MARBELLA

DONNERSTAG, 9. OKTOBER

Bis zur Abfahrt blieben noch fünfzehn Minuten.

In der Damentoilette befestigte ich den Schlüssel zum Schließfach mit einer Sicherheitsnadel in meinem Slip und kontrollierte meine rechte Socke. In der Ferse lag eine Rolle Scheine. Ich hatte das Geld an verschiedenen Bankautomaten in Tarifa abgehoben. Insgesamt hatte ich zweitausendvierhundert Euro im Portemonnaie, in den Taschen, und im Strumpf. Meinen Pass hatte ich im Schließfach eingeschlossen. Das barg ein Risiko, war aber die einzige Möglichkeit.

Ich wusch mir das Gesicht über dem Wachbecken und trocknete mich unter dem Handtuchtrockner. Zuckte zusammen, als ich das fremde Antlitz im Spiegel sah. Wohlbekannt, und doch nicht. Wie wenn man eine längst vergessene, ehemalige Kollegin im falschen Stadtteil auf der Straße sieht und sich nicht sicher ist, ob man sie kennt. Das blondierte Haar machte mich zu einer jüngeren Kopie meiner selbst, es glättete mein Gesicht. Ich hatte noch immer den stechenden Geruch von Wasserstoffperoxid in der Nase.

Vom Busterminal in Marbella gab es Verbindungen in alle Himmelsrichtungen, nach Sevilla, Malaga, Madrid und an Orte, deren geografische Lage ich nicht einmal kannte. Ich wählte ein Terminal, das ausreichend groß war, um alle Menschen kommen und gehen zu sehen. Einen Ort, an dem mich niemand bemerken würde.

Ich ging um das Terminal herum, bis ich einen Briefkasten fand. Nahm den wattierten Umschlag für Benji mit dem Brief und dem Schlüssel zur Wohnung in Gramercy, drückte ihn einige Sekunden lang fest in der Hand.

Ich war mir nicht sicher, ob das juristisch hieb- und stichfest war, aber es musste genügen. Im Brief hatte ich geschrieben, dass er die Firma und die Wohnung übernehmen sollte. Alles, was ich hinterließ. Möglicherweise würden Patricks Eltern Ärger machen, aber dann musste er sich wohl mit ihnen um das prügeln, was ihm wichtig war. Der Brief landete mit einem weichen Plumps im Briefkasten.

Auf der Rückseite des Terminals war der Bus vorgefahren. Die Abgase mischten sich mit dem Rauch von Reisenden, die einige schnelle Züge von ihren Zigaretten nahmen, bevor sie einstiegen.

Es war schon der dritte Bus, in den ich heute stieg. Um acht Uhr morgens hatte ich Tarifa verlassen und war Richtung Osten gereist, in Algeciras umgestiegen und an Gibraltar vorübergefahren, wo der Atlantik ins Mittelmeer fließt. Der mächtige Felsen verblasste hinter mir zu einem Schatten, als ich meine Fahrt nach Marbella fortsetzte.

»Wohin?«, brummelte der Fahrer, als ich einstieg.

Ich zeigte meinen Fahrschein.

»Nach Puerto Banus«, antwortete ich.

Ich machte es mir auf einem Sofa in der Sinatra Bar bequem,

mit Aussicht auf die riesigen Luxusboote, die im Hafen lagen und wie groteske Mutationen aussahen. Auf der Straße glitten in sanftem Tempo Ferrari, Lamborghini und andere Luxuskarossen vorbei.

Mechanisch überflog ich die Karte und bestellte ein gegrilltes Sandwich. Zwei Männer mit sonnenverbrannten Nasen dösten über ihren Bieren, eine Frau mit Goldrandbrille machte eine Shoppingpause, umgeben von Versace- und Armani-Tüten.

Ich nahm Block und Stift und zeichnete eine Skizze vom Hafen, während ich wartete. Eine Kulisse zu einem Stück, das von Erfolg und Geld erzählte. Puerto Banus wirkte so pittoresk wie ein Fischerdorf, mit weißen Häusern und schmalen Treppen, die zwischen den Straßen emporkletterten. Aber ein Fischer konnte es sich wohl kaum leisten, hier zu wohnen.

»Oh Gott, was bin ich müde, was für eine Nacht«, seufzte ein Mädchen in britischem Englisch und ließ sich auf ein Sofa fallen .

»Ich habe keine Ahnung, wann man hier schlafen soll«, pflichtete ihre Freundin bei und winkte flirtend dem Barkeeper zu, der schnell bei ihr war. Er trug einen Goldring im Ohr und ein schwarzes T-Shirt, dessen Ärmel hochgekrempelt waren und die Muskeln zeigten.

»Für mich ein besseres Morgen«, sagte das Mädchen.

»Für mich auch«, sagte die andere und setzte sich ihr gegenüber. Sie streckten ihre langen Beine aus, die eine zog ihre Schuhe aus und wackelte mit ihren silberlackierten Zehennägeln.

Der Barkeeper jonglierte mit Saftpäckchen und Zitronen und füllte das Glas mit zerstoßenem Eis auf. A better tomorrow war die alkoholfreie Alternative auf der Cocktailkarte.

»Diese Schuhe bringen mich noch um«, sagte die eine. Sie trug die Haare platinblond, die andere hellblond, den Ansatz hatten sich beide absichtlich braun gefärbt. Die Trendforscher behaupteten, das man in diesem Jahr nachlässig und zerzaust aussehen solle, als ob man sich beim Styling kein bisschen angestrengt hätte.

»Guck mal da drüben, aber dreh dich nicht so auffällig um«, flüsterte die Hellblonde und deutete mit den Augen zur Straße. Eine roter Maserati drehte seine siebte Runde an der Bar vorbei.

»Der ist einfach so schick!« Die Platinblonde stöhnte vor Begeisterung.

»Das ist doch dieser Typ, der kleine Mädchen einsammelt, Dreizehnjährige. Er hat eine Dachwohnung am Hafen, sein Whirlpool ist größer als das Wohnzimmer.«

»Ja, aber das Auto. Das ist einfach so cool!«

»Du solltest erst mal seine Yacht sehen, es ist die größte im ganzen Hafen!«

»Bist du etwa schon mal dort gewesen?«

»Zweimal.« Die Hellblonde nickte und nuckelte an ihrem Drink.

»Was denn, ist sie tatsächlich größer als die Golden Star? Die Yacht von Leeson? Oder die Athena? Hör doch auf, du lügst! Du warst doch wohl nicht schon auf jedem Schiff in diesem Hafen?« »Nein, aber auf ziemlich vielen.« Die Hellblonde warf ihren Kopf in den Nacken, um anschließend wieder die Autos zu beobachten.

Ich faltete meine Skizze über den Hafen auseinander und beugte mich zu ihrem Tisch hinüber.

»Hi, entschuldigt bitte die Störung, ich frage mich nur: Seid ihr zufällig Models?«

Die Mädchen sahen sich an, lachten und richteten ihr Haar.

»Warum fragen Sie sich das?«

»Ich arbeite für eine amerikanische Zeitung«, antwortete ich und setzte einen übertriebenen New Yorker Akzent auf.

»Welche denn?« Die Mädchen lächelten mit ihren weißen Zähnen um die Wette. »Etwa für die Vogue

Ich machte eine vage Kopfbewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte.

»Ich soll über das glamouröse Partyleben an der Costa del Sol berichten, das Jetset-Leben. Kennt ihr euch da aus?« Ich rückte etwas näher.

»Wollen Sie uns interviewen?« Die Platinblonde öffnete ihre Handtasche und zog einen Lippenstift hervor.

»Also, wir sind ein bisschen müde. Wir waren gestern auf einer Party in den Bergen, wir sind gerade erst zurückgekommen.«

»Diese Partys sind total verrückt. Sie gehen bis elf Uhr morgens.«

Die Platinblonde beugte sich über ihre Freundin. »Wollen Sie auch Fotos machen?«

»Wie heißt ihr denn?« Ich notierte mir genau ihre Namen, damit sie sehen konnten, wie seriös ich war. Die Hellblonde hieß Emma, die Platinblonde Melanie.

»Ihr müsst auf diesen Partys doch eine Menge Promis treffen, oder?«, fragte ich.

»Was glauben Sie denn?« Melanie verdrehte die Augen. »Hier wimmelt es nur so von denen.«

»Sean Connery wohnt hier«, sagte Emma. »Obwohl, den haben wir noch nicht getroffen. Aber Antonio Banderas joggt immer auf der Golden Mile.«

»Gestern auf der Party habe ich einen getroffen, der einen kennt, der mit Robbie Williams zusammen Musik macht«, sagte Melanie. Sie hob ihre Stimme etwas. »Er sagt, dass Robbie bald herkommt.«

»Echt?«, fragte Emma. »Davon hast du gar nichts erzählt.«

»Wir sind doch auch gerade erst zurückgekommen«, erwiderte Melanie. Sie nahm einen kleinen Spiegel aus der Tasche und drehte ihren Lippenstift auf.

»Ich habe gehört, dass auch auf den Booten hier Partys stattfinden?« Ich deutete auf die Anleger.

»Gott, ja! Besonders jetzt im Herbst, wenn die Besitzer aus London und Paris kommen.«

»Liegen die Yachten denn nur hier im Hafen?«

»Ja, natürlich; es sei denn, sie fahren nach Niki Beach«, antwortete Emma.

»Ich habe dort mal Prinzessin Madeleine von Schweden gesehen«, sagte Melanie, »und Harry natürlich.«

»Welchen Harry?« Ich kritzelte zum Schein ein bisschen auf meinem Block herum.

Emma lachte und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Na den Prinzen natürlich!« Sie warfen sich einen vielsagenden Blick zu und schüttelten ihre Köpfe, sodass die blonden Locken flatterten.

Ich blätterte eine Seite in meinem Block um. Die biertrinkenden Rotnasigen hatten sich seit der Ankunft der Mädchen aufgerichtet, grinsten, prosteten ihnen zu und versuchten verzweifelt, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.

»Es gibt einen steinreichen Franzosen, der eine Yacht hier hat«, sagte ich. »Ich frage mich, ob ihr ihn kennt. Er heißt Alain Thery.«

Melanie rümpfte die Nase. »Was? Der ist doch kein Promi!«

»In Frankreich schon. Wir haben viele Leser in Paris.«

Melanie legte den Kopf ein wenig schief, was ihren langen Hals deutlicher zur Geltung brachte. Sie schnippte gegen ihre Ohrringe und brachte sie zum Baumeln.

»Aber der fährt nie nach Niki Beach«, antwortete sie. »Höchstens ein ganz kleines Stück hinaus.«

»Wisst ihr, welches Schiff seins ist?«, fragte ich.

Emma schlürfte den letzten Schluck ihres Drinks.

»Wollt ihr noch was trinken?«, fragte ich und lächelte. »Die Zeitung lädt ein.«

»Dann nehme ich einen Cosmopolitan«, antwortete Melanie schnell.

»Einen Wodka Red.«

Ich winkte den Barkeeper herbei und gab die Bestellung auf.

»Da war gestern auch eine Party«, sagte Emma.

»Wo?«, fragte Melanie.

»Auf seiner Yacht. Bei diesem Alain.«

»Woher weißt du das?« Melanie grabschte sich ihren Cosmopolitan direkt vom Tablett und nahm einen Schluck.

»Na, Suz kennt doch den Skipper, das habe ich dir doch schon mal erzählt.« Emma wandte sich mir zu. »Es gibt viele Mädels, die was mit den Skippern anfangen, damit sie auf die Schiffe kommen. Man muss mit einer Yacht ankommen, wenn man nach Niki Beach will, sonst ist es ja peinlich. Aber wenn die Besitzer dann kommen, müssen diese Mädchen wieder von der Yacht.«

»Eine Freundin von mir war im Frühjahr einmal auf einer Party dort«, erzählte Melanie. »Es gab Champagner ohne Ende. Und alles andere lag auch einfach herum, wenn man wollte. Sie wissen schon.« Sie leckte sich die Lippen und fuhr sich mit dem Finger unter der Nase entlang.

»Kokain?«, flüsterte ich.

Melanie legte ihren Finger auf den Mund.

»Wo liegt diese Yacht?«, fragte ich und spähte zu den schlanken, weißen Schiffen hinüber.

Emma zeigte nach links, an den Rand des Hafens, wo die Molen aufhörten und die künstliche Stadt einen Bogen zum Meer schlug, mit ihren Boutiquen und Restaurants im Untergeschoss und den darüberliegenden Wohnungen. Eine Dreizimmerwohnung hier kostete zwei Millionen Euro, das hatte ich im Schaufenster des Maklerbüros gesehen, als ich vom Bus hierhergelaufen war.

»Pier O«, sagte sie andächtig.

»Dort liegen die größten Schiffe.« Melanie schnalzte mit der Zunge. »Manche müssen bis zu zehntausend Euro im Monat zahlen, um am Pier O liegen zu dürfen.«

»Wisst ihr, wie die Yacht heißt?«, fragte ich. »Ich würde gern ein Foto von ihr machen.«

»Haben Sie Ihre Kamera dabei?«, fragte Melanie und weitete dramatisch die Augen. »Ich habe mich nicht zurecht gemacht.«

»Also, Suz hat da eine ziemlich fiese Sache erzählt.« Emma blickte von Melanie zu mir, um sich zu vergewissern, dass sie unsere volle Aufmerksamkeit hatte. »Es gab ein Mädchen, das bei ihm auf dem Schiff war, also bei dem Besitzer, dem reichen Typen. Es wurde vergewaltigt.«

Melanie schnaubte. »Das behaupten doch alle nur.«

»Naja, und sie hatte sich ja selbst darauf eingelassen, das stimmt.« Emma nahm die Zitronenscheibe vom Rand ihres Glases und leckte daran. »Ich meine, immerhin ist sie mit ihm mitgegangen.«

»Manche Mädchen sind so naiv«, sagte Melanie, »sie denken, sie könnten einfach nur mit dem Schiff durch die Gegend gondeln und Champagner trinken. Natürlich wird er dann sauer, es ist ja immerhin seine Yacht.«

»Was ist denn mit dem Mädchen passiert?«, wollte ich wissen.

Emma packte mit der Rechten ihr linkes Handgelenk und hielt es hoch. »Handschellen. Solche Sachen. Er hat sie an die Bettlampe angekettet, verstehen Sie, auf einem Schiff ist ja alles festgeschraubt.«

»Viele machen das auch freiwillig«, sagte Melanie.

Emma nippte ein wenig an ihrem Drink. »Doch dann wollte sie das Schiff verlassen und durfte nicht. Er ist ein kleines Stück rausgefahren, aber nur bis vor die Molen. Er ist dafür bekannt.«

Ich musste an die Gerüchte denken, die Caroline Kenney erzählt hatte.

»Weil er nicht schwimmen kann?«, fragte ich.

Melanie und Emma lachten ein wenig und tauschten erneut Blicke aus. Es war offensichtlich für sie, dass diese amerikanische Journalistin weder besonders clever noch in das Geschehen eingeweiht war.

»Verstehen Sie denn nicht? Er legt ab, wenn er Mädchen an Bord hat, damit sie es sich nicht anders überlegen können.«

»Außerdem kann man sie dann nicht schreien hören.«

»Am Tag danach konnte sie kaum laufen«, sagte Emma leise. »Erst nach drei Tagen oder vielleicht sogar einer Woche ist sie wieder zum Hafen gekommen.«

Ich blickte zum Pier O, wo die großen Yachten auf dem stillen Wasser ruhten, mit ihren spitzen Nasen und ihren Fenstern wie schmale, schwarze Augen. Sie sahen ziemlich heimtückisch aus.

»Dieses Mädchen, ist es hier noch irgendwo?«, fragte ich. »Es wäre interessant, mal mit ihr zu reden.«

»Sie ist schon nach Hause gefahren«, sagte Emma.

»Liebe Güte, es ist doch aber wohl kaum erstaunlich, dass es manchmal wild wird. Bei Partys wird eben heftig gefeiert. Sie hätten mich mal heute Morgen sehen sollen.« Melanie beugte den Kopf nach unten, und wirbelte sich mit den Fingern durch das Haar, damit es sich noch mehr aufplusterte. »Oder was heißt heute Morgen, wir haben ja bis eins gefeiert.«

»Du und dieser Phil, oder was?«, fragte Emma. Sie reckte sich, als sich drei spanische Jünglinge in die Nähe der Bar setzten. Sie trugen Goldketten und dicke, funkelnde Uhren.

»Nein, du spinnst doch, das war Liam, weißt du, der, der den Typ kennt, der mit Robbie Williams zusammen Musik macht. Das habe ich doch gesagt.«

»Der ist doch voll alt.« Emma zog eine angewiderte Grimasse.

»Nein nein, Robbie ist doch erst paarunddreißig.«

»Liam meine ich. Der ist mal mindestens vierzig.«

»Ja, aber hast du sein Haus gesehen? Auf dem Weg nach Ronda?«

»Das gehört ihm nicht einmal. Suz hat erzählt, dass er so eine Art Hausmeister ist, der sich darum kümmert, wenn die Besitzer weg sind.«

Melanie schlug sich die Hand vor den Mund, sah weg, richtete ihre Haare und bückte sich nach ihrer Handtasche, um erneut den Lippenstift herauszuholen. Er war blutrot und glänzte, sie zeigte damit auf Pier O.

»Epona heißt sie übrigens, falls Sie das interessiert.«

»Alain Therys Yacht?«

»Das bedeutet Pferdegöttin«, sagte Emma.

Melanie und ich sahen sie verwundert an.

»Woher weißt du das?«, fragte Melanie.

Emma zuckte nur mit den Achseln und sah weg, ihr Blick wurde offenbar von einem schwarzen Porsche absorbiert, der gemächlich vorbeifuhr.

Ich dankte den Mädchen, notierte mir ihre Nummern und sagte, der Fotograf werde im Laufe der Woche von sich hören lassen. Dann stand ich auf, bezahlte an der Bar, ging hinaus und schlenderte am Kai entlang zum Pier O.

Verglichen mit dem tosenden Meer vor Tarifa wirkte das Mittelmeer friedlich wie ein Binnensee. Und Afrika war bei weitem nicht so nah, der Kontinent zeigte sich lediglich als dünner Pinselstrich mit einem dunkleren Blau am Horizont.

Die fünfte Yacht am Kai war die Epona. Ich ging langsam vorbei, ohne stehenzubleiben, betrachtete sie wie alle Schiffe, an denen ich vorbeilief, ein wenig bewundernd. No entry, no pasar, ne pas monter à bord, stand auf einem Schild am Heck des Schiffs, neben einer schmalen Öffnung in der Reling, zu der eine kleine Leiter hinaufführte. Das Deck war aus exklusivem, hellem Holz vom Typ bedrohter Regenwald. Türen mit schwarzen Scheiben führten ins Innere des Schiffs.

Ich blieb drei Yachten entfernt stehen, wo ein Mann in Jeans und marineblauer Windjacke gerade einige Koffer an Bord trug.

»Hübsches Schiff«, sagte ich. »Was kostet denn so eins?«

Er warf einen Blick auf mich. »Mehr, als Sie sich leisten können«, antwortete er und warf seine Zigarette ins Meer.

»Ich weiß. Deshalb interessiere ich mich auch mehr für diese da. Wissen Sie, was das für eine Marke ist?«

»Die Epona?« Der Mann trat einen Schritt auf den Landungssteg und reckte den Hals. »Das ist eine Marquis.« Er musterte meinen Körper unverfroren von oben bis unten.

»Gibt es hier in der Nähe jemanden, der die verkauft?«, fragte ich.

Der Mann deutete hinter sich, über die anderen Piers hinweg, die wie Finger aus dem Kai ragten. »Versuchen Sie es mal im Marina Banus.«

»Danke«, sagte ich und überquerte die Straße.

Ich stellte mich neben einen kleinen, gläsernen Kiosk mit Aussicht auf die Epona. Auf dem Schiff rührte sich nichts. Als ich eine Flasche Mineralwasser kaufte, fiel mir auf, dass ich in der Sinatra Bar zu wenig Wechselgeld bekommen hatte, in dem dicken Bund Scheine fehlten dreißig Euro. Plötzlich richtete sich mein ganzer Zorn auf den Barkeeper mit dem Goldring im Ohr, doch gerade, als ich auf die Straße trat, bog ein graugrüner Jaguar auf den Kai und hielt vor der Epona.

Schnell ging ich rückwärts ein paar Schritte in eine Kleiderboutique und versteckte mich hinter einem Gestell mit T-Shirts.

Die Fahrertür wurde geöffnet und ein Mann in einem taubenblauen, maßgeschneiderten Anzug stieg aus. Er trug eine Sonnenbrille im Pilotenstil, sein Haar war mittelblond und kurz. Mich durchfuhr ein Stich, der vom Steißbein die Wirbelsäule hinauflief und in meinem Nacken aufflammte.

Er war es.

Alain Thery bewegte sich träge, im selben Tempo wie der übrige Hafen, niemand hier schien ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, wahrscheinlich hatten die meisten schon alles, was sie sich wünschten.

Er drehte sich um und sah zu der Bar hinüber, wo ich gerade noch gesessen hatte, folgte mit dem Blick einem Sportwagen, der vorbeifuhr. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und drückte eine Fernbedienung. Im gleichen Moment nahm ich eine Bewegung auf dem Oberdeck des Schiffes wahr. Eine Minute später wurden die Türen geöffnet, und ein Mann kam heraus. Er trug weiße Freizeitkleidung und hob die Hand zum Gruß.

Als Alain Thery an Bord ging, sah ich, dass es nun eine Gangway gab, die vorher nicht da gewesen war. Die beiden Männer wechselten einige Worte, dann verschwand Alain Thery durch eine der Türen.

Der andere Mann, vermutlich der Skipper, blieb an Deck stehen, während die Gangway wie eine Zunge durch eine Öffnung am Schiffsheck zurückglitt.

»Möchten Sie etwas kaufen?«, fragte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Der Ladenbesitzer stand mit saurer Miene neben einem Gestell mit Sonnenbrillen. Ich ging hin und suchte mir eine Ray-Ban-Kopie aus. Als es ans Bezahlen ging, merkte ich, dass sie echt war.

Ich ging am Kai entlang zurück und widerstand meiner Lust, in die Sinatra Bar zu gehen, um meine dreißig Euro einzufordern. Das würde nur Ärger geben und unnötig viel Aufmerksamkeit auf mich lenken.

Ich blieb vor einer Armani-Boutique stehen und ging hinein.

»Ich brauche ein Kleid und eine passende Jacke dazu, falls Sie so etwas haben.«

Die kühle Dame im maßgeschneiderten Dress sah mich an wie etwas, dass die alten Fischer den Katzen zum Fraß vorwerfen.

»Welche Farbe, und an welche Art von Kleid haben Sie gedacht?«

»Kurz«, sagte ich. »Gerne rot.«

Ich bekam drei Kleider in die Hand gedrückt und verschwand in der Umkleidekabine. Kleid Nummer zwei saß perfekt, ein schwarzes Minikleid, dass viel zu eng war, um sich darin zu bewegen. Ich versuchte, das Kleid hochzuziehen, über den Hintern. Es klappte. Das gute Stück kostete achthundertzehn Euro.

»Das nehme ich«, sagte ich und verließ die Umkleidekabine im Kleid. Ich erblickte einen Blazer, der an eine Schaufensterpuppe drapiert war, und probierte ihn im Laden. Er passte, also behielt ich ihn ebenfalls an. Die alte Jacke stopfte ich in meine Tasche, es konnte kalt werden am Abend. Dann wühlte ich mit einer Hand in der Tasche, um mein Geld hervorzukramen und sah ein, dass ich auch eine neue Tasche brauchte.

Die Verkäuferin bat mich, ihr den Rücken zuzuwenden, damit sie die Preisschilder abschneiden konnte. Ich schnappte mir eine breite Haarspange, die neben der Kasse ausgestellt war. »Die hier nehme ich auch noch«, sagte ich.

Auf dem Weg aus dem Geschäft stellte ich mich vor ein spiegelndes Schaufenster und steckte meine Haare hoch. Ich stutzte noch immer beim Anblick meiner selbst als Blondine. Die Sneakers sahen etwas sonderbar aus zu dem schwarzen Kleid, genau wie meine zerschlissene Schultertasche, aber dieses Problem musste noch warten. Die Armani-Tüte mit meinen alten Klamotten warf ich in den nächsten Mülleimer.

Am Eingang von Marina Banus döste ein schläfriger Wächter und nickte vor sich hin. »Guten Tag«, sagte ich.

Er verzog keine Miene. Ich klopfte an das Fenster neben ihm. Er drehte den Kopf und zog sich schnell die Kopfhörer aus den Ohren.

»Ich möchte mir gern ein Schiff angucken«, sagte ich und ergänzte: »Für meinen Arbeitgeber.«

»Okay.« Der Wächter richtete sich mühsam auf. Ich begann mich daran zu gewöhnen, dass mich hier alle von oben bis unten musterten wie ein Ausstellungsstück, also trat ich einen Schritt vor und hoffte, dass der Wächter meine zerschlissenen Turnschuhe von seinem Posten aus nicht sehen konnte. Ich hatte sie vor einem halben Jahr für fünfzehn Dollar in einem Outlet in der Nähe von Ground Zero gekauft.

Der Wächter nahm den Telefonhörer in die Hand. Ich blickte auf den Pier, wo die Boote lagen, die zum Verkauf standen, riesig wie mittlere Flugzeugträger, strahlend weiß und stromlinienförmig. Ich überlegte, wie viele Millionen Dollar man dafür ausspucken musste.

»Ein Verkäufer wird zu Ihnen kommen«, sagte der Wächter und stöpselte die Kopfhörer wieder ein. Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel vor fünf am Nachmittag. Die Uhr hätte ich eigentlich auch austauschen müssen. Alles lässt sich austauschen, färben, ändern, dachte ich. Trotzdem bilden die Menschen sich ein, sie wüssten etwas über den, der vor ihnen steht.

»Guten Tag«, sagte ich und lächelte den Verkäufer an, der mit einer Aktentasche unterm Arm auf mich zukam. »Entschuldigen Sie, dass ich einfach so ohne Anmeldung vorbeikomme, aber ich soll mir unbedingt für meinen Arbeitgeber eine Yacht ansehen.«

Ich schob mir die Sonnenbrille in die Haare und redete breitestes Ostküstenamerikanisch.

»Kein Problem, ist er denn bereits Kunde bei uns?« Der Verkäufer lächelte gekünstelt. Er war ein Mann in den Dreißigern mit weißen Zähnen und einem schlaffen Händedruck.

»Nein, aber er ist gerade dabei, hierherzuziehen«, sagte ich. »Richard Evans, ein berühmter Zeitungsmogul aus New York, bestimmt haben Sie schon von ihm gehört?«

Der Verkäufer nickte eifrig, während er mir den Weg durch das Tor wies.

»Was hat er sich denn vorgestellt?«

»Eine Marquis«, antwortete ich. »Es hat gar keinen Sinn, dass Sie mir etwas anderes zeigen. Mr. Evans ist ein richtiger Marquis-Liebhaber.«

»Eine gute Wahl. Eine ausgezeichnete Wahl. Viele kaufen amerikanische Schiffe, wenn der Dollar niedrig steht. Und über welche Größe sprechen wir?«

Ich legte ihm vertraulich die Hand auf den Arm.

»Zeigen Sie mir einfach, was Sie haben«, antwortete ich.

Ich erkannte sie sofort wieder. Zwei Marquis-Yachten lagen nebeneinander und schaukelten leicht, sie sahen aus wie großer und kleiner Bruder Marquis, genauso großspurig und selbstgefällig und mit dem gleichen heimtückischen Blick aus ihren schwarzen Fenstern.

»Die große, die ist es.«

»Die Königin«, sagte der Verkäufer mit einem zärtlichen Tonfall. Er strich mit der Hand am Geländer der Gangway entlang, als wäre die Yacht seine künftige Ehefrau.

»Eine 69 Fuß Marquis«, erklärte er. »Ausgezeichnete Wahl. Und wenn er in Euro bezahlt, beträgt der Preis derzeit nur 1,8 Millionen, eine halbe Million weniger als ein entsprechendes europäisches Schiff.«

»Dürfte ich sie mir mal ein bisschen näher ansehen?«

»Selbstverständlich.« Der Verkäufer betrat die Gangway und streckte die Hand aus, um mich an Bord zu geleiten. »Das ist eine richtige Schönheit, mit einer Grazie und Eleganz, wie Sie Ihnen keine andere Yacht bieten kann. Sie werden feststellen, dass der Innenraum mehr Platz bietet, als man es normalerweise kennt, sogar bei größeren Yachten als dieser hier.«

»Mein Chef möchte alles wissen«, sagte ich und ging an Bord. »Können wir mit dem Schlafzimmer anfangen?«

Die Musik wummerte laut aus dem Inneren von Puerto Banus, wo die Clubs noch viele Stunden geöffnet hatten, aber am Pier O war bereits Nachtruhe eingekehrt. Die Restaurants entlang der Promenade hatten geschlossen. Ein paar Mädchen stolperten auf hohen Absätzen von einer Yacht, die Ma Petite hieß, in der Ferne hörte ich ihre Kommentare über die miese Party, als sie in irgendeinen Klub weiterzogen.

Ich hatte mich auf den Boden gesetzt und lehnte mit dem Rücken an einen kleinen Turm am Ende von Pier O, müde vom Herumlaufen von Bar zu Bar, wo ich alkoholfreie Drinks getrunken und mich gegen die Avancen betrunkener Golftouristen hatte wehren müssen.

Der graugrüne Jaguar hatte sich den ganzen Abend nicht bewegt. Zweimal hatte ich beobachtet, wie der Skipper vom Oberdeck gestiegen war, um eine Zigarette zu rauchen, während er sehnsüchtig auf die Lichter des Hafens spähte. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass der Besitzer das Schiff für die Saison verlassen würde, damit er die drei Schlafzimmer auf dem Unterdeck nach eigenem Gutdünken nutzen konnte.

Alain Thery hatte sich den ganzen Abend nicht blicken lassen.

Ich entschied, noch eine halbe Stunde zu warten und die Augen zu schließen. Der Schlaf zog mich tief in die schwarze Leere hinein. Doch ich schreckte gleich wieder hoch, nur um erneut die Augen zufallen zu lassen. Der Jaguar war noch da. Nirgends brannte Licht. Wenn er jetzt nicht schlief, würde er nie schlafen.

Ich öffnete die große Goldtasche, die ich zu einem Schleuderpreis erstanden hatte, und holte meine neuen Schuhe heraus. Meine abgewrackten Sneakers schmiss ich zusammen mit meinem Anorak unter einen Busch – die letzten Überreste meines alten Ichs. Die Schultertasche hatte ich in den Mülleimer der Kaufhaustoilette gestopft, wo ich meine Kostümierung mit raffiniert viel Make-up vollendet hatte, und mein Handy ins Meer geworfen, als ich eine Runde über Pier 1 geschlendert war, um die Epona von der anderen Seite zu begutachten.

Die neuen Schuhe hatten einen spitzen Absatz und eine Goldschnalle an der Seite und waren eine halbe Nummer zu klein. So hatte ich sie mit Absicht gewählt, damit sie fest am Fuß saßen und auf den Treppen nicht rutschten. Es bestand keine Gefahr, innerhalb von so kurzer Zeit wunde Füße zu bekommen.

Ein letztes Mal kontrollierte ich mit der Hand den Inhalt meiner Tasche. Ich spürte das harte Metall zwischen meinen Fingern. Die Plastikflaschen und das Laken. Dann stand ich auf, lockerte meine eingeschlafenen Beine und dehnte die Muskeln, bevor ich losging.

Im Gegensatz zu den anderen Pieren war Pier O nicht umzäunt, um ungebetene Gäste fernzuhalten. Die größten Boote hatten ihre eigenen Wachmänner, aber es war auch üblich, dass der Skipper die Funktion eines Wächters übernahm, das hatte mir der Verkäufer in der Marina erzählt, als ich besorgt fragte, wie viel Personal so ein Boot erfordere. Der Chef wolle schließlich nicht eine Menge Menschen um sich haben, die ihm im Weg herumstanden, wenn er sich erholen wolle.

Ich stellte mich vor die Epona und rief leise: »He!«. Dann versuchte ich es mit einem Pfiff und einem erneuten »he!«, und schließlich warf ich einen kleinen Stein an die niedrige Tür am Heck des Schiffes. Nach einer Minute wurde die Tür geöffnet, und der Skipper streckte seinen zerzausten Kopf aus der Kapitänskajüte. Dahinter lag der Maschinenraum. Die dicken orange-gelben Kabel, die in einer Öffnung schräg vor seinen Füßen verschwanden, waren Stromkabel. Sie versorgten das Boot mit Elektrizität, wenn es am Kai lag. Mechanisch rief ich mir jedes Detail in Erinnerung.

»Worum geht es?«, fragte der Skipper auf Spanisch und kletterte hinaus. Er blinzelte mich an, wahrscheinlich hatte ich ihn geweckt. »Haben Sie sich verirrt?«

Ich legte den Finger auf den Mund und winkte ihn zu mir. Er ging einige Schritte über die Gangway, die sich heben und senken ließ, was praktisch war, wenn man im Meer baden wollte.

»Ich bin ein Geschenk für Alain Thery«, sagte ich auf Englisch und fuhr mit der Hand die elegante Seite des Kleides hinab, ließ sie an der exklusiven Rundung über der Hüfte liegen. Ich war nicht billig. »Regalo«, wiederholte ich sicherheitshalber auf Spanisch.

»Davon weiß ich nichts.« Er wechselte zu einem Englisch mit starkem Akzent.

»Dann wäre es ja auch keine Überraschung«, antwortete ich und hob den Fuß auf das Tau, welches das Schiff mit dem Kai verband, sodass das Kleid hochrutschte und meinen Slip entblößte. Weiß, mit Spitze, aus der Dessousabteilung des Kaufhauses. Zwischen mir und dem Schiff lagen nur eineinhalb Meter Wasser. Auf jeder Seite der Kapitänskajüte führten Treppen in das Cockpit. Vier Stufen. Ich konnte den chromfarbenen Tankdeckel des Dieseltanks am rechten Rumpf erkennen. Die Gangway war an der linken Seite, in der unteren Treppenstufe versteckt. Ich hoffte, der Skipper hatte die Fernbedienung dabei.

»Jetzt komm schon. Was glaubst du, was Alain sagt, wenn er erfährt, dass du ihn die halbe Nacht auf seinen Leckerbissen hast warten lassen!«

Der Skipper löste seinen Blick von dem weißen Punkt zwischen meinen Beinen, wandte mir den Rücken zu und ging die linke Treppe hinauf. Mit einem Sauggeräusch wurde die hydraulische Gangway ausgefahren.

Ich ging an Bord. Der Skipper lehnte sich an die kleine Gittertür oben an der Treppe. Er machte keine Anstalten, zur Seite zu gehen, als ich die letzte Stufe erreicht hatte. Die Glasfasern fühlten sich unter meinen Absätzen glatt und wackelig an. Sein Gesicht war dicht an meinem.

Ich steckte die Hand in die Tasche und schloss meine Finger um das runde Metall. Zog die Handschellen heraus und ließ sie vor seiner Nase baumeln.

»Es wird wild zugehen«, sagte ich. »Also untersteh dich, nach unten zu kommen und zu stören, wenn wir gerade am meisten Spaß haben.« Ich streifte seine Hand mit dem Metall.

»Wenn ich mit Alain fertig bin, komme ich zu dir hoch. Aber dafür musst du mir erst mal diese Tür öffnen.«

Der Skipper grinste und öffnete sie mit einem Klick.

»Braver Junge«, sagte ich und deutete auf die Brücke. »Wenn du die Leinen losgemacht hast, gehst du nach oben und legst ab. Einfach nur geradeaus. Du kennst das ja schon.« Ich drückte meinen Schenkel gegen seinen Schritt. »Und wenn du mich schreien hörst, denk immer schön daran, dass du als Nächster dran bist.«

Ich ging an ihm vorbei auf das Achterdeck, wo das Holz sonnengebleicht war, um nicht zu viel Hitze anzuziehen. Ein ausgezeichneter Platz für ein Frühstück in der Sonne. Vor den dunklen Glastüren wartete ich, bis der Skipper sie mir öffnete. Er fasste mir an den Hintern, als ich hineinging.

Der einfachste Trick der Welt, dachte ich. Und sie fallen jedes Mal darauf rein.

Meine Absätze sanken in den weichen Teppich, und ich musste mich an der Wand abstützen, bis ich die Balance wiedergefunden hatte. In die Wand eingelassene Lämpchen tauchten den Raum in ein sanftes Licht, das von den Spiegeln an der Decke reflektiert wurde. Ich ging geradeaus weiter, an edlen Barhockern und italienischen Ledersesseln vorbei. Aus der Wand konnte bei Bedarf ein 42-Zoll-Flachbildschirm ausgefahren werden. Die Leinengardinen vor den Fenstern waren zur Seite gezogen, und ich sah das Licht der Strandbars glitzern und sich auf der Wasseroberfläche spiegeln. Der Himmel war sternenklar, die Nacht windstill.

Direkt vor mir sah ich den Steuersitz und die Armaturen mit Radar, GPS und Steuer und allem, was es noch brauchte, um über das Meer zu fliegen. Eine Treppe aus Plexiglas führte zum zweiten Steuersitz am Oberdeck. Ich spürte die Nähe des Skippers zwei Meter hinter mir und drehte mich um. Sein Blick landete auf meiner Brust.

»Warte noch einen Moment, bis du den Motor startest«, sagte ich und senkte die Stimme, »damit du die Überraschung nicht kaputt machst.«

Er kratzte sich im Nacken und grinste.

»Wir möchten ein bisschen für uns sein, also setz dich da oben hin und fahr.« Ich zeigte auf die Treppe, die nach oben führte. »Wir sehen uns dann in ein paar Stunden, okay?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete der Skipper und ließ lasziv die Zunge in seinem offenen Mund kreisen.

Ich wartete, bis er auf dem Oberdeck verschwunden war, bevor ich die schmale Holztreppe hinabstieg, die zu den Schlafzimmern führte.

Ich hielt den Atem an, als ich vorsichtig die Tür zum VIP-Gästezimmer öffnete. Das Licht aus dem Flur fiel herein und wurde vom Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers reflektiert. Das Bett war leer. Ich nahm mir die beiden kleineren Schlafzimmer in der Mitte vor, die eigentlich für Kinder gedacht waren. Eines davon war zum Büro umgebaut, mit einem Schreibtisch und einem PC mit großem Bildschirm, in dem anderen stand ein leeres Gästebett. Alain Thery hatte allem Anschein nach keine Kinder; zumindest keine, die zu Besuch kamen.

Ich atmete mit offenem Mund, als ich die beiden Treppenstufen hinab zum master bedroom stieg, das am Bug lag, rief mir die Einrichtung in Erinnerung und hoffte, das nichts umgebaut worden war.

Dann spürte ich eine schwache Bewegung, als ob die Welt zuckte. Das musste bedeuten, dass die Yacht vom Kai losgemacht worden war.

Vorsichtig drückte ich den Handgriff der massiven Eichentür nach unten. Sie glitt ohne einen Laut auf, es gab nur einen schwachen Lufthauch, als hätte das Schiff Atem geholt.

Ein breites Doppelbett dominierte den Raum, sein Körper zeichnete sich unter der Bettdecke ab. Regelmäßige Atemzüge. Er schlief. Ich dankte dem weichen Teppich, als ich lautlos eintrat und im schwachen Licht des Flurs alle Details aufnahm. Wandregale und Schränke aus Kirschholz. Die erste Tür auf der linken Seite war ein begehbarer Wandschrank, die andere führte in ein Badezimmer mit Whirlpool. Die Decke war verspiegelt, und über dem Kopfende des Bettes hingen Leselampen, die mit gebogenen, rostfreien Halterungen an der Wand befestigt waren.

»Zeit aufzuwachen, Alain.«

Genau in diesem Moment begann die Yacht zu schaukeln, und ich hörte den Motor und spürte den Ruck, als sie Fahrt aufnahm. Höchstgeschwindigkeit zweiunddreißig Knoten.

Alain Thery hob den Kopf, öffnete seine Augen und blinzelte gegen das Licht, und ich hoffte, dass er nicht mehr als meine Silhouette wahrnehmen konnte. Er hielt die Hand über die Augenbrauen.

»Hi, Alain«, sagte ich sanft. Ich hatte mich für Englisch mit einem leichten Akzent entschieden.

»Was soll das?«, fragte er. »Wer ist da?«

»Ich bin ein Geschenk für dich«, antwortete ich, hob die Handschellen hoch und ließ sie baumeln, damit er ihre Kontur erkennen konnte.

»Was zum Teufel ...?«

Alain Thery schlug an die Wand hinter sich, und die Bettlampen gingen an.

»Wer bist du? Sind wir uns schon mal begegnet?«

Ein einziges Mal, in gedämpfter Nachtclubbeleuchtung, dachte ich und hoffte inständig, dass ich zu unbedeutend gewesen war, um ihm in Erinnerung geblieben zu sein, und dass meine Maske raffiniert genug war.

»Wollen wir uns unterhalten oder lieber miteinander spielen?«, fragte ich und hob meine freie Hand, öffnete die Haarspange und schüttelte den Kopf, damit sich mein Haar löste.

Er richtete sich auf und streckte mir die geöffnete Hand entgegen. »Dann mal her damit«, befahl er.

Die Haare auf seinem Kopf waren dünn und der Haaransatz hoch, er war bleich und wirkte aufgedunsener als in seinem Designeranzug. Die hellen Augen bohrten sich in meinen Körper, und ich konnte mir vorstellen, wie es sich unter der Decke regte.

»Du zuerst«, sagte ich und ging mit übertriebenem Hüftschwung zum Kopfende des Bettes. Er zog unter der Decke die Knie an und spreizte sie. Ich konnte hören, wie sein Atem schwer und heiser wurde.

»Wessen Idee war das denn?«, fragte er. »Vincents?«

Ich beugte mich vor und packte sein Handgelenk. Ich ließ seinen Blick nicht los, die weißen Augen waren fast durchsichtig, und er rückte grinsend in die Mitte des Bettes und fuhr mit seiner Hand an meinen Beinen hoch. Ich biss die Zähne zusammen und zog seinen Arm nach oben, zur Lampe. Klick, und die Hand war fest.

Die andere Hand bahnte sich gerade ihren Weg in meine Unterhose, und ich wand mich und rammte mein Knie gegen seinen Arm. Er durfte auf keinen Fall die Plastiktüte mit meinen letzten, zusammengerollten Scheinen dort fühlen. Ich gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Hand. »Pfui«, sagte ich. »Du bist noch nicht an der Reihe.«

Dann holte ich das andere Paar Handschellen aus der Tasche. Alain Thery entwich ein schwaches Stöhnen.

»Ich werde dir weh tun«, sagte ich, als ich auf die andere Seite des Bettes ging und von dort aus seine linke Hand packte. »Und zwar richtig.«

Klick.

»Ein Geschenk von wem?«, fragte er und lachte auf.

Ich trat ein paar Schritte vom Bett zurück, damit er mich nicht mit den Füßen erreichen konnte.

»Von Patrick Cornwall«, sagte ich.

Es dauerte einige Sekunden, bis die Information in Alain Therys Gehirn vorgedrungen und die entsprechenden Signale gesendet hatte, woraufhin ihm die Kinnlade herunterfiel, er seine Augen aufriss und begann, mit den Armen an den Handschellen zu rütteln.

»Was zum Teufel ...!«

Ich lächelte und registrierte, das nun auch die nächste Information bei ihm angekommen war.

»Du bist das, du verdammte Hure. Hast du in Tarifa etwa nicht genug bekommen? Was? Haben sie dir nicht gesagt, was sie mit dir machen werden?« Er riss und zerrte, aber die Bettlampen waren fest mit der Wand verschraubt. Höchster Standard, ausgesuchte Qualität.

»Was willst du? Das ist kriminell, was du hier machst, schließ die Dinger auf, bevor ich ...«

»Bevor du was, Alain? Bevor du deinen Männern sagst, dass sie mich ins Meer werfen sollen?« Ich setzte mich auf einen kleinen Lederhocker und hob die Goldtasche auf meine Knie.

»Ich verstehe nicht, wovon du redest«, sagte Alain Thery. »Du bist verwirrt. Mach mich los, bevor ich zu unangenehmen Mitteln greifen muss.«

»Wie bei Patrick Cornwall?«

»Er hätte sich eben nicht aufs Meer begeben dürfen.« Alain Thery versuchte, seine Hände aus den Handschellen herauszuwinden, doch sie waren zu breit. Proletarierfäuste aus Pas-de-Calais.

»Falsch, Alain«, sagte ich. »Er hat sich nie aufs Meer begeben.«

Er hielt in der Bewegung inne und ich sah, wie er nach einem Gesichtsausdruck suchte, der einem Mann in seiner Position angemessen wäre.

»Ich bin Geschäftsmann, ich kenne Leute in der französischen Regierung, im EU-Parlament und hier an der Küste. Einflussreiche Menschen.«

»Das glaube ich gern, aber die sind jetzt nicht hier, oder?« Ich sah mich in alle Richtungen um. »Nur du und ich, allein, also rück damit raus: Sie haben ihn mit aufs Meer genommen, oder? Nachdem sie Michail Jetjenko von der Terrasse gestoßen hatten, sind sie Patrick in die Gassen gefolgt. Konnten sie ihn einholen, oder haben sie auf ihn gewartet, als er zum Hotel zurückkehrte? Und woher wusstet ihr eigentlich, dass die beiden sich treffen wollten?«

»Du bist doch krank im Kopf.« Er zerrte und strampelte so sehr, dass die Decke von ihm herabglitt und seine Nacktheit entblößte. Ich ließ meinen Blick über seinen bleichen Körper wandern, doch alles, was ich sehen konnte, war Patricks nackter Körper am Ufer. Ich steckte die Hand in die Goldtasche und holte eine der beiden großen Plastikflaschen hervor. Ich schraubte den Deckel ab und schnupperte demonstrativ am Inhalt.

»Ich denke an den Brand im Hotel in Saint-Ouen. Siebzehn Menschen starben dabei, Alain. Es wohnte ein kleiner Junge dort, der davon träumte, ein Zidane zu werden. Aber jetzt spielt er nie wieder Fußball, weil du ein Exempel statuieren wolltest. Deshalb hast du deine Männer dorthin geschickt, um das Hotel anzuzünden und dafür zu sorgen, dass niemand entkommt, stimmt’s? Damit alle Menschen wissen, was passiert, wenn man versucht, aus deinen Menschenlagern zu flüchten.«

»Jetzt schließ die Dinger auf. Gib mir die Schlüssel, dann lasse ich dich vielleicht entkommen.«

»Wie sollte das bitte gehen? Wir sind ein gutes Stück vom Hafen entfernt.«

»Was?!« Er warf den Kopf hin und her, und sein Blick blieb an den kleinen Fenstern hängen. Draußen war nur die Dunkelheit zu sehen. Keine benachbarte Yacht, keine glitzernden Nachtclubs.

»Wir könnten natürlich schwimmen«, sagte ich, »aber mir ist zu Ohren gekommen, dass das nicht zu deinen Stärken gehört.«

Die Bewegung der Yacht stoppte sanft, und die leichte Vibration des Motors war nicht mehr zu spüren. Ich stand auf. Schüttelte die Flasche ein wenig, sodass etwas Benzin auf den Teppich spritzte. Der scharfe, chemische Gestank erfüllte innerhalb von Sekunden den ganzen Raum.

»Was zum Teufel machst du da? Was hast du vor? Ich war das nicht.« Seine Stimme überschlug sich hysterisch. »Diese Typen, die sind durchgedreht, sie wollten ihn nicht umbringen, ich hab ihnen gesagt, dass sie mit ihm reden sollen, ihn dafür bezahlen, dass er mit seinen verdammten Artikeln aufhört, hör auf, in Gottes Namen, du bist ja vollkommen übergeschnappt!« Alain Thery wand sich und warf sich auf dem Bett hin und her, er strampelte und rückte nach links, soweit wie möglich von der Benzinspur weg, die ich langsam am rechten Bettrand vergoss.

Am Nachmittag hatte ich mir an einer Tankstelle in der Nähe des Busbahnhofs von Tarifa einen Reservekanister gekauft und mich auf ein verwildertes Grundstück mit Aussicht aufs Meer gesetzt. Bevor ich aufgebrochen war, hatte ich das Mineralwasser aus zwei Plastikflaschen gegossen und sie mit Benzin gefüllt. Dann hatte ich den Kanister zwischen das Gestrüpp geworfen und war zum Busbahnhof gegangen, in den in diesem Moment gerade der Bus nach Algericas einfuhr.

»Ramón zum Teufel, Ramón, komm her!« Alain Thery schrie, so laut er konnte. »Ich bring dich um, du verdammte Hure. Ramón!«

Ich füllte meine Lungen mit Luft.

»Jaa jaa«, schrie ich noch lauter. »Bring mich um, Alain, schlag mich härter, töte mich!«

Alain Thery starrte mich an. »Was veranstaltest du da?«

Ich lachte. »Ich will deinem Kumpel nur versichern, dass wir unseren Spaß haben.«

Seine Augen verschmälerten sich zu engen Schlitzen.

»Hast du etwa nicht genug bekommen in Tarifa?«, fragte er. »Willst du wissen, was meine Freunde mit dir anstellen, wenn sie mich so vorfinden?«

»Wenn sie dich finden«, sagte ich, »werden sie dich nicht mehr wiedererkennen.« Ich verspritzte das Benzin über sein Laken und Alain Thery schrie auf, als sein Bein nass wurde.

»Was willst du von mir, was soll ich tun? Ich habe Geld, wie viel willst du?«

»Was ist das alles denn wert?«, fragte ich. »Was kostete der Immigrant James?«

Alain Thery lachte auf, ein irres Lachen, das laut und hohl widerhallte, bevor es vom weichen Teppich erstickt wurde. »Du bekommst natürlich mehr.« Er sah mich flehend an. »Alle wissen doch, dass diese Leute lügen.«

Ich hielt die Plastikflasche nach oben, sodass das Benzin im Licht der Bettlampen glitzerte. Ich drückte sie an meine Wange und spürte den Rausch, den Wahnsinn, der in dem starken Geruch lag, wenn man seine Dämpfe zu tief einatmete.

»Und Mary Kwara?«, fragte ich. »Was habt ihr mit ihr gemacht? Habt ihr sie auch ins Meer geworfen?«

»Wer ist das?«, fragte Alain Thery. »Ich kenne keine Mary.«

Ich ging am Fußende des Bettes entlang und goss mit der Flasche eine geringelte Spur auf den Teppich, dann setzte ich meine Arbeit auf der linken Seite des Bettes fort. Alain Thery wimmerte. Ich hörte auf zu gießen und lehnte mich an die Wand, sah das erbärmliche Flehen in seinem Gesicht.

»Du hättest seine Angaben einfach dementieren können«, sagte ich. »Du hättest dir Zeugen kaufen können, die Polizei bestechen, die Zeitungen verklagen und ihre Anwälte zu Tode erschrecken. Aber du musstest ihn umbringen, du konntest ihn nicht frei herumlaufen lassen. Warum? Weil er dich damals beim Essen gestört hat?«

»Ich bin Geschäftsmann«, jammerte Alain Thery. »Ich muss an meine Geschäfte denken.«

»Hast du denn nicht schon genug Geld? Aber es ist nicht nur das, es ist auch die Macht, oder? Du geilst dich daran auf.« Ich schüttete gezielt einen Schwall Benzin zwischen seine Beine. Alain Thery schrie auf und versuchte sich zu schützen, verzweifelt wand er sich und brüllte.

»Ja, peitsch mich aus, töte mich«, schrie ich zur Decke. Alain Thery spuckte in meine Richtung, verfehlte sein Ziel aber um mindestens einen Meter.

»Negerhure«, zischte er. »Die Nigger glauben, sie sind besonders schlau, aber dieser Idiot hatte keine Ahnung, mit wem er sich anlegte. Er merkte nicht einmal, dass ich ihn verfolgen ließ, auch dann nicht, als sein Telefon in Lissabon auf offener Straße geklaut wurde, typisch Ami, ein Journalist, der jeden seine SMS lesen lässt. Aber er dachte, er wäre etwas Besonderes, schlauer als ich.« Er hob das Kinn und sah mich mit blutunterlaufenen Augen an, der Speichel rann ihm aus dem Mund. Er ähnelte einem Hund, einer angeketteten Kreatur, keinem Menschen. Ich hielt das Feuerzeug fest in der Faust.

»Ich habe ihnen gesagt, dass sie weit rausfahren sollen«, zischte er. »Fahrt ihn in die Mitte, Richtung Heimat, ins verdammte Afrika, sagte ich, und schmeißt ihn dort ins Wasser. Sie sagten, er hätte geschrien wie ein Schwein auf der Schlachtbank, als sie ihn ins Meer warfen.«

Ich bückte mich langsam und hob eine Boxershorts aus roter Seide auf, die auf dem Teppich lag. Knüllte sie zusammen, ging einen Schritt vor und stopfte sie ihm in den weitaufgerissenen Mund.

Schweig, du Drecksau.

Er warf seinen Kopf hin und her und bäumte sich auf, um nach mir zu treten, aber er konnte mich nicht erreichen. Ich betrachtete den Mann, der sich auf dem Bett wand, seine bleiche Haut und seine aufgerissenen Augen, seinen Bauch, der sich über einen zusammengeschrumpften Stummel wölbte. Und ich sah die Uhr an seinem Arm, die teuren Holzarten in der Kajüte, den Reichtum, in dem er sich suhlte.

»Was für ein elendiges Gewürm du bist, du kleines widerliches Ekel«, sagte ich. »Was um alles in der Welt lässt dich glauben, dass du mehr wert bist als Patrick und alle anderen, die für diese Sache gestorben sind.«

»Grmpf«, antwortete er.

Ich hob erneut die Plastikflasche.

»Für Salif«, schrie ich und spritzte ihm das Benzin ins Gesicht. »Für Checkna, Sambala und den kleinen fußballbegeisterten Jungen, für Mary Kwara ...«

Ich streckte meinen Arm aus und richtete den Strahl direkt auf die rote Seide in seinem Mund.

»Für Patrick.«

Eine Sekunde lang blieb ich stehen und sah zu, wie sich die Seide dunkel färbte. Der Tod spiegelte sich in seinem Blick. Ich fühlte nichts. Nicht einmal Zweifel.

Ich ließ das Feuerzeug aufflammen und hielt es in seine Richtung.

»Schmor in der Hölle«, sagte ich und bückte mich. Die Flamme erreichte das Benzin auf dem Teppich und loderte auf.

Alain Thery presste erstickte Schreie hervor, als das Feuer sich seinen Weg über den Boden bahnte. Ich entfernte mich rückwärts mit schnellen Schritten. Das Letzte, was ich sah, bevor ich die Tür zuschlug, war ein verzerrtes Gesicht, das sich an die Wand presste, zappelnde Beine, als die Flammen das Bett erfassten.

Ich streifte mir die Schuhe mit den Stilettos ab und rannte barfuß durch den Flur und die Treppe hinauf. Ich warf einen Blick auf die Plexiglastreppe, die zur Flybridge hinaufführte, wo der Skipper saß. Die Tür würde den Rauch nur für kurze Zeit abhalten, die Rauchmelder konnten jeden Moment losgehen.

Ich rannte um die Küche herum, durch die Bar, und stieß die Glastüren zur schwarzen Nacht auf. In der Ferne sah ich die Lichter des Strandes und versuchte, mich daran zu orientieren, während ich die Treppe auf der rechten Seite hinabrutschte. Steuerbord, sagte eine Stimme in meinem Inneren, im aufgesetzt freundlichen Ton des Yacht-Verkäufers. So nennen wir das auf See.

Europa musste der Kontinent sein, der vor mir lag, stellte ich fest, während ich mich vorbeugte und den Tankdeckel packte und mit aller Kraft drehte. Tausende von Lichtern glitzerten dicht gedrängt entlang der Küstenlinie, ein Leuchtturm blinkte direkt vor mir. Die Entfernung ließ sich nicht genau abschätzen, aber es handelte sich höchstens um einen Kilometer, vielleicht sogar weniger. Achteraus waren die Lichter Afrikas sichtbar, entlegene, vereinzelte Katzenaugen, die in der Dunkelheit aufblitzten. Die Positionslichter eines Schiffes schaukelten in der Ferne und verschwanden. Der Tankdeckel war fest zugeschraubt. Ich fasste ihn mit beiden Händen. Im selben Moment begann der Feueralarm zu schrillen, ein kreischender Ton, der durch und durch ging und den gesamten Raum zwischen Himmel und Wasser erfüllte.

Jetzt rennt der Skipper nach unten, dachte ich. Durch die schwarzen Glastüren konnte ich nicht sehen, was im Inneren des Schiffs vorging. Vielleicht sieht er den dichten Rauch, der unter der Tür hervorquillt. Er muss versuchen, das Feuer zu löschen. Die Marquis ist mit Feuerlöschern in jedem Zimmer ausgestattet, aber es wird eine Zeit dauern. Zwei Minuten, mindestens, vielleicht mehr. Vielleicht weniger. Dann würde mir Ramón nachkommen. Oder beide. Wenn der Spanier das Feuer schnell genug löscht und es dann rechtzeitig in den Maschinenraum schafft, um mit dem Werkzeug von dort seinen Chef zu befreien. Vielleicht kämen sie direkt auf die Flybridge gelaufen, um den Tender zu Wasser zu lassen, das Beiboot, mit dem sie sonst nach Niki Beach gelangten oder Wasserski fuhren, vermutlich ein Gummiboot mit Jetantrieb. Damit könnten sie sich an Land retten, und Alain Thery würde schon bald wieder im Taillevent tafeln.

Verdammter Tankdeckel. Meine Hände waren eisig vor Kälte. Ich drehte und zerrte, aber der Deckel gab nicht nach. Das hatte ich schon befürchtet, als ich ihn auf dem Ausstellungsschiff in der Marina inspiziert hatte. Das Werkzeug, das man in zwei kleine Öffnungen schieben konnte, um den Deckel leichter zu öffnen, hatte der Verkäufer nicht finden können.

Der Alarm erfüllte die Nacht mit gellendem Schrillen. Mir fiel der Himmel auf den Kopf.

Ich stemmte mich mit all meinem Gewicht gegen den Deckel, und endlich spürte ich, wie er sich aus dem Gewinde löste und herausdrehte. Ich hielt ihn in der Hand. Der Dieseltank lag offen vor mir. Ich schleuderte den Tankdeckel ins Meer und zerrte das Betttuch und die zweite Plastikflasche aus meiner Tasche, die ich ebenfalls ins Meer warf. Ich lauschte kurz und meinte, durch den Alarm hindurch Männer schreien zu hören. Doch es konnten auch allein Alain Therys erstickte Schreie sein, die in meinem Kopf nachhallten, und ich steckte das eine Ende des benzingetränkten Lakens in den Dieseltank, mit steifen Fingern und zitternden Händen. Es genügte nicht, ein Streichholz in einen Dieseltank zu werfen, hatte mir der Verkäufer erklärt. Diesel war nicht so leicht entzündlich wie Benzin. Um die Brandsicherheit brauche sich mein Chef jedenfalls keine Sorgen zu machen. Das werden wir ja sehen, hatte ich gedacht, während ich eingehend die Dieseltanks begutachtete, die jeweils zweitausendfünfhundert Liter fassten, und mir das Bild von einem Molotow-Cocktail in den Sinn kam, ein getränktes, brennendes Stück Stoff in einer benzingefüllten Flasche.

Mit dem Feuerzeug zündete ich die äußerste Spitze des Lakens an. Das Benzin flammte auf und ließ den Stoff brennen, eine sich ringelnde Flamme, die sich in Windeseile dem Tank näherte.

Ich hüpfte von der letzten Treppenstufe hinab und rannte zu der Gangway hinüber, die so praktisch war, wenn man im Meer baden wollte. Als ich das Kleid bis zur Taille hochzog und eintauchte, war ich mir sicher, Schreie zu hören.

Das Wasser umschlang mich, eiskalt und schwarz, ich glitt durch ein widerstandsloses Nichts. Die Stille unter Wasser befreite mich von dem Alarm und den Schreien, und ich stieg nur widerwillig an die Oberfläche, als meine Lungen nach Sauerstoff verlangten. Der Lärm warf sich erneut über mich, und ich konnte nur noch daran denken, von dem Schrillen wegzukommen, so weit wie möglich, bevor die Druckwelle kam. Mein Körper erinnerte sich an den Rhythmus der Schwimmzüge und die Kraft meiner Beine, als ich mich abstieß, und ich schwamm dem Licht in der Ferne entgegen, schwamm, wie ich es seit der Zeit der Schulmeisterschaften nicht mehr getan hatte. Effektiv Schwimmen, nicht nachgeben, dem Gegner keine Chance lassen, den Vorsprung aufzuholen, das Ziel anvisieren, die Energie einteilen. Die Länge einer Bahn war in meinem Körper einprogrammiert. Ich war dreißig Meter vom Boot entfernt, als der Knall kam und das Wasser gelb und orange explodierte. Ich tauchte, um der Druckwelle zu entgehen, und spürte, wie sie von hinten herannahte. Wie ein Projektil wurde ich nach vorne katapultiert und in einem endlosen Wirbel herumgeschleudert. Als ich keine Luft mehr in den Lungen hatte, stieg ich an die Oberfläche und sah, wie das Meer brannte. Die Hitze erreichte mich als warmer Wind, der über das Wasser fegte.

Die Spitze des schlanken Bugs war das Einzige, was von Alain Therys 69-Fuß-Marquis zu sehen war, der Rest war eine Feuersbrunst und dichter, schwarzer Rauch. Der Alarm war verstummt. Ich hörte Motorengeräusche von links, wo ich in der Ferne den Felsen von Gibraltar erahnen konnte. Ein Motorboot näherte sich in hohem Tempo, viel wichtiger aber war mir, dass sich kein kleines Gummiboot von der Yacht entfernte.

Ich strampelte weiter im Wasser und entdeckte, dass sich die Dunkelheit im Osten etwas gelichtet hatte. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Die Asche würde sich auf die Meeresoberfläche legen, und die verformten Reste der Glasfasern würden an Land geschwemmt, vielleicht auch die Leichen derer, die im Meer gestorben waren.

Ich wandte mich wieder nach Norden und schwamm mit regelmäßigen Zügen in Richtung Land.