sie bedeutet? Er muss es hundertmal gesehen haben, aber jetzt schaut ihn euch an.«
Ilkar nickte. »Wir alle wollen Erfolg haben, Hirad, und deine Gründe sind wahrscheinlich sogar überzeugender als alle anderen, aber ich glaube, wir müssen in Bezug auf unsere Chancen realistisch sein.«
»Erkläre es mir auf dem Weg nach unten. Ich glaube, Jatha will schnell ankommen, und das will ich auch.«
Jatha führte sie zu einer Treppe, die aus dem Stein des Bergs geschnitten war. Sie war steil und mit Moos bewachsen und führte unter dem Überhang durch; sie wand sich durch Felsspalten, hinter Wasserfällen entlang und um gewaltige Baumstämme, deren Blätter den Dunst unten festhielten und immer dichtere Wolken entstehen ließen, je tiefer sie kamen.
Als sie durch die tanzenden Wolken mit den orangefarbenen Streifen abstiegen, wurde es wärmer und feuchter; sie konnten nicht mehr viel sehen, die Stufen waren feucht und glitschig, und man musste vorsichtig gehen. Jatha und seine Männer stiegen geübt und gewandt nach unten, doch Jatha rief immer wieder »Vorsicht!« durch den Nebel nach oben.
Die Balaianer kamen nicht ganz so leicht voran. Sie stützten sich am Fels ab, über den das Wasser lief, der häufig auch mit einer dünnen, schmierigen Schicht bedeckt war, und hielten sich tunlichst fern von der äußeren Kante.
Hirad ging hinter Ilkar. Er war entschlossen, keine Fragen zu stellen, bis sie aus dem Nebel heraus waren, doch als sie endlich angekommen waren, dauert es lange, bis er etwas sagen konnte. Im Verlauf von einigen wenigen Schritten waren sie unter dem Blätterdach aus dem Nebel herausgekommen und konnten endlich das Brutland der Kaan sehen.
Unter dem Nebel, der ein weiches, warmes Licht auf das Land warf, erstreckte sich eine weite Ebene mit Felsen, Gras und einem Fluss. Friedlich lag das Brutland vor ihnen und bot dem Auge einen lieblichen Anblick. Der Fluss, der sich mitten durchs Tal schlängelte, funkelte blau, und das Rauschen der Wasserfälle war in der stillen, feuchten Luft weit zu hören. Mindestens ein Dutzend Kaskaden, die den Fluss speisten, konnte Hirad zählen. Das Gras wuchs saftig und dunkelgrün und hatte rote und blaue Spitzen wie in der Ebene. Der Wechsel zwischen abgemähten und hüfthohen Wiesen zeigte, dass das Gras kultiviert und geerntet wurde.
Am Rand des Tals standen einige verstreute Gebäude, manche niedrig und gedrungen und halb unterirdisch gebaut, andere in Nischen der Felswände geschmiegt. Sie schienen nach praktischen Gesichtspunkten konstruiert zu sein. Ein wundervolles Bauwerk hob sich im Brutland allerdings von allen anderen ab. Der polierte weiße Stein schimmerte im indirekten Licht, die Kuppel und die Türme reckten sich dem Himmel entgegen und wirkten immer noch winzig vor den wundervoll gearbeiteten Schwingen, deren Spitzen sich oben im Dunst beinahe berührten. Wingspread war ein atemberaubendes Monument. Sha-Kaans in Stein gemeißeltes Gesicht überblickte sein Reich, die Augen forschten wachsam nach Gefahren. So etwas gab es nicht in Balaia, und trotz aller Magie würde es so etwas niemals geben. Dieses Bauwerk war aus Achtung und Verehrung für einen Anführer der Kaan und ihre Vestare entstanden. Die Inbrunst, die hier so freimütig geteilt wurde, war für die Völker der anderen Dimension nicht nachvollziehbar.
Die Balaianer waren unwillkürlich stehen geblieben, um den Anblick in sich aufzunehmen. Hirad warf einen Blick zu Denser, dem die Ehrfurcht deutlich anzumerken war. Erienne sah sich verzückt um, und ihr Lächeln hatte ebenso viel mit der Atmosphäre von Geborgenheit wie mit dem Anblick zu tun. Hirad hatte das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Er schloss die Augen und ließ sich von den Gefühlen der Kaan einhüllen. Er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper, als sein Geist von den Gedanken erfüllt war, die Sha-Kaan ihm sandte.
»Versprecht es mir: Wir werden nicht zulassen, dass dies hier zerstört wird«, sagte er schließlich.
»Wir werden es retten – oder beim Versuch sterben.« Hirad sah Ilkar an. Die Entschlossenheit, die den Elf seit zehn Jahren an den Raben band, war unvermindert stark.
»Nun, ich habe nicht die Absicht zu sterben«, sagte Hirad. »Aber jetzt erklärt mir, wie unsere Chancen stehen.« Er winkte ihnen, Jatha und seinen Männern zu folgen, die inzwischen das Ende der Treppe erreicht hatten und über eine Wiese liefen. Als sie sich dem Fluss näherten, den man mit Trittsteinen überqueren konnte, begannen sie sogar zu rennen.
Willkommensrufe hallten durch das Brutland, und aus einem Dutzend kleinen, mit Stroh gedeckten Steinhäusern, die dicht am Fluss in einem Dorf beisammen standen, kamen die Vestare gerannt. Kinder quietschten vor Vergnügen, Männer und Frauen rannten durchs hoch spritzende flache Wasser, um diejenigen zu begrüßen und zu umarmen, die so lange nicht in dieser Zuflucht gewesen waren.
Gelächter war zu hören, aber auch das Weinen derjenigen, die erfuhren, dass ihre Männer nicht überlebt hatten. Die gelöste Stimmung verflog, und bald waren sie wieder still. Alle Gesichter waren jetzt zum Raben gewandt, der mit Styliann und den Protektoren zum Fluss kam und über die Steine lief, über die Jatha gerade vorher noch fröhlich gesprungen war.
»Willkommen, Rabe«, sagte er. »Hirad, Heim.«
»Heim«, stimmte Hirad zu. Er deutete zu Wingspread. »Sha-Kaan?«
Jatha schüttelte den Kopf. »Warte«, sagte er. Dann lächelte er. »Essen? Trinken.« Er klatschte in die Hände, und einige Vestare eilten davon und verschwanden in den Häusern. Er setzte sich auf das kurz geschnittene Gras und winkte seinen Gästen, seinem Beispiel zu folgen. Früchte und Streifen von getrocknetem Fleisch wurden auf Tellern gebracht, andere Helfer schleppten Krüge mit Wasser und Saft und hölzerne, geschnitzte Tassen herbei, aus denen sie trinken konnten. Irgendwo in der Nähe spielten zwei Flöten.
Es war eine idyllische Szene und eine friedliche Atmosphäre, doch Hirad konnte nicht vergessen, wo sie waren. Eine Hand voll Drachen lag etwas weiter entfernt auf dem Boden. Die riesigen Körper ruhten teilweise im Fluss oder auf flachen Steinen, ihre Köpfe pendelten auf den langen Hälsen gemächlich hin und her und rupften Flammengras aus oder schnappten sich die Tiere, die ihnen von den Vestaren gebracht wurden. Sie hatten die Ankunft der Fremden völlig ignoriert. Die meisten Kaan, so nahm er an, patrouillierten jetzt wohl am Riss oder lagen verletzt in den Fusionskorridoren, und nur wenige tummelten sich im Brutland am Himmel. Sha-Kaan war gewiss in Wingspread, und Hirad fand es seltsam, dass der Große Kaan nicht kam, um sie zu begrüßen. Aber wie immer hatte er wohl seine Gründe.
»Hirad«, sagte Ilkar, »bevor du nun mit Sha-Kaan sprichst …«
»Richtig, unsere Erfolgsaussichten«, sagte Hirad.
»Oder der Mangel daran«, sagte Ilkar. »Widersprich mir nicht, ich bin nur realistisch. Du sollst genau erfahren, was wir bis jetzt erreicht haben.«
Hirad riss ein Stück Fleisch mit den Zähnen ab und spülte es mit dem hellgrünen, süßen Fruchtsaft hinunter.
»Du wirst mir jetzt vermutlich nichts Gutes berichten, was?«
»Ganz so schlimm ist es nicht«, sagte Ilkar. »Es gibt allerdings viele unbekannte Größen, und wir können in vielen Fällen nur Vermutungen anstellen. Aber lass mich von vorne anfangen. Unbekannter, du willst dir das vielleicht auch anhören.«
»Ich höre zu«, sagte er. »Thraun?« Der Gestaltwandler rückte etwas näher an Ilkar heran. Er hatte eine Tasse in der Hand, doch gegessen hatte er noch nichts.
»Die Theorie ist recht einfach, aber ohne festgelegte Kenngrößen können wir nur raten, wie stark der Spruch sein muss, den wir wirken wollen. Wir wissen, worum es geht, aber es bleibt ein Ratespiel. Wir müssen ein Gitternetz aus Mana unter dem Riss aufbauen, das sich mit den Kanten des Risses verbindet. Wir vier sind zusammen stark genug, um es zu tun, und wir haben das Wissen aus Septerns Aufzeichnungen, die sich darum drehen, Risse zu begrenzen und zu bändigen.«
»Ihr wollt also eine Begrenzung um diesen Riss ziehen«, sagte der Unbekannte.
»Genau«, stimmte Ilkar zu. »Und dann müssen wir die Umrandung zusammenziehen. Das wäre an sich relativ leicht, wenn wir uns nur um ein Ende kümmern müssten. Aber so ist es nicht. Wir haben hier einen Korridor und einen zweiten Ausgang, der ebenso groß ist. Hast du das bis hierhin verstanden, Hirad?«
»Wenn ich irgendetwas nicht verstehe, werde ich den Unbekannten bitten, es mir zu erklären, sobald ihr weg seid«, sagte er.
»Wohin sollten wir gehen?«, fragte Ilkar.
»Irgendwohin, wo ihr nicht mehr hört, wie ich mich darüber beklage, dass ihr alles so kompliziert macht.« Hirad lächelte, als Ilkars Ohren zuckten.
»Na gut«, sagte der Elfenmagier. »Um jetzt wieder für einen Augenblick in die Realität zurückzukehren: Wir wissen, dass Septern seine Dimensionskorridore nach Belieben geöffnet und geschlossen hat, und es gibt eine Theorie, die sich darum dreht, ein Loch im interdimensionalen Raum wieder zu verschließen, indem man es gewissermaßen vernäht, wie man ein Stück Tuch webt. Wir glauben, dass wir etwas aufbauen müssen, das man mit einem Weberschiffchen vergleichen könnte. Es wird an unserem Ende des Risses mit der Umhüllung verbunden, die wir um den Riss legen, dann fliegt es durch den Korridor, schlägt durch die Seitenwände und kommt am anderen Ende wieder heraus. So werden die Seiten buchstäblich zusammengezogen, und wir schließen den Riss und den Korridor an beiden Enden.«
»Ist es möglich?« Der Unbekannte nahm eine Frucht von einem Teller, der ihm angeboten wurde, und bedankte sich bei der Frau, die ihn bedient hatte, mit einem Lächeln. »Ich muss schon sagen, Ilkar, das klingt alles ganz schön verrückt.«
Ilkar seufzte. »Das ist es auch. Hör mal, wir wissen noch nicht, ob wir es tun können. Die Theorie der Überlieferung steckt in Septerns Texten. Styliann und Denser versuchen, das mit irgendeiner xeteskianischen Dimensionstheorie in Verbindung zu bringen, und dann haben wir hoffentlich einen Spruch, mit dem wir das Tor schließen können.«
»Aber die Sache mit dem Weberschiffchen ist schwierig, oder?«, sagte Hirad.
»Genau«, stimmte Ilkar zu. »Es ist auf jeden Fall eine Erweiterung des Mana-Gitters, das wir bauen, um den Riss auf dieser Seite einzuhüllen, aber im Augenblick können wir nur herumraten, und das ist sehr gefährlich.«
»Ich will dich nicht zusätzlich beunruhigen«, sagte Hirad, »aber wir haben keine Zeit mehr, noch irgendetwas anderes zu versuchen. Wir müssen diesen Spruch morgen wirken, denn sonst ist es zu spät für die Kaan, und du weißt, was das für Balaia bedeutet.«
»Das ist mir bewusst, Hirad. Aber wir haben von Anfang an gesagt, dass es schwierig wird.« Ilkar kniff die Augen zusammen, und seine Ohren liefen rot an. »Es ist nicht so einfach, einen neuen Spruch zu entwickeln.«
Der Unbekannte bat mit erhobener Hand um Ruhe. »Und das Keifen wird uns auch nicht helfen. Übersehe ich etwas? Warum ist es nicht möglich, dieses Gitter zu wirken und den Riss auf dieser Seite zu verschließen, und dann nach Balaia zurückzukehren und das Gleiche in Parve zu tun?«
Ilkar zog die Augenbrauen hoch. »Das ist eine nette Idee, aber wir mussten sie verwerfen. Selbst wenn wir annehmen, wir könnten es von Septerns Haus bis zurück nach Parve schaffen, würde es nicht funktionieren. Die Energie im interdimensionalen Raum ist zu groß. Du darfst nicht vergessen, dass der Korridor immer noch da wäre, nur eben ohne zweiten Ausgang. Wir müssen auch den Korridor verschließen, sonst bleibt das Gitter instabil und würde nicht lange genug bestehen, dass wir Parve rechtzeitig erreichen könnten. Deshalb sind wir hierher gekommen. Wir müssen den Riss entgegen dem Energiefluss schließen, mit dem er entstanden ist.«
»Dann fasse doch mal unsere Chancen mit Worten zusammen, die ich verstehen kann«, sagte Hirad. Sein Teller war noch voll, doch sein Appetit ließ rasch nach.
»Wenn Denser und Styliann in der xeteskianischen Dimensionstheorie nichts finden, dann haben wir praktisch keine Chance, weil wir nicht wissen, welche Kräfte hinter dem Riss wirken. Wenn wir diese Hinweise finden, dann müssen wir immer noch raten, wie wir eine Mana-Form aufbauen, die uns allen völlig neu ist, und wir haben keine klare Vorstellung, ob sie überhaupt funktioniert. Wir müssen es einfach ausprobieren, und es wird all unsere vereinten Kräfte erfordern, den Spruch vom Boden aus zu wirken.« Ilkar hielt inne und sah Hirad bedrückt an. »Unsere Erfolgsaussichten sind geringer als bei den Wytchlords.«
»Das wird Sha-Kaan aber gar nicht gefallen«, meinte Hirad.
»Tja, er wird wohl damit leben müssen.«
»Oder er muss damit sterben.« Hirad stand auf, klopfte sich die Hosen und die Lederrüstung ab und machte sich auf nach Wingspread.
»Wo wären wir nur ohne unseren Drachenmann, was, Unbekannter?« Ilkar versuchte zu lächeln.
»Ja, wo wären wir nur ohne ihn, Ilkar«, gab er zurück. »Wo wären wir da.«