ERSTER PROLOG
Die Morgendämmerung kroch über das Land und nagte am dichten Nebel, der alles vereinnahmte. Im kleinen Dorf Southshore erwachten die Menschen und gingen ihren Beschäftigungen nach. Das Licht der aufgehenden Sonne wärmte sie noch nicht, aber die Nacht neigte sich unaufhaltsam ihrem Ende zu.
Noch aber lag der dichte Dunst über den schlichten Holzhütten und bedeckte das Meer jenseits des Dorfes. Obwohl nicht zu sehen, war die Brandung, die ans Ufer rollte und sich am Kai brach, deutlich zu hören.
Doch etwas anderes klang darin mit, langsam und gleichmäßig, als würde etwas durch den Nebel gleiten. Das Geräusch hallte von allen Seiten wider, bis die Menschen von Southshore nicht mehr sagen konnten, um was es sich dabei handelte und aus welcher Richtung es kam. Erklang es vom Land hinter ihnen – oder kam es von der See? Schlugen nur die Wellen etwas fester gegen die Gestade, oder war es der Regen, der den Nebel niederkämpfte? –
Oder sollte es sich gar um den Wagen eines Händlers handeln, der einen der Feldwege hinunterfuhr?
Nachdem sie angespannt gelauscht hatten, erkannten sie, dass das merkwürdige neue Geräusch aus Richtung des Wassers kam. Sie liefen zum Strand und versuchten, in der Finsternis etwas zu erkennen.
Was war das für ein Geräusch, und wovon wurde es verursacht?
Langsam begann sich der Nebel zu verändern – als würde er von dem Geräusch vor sich her getrieben. Er wurde dichter und dunkler. Die Finsternis begann Form anzunehmen, bildete eine Art Welle, die auf die Dörfler zurollte.
Sie wichen zurück, einige schrien laut. Die Männer waren mit der See groß geworden, geborene Fischer, die schon alles gesehen zu haben meinten, was mit dem Wasser zu tun hatte.
Doch diese Welle bestand erkennbar nicht aus Wasser, sondern aus etwas gänzlich anderem. Und sie bewegte sich falsch...
Die Dunkelheit näherte sich immer mehr. Sie brachte den Nebel mit sich. Das begleitende Geräusch wurde lauter, dann durchbrach es den diesigen Schleier. Die riesige Welle teilte sich in viele kleinere und nahm dabei... Form an.
Es waren Boote. Die Dörfler entspannten sich, weil ihnen das zunächst einmal vertraut war. Dennoch blieben sie auf der Hut. Southshore war ein winziges Fischerdorf, und seine Bewohner nannten gerade mal ein Dutzend kleiner Kähne ihr eigen. Über die Jahre hatten sie kaum mehr als ein Dutzend fremder Fahrzeuge gesehen.
Und nun, plötzlich, näherten sich ihnen auf einen Schlag Hunderte!
Was bedeutete das? Die Männer umfassten ihre kurzen Holzknüppel, Messer, Hakenstangen, sogar mit Gewichten versehene Netze. Sie warteten gespannt. Immer mehr Schiffe kamen aus dem Nebel, eine endlose Armada.
Mit jeder neuen Reihe Schiffe wuchs die Bestürzung der Fischer. Das waren nicht Hunderte, sondern Tausende!
Mehr Boote, als sie jemals zuvor gesehen hatten. Wo kamen die her? Was konnte ihre Insassen aufs Wasser getrieben haben... und was führte sie nach Lordaeron?
Die Dörfler packten ihre Waffen fester, Kinder und Frauen verbargen sich in den Hütten. Und noch immer erhöhte sich die Zahl der Boote.
Längst war klar geworden, dass das Geräusch von den Rudern stammte, die ungleichmäßig durch das Wasser gezogen wurden.
Das erste Boot legte am Kai an. Jetzt konnten die Einheimischen das erste Mal die Gestalten darauf erkennen. Sie entspannten sich, obwohl ihre Verwunderung wuchs. Es handelte sich um Menschen, darunter auch Frauen und Kinder. Hell- und dunkelhäutige, mit Haarfarben in sämtlichen Schattierungen.
Das waren keine Monster oder irgendeine andere Rasse, von denen die Dorfbewohner bisweilen zwar gehört, die sie aber nie mit eigenen Augen gesehen hatten. Diese Menschen wirkten auch nicht, als wären sie für den Krieg gerüstet. Denn offensichtlich waren die meisten der Ankömmlinge keine Krieger.
Nein, dies war keine Invasion. Es wirkte eher, als wären sie auf der Flucht vor einer schrecklichen Katastrophe. Die Fischer spürten, dass sich ihre Furcht in Sympathie verwandelte.
Was aber konnte eine solche Zahl von Flüchtlingen auf die See hinausgetrieben haben?
Weitere Boote erreichten die Küste, und ihre Besatzungen verließen wankend die unsicheren Planken. Einige brachen auf dem steinigen Strand zusammen und weinten. Andere beherrschten sich besser und atmeten tief durch, als wären sie einfach nur heilfroh, endlich der Wasserwüste entkommen zu sein.
Der Nebel lichtete sich allmählich. Die Morgensonne brach durch und löste die Schwaden mit ihren starken Strahlen mehr und mehr auf. Die Dorfbewohner konnten jetzt vieles klarer erkennen.
Diese Menschen gehörten zu keiner Invasionsarmee. Viele waren Frauen und Kinder, ärmlich gekleidet, die meisten abgemagert und schwach. Es handelte sich um einfache Leute, die eindeutig von großem Unglück betroffen waren. Manche waren so erschöpft, dass sie kaum noch stehen konnten oder wie trunken über den Strand stolperten.
Ein paar immerhin trugen auch Rüstungen. Einer, der sich auf dem vordersten Boot befunden hatte, kam auf die versammelten Dörfler zu. Er war von großer, kräftiger Statur, fast kahlköpfig, mit einem dichten Schnurrbart und einem harten, ernsten Gesicht. Seine Rüstung hatte sich erkennbar in mehreren Kämpfen bewährt, und der Griff seines großen Schwertes ragte über die Schulter hinaus. Seine Hände aber umfassten keine Waffen, sondern zwei kleine Kinder. Weitere liefen neben ihm her und klammerten sich an Rüstung, Gürtel oder Waffenscheide des Kriegers.
Neben ihm schritt ein merkwürdiger Mann daher. Er hatte breite Schultern, war ansonsten aber hager. Sein weißes Haar wehte in der leichten Brise. Er trug ein zerfleddertes violettes Gewand und einen abgewetzten Rucksack. Über einer Schulter lag ein Kind, ein weiteres, das noch aus eigener Kraft gehen konnte, hielt er an der Hand.
Und noch eine dritte erwachsene Gestalt gehörte zu dieser Vorhut: ein junger, braunhaariger Mann mit braunen Augen, der seine Umgebung kaum wahrzunehmen schien. Eine Hand hatte sich in den Umhang des großen Mannes gegraben, um Halt zu finden. Mehr noch als die tatsächlichen Kinder wirkte er wie ein kleiner Junge, der sich verzweifelt an ein Elternteil klammerte. Seine Kleidung war von edler Machart, aber von Wind und Wetter verblichen.
»Seid gegrüßt!«, rief der Krieger und kam mit einem breiten Lachen auf die Dörfler zu. »Wir sind Flüchtlinge, die einer schrecklichen Schlacht entkommen sind. Ich bitte euch um Nahrung und etwas zu trinken, so ihr es entbehren könnt. Und um Unterkunft für die Kinder.«
Die Einheimischen schauten einander an. Dann nickten sie und senkten ihre Waffen. Sie waren kein reiches Dorf, aber auch nicht verzweifelt arm. Und es hätte ihnen schon deutlich schlechter gehen müssen, um Kinder und deren Angehörige abzuweisen.
Ein paar Männer traten vor und nahmen dem Krieger die Kleinen ab, und der Mann mit der violetten Robe führte sie zur Kirche, dem größten und stabilsten Gebäude im Dorf. Die Frauen bereiteten derweil schon töpfeweise Haferbrei und Eintopf zu.
Schnell hatten die Flüchtlinge Unterkunft in der Kirche und unmittelbar davor bezogen. Sie aßen und tranken, teilten sich Stoffe und Mäntel. Es hätte fast ein Fest sein können, wäre da nicht der betrübliche Ausdruck auf den Gesichtern der Flüchtlinge gewesen.
»Unser Dank ist euch gewiss«, wandte sich der Krieger an den Dorfvorsteher, der sich ihm als Marcus Redpath vorgestellt hatte. »Ich weiß, dass ihr eigentlich nicht viel entbehren könnt. Deshalb wiegt das Wenige, das ihr mit uns teilt, umso schwerer.«
»Wir lassen Frauen und Kinder nicht hungern«, antwortete Marcus. Er schaute finster drein und musterte Schwert und Rüstung seines Gegenübers. »Aber erzählt mir doch, wer Ihr eigentlich seid – und warum Ihr hierher gekommen seid.«
»Ich bin Anduin Lothar«, erwiderte der Krieger mit Bedacht und strich sich über die Stirn. »Ich bin... ich war der Held von Stormwind.«
»Stormwind?« Marcus hatte von dieser Nation gehört. »Aber das liegt jenseits des Meeres!«
»Ja«, nickte Lothar traurig. »Wir sind tagelang gesegelt, um hierher zu kommen. Wir befinden uns in Lordaeron, nicht wahr?«
»Ganz gewiss sind wir das«, sagte der violett gekleidete Mann, der damit zum ersten Mal das Wort ergriff. »Ich erkenne das Land wieder, obwohl mir das Dorf fremd ist.« Seine Stimme war sehr fest für jemanden seines Alters. Obwohl nur seine Haarfarbe und die Falten in seinem Gesicht auf sein Alter hinwiesen, ansonsten wirkte er wie ein Jüngling.
»Ihr seid in Southshore«, sagte Marcus. Er beäugte den weißbärtigen Mann misstrauisch und fragte schließlich: »Stammt Ihr aus Dalaran?« Er bemühte sich um einen neutralen Tonfall.
»Aye«, gab der Fremde zu. »Und habt keine Furcht – ich werde dorthin zurückkehren, sobald meine Gefährten reisen können.«
Marcus versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Die Zauberer von Dalaran waren überaus mächtig, und er hatte gehört, dass der König sie als Verbündete und Berater schätzte. Er selbst aber wollte mit Magie und Zauberei nichts zu tun haben.
»Wir müssen uns beeilen«, stimmte Lothar zu. »Ich muss so schnell wie möglich mit dem König sprechen. Wir dürfen der Horde keinen weiteren Vorsprung schenken.«
Marcus verstand diese Anmerkung nicht, doch er erkannte die Dringlichkeit im Tonfall des stämmigen Kriegers. »Die Frauen und Kinder können eine Weile bei uns bleiben«, versicherte er ihm. »Wir werden uns um sie kümmern.«
»Danke«, sagte Lothar aufrichtig. »Wir schicken Nahrung und Güter, sobald wir beim König waren.«
»Es wird Zeit kosten, die Hauptstadt zu erreichen«, erklärte Marcus. »Ich werde deshalb jemanden auf einem schnellen Pferd vorausschicken, damit man auf Eure Ankunft vorbereitet ist. Was soll er ausrichten?«
Lothar runzelte die Stirn. »Er soll dem König berichten, dass Stormwind gefallen ist«, sagte er schließlich leise. »Der Prinz ist bei uns und mit ihm so viele Leute, wie ich retten konnte. Wir brauchen so rasch wie möglich Vorräte. Und wir bringen ihm schlechte Nachrichten von höchster Dringlichkeit.«
Marcus' Augen waren angesichts des Gehörten immer größer geworden. Sein Blick war zu dem Jungen gewandert, der neben dem Krieger stand. Dann aber schaute er weg, bevor es unangenehm wurde. »Wird erledigt«, versicherte er ihnen und sprach mit einem der Dörfler.
Der nickte und sprang auf eines der bereitstehenden Pferde.
Er galoppierte schon los, bevor der Dorfvorsteher zwei Schritte zurück in die Kirche gemacht hatte.
»Willem ist unser bester Reiter, und sein Pferd ist das schnellste des Dorfes«, versicherte Marcus den beiden Männern. »Er wird die Hauptstadt lange vor Euch erreichen und die Botschaft überbringen. Wir organisieren derweil Pferde und Nahrung für Euch und Eure Begleiter.«
Lothar nickte und dankte. Dann wandte er sich an den Mann im violetten Gewand. »Sammelt alle, die mit uns kommen, Khadgar, und haltet Euch bereit. Wir brechen so bald wie möglich auf.«
Der Zauberer nickte und begab sich zu den Flüchtlingen.
***
Ein paar Stunden später verließen Lothar und Khadgar Southshore. Prinz Varian Wrynn begleitete sie zusammen mit sechzig Mann. Die meisten aber wollten lieber zurückbleiben. Entweder um ihre Wunden auszukurieren oder um sich von der Erschöpfung zu erholen. Manche waren auch einfach noch zu verängstigt und schockiert und wollten mit den wenigen Überlebenden aus ihrer Heimat zusammenbleiben.
Lothar nahm es ihnen nicht übel. Ein Teil von ihm wäre auch gern in dem Fischerdorf geblieben. Doch er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Wie so oft.
»Wie weit ist es bis zur Hauptstadt?«, fragte er Khadgar, der neben ihm ritt. Die Dörfler hatten ihnen an Reittieren und Wagen überlassen, was sie entbehren konnten. Lothar wollte den großzügigen Menschen nicht zu viel wegnehmen, aber schließlich hatte er die Hilfe doch akzeptiert, weil er wusste, dass sie auf diese Weise deutlich an Zeit gewannen. Und die war wertvoll.
»Ein paar Tage noch, vielleicht eine Woche«, antwortete der Zauberer. »Ich kenne mich in diesem Teil des Landes nicht so gut aus. Doch ich erinnere mich daran, wie es auf den Karten ausgesehen hat. Wir sollten die Turmspitzen der Stadt in spätestens fünf Tagen sehen können. Dann müssen wir noch durch den Silberwald, der zu den großen Wundern Lordaerons gehört. Er liegt am Rande des Lordamere-Sees. Die Stadt erhebt sich am nördlichen Ufer.«
Khadgar verfiel wieder in Schweigen, und Lothar beobachtete seinen Begleiter verstohlen. Er sorgte sich um den jungen Mann. Als er ihn das erste Mal getroffen hatte, bewunderte er ihn für seine Gelassenheit und Selbstsicherheit. In so jugendlichem Alter war beides gepaart äußerst selten zu finden.
Khadgar war damals erst siebzehn Jahre alt gewesen und doch bereits ein vollwertiger Zauberer. Zudem war er der erste, den Medivh je als Lehrling akzeptiert hatte!
Spätere Treffen hatten Lothar gezeigt, dass Khadgar klug, strebsam und freundlich war. Er mochte den Jüngling. Es war das erste Mal, dass er wieder freundschaftlich mit einem Zauberer verkehrte, seit... nun, seit der Zeit von Medivh. Aber nach allem, was in Karazhan geschehen war...
Lothar erschauderte, als er sich den hässlichen, albtraumhaften Konflikt in Erinnerung rief. Er hatte gemeinsam mit Khadgar, der Haibork Garona und einer Handvoll Männer gegen Medivh antreten müssen. Khadgar hatte einen tödlichen Angriff gegen seinen Meister geführt. Doch war es Lothar gewesen, der seinem ehemaligen Freund den Kopf abschlug. Den Kopf, den er in ihrer Jugendzeit so oft verteidigt hatte, damals, als er, Medivh und Liane noch Freunde und Gefährten gewesen waren.
Lothar schüttelte den Kopf, um die Tränen zurückzudrängen. Er hatte auf der langen Seereise oft getrauert. Aber immer noch schienen ihn die Qual, die Wut und das Bedauern zu überwältigen.
Liane! Sein bester Freund, sein Gefährte, sein König. Liane, mit dem breiten Grinsen, den lachenden Augen und der schnellen Auffassungsgabe. Liane, der Stormwind in ein goldenes Zeitalter geführt hatte – nur, um miterleben zu müssen, wie die Orcs es zerstörten.
Die Horde fegte über das Land und verwüstete alles, was ihr dabei im Weg stand.
Und dann... hatten sie erkennen müssen, dass Medivh für all das verantwortlich war! Dass seine Magie den Orcs dabei geholfen hatte, diese Welt zu erreichen – dass sie nur dadurch Stormwind überhaupt hatten erreichen können!
Und als Folge davon war nicht nur das Königreich vernichtet worden, sondern auch Liane gestorben...
Lothar schluckte beim Gedanken daran, was er alles verloren – was sein Volk verloren hatte. Doch dann riss er sich zusammen, wie schon so viele Male zuvor auf ihrer Reise. Er konnte sich diesen Gefühlen nicht ergeben. Sein Volk brauchte ihn, genauso wie die Bewohner dieses Landes, auch wenn sie es noch nicht ahnten.
Und Khadgar folgte seinem Beispiel. Lothar verstand immer noch nicht alles, was in Karazhan in jener Nacht passiert war. Doch irgendwie hatte sich Khadgar während des Kampfes mit Medivh verändert. Seine Jugend war verschwunden, sein Körper unnatürlich gealtert. Jetzt sah er wie ein uralter Mann aus, viel älter als Lothar, obwohl Khadgar fast vierzig Jahre weniger zählte.
Lothar fragte sich, was damals noch mit dem jungen Zauberer geschehen war. Khadgar wiederum war viel zu sehr in Gedanken versunken, um den besorgten Blick seines Gefährten zu bemerken. Der junge und doch so alt anmutende Zauberer war in sich gekehrt, obwohl er über dieselben Dinge nachgrübelte wie sein Begleiter. Er durchlebte noch einmal den Kampf von Karazhan. Dabei spürte er sogar erneut das schreckliche Zerren, als Medivh ihm seine Magie und Jugend entzog.
Die Magie war zurückgekehrt – sie war sogar auf vielerlei Weise stärker geworden als zuvor -, doch seine Jugend war ihm genommen, lange vor der eigentlichen Zeit. Er war ein alter Mann geworden, zumindest dem Aussehen nach, auch wenn er sich immer noch gesund und munter fühlte wie eh und je. Und tatsächlich war er genauso ausdauernd, stark und beweglich wie einst. Nur sein Gesicht war voller Falten, seine Augen lagen tiefer in den Höhlen, und sein Haar und der frisch sprießende Bart schimmerten weiß.
Obwohl er erst neunzehn war, sah Khadgar gut dreimal so alt aus. Damit ähnelte er dem Mann in seinen Visionen, jener älteren Ausgabe seiner selbst, die er während des Kampfes aufgrund der in Medivhs Turm freigesetzten Magie gesehen hatte – der ältere Mann, der eines Tages unter einer merkwürdigen roten Sonne sterben würde, weit weg von zu Hause...
Khadgar analysierte die Gefühle, die ihn seit Medivhs Tod bewegten. Der Mann war das personifizierte Böse gewesen, ganz allein verantwortlich dafür, dass die Horde auf diese Welt hatte gelangen können. Auch wenn er nicht er selbst gewesen war, denn Medivh war von Sargeras beherrscht worden, dem Titan, den Medivhs Mutter ein Jahrtausend zuvor besiegen konnte. Doch jener Sargeras war seinerzeit nicht vollständig gestorben, nur sein Körper war vergangen. Er hatte sich in Aegwynns Mutterleib eingenistet und dort ihren noch ungeborenen Sohn beeinflusst.
Nein, Medivh war für seine Taten nicht verantwortlich. Im Sterben hatte er Khadgar verraten, dass er gegen das Böse in sich bereits seit Jahren ankämpfte, vielleicht schon sein ganzes Leben lang. Khadgar war sogar einem merkwürdigen Trugbild seines toten Meisters begegnet, kurz nachdem dessen Körper begraben worden war. Es stammte laut Medivh aus der Zukunft, endlich befreit von Sargeras Geist – dank Khadgar.
Wie sollte ich mich also fühlen?, überlegte Khadgar. Sollte er trauern, weil sein Meister tot war?
Zeitweilig hatte er Medivh sehr gemocht. Und ganz sicher hatte die Welt durch seinen Tod einen herben Verlust erlitten.
Sollte er also stolz darauf sein, dass er seinen Teil dazu beigetragen hatte, den Mann zu befreien und Sargeras erneut aus dieser Welt zu vertreiben? Sollte er wütend auf Medivhs Taten sein – oder beeindruckt, weil der Magier der Einflussnahme durch den Titanen so lange widerstanden hatte?
Er war sich nicht sicher. Khadgar war sowohl im Geiste als auch im Herzen verwirrt. Dazu kamen noch andere Dinge. Denn hier war er zu Hause. Immerhin war er zurück in seinem Heimatland Lordaeron. Wenn auch anders, als er es erwartet hatte.
Als er auf Geheiß seines vorherigen Meisters in Dalaran ausgezogen war, um Medivhs Schüler zu werden, hatte Khadgar nicht damit gerechnet, dass er zurückkehren würde, bevor er nicht selbst ein Meistermagier geworden war. Er hatte sich vorgestellt, wie er auf einem Greifen zurückgeflogen kam, so wie Medivh es ihn gelehrt hatte. Er wäre auf dem Dach der violetten Zitadelle gelandet, sodass alle seine ehemaligen Lehrer und Freunde sein Können hätten bestaunen können...
Stattdessen ritt er nun auf einem Ackergaul, Seite an Seite mit Stormwinds ehemaligem Helden, um mit einer heruntergekommenen Truppe von Kriegern den König dazu zu überreden, die Welt zu retten.
Immerhin bot man ihnen gewiss einen dramatischen Empfang, was seine alten Lehrer und Freunde zu schätzen wissen würden.
»Was machen wir, wenn wir die Stadt erreicht haben?«, fragte er Lothar und riss den alternden Krieger aus seiner Tagträumerei.
Sein Kamerad war schnell wieder bei der Sache und musterte ihn mit diesen entwaffnenden, sturmblauen Augen, die die Gefühle des Kriegers verrieten, ohne zugleich den scharfen Verstand durchblicken zu lassen.
»Wir werden mit dem König reden«, antwortete Lothar. Er schaute zu dem Jüngling, der still neben ihnen ritt. Dann strich er über den Schaft seines Schwertes. Die Edelsteine und das Gold darauf glitzerten in der Nachmittagssonne. »Auch wenn Stormwind verloren ist, ist Varian immer noch der Prinz, und ich bin nach wie vor sein Berater. Ich habe König Terenas nur einmal kurz getroffen, das war vor vielen Jahren. Doch vielleicht erkennt er mich ja. Varian wird er jedenfalls sicherlich kennen, und durch den Boten ist er von unserem Eintreffen unterrichtet. Er wird uns eine Audienz gewähren. Und dann erklären wir ihm, was passiert ist – und was getan werden muss.«
»Und was ist das?«, fragte Khadgar, obwohl er es wusste.
»Wir rufen die Könige dieser Länder zusammen«, antwortete Lothar, wie Khadgar es erwartet hatte. »Wir müssen sie dazu bringen, die Gefahr zu erkennen. Keine Nation kann der Horde allein widerstehen. Mein eigenes Land hat es versucht und ist deshalb vernichtet worden. Das darf hier nicht geschehen. Die Menschen müssen sich vereinen und als Verbündete kämpfen!« Seine Hände umklammerten die Zügel, und nun erkannte Khadgar wieder den mächtigen Krieger in ihm, der Stormwinds Armee angeführt und für so viele Jahre die Grenzen gesichert hatte.
»Dann sollten wir hoffen, dass sie uns zuhören«, sagte Khadgar leise.
»Das werden sie«, versicherte ihm Lothar. »Sie müssen einfach!«
Keiner von ihnen sprach aus, was beide dachten. Sie hatten die Macht der Horde erlebt. Und wenn die Nationen sich nicht vereinten, wenn ihre Könige die Gefahr nicht erkennen wollten, würden sie untergehen.
In diesem Falle würde die Horde dieses Land ebenso überrennen wie Stormwind. Und nichts würde von ihr verschont bleiben.