21
Ernst beobachtete Hirad die Gesichter der Rabenkrieger. Sha-Kaans Worte gingen ihm durch den Kopf. Zwei Gefahren hatte der Drache ihnen beschrieben, und Hirad hatte Schwierigkeiten, alles zu verstehen. Wie üblich hatte der Große Kaan ihnen die Möglichkeiten aufgezeigt und zugleich deutlich gemacht, dass sie keine Wahl hatten.
Sie konnten darauf bauen, dass der Rat von Julatsa stark genug war, um die Bedrohung durch die Dämonen zu bekämpfen, doch wenn er nicht stark genug war, dann wurde ganz Balaia von Dämonen überrannt, die auf einer Woge aus reinem Mana hereingeschwemmt wurden. Dieses Mana war die Luft, die sie atmeten, doch es war tödlich für alle Männer, alle Frauen und alle Kinder, die mit ihm in Berührung kamen. Die hoch konzentrierte Energie trieb den Menschen die Luft aus den Lungen, und, noch schlimmer, sie lieferte ihre Seelen schutzlos den Dämonen aus, oder den Arakhe, wie Sha-Kaan sie nannte. Balaia drohte eine Erweiterung der Dämonendimension zu werden, und die Kaan würden ihre Fusionswelt und letzten Endes auch ihr Leben verlieren.
Andererseits gab es einen Weg, die Arakhe stark genug einzuschüchtern, damit sie von ihrem offensichtlichen Ziel abließen. Doch die Beschreibung dieser Aufgabe und der Risiken, die sie für alle mit sich brachte – für den Drachen wie den Raben –, verschlug ihnen die Sprache. Andererseits konnten sie viel gewinnen. Sie konnten die Bedrohung durch die Dämonen beseitigen und zugleich an der Armee der Wesmen vorbei ins Kolleg von Julatsa gelangen.
So betrachtete Hirad die Gesichter seiner Freunde. Einigen fiel die Antwort leicht. Ilkar nickte nur, und der Unbekannte Krieger erwiderte Hirads Blick, als sei er empört, dass man überhaupt so ein Aufhebens darum machte. Hirad selbst wollte tun, was der Große Kaan ihm auftrug, solange der Rabe einverstanden war. Jeder einzelne Rabenkrieger.
Will hatte Angst. Bei den Göttern im Himmel, sie hatten alle Angst. Doch er hatte schon einmal einen Dämon gesehen, und die Vorstellung, einer riesigen Anzahl von ihnen gegenüberzutreten, trieb ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht und ließ ihn zittern wie Espenlaub.
»Vielleicht müssen wir gar nicht gegen sie kämpfen«, sagte Hirad.
»Aber wir müssen sie sehen«, sagte Will.
»Wir werden dich beschützen.«
»Das kann nur Thraun.«
Hirad hatte den Wolf ganz vergessen. Wahrscheinlich war der Gestaltwandler noch draußen. Er musste mitkommen, weil sonst Will nicht mitkommen würde. Und der Rabe kämpfte nie getrennt. Niemals.
»Und wenn Thraun mit dabei ist?«
»Dann bin auch ich dabei«, sagte Will. Hirad nickte und drehte sich zu Erienne und Denser um, die dicht beisammen standen.
»Ohne euch schaffen wir es nicht«, sagte Hirad. »Zuerst einmal, weil ihr zum Raben gehört, aber auch, weil wir euch brauchen, damit ihr Ilkar beim Mana-Schild helft, oder was es auch ist.« Er hatte Denser angesprochen, aber es war Erienne, die ihm antwortete.
»Es ist sehr schwierig, aber wir können es schaffen. Eigentlich glaube ich auch nicht, dass uns etwas anderes übrig bleibt.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, und man sah ihr einen Moment lang an, dass sie Angst hatte.
»Es gibt immer eine andere Möglichkeit«, murmelte Denser.
»Was denn, eine ähnliche Möglichkeit wie jene, die du uns in Zusammenhang mit Dawnthief angeboten hast?«, knurrte Hirad. »Sag was.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mitkomme.«
»Aber wenn du mitkommst, dann musst du wirklich dabei sein«, bohrte Hirad. »Du musst ganz und gar bei der Sache sein.«
Sha-Kaan, der während des Wortwechsels geschwiegen hatte, schob den riesigen Kopf vor und sprach über Hirads Schulter hinweg.
»Er hat Recht, Dieb. Deine Fähigkeiten stehen außer Frage, aber wenn du nicht richtig bei der Sache bist, dann störst du eher und gefährdest uns alle. Was sagst du?«
Denser war pikiert über Sha-Kaans Wortwahl, aber Hirads Stirnrunzeln brachte ihn zur Vernunft. Er schaffte es sogar, leicht zu lächeln.
»Ich habe sowieso gerade nichts Wichtiges vor«, sagte er.
Sha-Kaan sah Hirad an und formte den Hals zu einem umgekehrten U. Kopf und Schnauze allein überragten den Barbaren schon.
»Nun?«, fragte er.
Hirad grinste. »Nimm das als ein Ja, Großer Kaan.«
»Ausgezeichnet.« Der Kopf wurde zurückgezogen. »Brecht euer Lager ab. Wir werden nicht hierher zurückkehren.«
»Was ist mit Thraun?«, fragte Will.
»Thraun?«, fragte Sha-Kaan erstaunt.
»Der Gestaltwandler«, erklärte Hirad. »Der Wolf.«
»Ah.« Bilder vom Wald und von Blut erfüllten Hirads Bewusstsein. »Ich habe seine Gedanken berührt. Er wird kommen. Seine Bindung an dich, kleiner Mensch Will, ist sehr stark. Wie zwischen einem Drachen und seinem Drachenmann.«
Will war sichtlich erleichtert. Er nickte und sah sich um.
»Geh und hole ihn, Will«, sagte Hirad. »Wir werden inzwischen das Lager abbrechen.«
»Beeilt euch«, sagte Sha-Kaan. »Der Rat wird bald handeln.«
Hirad führte den Raben aus dem Saal und – für eine kurze Zeit – wieder zurück nach Balaia.
General Kard bezog wieder seinen Posten draußen vor dem Herzen. Der Raum wurde von Endorrs Lichtkugel erhellt, und der Rat von Julatsa, natürlich ohne den geopferten Deale, stand im Herzen und bereitete sich darauf vor, noch einmal mit Heila, dem Meister des Schirms, Kontakt aufzunehmen.
Der kleine Raum, das Zentrum der julatsanischen Magie, war voll gestopft mit den wichtigsten Texten des Kollegs, die Barras ausgewählt hatte. In den Spalten zwischen den acht glatten Steinplatten waren sie hoch aufgestapelt, und auch auf den Bodenfliesen, auf denen eine von der Tür bis zum Zentrum des Herzens verlaufende Spirale eingraviert war, standen Bücherstapel. Die Magier konnten einander kaum noch sehen, als sie sich auf ihre Positionen an der Wand begaben.
Kerela runzelte die Stirn, als sie sah, wie dieser heilige Raum als Lager benutzt wurde, und Barras musste lächeln.
»Wir haben ja schön öfter darüber gesprochen, dass die Bibliothek erweitert werden muss«, sagte der alte Elf, der dem Kolleg als Hauptunterhändler diente.
»Ich lasse Pläne anfertigen, sobald wir die Wesmen abgewehrt haben«, versprach Torvis. Ein Kichern war im Herzen zu hören, und die Spannung ließ etwas nach.
Kerela bat die anderen mit erhobenen Händen um Ruhe.
»Bitte, meine Freunde«, sagte sie. »Wir haben uns versammelt, um den Dämonenschirm aufzuheben, der uns vor den Heeren der Wesmen beschützt. Wir mussten Deale opfern, damit er aufgebaut werden konnte, und seine Seele ist noch in der Gewalt Heilas. Dort wird sie auch nach Entfernung des Schirms für eine Zeitspanne bleiben, die wir uns nicht vorstellen können. Vielleicht wird sie niemals wieder freigegeben. Im Gedenken an Deale bitte ich euch um einen Augenblick der Andacht.«
Barras neigte den Kopf, und die anderen folgten seinem Beispiel. Deale hatte sich geopfert, und seine Seele war nun der Gnade der Dämonen ausgeliefert, auch wenn dies eine äußerst unpassende Beschreibung für das war, was die Dämonen jetzt mit ihr anstellten. Es war ein Opfer, das Barras und Kerela besonders betroffen machte, denn Heila hätte lieber einen von ihnen genommen.
»Danke«, sagte Kerela. »Und jetzt werden wir Heila rufen, den Meister des Schirms.«
Da der Rat nicht mehr aus acht, sondern nur noch aus sieben Mitgliedern bestand, war ihre Aufgabe dieses Mal viel schwieriger. Kerela konnte nur drei Magier abstellen, um die Säule zu verankern. Endorr, Torvis und Seldane stand bald der Schweiß auf der Stirn, als sie damit beschäftigt waren, die Säule zu halten. Ein einziges Mal, als die Scheibe sich senkte, gab es ein gefährliches Flackern, doch ansonsten blieb die Säule stabil, und schließlich konnte Barras das Tor öffnen.
Als er den Zugang erweiterte, strömte eisiges, blaues Mana-Licht in den Zylinder.
»Da stimmt etwas nicht«, sagte er. Man hörte ihm die Anstrengung an, während er sich bemühte, die Energie unter Kontrolle zu halten.
»Bist du stabil?«, fragte Kerela.
»Es geht so gerade eben«, antwortete Barras.
»Kann ich die Anrufung fortsetzen?«, drängte Kerela.
»Du hast keine andere Wahl.« Barras spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. Das Mana brandete immer noch in die Säule hinein und löste sich an den Wänden auf oder wurde vom Herzen aufgenommen und stärkte die Kräfte des Rates.
Barras hörte Kerelas Anrufung nur als fernes, leises Murmeln. Er musste all seine Kräfte, seine gesamte Erfahrung und seine ganze Entschlossenheit aufbieten, um das Tor zu halten. Irgendwie erzeugten die Dämonen eine gewaltige Kraft, die das Mana mit großem Druck durch das kleine Portal schießen ließ. Kerela steckte ihren Kopf in die Säule hinein, um die Anrufung zu sprechen.
Er konnte nicht verstehen, was hier vorging. Vielleicht war es die Enttäuschung, weil der Rat vorzeitig den Schirm aufheben wollte. Oder die Dämonen machten Schwierigkeiten wie üblich. Aber irgendwie hatte Barras das unbestimmte Gefühl, dass noch etwas viel Schlimmeres im Gange war. Er konnte es nicht richtig fassen und nicht ganz verstehen, aber es war da. Eine ungute Vorahnung, die er nicht benennen konnte. Sie mussten sehr vorsichtig sein.
Unvermittelt ließ der Druck auf das Portal nach, und die Säule löste sich auf. Heila tauchte in ihrer Mitte auf. Dieses Mal war er größer und beleibter, und seine himmelblaue Färbung strahlte so hell, dass man kaum noch die Gesichtszüge erkennen konnte. Eine Weile drehte er sich in der Luft langsam um sich selbst, die Arme und die Beine überkreuzt und mit bolzengeradem Rücken, und sah sich im Herzen um.
»Ich hätte nicht gedacht, so bald schon wieder hier zu sein«, sagte er. Seine Stimme verriet, wie gereizt er war.
»Wir sind bei unserer Ehre verpflichtet, die Zeitspanne, die wir den Dämonenschirm nutzen, so kurz wie möglich zu halten«, erwiderte Kerela ruhig.
»Ach, wir reden also über die Aufhebung und nicht über die Verlängerung.«
»Überrascht dich das?«, fragte Kerela.
»Das Thema nicht, der Zeitpunkt schon.«
»Es liegt nicht bei dir, den Zeitpunkt der Aufhebung zu bestimmen«, sagte Kerela abweisend.
»Manchmal verändern sich die Bedingungen, meine werteste Erzmagierin.« Angst griff im kleinen Raum um sich. Barras runzelte die Stirn. Aber eigentlich hatte sich doch gar nichts verändert, oder?
»Was soll das bedeuten?« Gott sei Dank blieb Kerela ruhig. Wenn sie nervös war, dann ließ sie es sich nicht anmerken.
»Die Aufhebung des Dämonenschirms liegt derzeit nicht in unserem Interesse. Es käme uns äußerst ungelegen, wenn wir ihn jetzt beseitigen würden.« Heilas Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er zeigte keinerlei Emotionen, er verriet nicht, was er wirklich wollte. Doch jedes Wort bewies, wie stark er sich fühlte. Nur wenige standen in der Hierarchie der Dämonendimension über ihm – eine Dimension, die keineswegs so chaotisch war, wie die bekannten Märchen sie beschrieben.
»Ungelegen?« Kerela spuckte das Wort voller Verachtung aus. »Darf ich dich erinnern, Heila, dass die Entfernung des Schirms nicht davon abhängt, ob es dir genehm ist oder nicht? Diese Entscheidung liegt allein beim julatsanischen Rat. Du wirst lediglich verständigt, um dafür zu sorgen, dass keiner deiner Dämonen hier gefangen wird, wenn der Schirm fällt. Wir sind nicht einmal verpflichtet, dich zu unterrichten. Es ist eine Höflichkeit, die wir dir erweisen, damit du mit den Seelen, die sich schon in deiner Gewalt befinden, gnädig verfährst. Der Spruch der Aufhebung ist eine Macht, der du dich nicht widersetzen kannst.«
Heila lächelte und entblößte die dichten Reihen der kleinen, spitzen Zähne. »Mir sind die Beschränkungen, die uns durch die Konstruktion eurer sehr geschickt entworfenen Mana-Form auferlegt sind, durchaus bewusst. Ich bitte nur um zwei weitere Tage, damit wir von der Kraft, die uns der Schirm vorübergehend geschenkt hat, vollen Gebrauch machen können. Auch wir haben Feinde, die wir bekämpfen müssen. Wenn ihr mir diese zwei Tage gewährt, dann werden die Seelen all derjenigen, die wir bisher genommen haben, freigelassen.« In Heilas Augen war ein Funkeln zu sehen, das sogar noch das Strahlen seiner Haut übertraf, oder vielmehr die Farbe des Mana, in das er sich gekleidet hatte.
Barras hörte Seldane keuchen, und sogar Kerela zögerte, ehe sie antwortete.
»Heila, dein Angebot ist großzügig und verlockend. Sehr verlockend«, sagte sie. »In einer anderen Situation würde ich es gern annehmen. Doch das Leben von tausenden Julatsanern hängt davon ab, dass der Schirm umgehend aufgehoben wird. Wir bedauern und betrauern das Schicksal von Deale und all den anderen, die du zu dir geholt hast, aber ich kann dein Angebot nicht annehmen.«
Heila runzelte die Stirn, und sein Gesicht verzerrte sich wutentbrannt. Seine innere Bewegung spiegelte sich in den heftigen Wirbeln der blauen Mana-Hülle. Sein Atemstoß breitete sich eiskalt im ganzen Herzen aus, und in seinen geballten Fäusten zuckten rein weiße Blitze, die mit menschlichen Stimmen zu schreien schienen, während sie sich im Portal verloren.
»Wir werden euch bekämpfen, Erzmagierin, und ich verspreche dir, dass eure Seelen eine Ewigkeit an Qualen erleiden werden, weit entfernt vom Himmel, in dem sie sein sollten. Sie sind so verloren, wie du es bist. Ich benenne dich, Kerela von Julatsa. Du bist mein.«
»Du kannst mich nicht anrühren, Heila«, sagte Kerela, doch die Worte des Dämons hatten sie sichtlich getroffen. »Bereite deine Untertanen darauf vor, dass der Schirm entfernt wird. Lebewohl.« Kerela unterbrach die Verbindung, und Heila verschwand ohne ein weiteres Wort. Das Mana heulte durch die Säule, doch Barras stand bereit und war dem Ansturm gewachsen. Mit einem lauten Grunzen versiegelte er das Portal.
Eine Weile herrschte Schweigen im Herzen. Barras wischte sich störrische graue Strähnen aus dem Gesicht und schnaufte mit aufgeblasenen Wangen. Torvis und Vilif wechselten besorgte Blicke. Schließlich ergriff Endorr das Wort.
»Was meinte er damit, dass er gegen uns kämpfen will?«, fragte der junge Magier.
»Wahrscheinlich meint er, dass sie sich widersetzen werden, wenn wir den Schirm aufheben und zerstreuen.«
»Nein«, widersprach Kerela. »Es wird erheblich schlimmer. Die Dämonen gieren nach Seelen, und irgendetwas gibt ihnen die Kraft, uns zu trotzen, nachdem sie jetzt einen Ansatzpunkt in Balaia gefunden haben. Ich glaube, sie könnten versuchen, die Begrenzungen des Spruchs zu durchbrechen.«
»Was?« Seldane riss die Augen auf, dann legte sie die Stirn in Falten. »Sind sie dazu überhaupt fähig?«
»Normalerweise nicht«, erklärte Kerela. »Aber normalerweise hätten sie auch nicht die Macht, uns in unserer eigenen Dimension zu drohen. Jetzt aber fühlen sie sich offenbar stark genug dazu.«
»Sollten wir dann nicht noch zwei Tage warten und Heila vollenden lassen, was er tun will?«, fragte Endorr.
Von Torvis war ein unwilliges Murmeln zu hören, das Vilif in Worte fasste.
»Nein, junger Meister. Ich glaube, du missverstehst, wer die Feinde sind, die Heila erwähnt hat. Ich nehme an, dass die Dämonen in zwei Tagen stark genug sind, um die Begrenzung wegzufegen. Heila war offenbar so wütend, weil er sich jetzt nicht mehr so sicher ist.«
»Ja«, stimmte Barras zu. »Und in zwei Tagen werden noch viele weitere Menschen im Schirm sterben. Wir können nicht warten.«
»Aber sein Angebot …«, wandte Endorr ein
»Eine Lüge«, erklärte Kerela ihm entschlossen und ernst. »Kommt, meine Freunde. Je länger wir warten, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir scheitern. Gesellt euch zu mir um die Kerze und bleibt stark. Wir dürfen jetzt nicht schwach werden, denn sonst werden die Dämonen und nicht die Wesmen Julatsa erobern. Und dann werden sie ganz Balaia einnehmen.«
Der Rabe versammelte sich vor Sha-Kaan. Die Gerüche von Holz und Öl, die von seiner Haut ausgingen, mischten sich auf unangenehme Weise mit seinem stinkenden Atem und der Hitze der Feuer. Sie hatten eine Verteidigungsstellung eingenommen, der Drache und die Menschen, Rücken an Rücken, wobei der Drache drei Viertel und die Menschen ein Viertel des Platzes beanspruchten. Hirad stand zwischen dem Unbekannten und Will, Thraun hielt sich neben dem kleinen Mann. Hinter ihnen waren Ilkar, Erienne und Denser bereit, auf Sha-Kaans Zeichen ihre Sprüche zu wirken.
Die Bewegung des Korridors spürten sie nicht, doch Sha-Kaan versicherte ihnen, dass sie sich Julatsa näherten. Er wartete nur noch auf den richtigen Augenblick, den Schirm zu durchbrechen. Die Stille war beunruhigend, und Hirad konnte kaum glauben, dass sie sich überhaupt bewegten. Doch er vertraute Sha-Kaan und war bereit, ihm zu glauben.
»Ihr werdet es spüren, wenn wir den Dämonenschirm berühren«, erklärte Sha-Kaan. »Die Mauern dieses Saales werden beben, und ihr werdet stolpern. Ich werde versuchen, auf geradem Kurs zu bleiben, und ich muss auf das Zentrum ihrer Macht zielen, wenn wir sie aufhalten wollen. Eure Magier wollen den Schirm aufheben.«
»Wie bald?«, fragte Hirad.
»Sehr bald. Sie haben bereits mit den Vorbereitungen begonnen. Ihr müsst gleich eure Sprüche wirken.«
»Ich will euch noch einmal in Erinnerung rufen, um was für einen Spruch es sich handelt«, sagte Ilkar. »Wir erzeugen einen Kaltraum, der wie eine Blase aussehen soll, in der das Mana nicht fließen kann. Wir werden ihn aufrechterhalten, indem wir die Mana-Ströme aus uns selbst benutzen. Es wird sehr anstrengend werden. Der Kaltraum kann die Dämonen nicht aufhalten, aber er wird sie stark beeinträchtigen und sehr schnell schwächen. Da in diesem Raum kein Mana fließt, könnt ihr die Dämonen mit euren Waffen verletzen, aber ihr müsst sie schnell töten und energisch zuschlagen, um sie auszuschalten. Wir geben dem Schirm eine hellgrüne Farbe. Ihr könnt nach draußen sehen, aber geht nicht hinaus, denn dort draußen sind eure Waffen nutzlos, und eure Seelen sind verloren.«
Hirad und der Unbekannte nickten. Will drehte sich zu Thraun um, dessen Wolfsaugen seinen Blick erwiderten.
»Bleib immer bei mir«, sagte er. »Weiche keinen Augenblick von meiner Seite.« Er zog seine beiden Schwerter. Das Zittern seiner Arme konnte er nicht ganz unterdrücken. Thraun schaute zu ihm auf. Ein tiefes Grollen entstand in seiner Kehle.
»Bist du sicher, dass sie uns angreifen werden?«, fragte Will.
»Daran besteht kein Zweifel.« Sha-Kaans Stimme veränderte sich, während er den Korridor auf Julatsa ausrichtete und dabei den Spuren und Hinweisen folgte, die ihm der verletzte Elu-Kaan gegeben hatte. »Unsere Gegenwart wird ihren Energiefluss stören, als hätte man einen Korken in eine Flasche gesteckt. Eure Seelen werden sie anlocken wie die Beute einen Drachen, und das wird ihre Aufmerksamkeit ablenken. Arakhe, die Seelen nehmen wollen, kennen keine Disziplin, wenn sie in Versuchung sind.« Er schwenkte den langen Hals über ihren Köpfen hin und her. »Noch etwas. Ihr müsst damit rechnen, dass die Arakhe von überallher kommen. Sie sind nicht an unsere Naturgesetze gebunden. Sie könnten von oben oder von unten eindringen oder scheinbar aus dem Nichts auf euch losgehen. Ihre Berührung ist wie Feuer, ihr Biss wie Eis, und ihre Augen wollen euch die Seelen aus dem Körper reißen. Schlagt hart und oft genug zu. Zeigt keine Angst.«
Er richtete noch einmal den Blick auf Hirad, und der Barbar spürte eine Woge von Dankbarkeit, unter die sich Zorn mischte. Sha-Kaan machte ihnen immer noch Vorwürfe, weil sie Dawnthief gewirkt und all dies in Gang gebracht hatten, und so schnell verzieh er nicht.
Hirad wandte sich an die Magier. »Seid ihr bereit?«
Ilkar nickte. »Pass du nur auf, dass dein Schwert scharf ist.«
»Ich frage mich, welche Farbe Dämonenblut hat.«
»Das werden wir gleich herausfinden«, sagte Denser. »Gib dir Mühe, möglichst viel herauszufinden, ja?«
Hirad lächelte. »So viel, wie ich kann. Der Rabe, los jetzt. Großer Kaan, die Sprüche werden gewirkt, sobald du das Zeichen gibst.«
»Sehr gut. Dann beginnt jetzt sofort.« Sha-Kaan schob den Kopf vor. Ein Beben lief durch den Korridor. Hirad stellte sich darauf ein und ging etwas in die Knie. Er zog sein Schwert. Hinter ihm stellten sich die Magier mit den Rücken zueinander auf. Sie konnten es sich nicht leisten, ihre Konzentration zu verlieren.
Ilkar stellte fest, dass er mit diesem Zusammenwirken von drei magischen Schulen keine Probleme hatte. Seit seiner mehr oder weniger erzwungenen Zusammenarbeit mit Denser, als sie damals in Septerns Scheune Hirad gerettet hatten, fand er es ebenso faszinierend wie der Xeteskianer.
Als sich alle drei Magier innerlich auf das Mana-Spektrum eingestellt hatten, konnte Ilkar beobachten, wie sich die drei Manaströme – orange, dunkelblau und gelb, wie es Dordover, Xetesk und Julatsa entsprach – über ihren Köpfen miteinander verbanden. Jeder Magier war in seine Farbe gehüllt, doch über ihnen mischten sich die magischen Energieströme wie die Bänder eines geflochtenen Seils, und jeder Strang stärkte die anderen beiden.
Als sich die Manaströme verflochten hatten, vorstießen und ein Ziel suchten, legten die drei Magier die Köpfe zurück, bis ihre Hinterköpfe sich berührten, und fassten sich bei den Händen, um einen Kreis zu bilden. Erienne, die mit Konstruktionen, welche das Mana aussperrten, die größte Erfahrung hatte, übernahm die Führung.
»Eine Magie, ein Magier«, sagte sie.
»Eine Magie, ein Magier«, wiederholte Denser.
»Nun macht schon«, sagte Ilkar. Die Zuneigung zwischen Denser und Erienne war auch durch den Mana-strom, der sie jetzt wie eine dreifarbige Tulpenblüte umschloss, deutlich zu spüren.
»Ich spreche die Worte, aber wir müssen alle die Gestalt verstärken. Bleibt vorerst bei euren Farben und schiebt die Energie hinaus, bis ein gleichseitiges Dreieck entsteht. Fügt die Seiten zusammen und dreht die Konstruktion.« Eriennes Worte waren kaum mehr als ein Murmeln.
Ilkar spürte ein Beben, das den Korridor erschütterte, doch er ignorierte es und konzentrierte sich auf die langsam über ihren Köpfen rotierende Pyramide. Erienne wartete, bis sich die Gestalt beruhigt hatte, ehe sie weitermachte.
»Teilt sie und klappt sie zu euch hin auf. Die Spitze soll aufbrechen.« Aus der Pyramide entstand eine sechsseitige Form. »Spiegelt und verdoppelt die Form, Grundfläche an Grundfläche.«
Eine recht einfache Konstruktion schälte sich nun heraus. Zwei Pyramiden standen übereinander und drehten sich gegenläufig. Ilkar konnte jetzt erkennen, wohin sich die Gestalt entwickeln sollte und wo die Schwierigkeit lag. Erienne bestätigte, was er gesehen hatte.
»Also gut, wir brauchen an beiden Enden einen Dorn, der sich gegenläufig zur Pyramide darunter bewegt. Jeder Dorn hat sechs Seitenflächen, und die Farben der Kollegien wechseln ab, damit sich die Einzelteile fest verbinden und eine Form entsteht, um die das Mana außen herum fließen muss. Die Pyramiden müssen sich, während die Dorne aufgebaut werden, ständig weiter drehen.« Sie hielt inne, und die Luft um Ilkar schien zu summen.
Es war eine schwierige geistige Übung, gleichzeitig die schon vorhandene Form zu halten und eine neue aufzubauen. Das Teilen der Aufmerksamkeit war eine Fähigkeit, die früh gelehrt und das Leben lang vervollkommnet wurde. Ilkar hatte keinen Zweifel, dass sie alle Meister darin waren, doch dies hier war etwas anderes. Wenn die Pyramiden ihre Drehung einstellten, dann würde die Energie des Spruchs auf sie zurückschlagen, was, wie Ilkar annahm, schwer wiegende Folgen haben konnte. Vielleicht ein Gedächtnisverlust, vielleicht Blindheit, vielleicht der Tod.
Densers Seitenflächen erschienen fast sofort, sie rotierten gegenläufig und berührten sich an den Spitzen.
»Ich hab’s«, sagte er, und Ilkar fragte sich, was Dawnthief mit ihm gemacht hatte. Eigentlich war es unmöglich, die Flächen so schnell zu projizieren, aber es hatte auch seine Vorteile. So bekam Ilkar einen Ansatzpunkt für seine eigenen Seitenflächen.
Er schob die Gedanken beiseite und stellte sich einen sanften Wind vor, der die Pyramide eine Weile in Bewegung halten würde.
Trotz der in zwei Richtungen zielenden Bewegungen des Mana konnte Ilkar mit kleinen Gesten, ohne die Hände der anderen loszulassen, das Mana mit dem Bewusstsein und den richtigen Anrufungen rasch in die Pyramide leiten, bis es Densers Seitenflächen ergänzte. Er zeichnete seine Flächen dunkelgelb, stabilisierte sie und ließ sie kurz nach Erienne einrasten. Jetzt hatten die Pyramiden an beiden Enden Dorne, die sich in entgegengesetzte Richtungen drehten. Der Spruch war fast vollendet.
»Hervorragend«, sagte Erienne, doch man konnte hören, dass sie im Grunde kaum überrascht war. Sie kannte die Fähigkeiten ihrer Gefährten. »Die beiden Hälften müssten einander in Form und Rotationsgeschwindigkeit genau entsprechen. Flacht die Pyramiden etwas ab und macht sie breiter … ja. Erweitert die Grundflächen der Dorne. Haltet es jetzt fest, wie es ist. Wir sind bereit zur Anwendung.«
»Ich bin stabil«, sagte Denser.
»Ich auch«, sagte Ilkar. Über ihnen schwebten die Pyramiden, aus denen die Mana-Form bestand. Sie drehten sich wie zwei riesige Pickelhauben.
»Dor anwar enuith«, sagte Erienne. Die Worte der dordovanischen Überlieferung fuhren durch die Mana-Form und zogen orangefarbene Schlieren durch die gelben und blauen Bereiche. »Eart jen hoth.« Sie löste ihre Hände aus Ilkars und Densers Händen und hob die gestreckten Arme über den Kopf. »Anwenden.« Dann nahm sie die Arme wieder herunter und klatschte die flachen Hände auf den Steinboden. Die Mana-Gestalt erweiterte sich, als sei unter hohem Druck ein Luftschwall hineingeleitet worden. Eine Hälfte schützte den Raben und Sha-Kaan von oben, die andere erstreckte sich unter ihnen und sollte die Dämonen aufhalten, die von unten angriffen.
»Lys falette«, sagte Ilkar leise, und ein Lichtschein breitete sich aus und umgab die Mana-Gestalt wie eine durchsichtige, hellgrüne Wolke. Die drei Magier ließen die Köpfe sinken. Der Spruch war vollendet. Der Rabe und der Drache atmeten Luft, in die kein Mana vordringen konnte. Es roch und schmeckte nicht anders als sonst, doch für die Magier war der Aufenthalt im Kaltraum anstrengend. Lange konnten sie die Konstruktion nicht halten.
Hirad wollte den Mund öffnen und Sha-Kaan unterrichten, dass der Spruch gewirkt war. Ein heftiger Ruck ließ den Korridor beben, dass die Wandbehänge wackelten. Aus den Kaminfeuern stoben die Funken hoch, als die Holzblöcke ins Rutschen gerieten. Hirad taumelte, und Will stürzte sogar. Er prallte gegen Thrauns breite Flanke. Der Wolf heulte erschrocken auf. Er konnte keine Bedrohung sehen, doch er wusste, dass es gefährlich wurde.
»Der Rabe, stellt euch auf«, sagte der Unbekannte, der nicht einmal einen Fuß hatte umsetzen müssen. Er tippte mit der Schwertspitze auf den Steinboden, und das leise Klirren klärte sofort die Köpfe der Gefährten und vertrieb jede Unsicherheit.
Ein zweiter Ruck, dann ein gedehntes Grollen der Mauern, als der Korridor erneut bebte. Staubwolken schossen hoch.
»Macht euch bereit«, sagte Sha-Kaan.
Hirad und der Unbekannte wechselten einen Blick. In den Augen des großen Mannes lag ein Unbehagen, das Hirad noch nie gesehen hatte, doch zugleich auch eine Entschlossenheit, die keine Unsicherheit zuließ. Hirad kannte den Grund. Der Unbekannte wusste bereits, wie es war, die Seele an die Dämonen zu verlieren. Einmal hatte er sie zurückbekommen, und er hatte nicht den Wunsch, sie noch einmal zu verlieren.
Ihre Seelen waren ein Leuchtfeuer für alle Dämonen, als die Rabenkrieger sich in den Dämonenschirm stürzten.