KAPITEL FÜNF
Zwei Tage nach ihrem ersten Treffen befand sich Lothar zusammen mit den Herrschern des Kontinents im Thronsaal von Lordaeron. Khadgar begleitete ihn erneut, und Lothar war dankbar für die Anwesenheit seines Freundes. Terenas war ein freundlicher Gastgeber und ein guter Mann, genauso wie einige der anderen Monarchen. Aber der junge Zauberer war der Einzige, den Lothar noch von Azeroth her kannte. Selbst wenn dieser gar nicht in Stormwind geboren war, so erinnerte seine Gegenwart Lothar doch an sein Zuhause. An seine Heimat.
Heimat... ein Ort, den es nicht mehr gab. Lothar wusste, dass er sich damit abfinden musste. Dennoch erschien es ihm immer noch unwirklich. Er erwartete jederzeit, dass er Liane lachen hörte oder ein paar Greifen über seinen Kopf hinwegflogen. Oder dass seine Männer im Hof exerzierten.
Doch all das war nun vorbei. Ihre Freunde waren tot. Ihre Heimat war gefallen. Und er schwor sich, dass er dieses Land davor bewahren würde, in die Dunkelheit zu stürzen, selbst wenn er dafür sein Leben geben musste.
Gerade jetzt fühlte er sich eher so, als würde er seine geistige Gesundheit verlieren. Lothar hatte für Politik nie genug Geduld aufgebracht. Er hatte über die Jahre fasziniert dabei zugesehen, wie Liane erst diesen Adeligen beruhigte und dann jenen, Streitigkeiten schlichtete und dabei nie einen Einzelnen bevorzugte oder seine persönlichen Interessen die Staatsgeschäfte beeinflussen ließ.
Es war ein großes Spiel, hatte ihm Liane immer wieder erklärt. Ein Spiel, bei dem es um Positionierung, Einfluss und subtile Manöver ging. Niemand gewann jemals, zumindest nicht für lange. Das Ziel war es, die stärkste Position einfach so lange wie möglich zu halten.
Soweit Lothar es beurteilen konnte, waren die Herrscher dieses Kontinents Meister in diesem Spiel. Und weil er gezwungen war, sich mit ihnen auf gleicher Stufe zu messen, trieb ihn das an den Rand des Wahnsinns.
Nach dem Essen des ersten Tages waren sie in den Thronsaal zurückgekehrt, um weiter zu diskutieren. Jedermann schien inzwischen zu akzeptieren, dass die Horde angreifen würde. Selbst der aalglatte Perenolde.
Jetzt stellte sich die Frage, was dagegen getan werden sollte.
Es hatte den Rest des Tages gedauert, jedermann davon zu überzeugen, dass nur eine vereinigte Armee Sinn zur Lösung dieser Frage machte. Terenas hatte glücklicherweise sofort zugestimmt, ebenso Trollbane. Proudmoore musste erst ein wenig geschmeichelt werden.
Perenolde und Graymane waren um einiges schwieriger. Lothar war nicht überrascht gewesen, dass Perenolde Widerstand leistete. Er hatte ähnliche Männer in Stormwind erlebt, glatt und geschmeidig, gemein und immer auf ihren Vorteil aus. Häufig hatten sie sich als Feiglinge erwiesen.
Perenolde hatte vielleicht Angst, selbst in den Krieg ziehen zu müssen, und erweiterte diese Furcht auf seine Untergebenen... die jedoch ohne Zweifel tapferer als er waren.
Graymanes Zaudern hingegen war eine Überraschung, denn der Mann wirkte wie der personifizierte Krieger, er war kräftig gebaut und trug stets eine schwere Rüstung. Er hatte sich auch nicht direkt gegen das Kämpfen ausgesprochen. Aber er hatte stets auf andere Optionen gedrängt, wenn sich das Gespräch dem Thema Krieg näherte.
Perenolde hatte natürlich darauf bestanden, jeden der vorgebrachten Alternativvorschläge im Detail zu prüfen. Erst nachdem Proudmoore und Trollbane kurz davor standen, Graymane Feigheit vorzuwerfen, stimmte der stämmige Mann endlich darin überein, dass die Armee ihr einziger Rückhalt war.
Am zweiten Tag war es ähnlich weitergegangen. Sie hatten sich auf den Krieg verständigt, doch nun mussten sie die logistische Zusammenarbeit koordinieren. Welche Armee würde welche Truppen bereitstellen? Wo wurden sie stationiert, wie wurden sie versorgt?
Alles Fragen, mit denen Lothar sich seit Jahren auseinandersetzte, allerdings nur auf eine Armee bezogen. Doch jetzt musste er fünf unter einen Hut bekommen. Und dabei waren die Überlebenden von Stormwind noch gar nicht berücksichtigt.
Jeder König hatte eigene Vorschläge und eigene Vorgehensweisen. Und natürlich war die wichtigste Frage, wer das Kommando übernehmen sollte.
Jeder König schien sich selbst für den besten Anführer einer vereinigten Armee zu halten. Terenas führte an, dass Lordaeron das größte Königreich mit den meisten Soldaten sei. Außerdem sei er es gewesen, der sie alle zusammengerufen habe.
Trollbane war der Meinung, dass er über die größte Kampferfahrung verfügte. Und wenn Lothar sich den rauen Bergkönig betrachtete, glaubte er ihm das sogar.
Proudmoore erwähnte die Macht seiner Marine und die Bedeutung von Schiffen als Truppen- und Nachschubtransporter.
Graymane gehörte das südlichste Königreich. Er war der Ansicht, dass er das Kommando führen sollte, weil sein Land das erste sein würde, das die Orcs angriffen, wenn sie über Land kamen – auch wenn das nicht ganz stimmte, denn Stromgarde lag noch eher auf dem Weg der Horde, falls diese von Khaz Modan nach Dun Modr vorrückte.
Perenolde führte aus, dass reine Gewalt allein nicht ausreichen würde, sondern dass der Oberkommandierende auch über Klugheit, Weisheit und Weitsicht verfügen sollte – was er natürlich im Überfluss vorweisen konnte.
Und dann gab es da noch die beiden, die eigentlich keine Könige waren, aber echte Anführer: Erzbischof Faol, dessen Glaubensanhänger die meisten Menschen in allen Königreichen umfassten, und Erzmagier Antonidas, der zwar nur über eine Stadt herrschte, aber deren Bewohnern Kräfte innewohnten, die es an Stärke mit jeder Armee aufnehmen konnten.
Glücklicherweise waren die beiden Männer – der eine klein und freundlich, der andere groß und ernst – nicht am Oberkommando über die vereinigte Armee interessiert. Beide nutzten ihren Einfluss dankenswerterweise vielmehr, um mäßigend auf die anderen Parteien einzuwirken. Dabei machten sie klar, dass die Horde kommen würde, ganz egal, ob eine Armee bereitstand, gegen sie anzutreten oder nicht. Und sie erinnerten die Monarchen daran, dass eine Armee ohne Anführer völlig nutzlos war, ganz egal, wie groß sie war.
Lothar hatte die Diskussion mit einer Mischung aus Belustigung und Schrecken verfolgt. Seine Bestürzung schien die Oberhand zu erringen, als er immer öfter in die Gespräche miteinbezogen wurde. Zeitweilig diente er als Experte in Orc-Fragen. Dann wieder war man an seiner Meinung als Außenstehender interessiert. Sehr selten hatten sie ihm auch einmal die entscheidende Stimme zugestanden, wobei sie raffiniert darauf hinwiesen, dass seine Familie der eigentliche Herrscher dieses Landes gewesen war und er deshalb einige angestammte Rechte besaß.
Die Hälfte der Zeit konnte Lothar nicht sagen, ob sie ihn verspotteten oder anhimmelten. Er wusste, dass einige der Könige etwas von ihm erwarteten. Nur schien sich deren Erwartung ständig zu ändern.
Er würde auf jeden Fall erleichtert sein, wenn die Diskussionen vorbei waren und er zu den Flüchtlingen aus Stormwind zurückkehren konnte. Aus ihnen würde er versuchen, wenigstens eine kleine Streitmacht zu formen.
Als sie darauf warteten, dass König Terenas das Morgentreffen eröffnete, erkannte Lothar, dass die anderen Monarchen ihn beobachteten. Einige, wie Trollbane, taten das ganz offen. Andere, Perenolde und Graymane, verfuhren subtiler und warfen ihm nur ab und zu einen Blick zu. Lothar wusste nicht genau, was vor sich ging, aber es gefiel ihm nicht.
»Sind dann alle anwesend?«, fragte Terenas, obwohl er leicht selbst erkennen konnte, dass dem so war. Dem König von Lordaeron entging nicht sehr viel. »Gut. Wir wissen, dass Eile geboten ist, wenn wir unsere Streitkräfte bündeln wollen, um die Horde aufzuhalten. Und wir haben uns alle auf eine Vorgehensweise geeinigt.«
Die anderen Monarchen nickten, was Lothar überraschte und weiter verunsicherte. Sie hatten immer noch miteinander gestritten, als er in der Nacht schlafen gegangen war. Wann waren sie zu einer Übereinkunft gekommen? Und worum genau ging es hier eigentlich?
Die nächsten Worte des Königs verschafften ihm Klarheit, und Lothar lief es eiskalt über den Rücken, denn ihm war die Bedeutung dieses historischen Moments nur allzu bewusst.
»Dann erkläre ich hiermit die Gründung der Allianz von Lordaeron für beschlossen! Wir stehen vereint zusammen, wie es unsere Vorfahren vor langer Zeit im Reich der Arathi taten.« Die anderen nickten, und Terenas fuhr fort. »Und es ist mehr als passend, dass der Oberkommandierende aus eben diesem Herrschaftshaus kommt. – Wir, die Könige der Allianz, ernennen hiermit Fürst Anduin Lothar, Held von Stormwind, zu unserem Oberkommandierenden!«
Lothar sah Terenas an, der ihn herbeiwinkte. »Das war wirklich die einzige Möglichkeit«, erklärte ihm der König von Lordaeron so leise, dass nur er es verstehen konnte. »Jeder wollte das Kommando, und keiner hätte je einen anderen König auf dem Posten akzeptiert. Ihr seid keiner, und deshalb muss niemand fürchten, jemand hätte eine Sonderbehandlung erfahren. Gleichzeitig seid Ihr durch Eure Herkunft adelig genug, dass sie sich nicht übergangen fühlen.« Der König beugte sich vor. »Ich weiß, es ist viel von Euch verlangt. Und ich entschuldige mich dafür. Ich hätte nicht gefragt, wenn es nicht um unser aller Überleben ginge – wie Ihr selbst uns ja gewarnt habt. Werdet Ihr dieses Amt annehmen?«
Die letzten Worte hatte er lauter ausgesprochen. Terenas' Stimme klang jetzt wieder formeller. Stille legte sich über den Raum, da jedermann auf Lothars Antwort wartete.
Es dauerte nicht lange. Er hatte eigentlich gar keine Wahl, und Terenas wusste das. Aus dieser Geschichte gab es kein Entrinnen mehr. Nicht jetzt, nicht nach all dem, was bereits geschehen war.
»Ich nehme das Amt an«, antwortete er deshalb, und seine Stimme hallte schwer durch den Raum. »Ich werde die Armee der Allianz gegen die Horde führen.«
»Sehr gut!« Terenas klatschte in die Hände. »Wir sollten jetzt alle unsere Truppen zusammenrufen und Vorräte und Ausrüstung ergänzen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Woche wieder, um Fürst Lothar unsere Soldaten zu präsentieren. Damit er sieht, welche Streitkräfte ihm zur Verfügung stehen, und er mit der eigenen Planung beginnen kann.«
Die anderen Könige murmelten oder nickten zustimmend. Jeder trat vor, um Lothar zu gratulieren und ihm seine vollständige Unterstützung zuzusagen – auch wenn die Zusicherungen von Perenolde und Graymane etwas weniger aufrichtig klangen.
Dann waren die Könige gegangen, und nur vier Männer blieben zurück. Lothar blickte Khadgar an, der ihn anlächelte.
»Wie die Jungfrau zum Kinde...«, sagte der junge Magier und schüttelte den Kopf. »Und du hast dich da reinreden lassen. Diese cleveren Hurensöhne! Sie würden ihre eigenen Kinder verkaufen, wenn es ihnen einen einzigen Morgen Land mehr einbrächte. Ich fand es toll, wie sie einfach davon ausgingen, dass du akzeptieren würdest... Aber das passiert, wenn du Macht über andere ausübst. Es trübt deinen Blick für die Dinge, die wirklich zählen.«
»Ähem!« Das Hüsteln schnitt dem jungen Zauberer das Wort ab. Er sah zu einem der anderen noch anwesenden Männer auf, dem die Empörung noch im Gesicht geschrieben stand. »Nicht alle Autoritäten sind korrupt und eigennützig, junger Mann«, erklärte Erzbischof Faol. Sein normalerweise freundliches Gesicht wirkte bitterernst. »Es gibt auch solche, die dienen, indem sie führen – so wie Euer Freund.«
»Natürlich, ehrwürdiger Vater. Bitte vergebt mir. Ich wollte Euch nichts unterstellen. Ich meinte nur die Leute, die zeitweise Macht ausüben... Ihr hingegen...«
Es war das erste Mal, dass Lothar erlebte, wie seinem normalerweise glattzüngigen Freund die Worte ausgingen. Und so musste er einfach über die Zwickmühle schmunzeln, in die sich sein Freund manövriert hatte. Und Faol lachte selbst derart gutmütig, dass schließlich auch Khadgar einfiel.
»Genug, Freund«, sagte Faol schließlich und hob eine Hand. »Ich trage Euch Euren Ausbruch nicht nach. Und Fürst Lothar wurde tatsächlich in diese Verantwortung hineinmanövriert. Ich muss sogar zugeben, dass ich daran nicht ganz unschuldig bin. Ihr seid ein guter Mann, und ich glaube, Ihr seid die beste Wahl als Oberkommandierender der Allianz. Jedenfalls bin ich mehr als beruhigt, dass Ihr die Schlachtpläne ausarbeitet und unsere Truppen anführt.«
»Danke, Vater.« Lothar war nie sonderlich religiös gewesen. Aber er hatte großen Respekt vor der Kirche des Lichts. Alles, was er bislang von Faol gehört hatte, erfüllte ihn mit großer Hochachtung. Dass der Erzbischof ihn derart lobte, machte ihn durchaus stolz.
»Ihr werdet Euch beide im Verlauf des Krieges beweisen müssen«, warnte sie Faol. Seine Stimme klang jetzt tiefer und voller als zuvor. Als würde er eine Verkündigung aus sehr großer Höhe vortragen. »Ihr werdet an Eure Grenzen stoßen, nicht nur mit Euren Fähigkeiten, sondern auch mit Eurem Mut und Eurer Entschlossenheit. Doch ich bin mir sicher, dass Ihr diese Herausforderungen meistert und siegreich sein werdet. Ich bete darum, dass das Heilige Licht Euch mit Stärke und Reinheit erfüllt und Ihr die Leidenschaft und innere Balance findet, die Ihr braucht, um zu überleben und zu siegen.« Seine Hand hob sich zum Segen. Lothar glaubte, einen schwachen Schein um die Hand herum zu sehen, ein Leuchten, das sich auf ihn und Khadgar ausdehnte. Danach fühlte er sich friedvoller und gelassener und von einer unerklärlichen Fröhlichkeit erfüllt.
»Da ist noch etwas.« Plötzlich war Faol wieder ein normaler Mensch, wenn auch alt und weise. »Was könnt Ihr mir über Nordhain sagen? Besonders über die Abtei dort. Hat sie die Schlacht überstanden?«
»Leider nicht, ehrwürdiger Vater«, antwortete Lothar. »Die Abtei ist zerstört, nur noch eine Ruine. Ein paar Kleriker haben überlebt und sind nun in Southshore mit dem Rest unserer Leute. Die anderen...« Er schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe.« Faol war bleich geworden, wahrte aber Haltung. »Ich werde für sie beten.« Er schwieg, tief in Gedanken versunken, und Lothar und Khadgar warteten respektvoll ab, bis er sich wieder gesammelt hatte. Nach einer Weile schaute der Erzbischof zu ihnen auf, und in seinen Augen lag eine neue Entschlossenheit.
»Ihr werdet Offiziere für Eure Armee brauchen«, sagte er. »Ich denke, es ist das Beste, wenn einige nicht aus den Königreichen kommen, sondern von der Kirche abgestellt werden. Ich habe da schon eine Idee. Ein neuer Orden könnte sich nützlich für die Allianz erweisen. Ich brauche ein paar Tage, um die Details auszuarbeiten und die geeigneten Kandidaten dafür auszuwählen. Treffen wir uns in vier Tagen von heute an auf dem Burghof, nach dem Mittagsmahl? Ich bin mir sicher, Ihr werdet nicht enttäuscht sein.« Er nickte freundlich und entfernte sich dann ohne Eile, aber festen Schrittes.
Einer blieb noch da. Antonidas hatte sie wortlos beobachtet. Jetzt näherte sich der alte Zauberer. »Macht und Weisheit der Kirin Tor stehen Euch zur Verfügung«, sagte er an Lothar gewandt. »Ich weiß, dass Ihr mit dem Tun unserer Brüder in Stormwind vertraut wart. Deshalb wisst Ihr, wozu wir in der Lage sind. Ich werde einen von uns benennen, der Euch assistieren soll und als Kontaktmann dient.« Der mächtige Zauberer legte eine Pause ein. Seine Augen huschten so kurz zur Seite, dass Lothar es fast nicht mitbekommen hätte. Er musste lächeln.
»Ich würde Khadgar für diese Rolle vorschlagen«, sagte er und freute sich über das Lächeln, das über das Gesicht des Erzmagiers flog. »Er ist bereits ein vertrauter Begleiter und hat den Orcs mehr als einmal gegenüber gestanden.«
»Selbstverständlich.« Antonidas wandte sich an den jungen Mann. Dann griff er plötzlich nach vorne, fasste Khadgar mit einer Hand am Kinn und hob seinen Kopf an, um sein Gesicht zu studieren. »Du hast viel erlitten«, sagte der Erzmagier leise. Lothar erkannte die Sorge und die Sympathie in den Augen des älteren Mannes. »Deine Erfahrung hat dich gezeichnet, und das nicht nur äußerlich.«
Khadgar zog sanft seinen Kopf zurück. »Ich tat, was getan werden musste«, antwortete er und rieb sich abwesend über das Kinn, wo Antonidas die weißen Barthaare berührt hatte, die dort zu sprießen begannen.
Antonidas furchte die Stirn. »Wie wir alle es müssen.« Er seufzte, dann schien er die schwermütigen Gedanken abzuschütteln. »Du sollst uns über die Vorgänge in der Schlacht auf dem Laufenden halten, junger Khadgar, und uns Fürst Lothars Bedürfnisse und Anforderungen überbringen. Und das so schnell wie möglich. Du sollst außerdem die Aktionen der anderen Magier koordinieren. Ich vermute mal, dazu bist du in der Lage?«
Khadgar nickte.
»Gut. Ich erwarte dich dann in Dalaran, wo wir andere wichtige Dinge besprechen und entscheiden werden, wie wir der Allianz am besten dienen können.« Der Edelstein auf seinem Stab glühte auf, und wie als Antwort geisterte ein Leuchten von dem Edelstein an der Spitze seines Knochenhelms abwärts, genau zwischen den Augen. Dann schien Antonidas zu verblassen, und schließlich war er tatsächlich weg.
»Er will wissen, was mit Medivh passiert ist«, sagte Khadgar, nachdem der Erzmagier verschwunden war.
»Natürlich.« Lothar drehte sich und führte den jüngeren Mann aus dem Thronsaal, zurück in den Palast und in Richtung Speisesaal.
»Was soll ich ihnen sagen?« Der junge Zauber ging neben ihm.
»Sagt ihm die Wahrheit«, antwortete Lothar, zuckte mit den Achseln und hoffte, dass die Geste beiläufig wirkte. In seinem Magen rumorte es. »Sie müssen wissen, was geschehen ist.«
Khadgar nickte, obwohl er unzufrieden wirkte. »Ich werde es ihnen erzählen«, sagte er schließlich »Aber das kann bis nach dem Mittagsmahl warten.« Er grinste, was sein tatsächliches Alter verriet. »Nicht einmal die Horde selbst könnte mich jetzt vom Essen abhalten...«
***
Ein paar Tage später kehrten Lothar und Khadgar zum Hof zurück und warteten jetzt auf Erzbischof Faol. Er erschien wenige Minuten später und trat ruhig auf sie zu.
»Danke für Eure Nachsicht«, sagte der Erzbischof, als er sie erreichte. »Ich wollte Euch nicht länger als nötig warten lassen und ganz gewiss nicht Eure Zeit stehlen. Doch ich glaube, es hat sich gelohnt, und dies hier wird sich für Euch und die Allianz als große Hilfe erweisen. Aber zuerst sollt Ihr wissen, dass sich die Kirche verpflichtet hat, Stormwind zu helfen. Wir werden Geld sammeln, damit Euer Königreich wieder aufgebaut werden kann, sobald diese Krise erst einmal überwunden ist.«
Lothar lächelte so offen und herzlich, wie Khadgar es bislang nur selten bei ihm gesehen hatte, seit Stormwind gefallen war. »Danke, Vater«, sagte er mit bewegter Stimme. »Das bedeutet mir sehr viel – und natürlich auch Prinz Varian.«
Faol nickte. »Das Heilige Licht wird Euer Heim neu erfüllen«, versprach er freundlich. Dann machte er eine Pause und betrachtete sie beide. »Als wir uns das letzte Mal unterhielten«, begann Faol und schritt vor ihnen auf und ab, »habt Ihr mir von der Zerstörung der Abtei von Nordhain erzählt. Ich war bestürzt und fragte mich, wie der Rest meiner Kleriker den Krieg überleben könnte, der sich so schnell nähert. Diese Orcs sind schon eine Herausforderung für gestandene Krieger wie Euch selbst. Wie kann da ein einfacher Priester sich und seine Gemeinde verteidigen?« Er lächelte. »Als ich diese Bedenken hatte, kam mir zugleich eine Idee, als wäre sie mir vom Heiligen Licht selbst eingeflüstert worden: Es musste einen Weg geben, dass Krieger für das Licht und mit ihm kämpfen. Sie sollten die Gabe und ihr kriegerisches Können nutzen und sich trotzdem so benehmen, wie es die Kirche erwartet und gutheißen kann.«
»Und Ihr habt diesen Weg gefunden?«, fragte Lothar. »Ja, davon bin ich fest überzeugt«, stimmte Faol zu. »Ich werde einen neuen Zweig der Kirche gründen, die Paladine. Ich habe bereits die ersten Kandidaten für diesen Orden ausgewählt.
Einige waren zuvor Ritter, andere Priester. Ich erwählte diese Männer wegen ihre Frömmigkeit und ihrer kämpferischen Fähigkeiten. Sie werden nicht nur in der Kriegskunst ausgebildet, sondern auch im Gebet und der Heilung. Und jeder dieser tapferen Kämpfer wird die militärischen und spirituellen Voraussetzungen besitzen, um sich selbst und andere mit der Kraft des Heiligen Lichts zu segnen.«
Er drehte sich um und winkte. Vier Männer erschienen aus einem nahe gelegenen Gang und schritten schnell auf Faol zu. Sie trugen glänzende Rüstungen mit dem Zeichen der Kirche auf Brust, Schild und Helm. Jeder besaß ein Schwert. An der Art, wie sie sich bewegten, konnte Lothar erkennen, dass diese Männer auch mit ihren Waffen umgehen konnten, obwohl ihre Ausrüstung noch neu und makellos war. Sie verfügten über das notwendige Wissen und die Ausbildung – doch Lothar fragte sich, ob einer dieser Männer sich je in einem echten Kampf hatte beweisen müssen.
Diejenigen, die zuvor Krieger gewesen waren, mussten das eigentlich. Obwohl sie vielleicht nicht gegen menschliche Feinde hatten bestehen müssen.
Die ehemaligen Priester hingegen waren wahrscheinlich nur in Übungskämpfen gegen ihre Kameraden erfahren. Und nun würden sie praktisch ohne Übergang gegen Orcs antreten müssen.
»Darf ich Euch Uther, Saidan Dathroban, Tirion Fordring und Turalyon vorstellen?« Faol strahlte wie ein stolzer Vater. »Das werden die Ritter der Silbernen Hand sein.« Auch Lothar und Khadgar stellte er vor. »Das ist Fürst Anduin Lothar, Held von Stormwind und Oberkommandierender der Allianz. Und sein Begleiter ist der Zauberer Khadgar aus Dalaran.« Faol lächelte. »Ich überlasse euch sechs jetzt euch selbst.«
Und so geschah es.
Er ließ Lothar und Khadgar, umringt von den Paladin-Anwärtern, zurück. Einige von ihnen, wie Turalyon, schienen regelrecht überwältigt zu sein. Andere, wie Uther und Tirion, sahen alles entspannter.
Uther erhob das Wort, während Lothar noch darüber nachdachte, was er ihnen sagen sollte. »Mein Fürst, der Erzbischof hat uns von der bevorstehenden Schlacht erzählt. Wir stehen zu Euren Diensten und denen des Volkes. Setzt uns dort ein, wo Ihr es für richtig erachtet. Wir schlagen unsere Feinde und vertreiben sie. Wir beschützen dieses Land mit dem Heiligen Licht.« Er war ein großer, kräftig gebauter Mann, mit markanten, vage vertrauten Gesichtszügen und ernsten Augen, die die Farbe des Ozeans hatten. Lothar konnte die Frömmigkeit des Mannes spüren, als wäre sie greifbar. Sie glich der des Erzbischofs, ließ es aber an Wärme mangeln.
»Wart ihr zuvor Ritter?«
»Ja, mein Fürst.«, antwortete der Paladinanwärter. »Aber ich bin ein Anhänger der Kirche und glaube an das Heilige Licht seit meiner Jugend. Ich traf den Erzbischof das erste Mal, als er gerade Bischof geworden war. Er war so freundlich, mein geistiger Ratgeber und Mentor zu werden. Ich war geehrt, als er mir von seinen Plänen berichtete, einen neuen Orden zu gründen – und mir zugleich darin einen Platz anbot.« Uther presste kurz die Zähne aufeinander. »Seit diese bösartigen Kreaturen hier eingedrungen sind, weiß ich, dass wir den Segen des Lichts brauchen, um sie zu schlagen. Um unser Land,unsere Heimat und unser Volk zu beschützen.«
Lothar nickte. Er konnte verstehen, warum der Mann sich den Glauben als Antwort – oder zumindest als Teil einer Antwort – gewählt hatte. Und er bezweifelte nicht, dass Uther ein mutiger Kämpfer auf dem Schlachtfeld sein würde.
Aber etwas am Eifer des Mannes störte ihn. Er vermutete, dass Uther zu sehr auf Ehre und Glauben eingeschworen war, um notfalls weniger noble Methoden einzusetzen.
Und das war gar nicht gut. Lothar hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, dass, wenn man es mit Orcs zu tun hatte, Ehre allein nicht genügte. Um gegen die Horde bestehen zu können, musste man jedes Mittel nutzen.
Er und Khadgar verbrachten die nächste Stunde damit, sich mit den vier potenziellen Paladinen zu unterhalten. Lothar war erfreut, dass sein junger Freund sie ebenfalls befragte.
Nachdem die heiligen Krieger gegangen waren, um sich zur Nachmittagsandacht zu begeben, schaute Lothar den alt wirkenden Zauberer an. »Nun«, fragte er. »Was hältst du von ihnen?«
Khadgar furchte die Stirn. »Ich bezweifle, dass sie uns viel nützen werden«, sagte er wenig später.
»Ach? Und warum?«
»Sie hatten keine Zeit, sich vorzubereiten«, erklärte der Zauberer. »Wir gehen davon aus, dass die Horde Lordaeron binnen weniger Wochen erreichen wird. Wenn nicht gar noch schneller. Keiner dieser Männer war je in einem richtigen Gefecht – zumindest nicht als Paladin. Ich behaupte nicht, dass sie nicht kämpfen können. Aber Krieger haben wir schon genug. Wenn der Erzbischof Wunder von ihnen erwartet, wird er wahrscheinlich schwer enttäuscht werden.«
Lothar nickte. »Ich stimme dir zu«, sagte er. »Doch Faol vertraut ihnen, und vielleicht müssen wir das auch tun.« Er lächelte schwach. »Nehmen wir mal an, sie wären doch irgendwie bereit. Was würdest du dann von ihnen halten?«
»Uther wird der Horde gefährlich werden, das ist sicher«, antwortete Khadgar. »Aber ich glaube, er kann keine anderen Männer als Paladine befehligen. Seine Frömmigkeit ist zu groß, zu vordergründig, als dass die meisten Soldaten sie ertragen könnten.« Lothar ermunterte seinen Begleiter fortzufahren. »Saidan und Tirion sind fast genauso. Saidan war ein Ritter und Tirion Krieger. Aber seitdem haben sie zum Glauben gefunden. Deshalb könnten sie gehemmt sein, gewisse Taktiken zu nutzen, die sie als einfache Kämpfer noch ohne mit der Wimper zu zucken eingesetzt hätten.«
Lothar nickte. »Und Turalyon?«
»Scheint mir der mit dem wenigsten Glauben zu sein, und deshalb schätze ich ihn am meisten«, sagte Khadgar grinsend. »Er wurde auf die Priesterschaft vorbereitet und ist ein loyaler Gläubiger. Aber er hat nicht den blinden Eifer der anderen. Er blickt auch weiter als sie und ist cleverer.«
»Das sehe ich auch so.« Der junge Mann hatte Lothar ebenfalls beeindruckt. Turalyon hatte zunächst nur zögerlich gesprochen, doch nach einer Weile war klar geworden, wieso. Er hatte von Lothar und seinen Taten in Stormwind gehört und war beeindruckt gewesen. Das wiederum war Lothar unangenehm, obwohl es ihm nicht zum ersten Mal passierte. Viele in seiner Heimat hatten ihn verehrt und darum gebettelt, von ihm ausgebildet und in seine Wache aufgenommen zu werden.
Aber nach dieser leicht verschüchterten Phase war Turalyon aufgetaut und entpuppte sich als kluger junger Mann mit einer wesentlich besseren Auffassungsgabe für Feinheiten als seine Kameraden.
Lothar mochte ihn von Anfang an, und dass Khadgar ähnlich dachte, bestärkte ihn in seiner Ansicht.
»Ich werde mit Faol sprechen«, sagte Lothar schließlich. »Die Paladine sind ohne Zweifel eine wertvolle Unterstützung. Ich werde Uther zu unserem Verbindungsmann zu ihnen und allen anderen Truppen machen, die die Kirche ausrüsten kann.« Dann fiel ihm noch etwas ein. »Außerdem werde ich einen weiteren Kandidaten erwählen«, sagte er. »Gavinrad. Er war einer meiner Ritter in Azeroth. Der Treueste von uns, und ein guter Mann. Ich vermute, er würde einen guten Paladin abgeben.« Er grinste. »Aber Turalyon will ich als einen meiner Offiziere.«
Khadgar nickte. »Eine gute Wahl, wie ich finde.« Er schüttelte den Kopf. »Dann lass uns darauf hoffen, dass uns die Horde genug Zeit lässt, sie und den Rest unserer Truppen darauf vorzubereiten...«
»Wir tun, was wir können«, antwortete Lothar pragmatisch. Er dachte bereits darüber nach, wie er die Truppen aufstellen würde. »Wir werden ihnen entgegentreten, wenn wir es müssen. Sehr viel mehr können wir momentan nicht tun.«