1 – Das Verschwinden des Gerechten
Ressentiment in der Kultur des 19. Jahrhunderts
Wenn ein Individuum Ungerechtigkeit wahrnimmt, ist es wahrscheinlich, dass alles zum Vorschein kommt, was es als Person definiert hat. Mit der Aussage, dass wir nicht voraussagen können, wie wir in einer solchen Situation reagieren würden, geben wir zu, dass wir uns selbst nicht kennen, versuchen aber gleichzeitig, die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Konfrontation zu verneinen. Die hier betrachteten Romanciers lehnten es ab, Selbsterkenntnis zu vermeiden; sie wussten, was sie waren, und dank ihrer Bemühungen können wir hoffen, zu uns selbst zu finden. Sie sahen voraus, dass die zarten Finessen einer entwickelten Kultur im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert massenhafter Ungerechtigkeit gegenüber den schwächsten und sprachlich hilflosesten Teilen dieser Kultur weichen würden.
Für diese Autoren, deren Kunst sie den Feinheiten von Sprache nahebrachte, werden Gebrauch und Missbrauch von Wörtern häufig das wesentliche Element in der Konfrontation. Harmonisch und positiv konstruierte Figuren, bei denen sich eine scheinbar naive Übernahme absoluter Werte mit einer echten Zuneigung zu anderen Menschen verband, wurden fast immer so geschildert, dass sie auf das Böse schnell, nonverbal und wirkungsvoll reagierten. Figuren mit komplexem Intellekt sind tendenziell stärker verklemmt und relativistisch; ihre Reaktion ist verbal, indirekt und nicht eindeutig und eher geeignet, das Gewaltpotenzial einer bestimmten Situation zu verstärken statt aufzulösen.
Doch konnte die sprachlich bewanderte Romanfigur in der Reifezeit des realistischen Romans bei angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Autoren der 1860er und 1880er Jahre in den Mittelpunkt rücken, den sie bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr aufgeben sollte. Flauberts mittelmäßiger Jurastudent, Frédéric Moreau, Melvilles pedantischer Kapitän Vere und Dostojewskis brillanter Ermittlungsrichter Porfiri Petrowitsch sind die wichtigsten Vorläufer von Camus’ Nachkriegsgestalt Clamence, Faulkners Gavin Stevens und Solschenizyns sowjetischen Strafverfolgern samt ihrem gefürchteten Artikels 58. In diesem fiktionalen Umfeld wird es zunehmend schwieriger, einen dieser scheinbar allzu simplen Gerechtigkeitssucher zu finden oder gar ungeniert zu bewundern, sollte er entdeckt werden (man denke an Billy Budd).
In den geheimnisvollen Verwicklungen der modernen Formen von Recht und Philosophie fanden Autoren negativen Stoff für die Anlage ihrer Romane sowie ein Phänomen, das Friedrich Nietzsche »Ressentiment« nannte. Nicht zufällig verwendet Flaubert das Wort in seinen frühesten »autobiografischen« Novellen, und später legt Camus es Clamence, seinem gefallenen Anwalt, in den Mund. Dostojewski verwendet häufig den vergleichbaren russischen Begriff zlost (der vorherrschende Charakterzug des Kellerlochmenschen und die seelische Erkrankung, die von Vater Sossima als Antithese wahrer Christenliebe bezeichnet wird), und Melville füllt mehrere provozierende Absätze seines letzten Meisterwerks mit einem bedeutsamen Exkurs über John Claggarts besonderes Verhältnis zu »Neid und Antipathie«.
Nirgends kommt die Einheit moderner Erzählkunst mit moderner Philosophie besser zum Ausdruck als im narrativen Zusammenspiel von Ranküne und Recht. Bei all unserer derzeitigen Betonung von marxistischen und freudianischen Elementen in der Literatur finden wir in Nietzsches brillanten Aphorismen über Ressentiment eine getreuere Quelle für den Roman als Form und Medium für Ideen. Kein Phänomen jüngerer Erzählkunst ist so beherrschend und mit einem Verständnis von Recht und Sprache in der modernen westlichen Kultur so untrennbar verknüpft. Wir müssen uns den Einfluss Nietzsches in Erinnerung rufen und ihn wieder beleben, seine Bilderstürmerei in uns aufnehmen, aber auch den moralischen Absolutismus seiner aphoristischen Gaben auskosten.
Als chronische Bedingung für Bummelei, ungewollte Abhängigkeit von einer Person oder Situation, die irgendwie als kränkend empfunden wird, findet das Ressentiment fruchtbaren Boden bei reaktiven Typen ohne ausgeprägten Sinn für persönliche Werte. Der vom Ressentiment beherrschte Mann, der Anmut und Harmonie des Lebens der Gerechten in seiner Umgebung beneidet, ist am kreativsten, wenn er seine scharfe Beobachtungsgabe und seinen komplexen Intellekt verwendet, um sich an die Macht zu schleichen. Nietzsche verfolgt die Ursprünge des Ressentiments bis zu der von ihm so genannten »jüdischen Priesterkaste« und ihrer Reaktion auf die klassischen, heidnischen Werte. Allerdings betont er die aktuelle Assoziation zwischen Ressentiment und europäischer nichtjüdischer Kultur.[1] Durch die Unterscheidung Letzterer vom Judaismus im Allgemeinen verleihen die ersten Aphorismen des Genealogen dem Begriff »jüdische Priesterkaste« einen präzisen historischen Sinn:
Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man erräth es aus tausend Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische Apokalypse zu Gemüthe zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zueigen gab[2] –: darin steckt ein Stück Wahrheit, wie viel litterarische Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nöthig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt, dass man erräth, was da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte: man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom oder Judäa? Aber es ist ja gar kein Zweifel: man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werthe beugt – und nicht nur in Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will, – vor drei Juden, wie man weiss, und Einer Jüdin (vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt Maria). Dies ist sehr merkwürdig: Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen.[3]
Nietzsche führt das in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vorherrschende Ressentiment, das sich aufs Heftigste in der Schaffung bestimmter Erzähltypen äußerte, auf eine spezifische Gruppe von Juden, die frühesten Christen, zurück, deren gesamte Ethik sich aus einer negativen Reaktion auf römische Werte ableitete. Nietzsches vielleicht übertrieben hartes Urteil (teilweise seiner großen, freilich etwas romantischen Bewunderung für die klassische Kultur geschuldet) erstreckt sich nicht auf die ältere Religion selbst. Die wesentlichen Werte des Judaismus bleiben für Nietzsche dem Ressentiment gänzlich entgegengesetzt:
Das alte Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches, lauter Conventikel-Luft, nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süsslichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. (GM 3.22)
Im jüdischen »alten Testament«, dem Buche von der göttlichen Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen Europa, das durchaus gegen Asien den »Fortschritt des Menschen« bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. Freilich: wer selbst nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur Hausthier-Bedürfnisse kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen des »gebildeten« Christenthums hinzugenommen), der hat unter jenen Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben – der Geschmack am alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf »Gross« und »Klein« –: vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch von der Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen findet (in ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder- und Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche zusammengeleimt zu haben, als »Bibel«, als »das Buch an sich«: das ist vielleicht die grösste Verwegenheit und »Sünde wider den Geist«, welche das litterarische Europa auf dem Gewissen hat.[4]
Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, – Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den »modernen Ideen« nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist –: nämlich nach dem Grundsatze »so langsam als möglich!« Ein Denker, der die Zukunft Europas auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen […].[5]
Diese bemerkenswerten Aphorismen weisen auf Nietzsches Anerkennung des Judaismus hin, der insbesondere in seinen heiligen Texten, aber sogar im Kontext zunehmender Unterdrückung in Europa eine unbeirrbare, heroische Treue zu unveränderlichen und unbestreitbar machtvollen ethischen Konzepten bekundet. Dieses entschlossene Ethos stellt Nietzsche nicht nur metaphysischen, sondern auch historischen Prinzipien gleich. Unter diesen nimmt das Streben nach weltlicher Gerechtigkeit anhand eines einheitlichen Systems gerechter Gesetze den ersten Rang ein. Damit bekräftigt das jüdische Volk allein schon durch seine Präsenz die Möglichkeit positiver Aktionen im Diesseits. In Verbindung mit Nietzsches durchgängiger Bewunderung für die spontane Wahrnehmung gerechten Verhaltens durch den Menschen der Klassik tragen seine Aphorismen zu den Juden dazu bei, einen der wenigen absoluten Ansprüche in seiner Epistemologie zu identifizieren, eine starke Antithese zum ansonsten universellen Vordringen des Lebensneiders. Mit seiner Auffassung des heroischen »Buche[s] von der göttlichen Gerechtigkeit« und mit seiner Überzeugung, dass Gerechtigkeit als dem Individuum angeborene Kraft wirkt, widersetzt Nietzsche sich kategorisch dem eher utilitaristischen Gerechtigkeitsansatz anderer Denker:[6]
Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das freiere Auge, das bessere Gewissen auf seiner Seite gehabt: umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Erfindung des »schlechten Gewissens« auf dem Gewissen hat, – der Mensch des Ressentiment! […] Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden – zum Verdruss des genannten Agitator’s [Dühring] sei es gesagt (der selber einmal über sich das Bekenntniss ablegt: »die Rachelehre hat sich als der rothe Gerechtigkeitsfaden durch alle meine Arbeiten und Anstrengungen hindurchgezogen«) – den Kampf gerade wider die reaktiven Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen. Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrechterhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiment ein Ende zu machen […]. Das Entscheidenste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist –, ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: indem sie nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten Schaden ab und erreicht damit auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht, allein gelten lässt –: von nun an wird das Auge für eine immer unpersönlichere Abschätzung der That eingeübt […]. – Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an »Recht« und »Unrecht«[…]. (GM 2.11)
Wenn Nietzsche über Gerechtigkeit spricht, ist er für seine Verhältnisse am »unmodernsten« und am »judeo-klassischsten«. In diesem wunderbaren Aphorismus erinnert er uns daran, dass es Gerechtigkeit gibt. Es gibt sie, weil es auch einen objektiven Begriff von Textualität gibt. Tatsächlich leitet sich Gerechtigkeit aus einem unveränderlichen, unpersönlichen Text und nicht aus privatem, idiosynkratischem Rachedurst ab.[7]
Gerechtigkeit und Ressentiment sind in jedem Sinn unverträglich. Doch in jedem juristischen Kontext drohen reaktive Emotionen an die Oberfläche zu kommen. Daher muss jede Generation definieren, was Gerechtigkeit bedeutet oder – was wesentlich wahrscheinlicher ist – bestimmte exemplarische Generationen müssen dies tun. Von Zeit zu Zeit schließen sich aktive, positiv motivierte Menschen zusammen, um ihre Einstellung zur Existenz in einem bleibenden Gesetzeswerk zu kodifizieren. Gleichgültig, ob wir an die Generation Moses’ oder an die Zeit verfassunggebender Versammlungen oder an die Schaffung der Gesetzbücher Napoleons denken, immer geht die gemeinsame Feststellung universeller Werte der Möglichkeit sozialer Gerechtigkeit voraus. Umgekehrt kann die programmatische Abschaffung eines Rechtssystems (wie in den frühen Zeiten des Christentums) nur zu Subjektivismus und reaktiver Gewalt führen. Das Gesetzbuch und die zugehörigen Verfahren machen die Herstellung von Gerechtigkeit dauerhaft frei von intersubjektiven Einflüssen. Die Gesellschaft definiert sich nicht mehr als Opfer, das Rache sucht. Stattdessen wird ein Regelverstoß stets nur zu einer von vielen Gelegenheiten, sich mit Gelassenheit neu auf die kodifizierten Werte zu verpflichten. Ein grundlegender Text wurde geschaffen, der nicht mit geschickten Auslegungen durch in einem moralischen Vakuum handelnde Führer unterlaufen werden kann, sondern dem die klarsichtige Loyalität der Gemeinschaft die Ehre erweist.
Nietzsche wusste, dass das Europa des 19. Jahrhunderts Reaktionären und Rachsüchtigen fruchtbaren Boden bot. In der Erzählliteratur seiner Zeitgenossen hatten Wörter im Dienst ressentimentgeladener Werte eine thematische und strukturelle Vorherrschaft. Diese Autoren nahmen in ihren Werken die tatsächliche Machtergreifung von Persönlichkeiten vorweg, die die privaten Passionen reaktionärer Bevölkerungsschichten manipulierten. Sie fürchteten, dass das Recht selbst bald zur Unterdrückung des Positiven und Guten führen würde.