KAPITEL ZWANZIG
»Turalyon!«
Turalyon blickte auf... und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Ein Mann in voller Rüstung ritt auf ihn zu. Das Löwenabzeichen von Stormwind glitzerte golden auf seinem verbeulten Schild, und der Griff des großen Schwertes ragte ihm über die Schulter.
»Fürst Lothar?« Aufgeregt erhob Turalyon sich neben dem Lagerfeuer und schaute dem Helden von Stormwind und Kommandanten der Allianz entgegen.
Schließlich stieg der ältere Mann vom Pferd und schlug ihm auf die Schulter. »Schön, dich zu sehen, Junge!« Er spürte, dass Lothar es ernst meinte. »Man hat mir gesagt, dass ich dich hier finde!«
»Man?« Turalyon sah sich um, immer noch verwirrt von der unerwarteten Ankunft seines kahlköpfigen Mentors, der müde, aber zufrieden wirkte. »Ich habe Alleria, Theron und die anderen getroffen, als ich nach Norden ritt. Sie haben mir berichtet, was in der Hauptstadt geschehen ist, dass du den Rest der Armee hergebracht hast und verfolgst, was noch von der Horde übrig geblieben ist.« Er schlug ihm erneut auf die Schulter. »Gute Arbeit, mein Sohn!«
»Ich hatte viel Hilfe«, protestierte Turalyon, auf der einen Seite dankbar für das Lob, aber davon auch ein wenig aus der Fassung gebracht. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht sicher, was genau geschehen ist.«
Er und Lothar setzten sich. Der alte Mann nahm dankbar etwas Essen und einen Weinschlauch von Khadgar an, während Turalyon es ihm erklärte. Er war so überrascht wie jeder andere gewesen, als sich das Gros der Horde von der Hauptstadt abgewandt hatte und eiligst Richtung Süden marschiert war. Dann hatte er einen Bericht von Proudmoore über die Seeschlacht und ihren Ausgang erhalten.
»Der Rest der Horde war zu schwach, um gegen uns zu bestehen. Besonders, als König Terenas sie jedes Mal attackierte, wenn sie in die Nähe der Stadtmauern kamen«, schloss er. »Und ihr Anführer muss es gewusst haben. Deshalb haben sie sich zurückgezogen. Seitdem verfolgen wir sie.«
»Vielleicht wartete er darauf, dass diese Orcs von der See zurückkehrten«, meinte Lothar und nagte an einem Stück Käse. »Als das nicht passierte, muss er geahnt haben, dass sie sich in Schwierigkeiten befinden.« Er grinste. »Außerdem hatte er keine Fluchtroute mehr, nachdem die Pässe in den Bergen blockiert wurden und von dort kein Nachschub zu erwarten war.«
Turalyon nickte. »Dann hast du von Perenolde gehört?«
»Allerdings.« Lothar machte ein ernstes Gesicht. »Wie ein Mann sich gegen sein eigenes Volk stellen kann, werde ich nie verstehen. Aber dank Trollbane müssen wir uns um Alterac nicht mehr sorgen.«
»Und das Hinterland?«, fragte Khadgar.
»Orcfrei«, antwortete Lothar. »Es dauerte eine Weile, bis wir alle fanden. Einige hatten sich tief eingegraben. Sie hatten sogar schon unterirdische Verstecke ausgehoben, in die sie verschwinden konnten, wenn wir sie jagten. Aber schließlich haben wir sie doch erwischt. Die Wildhammerzwerge patrouillieren dort immer noch.«
»Und die Elfen kehren heim nach Quel'Thalas, um auch dort aufzuräumen«, fügte Turalyon hinzu. »Die Orcs scheinen den Wald verlassen zu haben. Doch die Trolle treiben sich dort immer noch herum.« Er lächelte, als er an Alleria und ihre Artgenossen dachte und deren »Zuneigung« für Waldtrolle. »Ich möchte nicht in der Haut der Biester stecken, wenn sie erneut auf die Waldläufer treffen.« Er schaute sich um. »Aber wo sind Uther und die anderen Paladine?«
»Ich habe sie nach Lordaeron geschickt«, antwortete Lothar, leerte den Weinschlauch und legte ihn beiseite. »Die sorgen dafür, dass die Region sicher bleibt, und danach folgen sie uns.« Er lächelte karg. »Uther könnte beleidigt sein, wenn wir ihm niemanden zum Bekämpfen übrig lassen.«
Turalyon nickte und stellte sich vor, wie sein eifriger Paladinkollege darauf reagieren würde, wenn er das Ende des Krieges verpasste. Obwohl die Orcs noch durchaus zahlreich waren, fühlte es sich doch an, als neigte sich der Krieg dem Ende entgegen.
Er hatte befürchtet, die Schlacht um die Hauptstadt bereits verloren zu haben. Aber als das Gros der Horde das Schlachtfeld verließ, hatte sich alles geändert. Die Horde war jetzt kleiner – und verzweifelter denn je.
»Sie versuchen, sich in Khaz Modan einzuigeln«, sagte Khadgar, aber Turalyon schüttelte den Kopf. Er bemerkte mit Stolz, dass Lothar dasselbe tat.
»Dann bekommen sie es mit den Zwergen zu tun«, erklärte Lothar. »Eisenschmiede ist immer noch nicht erobert, und die Zwerge warten nur auf ihre Chance, um die Berge zurückzugewinnen.«
»Wir sollten ihnen dabei helfen«, erklärte Turalyon und unterbrach Khadgar und Lothar, die ihm nun ihre volle Aufmerksamkeit widmeten. »Wir könnten einen Abstecher nach Eisenschmiede machen, wenn die Orcs dort nicht von sich aus hingehen, und die Greifenreiter nutzen, um der Horde auf der Spur zu bleiben. Wenn wir die Zwerge befreien, können sie die Berge halten und somit verhindern, dass sich die Orcs dorthin zurückziehen. Außerdem jagen sie alle Grünhäute, die sich dort noch rumtreiben mögen.«
Lothar nickte. »Das ist ein guter Plan«, meinte er lächelnd. »Sagt es den Truppen, und wir marschieren am frühen Morgen los.« Er stand auf und streckte sich. »Ich brauche Schlaf, sagte er. »Es war ein langer Ritt, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste.« Er warf Turalyon einen ernsten Blick zu. »Du hast dich gut geschlagen, während ich weg war. Aber das wusste ich ja vorher.« Lothar machte eine Pause und schaute ihn mit einer Mischung aus Trauer und Respekt an. »Liane«, sagte er sanft. »Du erinnerst mich an ihn. Du bist genauso tapfer.«
Turalyon schluckte und war zu keiner Antwort fähig.
Als der ältere Krieger sich abwandte und wegging, trat Khadgar neben ihn. »Sieht so aus, als hättest du dir seinen Respekt doch noch verdient«, stichelte der Magier. Er wusste, wie viel Wert Turalyon auf Lothars Meinung legte – und wie sehr er sich davor gefürchtet hatte, als Kommandeur zu versagen.
»Sei bloß still«, sagte Turalyon abwesend und schubste Khadgar leicht an. Aber er lächelte, als er seinen Schlafsack ausrollte, sich darauf sinken ließ, die Augen schloss und versuchte, ein wenig Ruhe zu finden, bevor der Morgen kam und sie weiterziehen würden.
***
»Zum Angriff!«, rief Lothar. Er hatte sein Schwert gezogen, dessen goldene Runen im Sonnenlicht glitzerten, während sie auf dem Pfad um die schneebedeckten Berge herumritten. Nahe der Bergspitze war der Fels geschliffen und in eine riesige Wand mit Fenstern verwandelt worden. In diese Mauer integriert, über eine kurze Treppenflucht erreichbar, befand sich ein riesiges Tor, fast zwanzig Meter hoch, auf dem das Bild eines mächtigen Zwergenkriegers prangte. Über das Tor zog sich ein majestätischer Bogen, auf dem ein schwerer Amboss zu sehen war.
Der Eingang nach Eisenschmiede bot ein beeindruckendes Bild.
Das schweren Torflügel wurden rasch geschlossen, und kein anderer Zugang war zu sehen. Das hinderte die Orcs aber nicht daran, davor auszuharren und die alten Verteidigungsanlagen der Zwerge vergeblich zu attackieren.
Gegen diese Orcs traten Lothar und seine Soldaten an, als sie das Ende des Weges erreicht hatten und auf den Felsvorsprung vor dem gigantischen Tor stürmten.
Die Orcs wirbelten überrascht herum. Sie waren so mit ihrem eigenen Angriff beschäftigt gewesen, dass sie bei dem Wind, der den Gipfel umtoste, nicht gehört hatten, wie die Allianzkrieger eingetroffen waren.
Jetzt versuchten sie verzweifelt, sich gegen die Angreifer zu wehren. Aber die erste Reihe der Orcs wurde bereits niedergemäht, bevor sie sich auch nur in Position bringen konnten.
»Nicht nachlassen!«, brüllte Lothar. Er schlug einem Orc mit seinem Schwert den Arm ab und schlitzte einen zweiten auf. »Treibt sie zu den Felsen zurück!«
Seine Männer hoben ihre Schilde und schritten stetig voran. Dabei benutzten sie ihre Schwerter und Speere, um nach jedem Orc zu schlagen, der versuchte, diese Linie zu durchbrechen. Ansonsten drängten sie die Gegner vor das Gebäude, das sie hatten erobern wollen.
Doch wie von Lothar erhofft, waren die Zwerge bestens vorbereitet gewesen. Das riesige schwarze Tor schwang auf, und kleine, zähe Kämpfer in schwerer Rüstung strömten daraus hervor, allesamt mit Hämmern, Äxten und Pistolen bewaffnet. Sie kamen von hinten über die Orcs, die, eingekeilt zwischen den Menschen und den Zwergen, schnell niedergemetzelt wurden.
»Seid unseres Dankes gewiss«, erklärte einer der Zwerge an Lothar gewandt. »Ich bin Muradin Bronzebart, der Bruder von König Magni. Die Zwerge von Eisenschmiede stehen tief in Eurer Schuld.« Die Farbe seines dichten Bartes passte zu seinem Namen. Seine Axt war schartig von vielen Kämpfen.
»Anduin Lothar, Oberkommandierender der Allianz«, stellte Lothar sich seinerseits vor und bot ihm die Hand an. Muradins Griff war so fest wie erwartet. »Wir freuen uns, euch helfen zu können. Unser Ziel ist, dieses Land vom Einfluss der Horde zu befreien.«
»So soll es sein«, stimmte Muradin zu und nickte. Er runzelte die Stirn. »Die Allianz? Habt ihr vor Monaten die Boten aus Lordaeron zu uns gesandt?«
»Das stimmt.« Lothar wurde klar, dass König Terenas auch hierher Kuriere geschickt hatte, genauso wie nach Quel'Thalas. Der König über Lordaeron hatte offensichtlich keinen möglichen Verbündeten ausgelassen. »Wir haben uns zu unser aller Vorteil zusammengeschlossen.«
»Und was habt ihr als Nächstes vor?«, fragte ein Zwerg, der nah genug stand, um der Unterhaltung zu folgen. Sein Gesicht war nicht so faltig wie das von Muradin, aber er trug dieselben Züge und einen ebensolchen Bart.
»Das ist mein Bruder Brann«, erklärte Muradin.
»Wir verfolgen die Überreste der Horde«, antwortete Lothar. »Viele haben wir bereits erwischt. Und jetzt wollen wir den Rest erledigen und diesen Krieg beenden.«
Die Brüder tauschten Blicke miteinander und nickten. »Wir werden Euch begleiten«, entschied Muradin. »Viele unseres Volkes werden die Berge nach Orcs durchkämmen, unsere alten Festungen zurückerobern und sicherstellen, dass keine Grünhaut sich mehr in Khaz Modan herumtreibt.« Er lächelte. »Aber einige Kameraden werden uns begleiten und der Allianz beitreten.«
»Wir danken euch für die Hilfe«, sagte Lothar ehrlich. Er war den Zwergen in Stormwind schon ein- oder zweimal zuvor begegnet. Dabei war er stets von ihrer Stärke und ihrem Durchhaltevermögen beeindruckt gewesen. Wenn diese Bronzebartzwerge im Kampf so gut waren wie ihre Verwandten vom Wildhammer-Clan, wären auch nur wenige von ihnen schon eine wertvolle Bereicherung.
»Gut. Wir schicken einen Boten aus, um unseren Bruder auf dem Laufenden zu halten und uns mit Vorräten zu versorgen.« Muradin schulterte seine Axt und sah sich um. »Wohin ist die Horde gezogen?«
Lothar blickte Khadgar an, der grinste. Dann zuckte er mit den Achseln, lächelte und wies südwärts.
***
»Sie bewegen sich in Richtung Schwarzfelsspitze«, verkündete Kurdran und stieg nahe der Stelle, wo Lothar und seine Offiziere um ein kleines Lagerfeuer herum saßen, von seinem Greifen. Er war mit den anderen Wildhammerzwergen gerade erst von einer Patrouille zurückgekommen.
»Schwarzfelsspitze? Seid Ihr Euch sicher?«, fragte Muradin. Turalyon hatte erkannt, dass sich die Wildhämmer nicht sonderlich gut mit den Bronzebärten vertrugen...
Nein, das war nicht ganz richtig. Sie waren eher wie streitende Geschwister, überlegte er. Sie mochten einander, mussten aber ständig zanken und den anderen ärgern.
»Natürlich bin ich mir sicher!«, zischte Kurdran. Sky'ree krächzte eine sanfte Warnung. »Ich bin ihnen schließlich gefolgt, nicht wahr?« Dann erschien ein listiger Ausdruck auf seinem Gesicht. »Oder willst du lieber selbst nachsehen?«
Muradin und Brann erbleichten und traten einen Schritt zurück. Kurdran lachte. Die Bronzebartzwerge liebten das Fliegen in etwa sosehr, wie die Wildhammerzwerge das Kriechen durch Höhlen.
»Die Schwarzfelsspitze«, überlegte Lothar. »Dort befindet sich doch eine Festung?«
Die anderen nickten.
»Eine starke Verteidigungsposition«, sagte er. »Gute Sicht nach allen Seiten, stabile Befestigungen, leicht zu verteidigen, die Wege hinein und hinaus effektiv zu kontrollieren.« Er schüttelte den Kopf. »Wer auch immer der Anführer der Horde ist, er weiß, was er tut. Das wird kein Kinderspiel.«
»Ja, und die Festung ist auch noch verflucht«, fügte Muradin hinzu. »Ja, das stimmt«, fuhr der Zwerg fort, als die anderen ihn anstarrten.
Turalyon sah, dass sowohl Brann als auch Kurdran nickten.
»Unsere Vettern von den Dunkeleisenzwergen...« Er unterbrach sich, um auszuspucken, als müsste er seinen Mund von ihrem Namen reinigen. »... haben diese Festung erbaut. Aber etwas Düsteres lebt dort unter der Oberfläche.«
Er und die anderen Zwerge schauderten.
»Wenn dort noch etwas anderes ist, scheint es die Orcs nicht zu stören«, merkte Lothar an. »Wenn sie sich dort verschanzen, werden wir es schwer haben.«
»Doch wir können es schaffen« sagte Turalyon und war selbst überrascht davon. »Es wird eine Herausforderung. Aber das gilt ja für alles, was sich lohnt.«
Er wollte noch mehr sagen, als sie den unverkennbaren Klang des Knirschens einer Plattenrüstung hörten. Sie wandten sich um und erblickten einen Mann, der auf sie zukam. Seine Rüstung war verbeult, glänzte aber noch, und auf seiner Brustplatte prangte dasselbe Symbol, das Turalyon trug: das Zeichen der Silbernen Hand. Als der Mann näher kam, offenbarte das Feuer sein flammendrotes Haar und seinen Bart.
»Uther!« Lothar erhob sich und reichte dem Paladin seine Hand, die dieser fest umschloss.
»Mein Fürst«, antwortete Uther. Er schüttelte auch Turalyon die Hand und nickte den anderen zu. »Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten.«
»Ist Lordaeron befreit?«, fragte Khadgar.
Uther setzte sich auf einen Stein neben ihm. Er wirkte müde. »Ja, ist es«, antwortete er. Stolz schimmerte in seinen leuchtenden blauen Augen. »Meine Leute und ich haben dafür gesorgt. Kein Orc ist zurückgeblieben – das gilt auch für die Berge«
Eine Sekunde lang spürte Turalyon einen merkwürdigen Schmerz, als hätte er eigentlich mit seinem Orden zusammenbleiben müssen. Doch er war von Faol persönlich mit einer anderen Aufgabe betraut worden, und er erfüllte seine Pflicht ebenso gut wie Uther und die anderen.
»Ausgezeichnet.« Lothar lächelte. »Und Ihr seid zur rechten Zeit gekommen, Sir Uther. Wir haben gerade erfahren, wohin die Orcs sich zurückgezogen haben. Wir erreichen diesen Ort in...?« Er wandte sich an die Zwergenbrüder, die neben ihm standen, sie kannten sich in dieser Region am besten aus und konnten die Entfernungen am ehesten einschätzen.
»Fünf Tagen«, antwortete Brann, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. »Falls sie uns unterwegs keine Überraschung hinterlassen haben.« Er schaute seinen Bruder an und nickte. »Wenn Ihr zum Blackrock geht, kommen wir natürlich mit. Wir werden Euch nicht im Stich lassen.«
»Mir sind keinerlei Hinterhalte aufgefallen«, sagte Kurdran, als hätte jemand seine Kundschafterfertigkeiten infrage gestellt. »Die gesamte Horde bewegt sich gemeinsam zur Bergspitze.« Er schaute Lothar an, als würde er dessen nächsten Einwand bereits erraten. »Ja, die Wildhammerzwerge werden auch mitkommen. Zusammen sind wir ihnen zahlenmäßig überlegen, wenn auch nicht großartig.«
»Wir brauchen keine riesige Übermacht«, antwortete Lothar. »Nur einen fairen Kampf.« Sein Gesicht war ernst. »Dann also fünf Tage«, teilte er den anderen mit. »In fünf Tagen beenden wir das alles.«
Für Turalyons Geschmack klang das, was am Ende dieser Frist auf sie wartete, etwas zu stark nach Hölle und ewiger Verdammnis. Und er hoffte nur, dass seine Vorahnung sich nicht erfüllte... oder die Verdammnis wenigstens nicht ihnen galt.