Vorwort
Die folgenden Kapitel enthalten eine intensive Auseinandersetzung mit acht bedeutenden Werken moderner Fiktion. In all diesen Texten verwendet eine zentrale Figur – in der Regel der Protagonist – komplexe narrative Strukturen, um relativ einfache, zentrale Realitäten zu umgehen. Diese Protagonisten fühlen sich bei langatmigen Reden sicherer als mit spontaner menschlicher Interaktion. Eine stark formalisierte Sprache vermittelt zwischen ihnen und den Anforderungen des Lebens und schützt sie vor den Quellen positiven, kreativen Handelns, von denen sie sich deswegen aber auch allmählich entfernen. Liebe können sie wegen ihres unvorhersehbaren, nicht verbalen Wesens nicht annehmen, und sie können die ihnen von internen oder externen Faktoren auferlegten Erwartungen sozialer Verantwortung nicht erfüllen.
Eines der ältesten literarischen Paradigmen, Kränkung und Rache, gibt all diesen modernen Texten Struktur. Aber beginnend mit den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wird die »Kränkung« auf eine Ausgeburt der überhitzten verbalen Fantasie des Protagonisten reduziert. Mit Untertönen von Hamlet, doch ohne dass ihnen anders als diesem die Notwendigkeit der Rache deutlich wird, setzen diese bahnbrechenden Figuren Wörter nicht nur zur Vermeidung, sondern auch zur Schaffung beunruhigender Realitäten ein. Schahabarim, Flauberts wortgewandter Priester, nährt und reizt Salammbô mit seiner Sprache. Erfüllt sie seine verbalen Fantasien, indem sie handelt, ist er gekränkt und nimmt es ihr übel. Überhaupt gilt für diesen exotischen Roman ganz allgemein, dass inaktive Verbalisierer es schaffen, Krieger und Prinzessinnen zu beherrschen und zu kontrollieren. Doch sogar in ihrer Unterwürfigkeit stellen die weniger wortgewandten Wesen eine Bedrohung für die formalistische Weltsicht des Formulierungskünstlers dar, zum Beispiel, wenn der Mann im Kellerloch die Soldaten und die hübschen Frauen St. Petersburgs beobachtet, beneidet und gleichzeitig verachtet.
Bei der Entwicklung des modernen Romans aus diesen Texten der frühen 1860er Jahre siedelten Autoren die Wertvorstellungen des Formulierungskünstlers bewusst im Umfeld von Gerichtshöfen und Juristen an. Die Schriftsteller hatten erkannt, dass Heldentum und Religiosität als absolute Werte ausgedient hatten, und sie spürten, dass sich die Legalität zum kontrollierenden Prinzip der modernen Gesellschaft aufschwingen würde. Aber das Recht, nichts weiter als eine relativistische Methode für die Ordnung der Wirklichkeit durch Sprache, bezog gegenüber spontanem Leben dieselbe Stellung wie die philosophischen oder priesterlichen Formen früherer Texte. Der Protagonist als Jurist kam ins Bild, sprach und schrieb und strukturierte schließlich Wirklichkeiten um, die sonst faszinierend und bedrohlich zugleich gewesen wären. Flauberts großer Roman, Die Erziehung des Herzens (1869), steht im Zeichen von Juristen. Und Schuld und Sühne, Dostojewskis auf Aufzeichnungen aus dem Kellerloch folgender Roman spielt die komplementären Perspektiven eines Jurastudenten und eines Juristen gegeneinander – und gegen die Welt – aus. Der junge Raskolnikow geht über das in seinem Artikel »Über das Verbrechen« vorgeschlagene »Neue« hinaus, indem er tatsächlich einen Mord begeht. Dostojewski sollte einen derartigen Eingriff in die übliche Struktur solcher legalistischen Texte nicht mehr wiederholen. Niemals wird der Protagonist als Jurist wieder (und sei es auch rechtswidrig) handeln; nur durch seine Sprache wird er in anderen Verstimmung hervorrufen. Porfiri Petrowitsch, der Jurist, leitet diesen Prozess in Schuld und Sühne ein und zwingt Raskolnikow letzten Endes zum Geständnis und zu moralischer Konformität.
In Die Brüder Karamasow und Billy Budd, Texten, die in den 1880er Jahren geschrieben oder abgeschlossen wurden, verwendet die nun voll entwickelte beredte Romanfigur die Rechtssprache, um einen nicht so redegewandten, durchschnittlicheren und im Grunde gut angepassten Angeklagten zu manipulieren. Die frühere, private »Rache« wegen vorgestellter »Beleidigungen« so positiver Wesen hatte sich zu einer öffentlichen, gemeinschaftlichen Rache an bedrohlichen, nicht konformen Typen entwickelt. Die Schwierigkeiten juristischer Prognosen, jetzt in Gerichten institutionalisiert, verzerren die Realität und führen dazu, justizielle Verfahren zu vermeiden.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigte in tragischer Weise die literarische Sicht philosophischer, priesterlicher und rechtlicher Formalismen im Dienst ressentimentgeladener Werte. Unschuldige Opfer mussten dafür bezahlen. Das Thema erreichte seinen Höhepunkt in zwei Werken von Camus, Der Fremde (1942) und Der Fall (1956). Im ersten greifen Juristen in das Leben einer Person ein, deren moralisches System sich von ihrem eigenen in drastischer Weise unterscheidet (insbesondere hinsichtlich der Präferenzen für Geschichte und Materialität gegenüber Wortreichtum und Metaphysik). In Der Fall wird ein Pariser Anwalt, dessen verbale Tricks seinen Versuch bedrohen, zur Selbstverständigung zu gelangen, zum Repräsentanten der französischen Kultur. Zwölf Jahre nach Vichy gesteht Camus’ Anwalt ohne große Reue die kosmischen Konsequenzen der inhaltslosen Eleganz der Gesellschaft ein. Das Wort ist nicht wegen einer ihm wesensgemäßen Unwürdigkeit gescheitert, sondern eher wegen seiner Unfähigkeit, aus eigener Macht ein Individuum oder eine Kultur zu unterstützen. Die juristische, verbale Umstrukturierung der Wirklichkeit war womöglich bei der Lösung von Streitigkeiten vor Gericht hilfreich, aber als Mittel zur Organisation der Gesellschaft war sie nicht geeignet, die dem Untergang geweihten, substanziellen Werte des Christentums oder des Heldentums Einzelner zu ersetzen. Als der europäische Faschismus tatsächliche (nicht nur vorgestellte) Kränkungen erzeugte, erhielt das Hamletsche Paradigma strukturierter Rede als Ersatz legitimen Handelns im Munde von Juristen als Protagonisten neue Bedeutung.
Das vorliegende Buch siedelt die Quelle von Holocaust-Vorhersagen und -Aufarbeitungen im nichtssagenden Wortschwall juristischer Protagonisten an. Diesen Figuren fehlt es an geistiger Substanz, und sie stellen alle Merkmale der tief greifendsten Malaise der modernen westlichen Kultur zur Schau: ständige Ranküne oder Ressentiment. Aber wie innerhalb der Kultur selbst schützt der Lack gewandter Rede und formaler Eleganz die verbitterten Formulierungskünstler vor dem prüfenden Blick der anderen. So schaffen sie es, Einfluss zu gewinnen und ihre verschleierte Raserei nach außen zu tragen, bis letztlich nichts Wesentliches mehr überlebt.
Die zentrale Bedeutung juristischen Ressentiments für moderne Fiktion wird deutlich, wenn wir in der Folge Leben und Werk der vier hier behandelten Autoren betrachten. Nach der in Teil 1 erfolgenden Untersuchung der Beziehung von Ressentiment zu Kunst und Recht im 19. und 20. Jahrhundert analysiere ich die drastischen Beschreibungen der Malaise bei den großen intellektuellen Protagonisten von Dostojewski und Flaubert. In Teil 2 und 3 wird ausgeführt, dass sich die geistig-seelischen Probleme der redegewandten Figuren direkt aus denen ihrer weitschweifigen Schöpfer ableiten lassen. Für Dostojewski stand narratives Schreiben im totalen Widerspruch zu den christlichen Werten der Selbstlosigkeit und Einfältigkeit, an die zu glauben er vorgab. Für Flaubert ergab sich aus den Anforderungen an literarische Kunst ein Konflikt mit seinem Verlangen, heroisch, spontan sowie politisch und sexuell kraftvoll zu sein. Ihr narratives Faible ließ keinen von beiden in Ruhe und gab ihnen auch nicht das Gefühl, ihr Leben gut zu leben. Kein Wunder also, dass sie sprachgewandte Figuren schufen, die Ausdruck ihrer eigenen ambivalenten Einstellung zu wohl formulierter Rede sind und deren sprachliche Fähigkeiten bar jedes positiven ethischen Inhalts im Leben anderer Verheerendes anrichten. Doch wollten Dostojewski und Flaubert ihre Betrachtungen zur Sprache nicht nur als Selbstkritik verstehen. Daher legten sie juristischen Figuren mit Rollen öffentlicher Verantwortung zunehmend giftige Worte in den Mund.
Albert Camus, dessen erste und dessen letzte große Novelle über das Recht in Kapitel 7 untersucht werden, erlebte noch, wie Frankreich in Wörtern schwelgte und sich wegen lang unterdrückter Ranküne fast selbst zerstörte. Seine Aufgabe bestand darin, anhand der von Dostojewski und Flaubert geerbten Thematik des Rechts die erschreckende Trennung von Ethik und Sprache zu vermitteln, die große Teile des Kontinents befallen hatte. Auch wenn seine Überzeugungen seiner Zeit entsprachen, klingt in seinen Texten das europäische Thema des legalisierten Ressentiments des 19. Jahrhunderts nach, und daher ist es angebracht, seine Werke mit Rechtsbezug im vorliegenden Kontext zu behandeln.
Teil 4 des Buchs geht zeitlich einen halben Schritt zurück, macht aber einen Riesensprung nach Westen, um sich mit einem zentralen Text, Billy Budd, zu beschäftigen. Alle Stränge der vorliegenden Untersuchung werden in diesem amerikanischen Meisterwerk zusammengeführt. Wenn Kapitän Vere, der die Rollen von Zeuge, Ankläger, Richter und Vollstrecker in sich vereinigt, den Plan ausheckt, den heroischen Billy aufhängen zu lassen, bringt er auch die falsche Verwendung von Wörtern an die Macht und zerstört aus subjektiven Gründen alles, was auf dem Schiff heilig war. Das Ressentiment schafft es durch die Vere und Claggart, seinem konkludenten Verbündeten, gemeinsame schöpferische Tat, sich durchzusetzen und zum Gesetz zu werden. Aber kleine Funken von Ethik und Heroismus überleben in Melvilles Kurzroman nicht anders als in der Geschichte, und ihre Erscheinung macht eine Rehabilitierung sinnhafter Sprache möglich.
Im vorliegenden Text werden, wo es angebracht ist, Verbindungen zwischen narrativer und tatsächlicher Gewalt hergestellt. Und der Text betont die Notwendigkeit anzuerkennen, dass verbaler Formalismus und reaktiver Hass das Hauptvermächtnis des alten Wertesystems sind, das von ihnen schon immer stillschweigend pervertiert wurde. Die verachteten »Anderen«, die sich gegenüber ihrem eigenen Selbst und der Geschichte weniger ausweichend verhalten, haben die beispiellose Hysterie dieses todgeweihten Systems überlebt. Ihre Alternative wird uns durch die mutige Selbstkasteiung dieser acht Texte anempfohlen.