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20

Barras klopfte leise an und hoffte, den General schlafend vorzufinden, doch die heisere Einladung, das Zimmer zu betreten, kam sofort. Der alte Elfenunterhändler betrat Kards Zimmer im Erdgeschoss des Turms und fand den General an einem kleinen Kaminfeuer sitzend. Er hatte sich den Stuhl dicht ans offene Fenster gezogen, und auf der Fensterbank stand ein dampfender Becher. Julatsas militärischer Anführer blickte zu dem mit Sternen übersäten Himmel hinaus. Die Nacht brachte eine gewisse Erleichterung, und sei es nur, weil der Dämonenschirm in der Dunkelheit unsichtbar blieb und damit etwas weniger bedrohlich wirkte. Seine Ausstrahlung aber jagte immer noch allen, die ihm zu nahe kamen, einen kalten Schauer über den Rücken. Die Sanduhren sagten, dass die Morgendämmerung in etwa zwei Stunden anbrechen würde.

Sie konnten nichts weiter tun als warten, bis der erste Befehl gegeben wurde, und dann musste der Tag eben verlaufen, wie er verlaufen wollte. Im ganzen Kolleg herrschte eine erwartungsvolle, angespannte Ruhe. Alle Männer, alle Frauen und sogar die Kinder wussten, was sie zu tun hatten. In Dutzenden von Besprechungen, die außer Sichtweite der Wachen auf dem Turm der Wesmen abgehalten worden waren, hatten Kard und seine Leutnants detailliert ihre Pläne dargelegt.

Abgesehen von den kämpfenden Einheiten und den Magiern, die für Angriff und Verteidigung vorgesehen waren, hatte Kard auch alle Zivilisten in Gruppen eingeteilt und mit konkreten Aufgaben betraut. Die Zivilisten sollten die Soldaten auf den Mauern mit Pfeilen und Brot und allem anderen versorgen, was gebraucht wurde. Sie hatten sich auch um Tischler- und Steinmetzarbeiten zu kümmern, weil die Verteidigungsanlagen erweitert und verstärkt werden mussten; sie wurden mit Tragen ausgerüstet und als Sanitäter eingesetzt, und sie sollten die Brandbekämpfung übernehmen. Jeder war für die Aufgaben vorgesehen, die seinen Fähigkeiten am ehesten entsprachen.

In einzelnen Unterredungen hatte Kerela alle ihre Magier angewiesen, Kard zu gehorchen, bis die Schlacht entweder gewonnen oder verloren war. Jeder wusste, was geschehen würde, wenn sie unterlagen. Wer nicht dabei helfen konnte, das Herz von Julatsa zu begraben, wurde verpflichtet, im Kampf zu sterben, um diejenigen zu schützen, die diese Aufgabe übernommen hatten. Schließlich hatten Endorr und Seldane auf Barras’ Bitte in den letzten Stunden der Ruhe noch einige hundert besonders wichtige Texte des Kollegs ins Herz gebracht oder direkt davor aufgestapelt. Wenn der Dämonenschirm aufgehoben wurde, würde das Herz eher einem Lagerraum als dem Zentrum der julatsanischen Magie gleichen.

Barras sah sich in Kards kargem Quartier um. Eine einfache Pritsche stand unbenutzt an der rechten Wand. Karten, Pergamente und Federkiele waren neben dem zweiten, geschlossenen Fenster auf einem Tisch verstreut. Der Stuhl davor diente als Ablage für zahlreiche Bücher und Tagebücher, die Kard abräumte, sobald sein alter Freund eingetreten war.

»Setzt Euch doch, Barras, Ihr müsst auch mal etwas ausruhen«, sagte er. Ein kleines Lächeln spielte um seine rissigen Lippen. Das frisch rasierte Kinn glänzte in der Wärme des Kaminfeuers vor Schweiß. Von einem Haken am Kamin nahm er einen Becher und schenkte Barras ein. Der alte Elfenmagier nahm den Becher mit beiden Händen und nickte dankbar.

»Seid Ihr sicher, dass es richtig ist?«, fragte Kard und nickte in Richtung des Dämonenschirms. »Dass wir wieder kämpfen, meine ich.«

»Welche andere Möglichkeit gibt es denn noch?«

»Nun ja, wir könnten die Leute hier unter Kontrolle halten und noch eine Weile hinter unseren Mauern ausharren, und zwar …« Er hielt inne und zog ein Blatt Papier vom Schreibtisch. Einige andere, die darauf lagen, glitten zur Seite, ein paar segelten zu Boden. »… einhundertsiebzehn Tage lang. Falls wir streng rationieren und vernünftig mit unserem Unrat umgehen.«

»Und was geschieht am Ende dieser Frist?«

Kard lächelte wieder und zuckte mit den Achseln. »Tja, die Welt wird sich bis dahin noch oft drehen. Vielleicht befreit man uns.«

»Und Senedai hat bis dahin keine Gefangenen mehr, die er abschlachten kann, und die Berge der verwesenden Leichen sind höher als unsere Mauern. Was wollt Ihr mir eigentlich damit sagen?« Barras runzelte die Stirn und trank einen kleinen Schluck. Es war ein Kräutertee, der ein wenig nach Pfefferminze schmeckte, ein höchst willkommener Genuss.

Kards Lächeln verschwand. Er legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. »Oh, nichts weiter. Ich hatte nur gehofft, Ihr brächtet eine andere Lösung mit – eine, die verhindert, dass morgen und übermorgen und am Tag danach so viele unserer Leute im Gefecht getötet werden.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr je von Zweifeln geplagt seid, Kard.«

»Wie Ihr genau wisst, bin ich es auch nicht, aber – nun ja, ich weiß auch nicht, ich hatte mir so große Hoffnungen gemacht, als wir den Dämonenschirm eingerichtet haben.«

»Wünscht Ihr jetzt, wir hätten es gar nicht erst getan?«

»Nein, nein. Gestern erst … oder war es der Abend davor?« Kard blickte zum Hof hinunter. »Wie auch immer, neulich habe ich abends hier gelegen und mich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn Ihr den Schirm nicht eingesetzt hättet.«

»Und?« Barras zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Ihr wisst es so gut wie ich. Die Wesmen hätten im Handumdrehen unsere Mauern gestürmt. Wir hatten keine magischen Kräfte mehr, unser Heer war geschlagen, und alle Leute hatten Angst. Jetzt sind wir ausgeruht, unsere Moral ist gestärkt, aber Angst haben wir wohl immer noch. Auf jeden Fall werden sie sich bei uns eine blutige Nase holen.«

Barras schwieg dazu, trank seinen Tee und beobachtete, wie es in Kards Gesicht arbeitete. Lächeln, Stirnrunzeln und Trauer wechselten einander ab. Es tat ihm Leid, dass er die Tagträume des Generals gestört hatte. Der alte Soldat erinnerte sich an sein Leben, da er wusste, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Die Zweifel, die er zum Ausdruck gebracht hatte, waren lediglich die Zweifel eines nachdenklichen Mannes, der stets nach einem besseren Ausweg sucht, solange er noch Zeit hat, und der letztlich doch zugeben muss, dass es keinen gibt. Barras beschloss, den General bald wieder allein zu lassen, doch zuvor hatte er noch etwas zu besprechen.

»Was wollt Ihr eigentlich von mir?« Kard hatte offenbar im selben Moment den gleichen Gedanken gehabt.

»Wir haben uns im Sitzungssaal beraten. Wir wollen umgehend mit der Anrufung beginnen. Es könnte eine Weile dauern, bis Heila sich zeigt, und dann müssen wir noch mit ihm verhandeln, damit er den Dämonenschirm wieder entfernt. Es ist schwer zu sagen, ob der Schirm tatsächlich genau eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung aufgehoben wird, aber viel später dürfte es nicht sein. Ihr müsstet die Magier, die den Turm angreifen sollen, bald Aufstellung nehmen lassen.«

»Ich werde auch gleich meine Soldaten wecken. Hättet Ihr mir das nicht früher sagen können?«

»Wir mussten erst noch einige Texte studieren, ehe wir sicher waren. Wir werden gleich beginnen.« Barras stand auf, um zu gehen, und stellte den leeren Becher auf den Schreibtisch, wo er auf einem Organisationsplan einen feuchten Ring hinterließ. »Entschuldigung.«

Kard zuckte mit den Achseln. »Schon gut. Ich glaube, die brauchen wir bald sowieso nicht mehr.« Er gab Barras zum Abschied die Hand. Der Händedruck war fest und zuversichtlich. »Viel Glück.«

Barras nickte. »Wir sehen uns nachher oben im Turm. Mögen die Götter mit Euch sein.«

»Wenn sie es nicht sind, dann werden wir ziemlich bald bei ihnen sein.«

»Ein bedrückender Gedanke.« Barras lächelte.

»Aber ein realistischer.«

Barras verließ das Zimmer und ging zum Herzen im Turm von Julatsa.

 

Die Rabenkrieger hatten im Windschatten einer kleinen Anhöhe eine Rast eingelegt, wo die Krieger vor dem stetig wehenden Wind geschützt waren. Über ihnen am Hang raschelten Farne und Büsche, vor ihnen lag das weite Land voller Flüsse, Sümpfe, Marschen und Buschwerk.

Sie waren bis zum Abend gewandert und hatten nur angehalten, wenn Denser ihnen zu verstehen gab, dass Erienne etwas Ruhe brauchte. Die dordovanische Magierin hatte von sich aus nichts gesagt, doch im schwächeren Licht des Spätnachmittags waren die Falten in ihrem Gesicht tiefer geworden, und obwohl sie sich gegen die Fürsorge sträubte, schlief sie schnell und mit zufriedenem Lächeln ein.

Will und Thraun hatten das Lager verlassen, sobald im Ofen ein Feuer brannte. Spät in der Nacht waren sie zurückgekehrt. Will gab sich zugeknöpft, während der Gestaltwandler Thraun, immer noch in seiner Wolfsgestalt gefangen, zu einem ruhigen Platz trabte, um sich ein Stück von den Freunden entfernt zur Ruhe zu legen. Sein Wolfsgesicht wirkte bedrückt, soweit man überhaupt darin lesen konnte.

Denser und der Unbekannte hatten die ersten Wachen übernommen, und als die Sterne sich bemühten, das Land ein wenig zu erhellen, saß Hirad wach im Lager, mit dem Rücken bequem an die Böschung gelehnt, betrachtete seine schlafenden Freunde und ließ den vergangenen Tag Revue passieren.

Sie waren schnell gegangen, aber sie waren immer noch zu Fuß unterwegs, und Hirad sorgte sich, weil sie keine Gelegenheit gefunden hatten, wenigstens ein paar Pferde für das Gepäck zu bekommen, damit sie unbeschwert laufen konnten. Noch mehr als die Tatsache, dass die Zeit drängte, beschäftigte Hirad die Frage, wie sie an den Armeen der Wesmen vorbeikommen sollten. Genaue Zahlen hatten sie nicht, aber vor ihnen lag ganz sicher eine große Zahl von Feinden. Und danach hatten sie immer noch den Dämonenschirm zu überwinden.

Er hatte nicht viel von dem verstanden, was Ilkar erklärt hatte, doch es schien ihm, als sei es unmöglich, den Schirm zu durchbrechen, woraus auch immer er bestehen mochte. Irgendwie freute er sich auch auf den nächsten Kontakt mit Sha-Kaan, denn er hoffte, der mächtige Drache könne ihnen einen Weg durch die Barriere zeigen.

Hirad gähnte ausgiebig, dann schüttelte er den Kopf und sah nach oben. Bis zur Morgendämmerung blieben noch zwei Stunden, vielleicht sogar länger. Es war eine milde Nacht, wenn der Wind nicht die Haut abkühlte, und die sanfte Wärme des Ofens strahlte aufs ganze Lager aus.

Er stand auf, gab aus dem Beutel Kaffeemehl in seinen Becher und füllte ihn mit heißem Wasser aus dem Topf auf dem Ofen auf. Ihr Kaffee ging zur Neige, und Hirad rümpfte empört die Nase, als ihm bewusst wurde, dass sie bald wieder den Kräutertee trinken mussten, den Ilkar immer braute.

Als er sich wieder setzen wollte, ließ ihn ein Knurren herumfahren. Der Kaffee spritzte über seinen Handschuh. Thraun kauerte vor ihm und starrte ihn an, die gelben Augen funkelten kalt und böse. Hirad erwiderte den Blick und schaffte es sogar zu lächeln.

»He, Thraun, ich bin’s doch, kennst du mich nicht mehr?«

Thraun knurrte weiter, und seine Nackenhaare sträubten sich. Er zog sich etwas zurück und spannte die Hinterläufe zum Sprung. Gleich neben ihm regte sich Will und erwachte.

»Was ist denn los?«, fragte er verschlafen.

»Ich weiß auch nicht«, erklärte Hirad. »Er hat …«

Mit einem leisen Bellen sprang der Wolf in die Dunkelheit. Dann brachen die Schmerzen über Hirad herein. Kurz und heftig waren sie und überfluteten alle seine Sinne. Er ging in die Knie, und der Kaffee, der noch im Becher verblieben war, verteilte sich vor ihm auf der Erde.

»Hirad Coldheart, höre mich.« Hirad wusste nicht, warum Sha-Kaans Stimme dieses Mal so nahe war. Sie klang auch anders als beim letzten Kontakt. Nicht mehr stark und befehlend, sondern gequält.

»Ich höre dich, Sha-Kaan.«

»Ich muss ein Tor zu dir öffnen. Der Rabe muss mich hören. Seid ihr an einem sicheren Ort? Eure Rhythmen und eure Signaturen sagen mir, dass ihr ruht.«

»Ja, Großer Kaan.«

»Sehr gut, dann soll es geschehen.« Die Schmerzen verschwanden.

Ein paar Schritte vor dem knienden Hirad und ein Stück tiefer am Hang entstand eine flackernde, helle Linie, die sich zu einem zehn Fuß hohen und an der Basis sieben Fuß breiten Dreieck ausdehnte. Im Innern war es dunkel, neben dem Dreieck blieb die Landschaft sichtbar.

Hirad richtete sich auf und sah sich um. Will starrte mit großen Augen das Licht an, und inzwischen regten sich auch die anderen Rabenkrieger. Unangenehme Empfindungen hatten sie aus dem Schlaf gerissen.

»Keine Angst, Will, es ist Sha-Kaan.«

»Schon gut, mir geht es gut.« Wills Stimme zitterte leicht. »Wieso ist Sha-Kaan hier?«

»Schwer zu erklären, aber irgendwie ist er aus seiner Dimension in unsere gekommen, weil er mit uns reden will. Wecke die anderen.« Hirad blickte wieder zum Licht. Im Innern des leuchtenden Rahmens waren jetzt goldene Funken zu sehen, als tobte dort ein Schneesturm. Dann verschob sich der Rahmen ein wenig nach links, bis ein von Kohlenpfannen beleuchteter Durchgang zu sehen war, der in eine kleine, kahle Kammer führte, die Hirad schon einmal gesehen hatte.

»Was ist das?«, fragte Will. Hirad drehte sich lächelnd zu ihm um.

»Das ist der Weg zum Großen Kaan«, sagte er.

Sha-Kaans Stimme flüsterte in seinem Kopf.

»Gut gemacht, Hirad Coldheart, deine Signatur ist stark. Komm jetzt und bringe deine Gefährten mit.«

Hirad war sich seiner Gefühle nicht ganz sicher, aber es war etwas, das einer Euphorie nicht unähnlich war. Sein Kopf war leicht, seine Gliedmaßen voller Kraft, und sein Herz pochte vor Freude. Er schob für den Augenblick alle Sorgen zur Seite. Sha-Kaan war da.

»Dann ist es mal wieder so weit«, sagte Ilkar neben ihm. Überrascht klang es nicht, nur unendlich müde.

»Aber dieses Mal wird die Begegnung einfacher und angenehmer verlaufen«, versprach Hirad.

»Nun ja, wir werden jedenfalls nichts stehlen«, meinte Ilkar.

Die anderen Rabenkrieger brauchten nicht lange, um zu erwachen. Der Unbekannte stellte sich neben Hirad auf. Er schwieg, sein Gesicht war verschlossen, die Augen blickten gleichmütig.

»Genau wie in alten Zeiten, was, Unbekannter?«, meinte Hirad lächelnd.

»Nein, Hirad, es ist nicht wie früher.« Der Unbekannte wagte sich als Erster in den Durchgang. Hirad wartete noch ab und beobachtete Denser und Erienne, die hinten ums Portal herumgingen.

»Faszinierend«, meinte der Dunkle Magier. »Ich kann dich von der anderen Seite aus sehen, aber ich kann nicht die Hand durchstecken und winken. Es ist, als existiere der Durchgang nur in genau der Form, wie du ihn siehst.« Er kam zu Hirad herüber. »Willst du mal etwas ausprobieren?«

Hirad zuckte mit den Achseln und nickte. »Wenn es sein muss.«

»Geh herum, wie ich es gerade getan habe. Ich bleibe hier.«

Hirad zog die Augenbrauen hoch und ging los, doch nach ein paar Schritten blieb er stehen.

»Warte mal, da stimmt doch was nicht.« Die Öffnung war ihm gefolgt, und er befand sich immer noch vor ihr.

»Doch, das ist schon in Ordnung«, sagte Ilkar. »Wir sind immer dahinter, falls ›dahinter‹ das richtige Wort ist.«

»Du bist der Drachenmann«, erklärte Erienne. »Das Portal existiert nur, weil du hier bist und weil du mit Sha-Kaan verbunden bist.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Hirad. Er hatte keine Ahnung, was Erienne meinte.

»Könntet ihr euch vielleicht mal so langsam in Bewegung setzen?« Der Kopf des Unbekannten erschien im Durchgang. »Macht schon.« Er verschwand wieder.

»Will, was ist mit Thraun? Wird er mitkommen?«, fragte Hirad.

»Ich habe mich gerade eben erst überwunden, selbst durchzugehen«, sagte der drahtige kleine Mann. Sein schwarzes Haar war grau durchsetzt, die Erinnerung an einen Schrecken, der ihn seit einiger Zeit in seinen Albträumen heimsuchte. »Ich nehme an, er wird uns folgen, falls es ihm immer noch wichtig ist, mich zu beschützen. Ich glaube aber, er hat Angst vor deinem Drachen.«

»Da ist er nicht der Einzige«, sagte Erienne.

»Der Rabe, los jetzt, wir wollen den Großen Kaan besuchen«, sagte Hirad. »Und lasst die Schwerter in der Scheide«, fügte er noch hinzu.

Es war, als würden seine Erinnerungen wach. Hirad wusste noch sehr genau, wie sie damals in Sha-Kaans Fusionskorridor eingedrungen waren und Denser verfolgt hatten. Damals hatte er nicht angehalten und sich umgesehen. Jetzt tat er es, wenngleich nur kurz.

Der Durchgang war nicht lang, und am anderen Ende wartete schon der Unbekannte in der kahlen Kammer. Er hatte die Tür noch nicht geöffnet. Im kleinen Raum standen an beiden Seiten Bänke, der Boden war mit Steinplatten ausgelegt, und dunkelgrüne Wandgemälde zeigten Flammen und einen Dschungel.

Hinter der Tür lag die erste Halle. Durch die Türen auf der rechten Seite hatte Sha-Kaan sein Feuer in den Raum gespien. Die Türen waren ersetzt worden, die Brandmale waren entfernt, an der Wand gegenüber hing das Abzeichen des Drachen, und darunter brannte ein Feuer im Kamin.

Hirad ging zum Wappen hinüber. Die Symbole schlugen ihn in ihren Bann – es waren zwei Klauen unter dem offenen Maul eines Feuer speienden Drachen. Ein Reflex im Wappen erregte seine Aufmerksamkeit. Er trat näher heran, und was er sah, erfüllte sein Herz mit Stolz. Das Abzeichen des Raben war eingearbeitet worden, ein blutroter Hintergrund, und davor der Umriss eines Rabenkopfes und eines Flügels. Das Wappen war in das Drachensymbol eingegliedert, stolz und doch untergeordnet. Hirad hatte keine Probleme mit der Befehlshierarchie, die darin zum Ausdruck kam.

»Nun ja, nun ja«, meinte Ilkar, der das Symbol des Raben sofort bemerkt hatte. Hirad lächelte.

»Alles herein, alles herein«, sagte er.

»Wie kommen wir jetzt zu Sha-Kaan?«, fragte Erienne. Hirad deutete nach rechts und führte den Raben weiter.

Hinter den beiden Türen, die einen zweiten Kamin einrahmten, sahen sie wieder einige mit dem Wappen des Drachen und mit Runen geschmückte Türen. Es schien eine Ewigkeit her, dass Hirad beobachtet hatte, wie sie zerstört wurden, doch jetzt waren die Türen intakt, und das goldene Wappen glänzte im Licht des Feuers. Zusätzliches Licht spendeten die Kohlenpfannen im kleinen Vorraum.

»Stoßt sie auf«, sagte Hirad, und der Unbekannte tat es. Vor ihnen lag nun der Drachensaal mit seinen Wandbehängen, den Kaminfeuern und der Wärme. Sha-Kaan lag auf dem Boden und ruhte sich aus. Der Hals war in ihre Richtung gestreckt, der Schwanz hinter dem mächtigen Körper zusammengerollt.

Er sprach laut, damit sie ihn hören konnten.

»Willkommen Hirad Coldheart, mein Drachenmann. Willkommen sei der Rabe.«

Sha-Kaan war riesig. Hirad hatte diese Tatsache noch nicht richtig zur Kenntnis genommen, seit er dem Drachen das erste Mal begegnet war, und jetzt verstand er auch, warum er diese Tatsache nicht an sich herangelassen hatte. Schon die Größe des Drachen war erschreckend. Aber außerdem auch noch zu akzeptieren, dass ein Geschöpf, das hundertzwanzig Fuß lang war, geistige Kräfte und ein Wissen besaß, das seinem eigenen weit überlegen war, das konnte einen nur in den Wahnsinn treiben. Der Drache strahlte eine Aura von Stärke aus.

Doch als er Sha-Kaan nun zum ersten Mal als Drachenmann gegenüberstand, lichtete sich der Nebel vor seinen Augen. Jetzt konnte er den Geist erkennen, der in diesem riesigen Körper wohnte. Er konnte spüren, welche Gedanken und Ängste den Drachen bewegten, und er wusste, dass der Große Kaan verletzt war.

Hirad führte den Raben über den gekachelten Boden bis zu dem mit Schlamm und Erde ausgelegten Bereich, in dem Sha-Kaan ruhte. Zehn Feuer brannten in Kaminen auf drei Seiten des Drachen. Es war schwül in der Halle. Sie schwärmten aus und nahmen instinktiv eine Verteidigungsposition ein. Der Unbekannte hielt sich rechts neben Hirad, Will war links von ihm, und die Magier – Denser, Ilkar und Erienne – bildeten dahinter die zweite Reihe. Thraun ließ sich nicht blicken. Als sie näher kamen, konnte Hirad Verbrennungen am Hals des Drachen erkennen.

»Erkläre mir, was wir tun sollen, Sha-Kaan«, sagte er.

»Dazu ist später noch Zeit – oder vielleicht haben wir auch überhaupt keine Zeit mehr«, sagte der Drache. »In Julatsa gibt es große Schwierigkeiten. Eure Magier haben dort eine Macht entfesselt, die sie nicht bändigen können, auch wenn sie es, wie ich fürchte, nicht wissen.«

»Darf ich sprechen?«, sagte Ilkar. Sha-Kaan hob den Kopf ein paar Fuß hoch. Die alten Augen blinzelten müde.

»Ein Elf aus Julatsa«, sagte er. »Es würde mich sehr interessieren, was du zu sagen hast, aber fasse dich kurz. Die Zeit drängt.«

»Danke«, sagte Ilkar. Er trat vor und stellte sich neben Hirad. Will zog sich erleichtert ein Stück zurück.

»Die Mächte, die du meinst, haben mit einem alten, erprobten Spruch zu tun, den wir den Dämonenschirm nennen. Der Rat von Julatsa weiß, wie er ihn zu beschwören und aufzulösen hat. Ich kann dir versichern, dass die Magier des Rates erfahren genug sind, die Kräfte der Dämonen zu bändigen. Der Schirm ist seinem Wesen nach ein räumlich beschränkter Spruch. Die Dämonen können den von ihm umschriebenen Bereich nicht verlassen. Es ist unmöglich.«

Sha-Kaan schwieg einen Augenblick. Die schweren, knochigen Augenbrauen zogen sich zusammen. Er atmete aus, und ein heißer, übel riechender Luftschwall umfing die Gefährten, sodass ihnen der Atem in der Kehle stockte und ihre Augen brannten.

»Dies ist also, was der Rat glaubt?«

»So steht es in unserer Überlieferung geschrieben. Die Mana-Struktur ist fest, erprobt und völlig zuverlässig«, erwiderte Ilkar.

»Aber«, sagte Sha-Kaan, und seine Stimme hallte wie eine Totenglocke, »aber das Gewebe eurer Dimension ist nicht fest. Die Kräfte des interdimensionalen Raumes reißen euren Himmel auf, und die Arakhe, die Dämonen, sind eine interdimensionale Macht. Sie haben durch den Schirm einen im Augenblick noch begrenzten Vorposten bekommen. Wenn der Schirm aufgelöst wird, wie ihr es nennt, dann haben sie die Macht, diesen Vorposten als dauerhaften Stützpunkt einzurichten. Wenn das geschieht, dann könnten die Dämonen euer Überleben und unsere Fusion gefährden.«

»Nein«, erwiderte Ilkar. Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. »Die Mana-Struktur wird von Julatsa aus kontrolliert. Die Dämonen benennen den Katalysator, aber davon abgesehen, ist der Schirm nur eine Erweiterung ihrer eigenen Dimension, die innerhalb von Balaia von unserer Magie eingeschränkt wird.«

Sha-Kaans Augen blitzten, und Hirad spürte die Verärgerung des Großen Kaan.

»Ilkar, du solltest lieber …«, setzte er an.

»Ich muss erklären, was ich weiß«, fiel ihm Ilkar ins Wort.

»Dann weißt du sehr wenig!« Sha-Kaans Antwort erfüllte die Halle und dröhnte zwischen den mit Wandbehängen geschmückten Wänden. »Der Dämonenschirm öffnet den Arakhe einen Weg durch eure Dimension. Die Säule ragt aus ihrer Dimension durch den interdimensionalen Raum und erstreckt sich bis zu einer anderen, in die sie noch nicht eindringen kann. Der Himmel mag wissen, wo das ist. Der Schirm ist nicht auf Balaia beschränkt, und die Schwächung eurer Dimension verleiht ihnen größere Kräfte, als ihr euch vorstellen könnt. Die Essenz eurer Dimension strömt in den interdimensionalen Raum, wo sie sich satt trinken können. Sie haben die Macht, euren Rat zu überwältigen.«

»Du solltest ihm glauben«, warf Hirad ein, der spürte, dass Sha-Kaans Geduld zu Ende ging. »Ich habe keine Ahnung, was er meint, aber ich bin sicher, dass es stimmt.« Ilkar nickte, und nun ergriff Denser das Wort.

»Eine Frage, Sha-Kaan, wenn ich darf?«

Sha-Kaans Kopf fuhr herum, und der kalte Blick der blauen Augen schien Denser zu durchbohren.

»Ah«, sagte er, und Hirad spürte die Abscheu. »Da ist derjenige, der mir etwas gestohlen hat. Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich darauf verzichtet habe, dir das Leben zu nehmen. Aber es heißt bei uns: Wenn der Himmel schwarz ist von den Flügeln deiner Feinde, dann kaust du sogar an verfaulten Grashalmen, um dein Feuer wach zu halten. Vergiss das nicht und stelle deine Frage, Dieb.«

Hirad sah sich zu Denser um, der kreidebleich geworden war. Doch der Magier zuckte nicht zusammen und wandte nicht den Blick ab.

»Dawnthief war unsere einzige Hoffnung zu überleben …«

»Stelle nicht meine Geduld auf die Probe, Dieb. Deine Gründe sind nicht wichtig. Die Tatsache, dass du mir etwas gestohlen hast, dagegen schon. Sprich.«

Hirad seufzte. Denser holte tief Luft.

»Ich wollte fragen, woher du so viel weißt und wie …«

»Wie ich so sicher sein kann? Einer meiner stärksten jungen Kaan ringt mit dem Tode, nachdem er den Arakhe an einem Ort begegnet ist, wo sie sich nicht hätten aufhalten dürfen. Sie haben ihn in seinem eigenen Fusionskorridor angefallen. Das hätte eigentlich unmöglich sein sollen.«

»Was können wir tun, Großer Kaan?« Hirad fürchtete sich vor der Antwort.

»Wir haben eine Chance, und dazu brauche ich eure menschliche Kraft und eure Magie. Und eure Seelen.«

»Wir sind der Köder«, murmelte der Unbekannte.

Sha-Kaan quittierte die Bemerkung des großen Mannes mit einem Kichern, ein trockenes Rasseln tief in der Kehle.

»Ja«, sagte er. »Aber ein vergifteter Köder.«

Die Rabenkrieger wechselten besorgte Blicke und scharrten unruhig mit den Füßen.

»Ich will euch erklären, was ihr tun müsst.« Hirad sah dem Großen Kaan in die Augen. Er spürte nicht die Absicht, ihnen etwas anzutun, sondern nur den Wunsch, zu überleben und zu siegen. Er nickte und lauschte.

 

Thraun bewegte sich vorsichtig zu der Öffnung, aus der die Witterung des Tiers strömte. Er wusste, dass er etwas sah, das es eigentlich nicht geben durfte, und dieser Gedanke beunruhigte ihn sehr, als er sich der Öffnung näherte. Er konnte hineinschauen, er sah das flackernde Licht, aber dahinter konnte er nichts außer dem Land erkennen. Er knurrte, doch das Knurren verwandelte sich in ein Winseln, das eine tiefe Furcht zum Ausdruck brachte. Die Öffnung führte zum Rudelbruder, sie führte aber auch zu dem Tier, dessen Macht den Wolf so sehr ängstigte. Vor allem führte der Durchgang ins Nichts. Da gab es keinen Wald, kein freies Land, kein Wasser und keinen Himmel.

Thraun schnüffelte am unteren Rand der Öffnung. Er sah die Stelle, wo das Gras dem Stein wich, und nahm die Witterung von drinnen auf. Holz und Öl gab es dort. Menschen und Elfen. All das beruhigte ihn. Doch diese vertrauten Witterungen wurden von fremden Gerüchen überlagert, die er nicht einordnen konnte. Er hob den Kopf und schaute hinein, er sah die Lichter und den Stein. Die Fährte des Rudelbruders roch nach Angst, aber nicht nach Schrecken. Sie war so deutlich wie die Fährten der anderen Menschen und des Elfen.

Er sah sich um, sein Herz schlug zum Zerspringen, er sah die Stelle, wo sie gelagert hatten, verlassen im Gras. Ein letzter Blick zu den Lichtern am Himmel, dann tappte er vorsichtig in die Öffnung.