KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

 

»Nein!« Das Wort rann Turalyon über die Lippen, als er durch die Menge drängte und neben dem Leichnam seines Helden auf die Knie fiel – seines Mentors, seines Anführers. Dann wanderte sein Blick zu dem Orc, der sich über ihm auftürmte, und etwas in ihm machte Klick.

Seit Monaten haderte Turalyon mit seinem Schicksal und einer ganz bestimmten Frage: Wie konnte das Heilige Licht alle Kreaturen vereinen, alle Seelen, wenn etwas derart Monströses, derart Grausames und wahrlich Böses wie die Orc-Horde auf dieser Welt wandelte?

Weil er dafür keine Erklärung fand, war er sich seiner selbst und der Lehren seiner Kirche unsicher gewesen. Und er hatte Leute wie Uther und die anderen Paladine beneidet, die Segen spendeten und vor Vertrauen in ihren Glauben hell erstrahlten.

Weil er wusste, dass er nicht über ihre Fähigkeiten verfügte.

Aber irgendetwas hatte dieser Orc, dieser Doomhammer, gerade gesagt, auf einer unbewussten Ebene, und Turalyon wollte herausfinden, was es bedeutete.

»Bis eure Welt uns gehört«, hatte der Kriegshäuptling der Horde gebrüllt. »Eure Welt«, nicht »unsere Welt« oder auch nur »diese Welt«!

Und das war die Antwort.

Sie stammten nicht von diesem Planeten, nicht von dieser Daseinsebene. Sie stammten von anderswo her und wurden von Dämonen angetrieben, deren Heimat noch weit dahinter lag.

Das Heilige Licht einte alles Leben dieser Welt – wozu die Orcs nicht gehörten.

Die Aufgabenstellung war damit klar. Turalyon wollte die strahlende Pracht des Heiligen Lichts dazu nutzen, die Welt von allen Bedrohungen von außerhalb zu befreien und die Reinheit darin zu erhalten.

Die Orcs gehörten nicht hierher. Und das bedeutete, dass er sie ungestraft niederstrecken durfte.

»Beim Licht, deine Zeit hier ist zu Ende!«, brüllte er und stand auf. Und ein helles Leuchten entstand um ihn herum. Das Licht war so hell, dass Orcs und Menschen gleichermaßen wegschauen und ihre Augen bedecken mussten. »Du bist nicht von dieser Welt, nicht vom Heiligen Licht. Du gehörst nicht hierher! Verschwinde!«

Der Kriegshäuptling der Horde verzog das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Eine Hand bedeckte die Augen. Turalyon nutzte die Gelegenheit, um sich neben Lothars Leichnam zu knien.

»Geh mit dem Licht, mein Freund«, flüsterte er. Er berührte die zerschmetterte Stirn mit dem Zeigefinger, seine Tränen fielen herab und mischten sich mit dem Blut des toten Kriegers. »Du hast dir einen Platz unter den Heiligen verdient, und das Licht heißt dich in liebender Umarmung willkommen.« Eine Aura entstand um den Körper, sie leuchtete in weißem, reinen Licht, und er meinte zu sehen, wie sich die Gesichtszüge seines toten Freundes leicht entspannten, ruhig wurden, friedlicher.

Dann erhob Turalyon sich wieder. Er hielt das zerstörte Schwert in der Hand. »Und nun zu dir, du verkommene Kreatur«, begann er und wandte sich dem geblendeten Doomhammer zu. »Nun bezahlst du für deine Verbrechen an dieser Welt und an ihren Völkern!«

Doomhammer musste die Drohung in seinem Tonfall erkannt haben, denn der Anführer der Orcs packte plötzlich seinen Hammer mit beiden Händen und schwang ihn nach oben – um den Schlag abzublocken, dessen Kommen er gespürt hatte.

Aber Turalyon schloss beide Hände fest um den Griff des zerbrochenen Schwertes. Er stieß die Klinge in einem grellen Blitz nach vorne...

... und die zerstörte Waffe prallte gegen den massiven Steinkopf des Kriegshammers. Die Erschütterung wanderte den hölzernen Stiel hinab und riss ihn aus den Händen des Besitzers. Der Hammer fiel harmlos zur Seite.

Doomhammers Augen weiteten sich, als er begriff, was geschehen war. Dann schloss er sie und nickte schwach. Er wartete auf den tödlichen Streich, der allem ein Ende machen würde.

Doch Turalyon hatte die Klinge in letzter Sekunde gedreht und traf nun den Orc mit der stumpfen Seite. Doomhammer sank auf die Knie und brach neben Lothar zusammen.

Turalyon konnte sehen, dass er noch atmete.

»Du wirst dich für deine Verbrechen vor einem Gericht verantworten müssen«, sagte er dem bewusstlosen Orc, der vom Licht, das aus Turalyon drang, erhellt wurde. »Du wirst in Ketten geschlagen in der Hauptstadt stehen.« Es war jetzt heller als der hellste Tag, und jeder Orc wandte den Blick ab, um dem Licht zu entgehen. »Die Herrscher der Allianz werden über dein Schicksal entscheiden, und damit wird deine totale Niederlage besiegelt sein.«

Nach diesen Worten blickte er auf und wandte sich an die anderen Orc-Krieger, die bewegungslos zugesehen hatten, wie der vermeintliche Sieg ihres Anführers sich in eine kapitale Niederlage verwandelt hatte.

»Ihr aber werdet so viel Glück nicht haben«, begann Turalyon und zeigte mit dem zerstörten Schwert auf sie. Licht strömte davon aus, von seiner Hand, seinem Kopf, seinen Augen. Der schwarze Fels war bereits weiß gebleicht von der Kraft, die seinen Körper durchfloss. »Ihr werdet hier sterben, mit dem Rest eurer Art, und die Welt wird für immer von eurer Beschmutzung befreit sein!« Er sprang vor, die sonnenhelle Klinge voran. Er erwischte den ersten Orc an der Kehle, bevor dieser auch nur ansatzweise reagieren konnte. Er stürzte. Blut floss aus der Wunde, während Turalyon schon auf den nächsten halbblinden Krieger der Horde zustürmte.

Das riss alle aus ihrer Erstarrung. Die Menschen und Orcs konnten sich wieder bewegen. Uther und die Ritter der Silbernen Hand hatten während Lothars und Doomhammers Kampf ebenfalls in das allgemeine Getümmel eingegriffen. Nun stürmten sie vorwärts, und ihre Auren brachen hervor.

Der Rest der Allianzstreitkräfte folgte ihnen.

 

***

 

Die darauffolgende Schlacht war überraschend kurz. Etliche der Orcs waren Zeuge von Doomhammers Niederlage geworden, und das hatte sie in Panik versetzt. Viele flohen. Andere ließen ihre Waffen fallen und ergaben sich – sie wurden gefangen genommen, trotz anders lautender Ankündigung. Turalyon wollte keine hilflosen Gefangenen töten, ganz gleich, was sie sich zu Schulden hatten kommen lassen.

Viele stellten sich allerdings auch dem Kampf. Doch sie waren unorganisiert, benommen und stellten für die entschlossenen Soldaten der Allianz keine große Herausforderung dar.

»Eine Gruppe, vielleicht vierhundert Krieger, flieht nach Süden in Richtung Rotkammgebirge«, berichtete Khadgar eine Stunde später, nachdem der Kampf geendet hatte.

Im Tal war es still geworden, mit Ausnahme der Geräusche der Männer, dem Stöhnen der Verwundeten und dem Knurren der Gefangenen.

»Gut«, antwortete Turalyon. Er schnitt einen langen Streifen aus seinem Umhang und band ihn um seine Hüfte. Dann steckte er Lothars zerstörtes Schwert in die Schlaufe. »Bildet Kampfreihen und verfolgt sie, aber nicht zu schnell. Wir wollen sie nicht einfangen.«

»Warum nicht?«

Turalyon sah seinen Freund an und erinnerte sich daran, dass der Magier bei allen Fähigkeiten, die er sonst hatte, kein Taktiker war. »Wo ist das Dunkle Portal, das in die Welt der Orcs führt?«, fragte er.

Khadgar zuckte mit den Achseln. »Das wissen wir nicht genau«, gab er zu. »Irgendwo im Sumpfland.«

»Und jetzt hat die Horde eine vernichtende Niederlage erlitten. Wohin werden die wenigen Überlebenden wohl ziehen?«

Der alt wirkende Magier lächelte. »Zurück nach Hause.«

»Genau.« Turalyon richtete sich auf. »Wir werden ihnen bis zu diesem Portal folgen und es ein für allemal zerstören.«

Khadgar nickte, setzte sich in Gang und hielt Ausschau nach den Truppführern. Er blieb jedoch stehen, als Uther eintraf.

»Es gibt keine Orcs mehr außer denen, die wir gefangen genommen haben«, verkündete der Paladin.

Turalyon nickte. »Gute Arbeit. Ein paar sind entkommen, aber wir werden sie verfolgen und ebenfalls vernichten oder festsetzen.«

Uther beobachtete ihn. »Du hast das Kommando übernommen«, sagte er sanft.

»Ja, ich glaube, das habe ich.« Turalyon überlegte kurz, der bislang keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Er hatte sich schlicht daran gewöhnt, der Armee Befehle zu erteilen, auf Lothars Anweisung hin und als er Kommandeur im Hinterland gewesen war. Er zuckte mit den Achseln. »Wenn du willst, können wir einen Greifenreiter nach Lordaeron entsenden und König Terenas und die anderen Herrscher fragen, wer das Kommando führen soll.«

»Dazu besteht keine Veranlassung«, sagte Khadgar, der neben ihn trat. »Du warst Lothars Offizier und Stellvertreter. Dir wurde die halbe Armee anvertraut. Du bist die einzige logische Wahl, nun, da er tot ist.« Der Magier sah Uther an, als fordere er ihn auf, zu widersprechen.

Aber zu Turalyons Überraschung nickte Uther. »Das stimmt«, sagte er. »Du bist unser Oberkommandierender, und wir folgen dir wie Fürst Lothar.« Damit trat er näher und legte Turalyon freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Und ich bin froh, dass dein Glaube endlich zu Tage getreten ist, mein Bruder.«

Die Worte waren aufrichtig gemeint. Turalyon lächelte, zufrieden, dass er auch die Unterstützung des älteren Paladins genoss.

»Ich danke dir, Uther Lichtbringer«, antwortete Turalyon. Er sah, wie sich die Augen des anderen angesichts des benutzten Titels weiteten. »Denn so sollst du fortan genannt werden, zu Ehren des Heiligen Lichts, das du heute über uns gebracht hast.«

Uther verneigte sich, sichtlich bewegt, dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und ging zurück zu den anderen Rittern der Silbernen Hand, um ihnen die neuen Marschbefehle zukommen zu lassen.

 

***

 

»Ich habe gedacht, er hätte um die Macht gestritten«, sagte Khadgar.

»Er wollte sie nicht«, antwortete Turalyon, der immer noch Uther beobachtete. »Er will anführen – aber nur als Vorbild. Es reicht ihm, den Orden zu leiten, weil der sich auch aus Paladinen zusammensetzt.«

»Und du?«, fragte ihn sein Freund frei heraus. »Gefällt es dir, uns alle zu befehligen?«

Turalyon dachte darüber nach, dann zuckte er mit den Achseln. »Ich glaube nicht, dass ich es verdient habe. Aber ich weiß, dass Lothar mir vertraut hat. Und ich glaube an ihn und seine Urteilskraft.« Er nickte und blickte Khadgar selbstbewusst an. »Und jetzt lass uns diese verdammten Orcs jagen.«

Es dauerte eine Woche, bis sie eine Gegend erreichten, die, wie Khadgar erklärte, Sümpfe des Elends genannt wurde. Sie hätten schneller dort sein können, aber Turalyon hatte seine Soldaten zur Vorsicht gemahnt. Sie mussten erst den genauen Ort des Portals kennen, dann konnten sie zuschlagen.

Lothars Tod hatte jedermann erschüttert. Aber er hatte sie auch zusammengeschweißt. Männer, die erschöpft gewesen waren, waren jetzt zielstrebig, hart und resolut. Sie alle nahmen den Verlust ihres Kommandeurs persönlich und wollten seinen Tod rächen. Und alle akzeptierten Turalyon als Nachfolger, besonders die, die mit ihm in Quel'Thalas gekämpft hatten.

Sich durch die Sümpfe zu kämpfen, war schwierig und forderte große Opfer, aber niemand beklagte sich darüber. Die Kundschafter behielten die Orcs im Auge, wodurch der Haupttross sich nur langsam bewegen konnte, um nicht Gefahr zu laufen, die Spur zu verlieren.

Die Reste der Horde waren unorganisiert. Alle Orcs zog es in dieselbe Richtung, aber sie marschierten nicht einheitlich. Jeder bewegte sich in seinem eigenen Tempo, mit einer Handvoll Kameraden innerhalb einer größeren Gruppe.

Turalyon hoffte, dass das auch so blieb. Er vermutete, dass Doomhammer Krieger und einen Offizier beim Portal zurückgelassen hatte. Und wenn dieser Anführer stark genug war, konnte er die verbliebenen Orcs vielleicht wieder zu einer ernst zu nehmenden Armee zusammenschweißen.

Turalyon wies seine Offiziere an, die Männer alarmbereit zu halten, damit sie nicht selbstzufrieden wurden. Wenn sie diesen Gegner zu leicht nahmen, konnten sie immer noch unterliegen.

Sie verbrachten eine weitere Woche in den Sümpfen, bevor sie schließlich eine Gegend erreichten, die Der schwarze Morast genannt wurde. Und hier wurde selbst Khadgar überrascht.

»Das verstehe ich nicht«, sagte der Magier und überprüfte den Boden. »Das alles sollte Sumpf sein! Es sollte genauso sein wie das Land, das wir gerade durchquert haben: morastig, feucht und stinkend.« Er berührte den roten Fels zu ihren Füßen und runzelte die Stirn. »Hier stimmt definitiv etwas nicht.«

»Es sieht aus, als würde der Boden glühen«, sagte Brann Bronzebart, der neben ihm stand. Die Zwerge hatten darauf bestanden, sie zu begleiten.

Turalyon war für ihre Kampferfahrenheit und Gesellschaft dankbar. Er mochte die beiden Brüder mit ihrem breiten Lächeln und ihrem Sinn für einen guten Kampf, wohlschmeckendes Bier und schöne Frauen. Brann war offensichtlich der Gebildetere von beiden. Er und Khadgar hatten mehrere Abende damit verbracht, über obskure Texte zu diskutieren, während die anderen weniger akademische Dinge beredeten.

Und alle Zwerge von Eisenschmiede waren Experten für Mineralien und Edelsteine. Deshalb war es beunruhigend, dass ihm die Beschaffenheit des Bodens unter ihren Füßen nicht bekannt war.

»Aber kein Feuer könnte so etwas anrichten.« Er kratzte mit dem Fingernagel darüber. »Und ganz sicher nicht auf einer so großen Fläche.« Der rote Stein erstreckte sich, so weit sie blicken konnten. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

»Unglücklicherweise habe ich das aber«, antwortete Khadgar, der sich wieder aufgerichtet hatte. »Aber nicht auf dieser Welt.« Er erklärte es nicht weiter, und etwas in seinem Gesichtsausdruck warnte die anderen davor, ihn deshalb zu bedrängen.

Muradin wollte trotzdem fragen, aber sein Bruder stoppte ihn. »Weißt du, was dein Name auf zwergisch bedeutet, Kumpel?«, fragte Brann, an Khadgar gewandt. »Er bedeutet 'Vertrauen'.« Der Magier nickte. »Wir vertrauen dir. Sag uns einfach, wenn du dazu bereit bist.«

»Es ist auf jeden Fall an die Orcs gebunden«, erläuterte Turalyon, »und es fällt leichter, sie über Fels zu verfolgen als durch Sumpfland. Deshalb habe ich nichts gegen diese Veränderung der Landschaft.« Die anderen nickten, obwohl Khadgar immer noch gedankenvoll schaute, als sie aufsaßen und weiterritten.

Ein paar Nächte später blickte Khadgar vom Lagerfeuer auf und sagte plötzlich: »Ich glaube, wir haben ein Problem.« Die anderen verstummten und wandten sich dem Zauberer zu. »Ich habe mit den anderen Magiern gesprochen, und wir glauben zu wissen, was den Boden verändert hat«, erklärte er. »Es ist das Dunkle Portal selbst. Seine Anwesenheit beeinflusst unsere Welt. Es fängt an mit dem Land, das es unmittelbar umgibt. Und ich glaube, dass es sich ausbreitet«

»Warum sollte das Portal eine solche Veränderung bewirken?«, fragte Uther. Der Anführer der Silbernen Hand war nie mit den Magiern warm geworden. Er vertrat die weit verbreitete Auffassung, dass ihre Magie unheilig sei, möglicherweise sogar dämonisch. Aber er hatte gelernt, sie zumindest zu akzeptieren, und vielleicht würde er Khadgar sogar im Laufe des langen Krieges respektieren lernen.

Doch der Zauberer schüttelte den Kopf. »Ich muss es erst sehen, um sicherzugehen. Ich glaube, dass dieses Portal zwei Welten miteinander verbindet. Diese Welt – und Draenor, die eigentliche Heimat der Orcs. Das Tor macht mehr, als nur eine Brücke zu schlagen. Irgendwie verschmilzt es beide Welten – jedenfalls dort, wo der Übergang geschaffen wurde, wo es zur Berührung kommt.«

»Und deren Heimat besteht aus rotem Stein?«, fragte Brann nachdenklich.

»Nicht vollständig«, antwortete Khadgar. »Vor einiger Zeit hatte ich eine Vision von Draenor. Was ich sah, war ein öder Ort mit viel Boden wie diesem hier. Dort ist nur wenig Fruchtbares übrig geblieben, weil die Natur selbst dem Land entzogen wurde. Ich glaube, es waren ihre Magier, die das Land befleckten. Diese Befleckung breitet sich nun durch das Portal aus. Und jedes Mal, wenn die Orcs ihre Magie nutzen, wird es schlimmer.«

»Noch ein Grund mehr, das Portal zu zerstören«, verkündete Turalyon. »Und je eher, desto besser.«

 

***

 

Sein Freund nickte. »Ja, das sehe ich auch so. Je eher, desto besser.«

Es dauerte länger als drei Tage, bevor die Kundschafter zurückkehrten und berichteten, dass die Orcs eine Rast eingelegt hatten. »Sie befinden sich alle in einem großen Tal direkt vor uns«, sagte einer von ihnen. »Und in der Mitte steht eine Art... Tor.«

Khadgar tauschte Blicke mit Turalyon, Uther und den Bronzebart-Brüdern. Das musste das Dunkle Portal sein!

»Sagt es den Männern«, sagte Turalyon leise. Er zog Lothars zerbrochenes Schwert, und in der anderen Hand hielt er seinen Hammer. »Wir greifen sofort an.« Khadgar wunderte sich erneut, wie sehr sein Freund sich in den letzten Monaten verändert hatte. Turalyon war ernster geworden, befehlsgewohnter, sich seiner selbst sicherer. Er war vom unerfahrenen jungen Mann zu einem erfahrenen Krieger und Anführer gereift.

Aber seit Lothars Tod umgab ihn auch eine Aura der Ruhe, Weisheit... fast etwas Majestätisches. Bei Uther und den anderen Paladinen war es ähnlich, doch sie wirkten abgeklärter, als stünden sie über den Problemen dieser Welt. Turalyon hingegen schien mehr eins mit der Welt zu sein, die ihn umgab. Es war eine Magie, die Khadgar nicht verstand, der er aber großen Respekt zollte. In vielen Bereichen war sie genau das Gegenteil seiner eigenen, die die Elemente und andere Kräfte kontrollieren wollte.

Turalyon kontrollierte gar nichts, doch indem er sich denselben Kräften öffnete, bekam er die Möglichkeit, sie anzuzapfen. Er tat das mit weniger Kontrolle, dafür mit mehr Raffinesse als jeder Magier.

Die Soldaten waren bereit und schritten neben ihren Pferden, um auf dem harten roten Stein weniger Lärm zu verursachen.

Der Boden stieg zunächst leicht an... und fiel dann abrupt in ein tiefes Tal ab, dessen gegenüberliegende Wände noch viel höher reichten.

Im Zentrum des Tales befand sich, wie der Kundschafter berichtet hatte, ein massives Tor – nicht in eine Wand oder ein Gebäude eingelassen, sondern völlig frei stehend.

Khadgar keuchte, als er es sah. Das Dunkle Portal – es konnte sich um nichts anderes handeln – war mindestens dreißig, fünfunddreißig Meter hoch und fast genauso breit. Es bestand aus grünlich-grauem Stein. Schroffe, wirbelnde Muster waren auf jeder Seite eingraviert, jedes um einen finster blickenden Schädel angeordnet. Das Mittelstück wies unten geschmückte Bänder auf, oben war es leer.

Vier breite Stufen führten zum eigentlichen Portal, das grünlich und düster glühte und vor Energie strotzte, die durch ein leichtes Pulsieren sichtbar war.

Für Khadgar war es wie ein Mahlstrom, der Macht ausstrahlte und eine merkwürdige Ahnung von großer Entfernung, die dahinter lauerte. Er konnte spüren, wie es sich ausdehnte, in das Land vordrang und sich daraus Energie einverleibte.

Die Orcs sammelten sich vor dem Portal, vermittelten aber den Anschein, als wüssten sie nicht genau, was sie tun sollten. Es waren mehr als diejenigen, die sie verfolgt hatten. Turalyon behielt offensichtlich recht. Doomhammer hatte Orcs zurückgelassen, um diesen Ort zu bewachen.

Aber die Allianz war immer noch in der Überzahl. Und die Orcs waren in kleine Gruppen zersplittert, als hätten sie nicht länger Grund, einander zu trauen, weshalb sie sich wieder ihren eigenen Familien und Jagdstämmen angeschlossen hatten. Sie bildeten keine in sich geschlossene Armee mehr, sondern waren mehr eine Ansammlung kleinerer Banden.

»Jetzt!«, brüllte Turalyon, setzte über den Rand der Klippe und rutschte den langen Abhang hinunter. Er landete fast auf ein paar Orcs, die dort saßen. Lothars Schwert stieß vor, spießte mit der schartigen Bruchstelle einen Orc auf, und dann erschlug Turalyons Hammer einen weiteren, zerschmetterte seinen Schädel und sandte ihn dem Ersten hinterher.

Der fiel, seines Haltes durch das Schwert beraubt, zu Boden. Dann waren Uther und seine Paladine heran. Sie flankierten Turalyon und verfolgten die anderen Orcs. Der Rest der Allianz war hinter ihnen.

Khadgar wusste, dass er im Kampf Mann gegen Mann weniger zu bieten hatte als in seinem ureigenen Element, der Magie. Und so blieb er mit den anderen Magiern auf der Klippe zurück und verfolgte angespannt den Kampf... der schnell entschieden war.

Lothar und Turalyon hatten die Truppen der Allianz zu einer verschworenen Armee geeint – und entsprechend kämpften die Soldaten auch. Die Männer hatten einen gemeinsamen Feind, der sie zur Höchstleistung anspornte. Pikeniere wurden von Schwertkämpfern und Axtkämpfern verteidigt. Die Bogenschützen wachten über allen und griffen ein, wenn es nötig war.

Die Orcs waren zu unorganisiert, um zusammenzuarbeiten. Jede Gruppe kämpfte für sich. Das machte es für Turalyon leicht, seine Männer loszuschicken, um eine Orc-Gruppe zu umzingeln und sie entweder zu töten oder gefangen zu nehmen. Er arbeitete sich methodisch durch das Tal vor, bekämpfte Orc um Orc. Inzwischen lagen genauso viele in Ketten wie tot auf dem Boden.

Doch eine große Zahl von Orcs, Todesrittern und anderen war bereits durch das Portal geflohen, anstatt sich in den Tod oder die Gefangenschaft zu ergeben. Nur eine kleine, abgekämpfte Gruppe blieb zurück und verteidigte den Rückzug der anderen.

Schließlich hatte Turalyon den Sockel des Portals erreicht. Zwei stämmige Orcs standen auf der obersten Stufe. Sie hatten schwere schroffe Äxte. Schmuck aus Knochen und Metall hing in ihren Haaren, den Nasen, den Ohren, den Augenbrauen und überall an ihrer Rüstung. Ihr Haar stand scharf gezackt von ihrem Kopf ab, als wäre es auch eine Waffe.

Einer der Orcs trug blutdurchtränkte Verbände um seine linke Schulter und das linke Bein. Trotzdem wirkten beide Orcs überheblich und siegesgewiss, ungerührt von der Niederlage ihres Anführers.

»Ihr tretet Rend und Maim Blackhand vom Black-Tooth-Grin-Clan gegenüber«, rief einer der beiden und stieg die Stufen hinab auf Turalyon zu. »Unser Vater, Blackhand, führte die Horde, bis der Emporkömmling Doomhammer ihn ungerechtfertigter Weise erschlug. Jetzt, da er fort ist, werden wir die Horde wieder aufbauen, bis sie größer als zuvor ist, und wir werden eure Existenz auslöschen.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Turalyon, und seine Worte hallten über das Tal. Gegen den Hintergrund der wirbelnden Energie des Portals leuchtete er wie ein kleines, aber helles Licht. »Euer Anführer ist in Gefangenschaft, eure Armee vernichtet, eure Clans sind in Auflösung begriffen – und was noch von der Horde übrig ist, befindet sich hier, in diesem Tal, das wir umstellt haben.« Er hob Hammer und Schwert. »Stellt euch mir, wenn ihr es wagt. Oder flieht in eure eigene Welt und kehrt niemals wieder zurück!«

Die Worte zeigten Wirkung, die beiden Brüder stürmten die letzten Stufe hinab und warfen sich Turalyon mit einem wilden Kriegsschrei entgegen.

Aber der junge Paladin und frisch gebackene Kommandeur schreckte davor nicht zurück. Er machte einen Schritt nach hinten und schlug dann mit Hammer und Schwert hart zu. Die Äxte der Orcs polterten zu Boden. Sofort trat er wieder vor, zog die Waffen nach oben und traf beide Kontrahenten unter dem Kinn.

Der zur Linken taumelte ein paar Schritte, sein Bruder schwankte, Blut floss aus der tiefen Wunde unter seinem Kinn.

Khadgar hörte, wie die beiden Orcs knurrten und dann erneut vorstürzten. Ihre Angriffe waren jetzt schwerfälliger, dafür wilder, doch Turalyon entging beiden, indem er sich durch sie hindurch schlängelte. Er traf sie in den Bauch, als er sie passierte, und dann trat er sie von hinten, wodurch sie von der Rampe auf den harten Steinboden hinabstürzten.

Danach war er sofort wieder bei ihnen, und seine Waffen pfiffen durch die Luft.

Unglücklicherweise waren die Brüder jedoch nicht allein.

»Clanbrüder, steht uns bei!«, brüllte einer von ihnen. »Tötet den Menschen!«

Zwei weitere Orcs warfen sich ins Gefecht und ermöglichten es den Blackhands, sich zurückzuziehen.

Die Brüder kämpften gegen einige der Männer, doch Khadgar hielt ihre Schläge für halbherzig. Sie hatten offensichtlich ihre Chancen neu überdacht.

Eine Lücke tat sich zwischen den Streitkräften der Allianz auf, als sie das Portal erreichten. Die Orc-Brüder nutzten ihre Chance und rannten. Eine Handvoll ihrer Artgenossen folgte ihrem Beispiel. Aber Turalyon war zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern.

Viele der Orcs kämpften weiter. Einige bespuckten und verfluchten die fliehenden Blackhands sogar. Und die beiden, die zur Rettung der Blackhands gekommen waren, bedrohten Turalyon noch immer.

»Raaargh!«, knurrte einer der Neuankömmlinge und schlug mit seiner Axt zu. Turalyon blockte den Schlag mit seinem Hammer ab und lenkte die schwere Waffe zur Seite. Dann stach er mit dem zerbrochenen Schwert zu. Die Restklinge schlitzte Rüstung und Fleisch gleichermaßen auf und drang tief in den Orc ein, der seine Waffe fallen ließ und sich versteifte. Er keuchte, als seine Hände die blutbedeckte Klinge umfassten... und dann fiel er mit stumpf gewordenen Augen zu Boden.

»Stirb!«, heulte der andere Orc und warf sich auf Turalyon, der sein ramponiertes Schwert aus dem ersten Orc zog und es sofort gegen den zweiten schwang. Er erwischte ihn mit der schartigen Bruchstelle an der Kehle.

Das allein reichte nicht, um den vorwärts stürmenden Krieger zu stoppen, aber Turalyon parierte den Axthieb mit dem Hammer und drosch dann damit auf den Gegner ein. Der schwere Hammer traf den Kopf des Orcs. Der Treffer musste vernichtend gewesen sein, weil der Orc auf der Stelle zusammenbrach. Blut lief aus seinem zerschmetterten Schädel. Er bewegte sich nicht mehr.

Turalyon schaute auf die beiden Toten hinab, dann sah er, wie die Blackhands verschwanden. Er suchte Khadgar. Als er ihn erspähte, wies der Paladin mit Lothars Klinge auf das Portal und rief: »Jetzt! Zerstöre es!«

»Tretet zurück«, antwortete Khadgar. »Ich weiß nicht genau, was passieren wird.« Er bekam kaum mit, dass sein Freund nickte und sich von der massiven Steinstruktur entfernte. Er und die elf Magier konzentrierten sich bereits auf das Objekt.

Er konnte seine Macht spüren, ebenso wie seine Verbindung zu seiner Welt und Draenor – und dem Spalt, den er geschaffen hatte, damit man zwischen den beiden wechseln konnte. Der Spalt würde einfach die Magie verschlingen, vermutete er. Und die Welten selbst waren zu groß und zu mächtig, um sie beeinflussen zu können. Selbst wenn sie alle zusammenarbeiteten, war das unmöglich.

Und so kam eigentlich nur das Tor selbst in Betracht. Stein konnte man vernichten.

Khadgar konzentrierte sich und erweckte die Kraft in sich. Er spürte, wie sie anstieg.

In diesen Gefilden war nur wenig Energie übrig geblieben. Doch das Portal selbst verfügte über genug davon – aber über keine Schutzmechanismen, die jemanden wie ihn daran hindern konnten, diese Kräfte für sich selbst zu nutzen.

Das taten Khadgar und die anderen Magier jetzt: Sie lenkten die Energiereserven des Portals direkt in Khadgar hinein. Die Haare standen ihm zu Berge, und die Energie zuckte sichtbar über sein Gesicht und die Finger. Der Wind heulte, und er dachte, dass er Blitze gesehen hätte, obwohl es auch nur die Energie sein konnte, die über – ja selbst durch – seine Augen floss. Er hoffte, dass sie ausreichen würde.

Er fixierte das Dunkle Portal und schloss die Augen. Dann breitete er seine Arme aus, die Handflächen nach oben gerichtet. Er nahm alle Magie in sich auf, die er finden konnte, jedes noch so kleine Quäntchen, und verwob es zu etwas wie einem mystischen Ball, der strahlend und pulsierend vor seinen Augen schwebte. Er konnte die Kugel spüren, fühlen, wie sie pochte, und erkennen, wie leicht sie zusammengesetzt war.

Perfekt. Er richtete seine Sinne auf das Portal, auf die dort lagernden Energien, und orientierte sich anhand ihrer Position.

Dann öffnete er die Augen, führte die Hände zusammen... und drehte sie im letzten Moment, sodass die Innenflächen aufeinandergepresst wurden. Der Energieball bewegte sich vorwärts, wurde flacher und größer und verwandelte sich von einer einfachen Kugel in eine schmale Form, die einem Speer ähnlich sah.

Dieser Speer traf das Portal direkt in seinem Zentrum, und die in der Lanze enthaltene Energie strömte in das Dunkle Portal und über die Steinplatten, die die Seiten und Decke bildeten.

Die Explosion warf die meisten Soldaten der Allianz und viele der verbliebenen Orcs um. Selbst Khadgar wankte. Aber der schwere Torsturz und die Säulen... waren verschwunden.

Zum Glück für die in der Nähe befindlichen Allianzstreitkräfte wurden die meisten Steinbrocken in die Tiefen des Portals geschleudert.

Dann löste sich das Portal selbst auf. Die wirbelnden Farben verblassten und wurden ersetzt durch unspektakulären leeren Raum. Khadgar spürte, dass die Welt wieder atmete, als das, was sie an Draenor gekettet hatte, zerbarst und das Zerren der sterbenden Welt beendete. Die Natur würde sich von selbst wieder erholen.

Als er nach unten schaute, sah Khadgar, wie Turalyon seinen Hammer vom Boden aufhob. Der Paladin war staubbedeckt, blickte aber ansonsten unverletzt zu ihm auf. Er lächelte Khadgar zu, während er sich den Staub von Gesicht, Armen und Brust wischte.

»Ich glaube nicht, dass sie diesen Durchgang noch einmal benutzen werden«, rief er zu ihm hoch, und beide lachten erleichtert.

Der Krieg war vorbei, die Allianz hatte gesiegt, und ihre Welt war in Sicherheit.