PARIS

FREITAG, 26. SEPTEMBER

Die Anwältin Sarah Rachid spähte über den Platz hinweg zum Restaurant, in dem ich saß. Ich erriet sofort, dass sie es war. Etwas an ihrer Eile, ihren Schritten sagte es mir.

»Eigentlich habe ich keine Zeit für so was«, begrüßte sie mich, nachdem ich sie zu meinem Tisch gewunken hatte. Sie setzte sich und streifte ein paar feine Handschuhe ab, ich registrierte einen einfachen Ehering aus Gold.

»Es ist wahnsinnig nett, dass Sie sich mit mir treffen«, sagte ich.

Sarah Rachid musterte mich misstrauisch und richtete ihren Blick dann auf die Tageskarte, die auf einer Schiefertafel angeschrieben war. Auch über die Gerichte schien sie nicht sonderlich begeistert.

Ihre Antwort auf meine Mail war kühl und förmlich gewesen. Sie schrieb, dass sie keine Zeit habe. Aufgrund ihrer anwaltlichen Schweigepflicht könne sie sich nicht äußern. Wenn es unbedingt nötig sei, könne sie das bei einem Mittagessen näher erläutern. Eigentlich habe sie keine Zeit (wie sie ein zweites Mal schrieb), aber sie werde am heutigen Freitag um dreizehn Uhr sowieso im Patio’s Place auf dem Place de la Sorbonne essen.

Und am Ende ein förmliches: Bitte bestätigen Sie den Erhalt dieser Nachricht.

Sarah Rachid winkte den Kellner zu sich.

»Ich verstehe nicht, warum Patrick meinen Namen weitergegeben hat«, sagte sie. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht zitiert werden will.«

»Also kennen Sie ihn?«

»Warum fragen Sie das?«

Der Kellner brachte einen Brotkorb und zwei Wasserflaschen. Sarah Rachid bestellte das Tagesgericht, Cassoulet de Maison, und ich tat es ihr gleich, ohne zu wissen, was sich hinter dem Namen verbarg. Schweigend brachen wir beide ein Stück von unserer Brotscheibe ab.

»Ich habe von diesem Fall mit dem Mädchen gelesen, das als Haushaltssklavin gehalten wurde«, sagte ich, um sie ein wenig aus der Reserve zu locken. »Es ist einfach fantastisch, dass Sie ihr helfen konnten, eine Entschädigung einzuklagen.«

»Ich spreche grundsätzlich nie über meine Fälle.«

»Aber ich habe gesehen, dass Sie sich der Zeitung gegenüber geäußert haben. Es muss doch ein großer Erfolg für Sie gewesen sein.«

»Ich wusste vorher nicht, dass sie mich zitieren würden.«

Zwei dampfende Schüsseln mit Fleisch und Gemüse in einer fettigen Sauce wurden vor uns auf den Tisch gestellt.

»Ich bin Juristin und widme mich ganz meinem Beruf«, erklärte Sarah Rachid und tunkte das Brot in die Sauce. »Ich benutze die Medien nicht als Plattform, um meine Argumente auszuspielen. Ich bin der Meinung, dass in diesem Land die Gerichte Recht sprechen sollten, nicht die Presse, das Radio oder das Fernsehen.« Sie warf mir einen feindseligen Blick zu. »Sie mögen meinen Standpunkt vielleicht altmodisch finden.«

»War Patrick auch dieser Meinung? Oder wollte er, dass Sie sich äußern?«

»Er hatte Verständnis, als ich sagte, dass ich es nicht wollte. Davon abgesehen war ich ihm nur mit ein paar Fakten behilflich. Er versprach mir, dass das vollkommen off the record laufen würde

»Was denn?«

»Wie bitte?«

»Was war off the record?«, fragte ich. «Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen all diese Fragen stelle, aber wir können Patrick derzeit nicht erreichen.«

Sarah Rachid tupfte sich den Mundwinkel mit der Serviette ab und wandte den Blick ab. Ihr Gesicht war länglich und die Mundwinkel zeigten nach unten. Das verlieh ihr ein missmutiges Aussehen, was dadurch verstärkt wurde, dass sie wirklich sauer war.

Ich stocherte in meinem Eintopf herum und biss in etwas, das aussah wie ein kleines Hühnerbein und einen strengen, intensiven Geschmack hatte.

»Was für ein Vogel ist das hier eigentlich?«

Sarah Rachid warf einen schnellen Blick auf den Knochen, von dem die fettige Brühe herabtropfte.

»Kaninchen«, sagte sie.

Ich ließ das Tier wieder in die Suppenschale plumpsen und angelte mir stattdessen ein Stück Karotte.

»Verteidigen Sie eigentlich hauptsächlich Migranten?«, fragte ich, um sie zum Reden zu bringen.

»Warum? Weil ich selbst eine bin, meinen Sie?«

Ihre Augen verengten sich zu einem schmalen Schlitz. Offensichtlich hatte ich das falsche Thema angeschnitten.

»Ich wusste nicht, dass Sie Migrantin sind«, sagte ich.

»Ich habe vielleicht einen arabischen Namen, aber ich bin in diesem Land geboren. Ich bin Juristin, und ich erledige meine Arbeit, das ist alles.«

Sarah Rachid starrte angestrengt in ihren Eintopf, während sie aß.

»Ich verstehe genau, was Sie meinen«, sagte ich, »ich heiße ja Sarkanova, und früher fragten mich auch immer alle, woher ich eigentlich komme.«

Sarah Rachid sah mich einige Sekunden lang schweigend an.

»Und jetzt haben sie plötzlich damit aufgehört?«

»Bitte?«

»Sie sagten, früher hätten die Leute gefragt.«

Ich hustete so sehr, dass das Gemüse beinahe wieder seinen Weg nach draußen gefunden hätte.

Das war einer der Vorteile gewesen, die mit meiner Heirat einhergegangen waren. Als ich begann, mich als Ally Cornwall vorzustellen, wurde ich mit ganz neuen Fragen konfrontiert, wie etwa, in welchem Stadtteil von New York ich aufgewachsen sei und was ich arbeitete.

»Wahrscheinlich reagiere ich einfach nicht mehr so sehr darauf«, sagte ich und sah durch die Fensterscheibe nach draußen. Der Platz war stilvoll angelegt und sauber, mit Reihen von sprühenden Fontänen. Drei struppige Tauben waren damit beschäftigt, ihre Flügel in dem Wasser am Grund des Brunnens zu waschen.

Auf irgendeine Weise kann man sich jedem Menschen annähern, dachte ich. Diese Frau war so unzugänglich wie ein Abrissgrundstück in Downtown Manhattan. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Patrick sie wohl zum Reden gebracht hatte. Mit seinem Ernst, dachte ich, und seinem bedingungslosen Engagement; mit dieser Fähigkeit, seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, wichtig zu sein, wahrgenommen zu werden. Mein Magen krampfte sich zusammen.

»Patrick hat noch keine fertigen Texte geliefert«, sagte ich, »aber ich verspreche, alles zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass Ihr Name nicht erwähnt wird. Normalerweise bricht er solche Versprechen nicht.«

Der Kellner kam zu unserem Tisch, und ich schob den Kanincheneintopf beiseite und bat um einen doppelten Espresso. Sarah Rachid bestellte Tee.

»Ich habe ihm mit einer Reihe Fakten darüber geholfen, wie unser Rechtssystem in solchen Fällen funktioniert, das war alles«, sagte sie, als der Kellner wieder gegangen war. »Die Rechtslage gestaltet sich natürlich kompliziert, wenn es um Menschen ohne Papiere geht.«

»Inwiefern?«

Sie nahm einen Schluck Mineralwasser.

»Ich kann Ihnen dazu keine einfachen Antworten geben. Dasselbe habe ich ihm auch gesagt. Es kommt darauf an, um was für einen Fall es geht, unter welchen Bedingungen die Person hier lebt, ob ein Einkommen und der Lebensunterhalt in irgendeiner Weise garantiert sind und ob die betreffende Person – abgesehen von ihrem illegalen Aufenthalt im Land – straffällig geworden ist. Die Gesetze ändern sich außerdem, insbesondere unter dieser Regierung.«

Ich kramte Papier und Stift aus meiner Tasche hervor und begann, mir Notizen zu machen, um die Rolle derjenigen zu erfüllen, für die ich mich ausgegeben hatte. Wenn sie über die Rechtsprechung reden durfte, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Im Allgemeinen musste man mit einer Ausweisung rechnen, wenn man sich illegal im Land aufhielt. Wer entdeckt wurde, wurde sofort festgenommen und in ein garde à vue gebracht, eine Art Untersuchungsgefängnis, von denen eines neben dem Justizpalast auf der Île de la Cité lag. Wenn der Festgenommene einen gültigen Pass vorweisen konnte oder jemand dafür bürgte, dass er eine Arbeit und Unterkunft hatte, wurde er vorläufig freigelassen – andernfalls mit sofortiger Wirkung abgeschoben. Wenn es Schwierigkeiten bereitete, die Identität festzustellen, durfte man den illegalen Immigranten laut einer neuen EU-Regel bis zu 18 Monate lang einsperren. Das achte Bureau bei der Préfecture de Police war auf diesen Bereich spezialisiert.

»Sie können natürlich jederzeit versuchen, mit denen zu sprechen«, sagte Sarah Rachid und faltete ihre Serviette zusammen, »aber ich habe meine Zweifel, dass man Ihnen dort auf Ihre Fragen antworten wird.«

»Hat Patrick gesagt, über welche Menschen er schrieb?«, fragte ich und versuchte ein Lächeln. »Es mag merkwürdig erscheinen, dass wir nichts darüber wissen. Früher konnten wir stundenlang zusammensitzen und die unterschiedlichen Aufhänger für eine Reportage diskutieren. Für so etwas ist heute keine Zeit mehr. Und Patrick ist ja Freelancer und geht seine eigenen Wege.«

Die Anwältin zog ihre Augenbrauen hoch, nahm einen Zahnstocher aus einem Etui und nestelte sorgfältig einen Fleischfetzen zwischen ihren Zähnen heraus.

»Er hat mich vor knapp vier Wochen kontaktiert«, sagte sie schließlich. »Er fragte, ob ich die Verteidigung für einige Personen übernehmen könnte. Aber es liegt nicht in meiner Hand zu entscheiden, welche Fälle die Kanzlei annimmt.«

Ich hielt den Atem an, um sie nicht zu stören und einen erneuten Rückzug ihrerseits auszulösen.

»Dann hatte er einige Fragen darüber, was passiert, wenn ein illegaler Einwanderer als Zeuge gegen eine kriminelle Organisation aussagt, ob er dann im Land bleiben darf. Ich sah keinen Grund, nicht auf die Fragen zu antworten – natürlich nur unter der Bedingung, dass er mich nicht zitierte.«

»Und danach haben Sie ihn nicht wieder getroffen?«

»Ich verstehe Ihre Fragen nicht«, sagte Sarah Rachid und rührte in ihrem Tee.

Ich dachte fieberhaft nach und kam zu dem Schluss, es mit ihren eigenen Waffen zu versuchen. Gesetze und Formalitäten.

»Ich nehme an, die Schweigepflicht betrifft alle Klienten, die Sie vertreten?«, fragte ich.

»Alle, die von der Kanzlei vertreten werden«, korrigierte sie.

»Aber Sie haben die Verteidigung der Menschen, von denen Patrick sprach, nie übernommen?«

»Ich habe ihm gesagt, dass er den offiziellen Weg gehen muss.«

»Also gibt es eigentlich keinen Grund, der Sie daran hindert, mir von diesen Menschen zu erzählen«, stellte ich fest und goss etwas mehr Milch in meinen Kaffee. »Davon abgesehen, dass Sie mich für eine hoffnungslose, herumschnüffelnde Idiotin halten.«

Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Sie nahm einige kleine Schlucke von ihrem Tee.

»Mein Bruder hat ihm meinen Namen gegeben«, sagte sie, »obwohl er weiß, was ich von Journalisten halte. Die Medien übernehmen keine Verantwortung. Sie meinen, die Justiz sei zu umständlich, zu langsam. Sie vereinfachen und machen Druck, wollen etwas schreiben, bevor der Prozess überhaupt begonnen hat, verurteilen, bevor ein Urteil gefällt wurde.«

»Also hat Ihr Bruder ... wie, sagten Sie noch, war sein Name?«

»Den habe ich Ihnen nicht genannt.«

»Aber er hatte ebenfalls Kontakt zu Patrick?«

»Er arbeitet für eine Organisation. Sie helfen Flüchtlingen ohne Papiere, organisieren Kampagnen und solche Dinge. Es ist ihm nur schwer begreiflich zu machen, dass ich Juristin bin und keine von seinen Aktivistinnen.« Sie zog die Augenbrauen hoch und sah weg. »Soweit ich verstehe, waren diese Männer zu einer Zeugenaussage bereit, aber ich wollte keine näheren Details über sie wissen, das habe ich vollkommen deutlich gemacht.«

»Welche Männer?«

»Sie waren einem Arbeitgeber entkommen, der sie eingesperrt hatte. Patrick behauptete, es handelte sich um Sklavenarbeit, was rein juristisch betrachtet aber keine Straftat ist, sondern unter dem Begriff délit verzeichnet wird. Das ist ein Gesetzesverstoß, der strafbar ist, aber milder bewertet wird. Doch wenn die Geschichte wirklich wahr ist, könnte es Gründe geben, Anklage wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung, vielleicht sogar Mord zu erheben.«

Ich starrte sie an.

»Mord? Hat er das wirklich gesagt?«

»Ich sagte ihm natürlich, dass er zur Polizei gehen müsse, wenn er einen solchen Verdacht hätte.«

»Und, hat er es getan? Ist er zur Polizei gegangen?«

»Mein Bruder hat ihm sicherlich davon abgeraten«, sagte sie. »Er traut der französischen Polizei nicht. Er hält sie für korrupt.«

»Ist sie es denn?«

»Man kann doch nicht das ganze System ablehnen, nur weil einzelne Individuen es missbrauchen. Die Justiz ist ein Fundament unserer Gesellschaft.« Sie zeigte mit dem Teelöffel auf den Ehering, den ich an meiner linken Hand trug. »Die Ehe, beispielsweise, ist in erster Linie eine juristische Konstruktion.«

»Manche behaupten auch, es ginge dabei um Liebe«, sagte ich.

Sarah Rachid winkte den Kellner herbei und bat um die Rechnung, wobei sie gleichzeitig ihre Aktentasche öffnete. Sie schrieb eine Telefonnummer auf einen Block, riss die Seite aus und legte sie auf den Tisch.

»Ich schlage vor, Sie wenden sich an meinen Bruder. Der wird sich sicher gern mit Ihnen unterhalten. Arnaud ist ein Idealist.« Aus ihrem Mund klang das wie eine sexuelle Perversion.

»Nur eine Sache noch«, sagte ich. »Hat Patrick Ihnen gegenüber einen Mann namens Alain Thery erwähnt?«

»Warum fragen Sie?«

»Dann vielleicht eine Firma namens Lugus? Josef K.? Sagte er etwas von einem Hotel, das vor einigen Wochen niederbrannte?«

Sie zählte akribisch Geld ab und legte es auf den Tisch – exakt ihren Teil der Rechnung plus zehn Prozent Trinkgeld.

»Grüßen Sie Arnaud von mir«, sagte sie, stand auf und ging.

Ich sah sie quer durch die Tische und Stühle auf dem Platz gehen und hinter der nächsten Ecke auf dem Boulevard Saint-Michel verschwinden. Die Sonne war hervorgekommen, und die Menschen in den Cafés hatten ihre Jacken über die Stuhllehnen gehängt.

Auf dem Weg aus dem Restaurant rief ich Arnaud Rachid an. Verglichen mit seiner Schwester war er ein Muster an Freundlichkeit.

»Nein, wie nett«, sagte er, »wie geht es Patrick denn, ich habe schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört?«

Ich zitterte vor Freude. Endlich einmal jemand, der etwas wusste und reden wollte.

»Wann hatten Sie denn das letzte Mal Kontakt?«, fragte ich.

»Tja, wie lange mag das her sein, ein paar Wochen vielleicht? Er hat Paris doch inzwischen verlassen?«

Ich schluckte und schlug vor, dass wir uns trafen. Er gab mir eine Wegbeschreibung zu seinem Büro in der Rue Charlot, die im Marais lag, und sagte, er sei ab achtzehn Uhr dort.

Ich legte auf, und plötzlich wirkte die Stadt um mich herum heller, die Atmosphäre geradezu freundlich. Die Tauben hatten ihr Bad beendet, sie saßen am Rand des Brunnens und trockneten ihre Flügel. Es war erst Viertel nach zwei. Ich hatte noch fast vier Stunden totzuschlagen.

Die Préfecture de Police lag auf der Insel mitten in der Seine, die die Stadt in zwei Hälften teilte. Die alten steinernen Bauten waren so riesig, dass das Tageslicht kaum den Boden erreichte. Mir kam der Gedanke, dass die Straße mehrere hundert Jahre lang im Halbdunkel gelegen hatte und die Dämmerung mit dem Herzen der Stadt verwoben war.

Immerhin bin ich nicht auf dem Weg zum Schafott, dachte ich und bog an den 30 Meter hohen Eisentoren des Justizpalastes rechts ab. Unmittelbar daneben lagen die Kerker der Conciergerie, wo es während der französischen Revolution Todesurteile gehagelt hatte.

An diesem Morgen war ich mit einem Traum auf der Netzhaut aufgewacht. Ich war durch weiße Korridore geirrt und hatte Patrick gesucht, doch niemand konnte mir sagen, wo er war.

Falls er wirklich bewusstlos in irgendeinem Krankenhaus lag, musste die Polizei das eigentlich wissen. Dafür brauchte ich nichts über seinen Job zu verraten.

»Sorry, no english«, sagte die Frau an der Rezeption des Polizeipräsidiums. Ihr Haar war so stark in Form gesprüht, dass es einer Skulptur glich.

»Aber es muss doch irgendjemanden hier geben, der Englisch spricht?«

Das war nicht der Fall. Das Präsidium lag nur eine Straßenecke von Notre-Dame entfernt, in einem Gebiet, wo es von Touristen nur so wimmelte, und sie waren nicht in der Lage, jemanden einzustellen, der Englisch sprach. Am Ende trat ein Mann aus der Schlange hinter mir und stellte sich als Dolmetscher zur Verfügung. Ich erklärte, dass es um eine vermisste Person ginge. Er trat einen Schritt näher und drückte sich an meinen Rücken, während er übersetzte. Die Frau an der Rezeption reichte mir einen Zettel mit einer Telefonnummer. Hinter mir keuchte der Mann in mein Ohr. »Es muss schwer für dich sein, so ganz allein in Paris.« Ich trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß, und als ich hinausging, hörte ich ihn hinter mir herrufen: »Jetzt verstehe ich, warum dein Mann abgehauen ist!«

Draußen im Hof wanden sich die langen Schlangen derjenigen, die für ein Visum anstanden: Menschen saßen auf dem gepflasterten Boden, lehnten sich müde an Wände und rauchten. Ich faltete den Zettel auseinander, der in meiner Hand zerknittert war. »Recherche dans l’intérêt des familles«, stand dort. Vermisste Personen wurden offenbar als Familienangelegenheit eingestuft. Im Gehen wählte ich die Nummer. Schon nach dem ersten Tuten nahm eine Frau ab.

»Ich habe einige Fragen zu einer Person«, sagte ich, »zu jemandem, der verschwunden ist.«

»Votre nom, s’il vous plaît.«

Nom hieß eindeutig Name.

»Ich heiße Ally Cornwall«, antwortete ich. »Ich bin gerade in Paris angekommen und möchte lediglich ...«

»Adresse?«

Ich gab den Namen des Hotels an. Zwei Polizisten warfen mir einen schläfrigen Blick zu, als ich durch das Tor auf die Straße trat. Am anderen Ende der Leitung gab die Frau einen langen Wortschwall von sich, mari, fiss ... Französisch war noch schwieriger zu verstehen, wenn ich die Person nicht vor mir hatte.

»Entschuldigen Sie, aber gibt es bei Ihnen denn niemanden, der Englisch spricht?«

»Vous êtes English?«

»Amerikanerin.«

»Call embassy, please«, sagte die Frau und legte auf.

Ich war auf der anderen Seite des Viertels herausgekommen und ging zu der Steinmauer am Kai. Vor mir floss träge die Seine dahin, grünlich und trüb. Ich sog den muffigen Geruch ein und hatte plötzlich das Gefühl, schon einmal an diesem Ort gestanden zu haben. Vor langer Zeit. Ein Kahn fuhr vorüber, mit Kohle oder Asphalt beladen. Auf der anderen Seite wandten die Häuser ihre Fassaden dem Wasser zu. Es lag etwas so Bekanntes über diesem Bild, ein Déjà-vu, das nicht ganz stimmte; die Häuser waren dunkler gewesen, der Fluss breiter, das Wasser schwärzer.

Die Moldau. Der Fluss, der durch Prag floss.

Ich war noch klein gewesen, dessen war ich mir sicher, denn ich hatte nicht über den Mauerrand sehen können, und jemand hatte mich hochgehoben, jemand hatte mich mit starken Händen an der Taille gefasst und mich hochgehoben, damit ich die Schiffe sehen konnte, die auf dem Fluss vorüberglitten. Er war es, daran bestand kein Zweifel, obwohl ich ihn weder sehen, noch seine Stimme hören konnte, doch es war mit Sicherheit eine Erinnerung an meinen Vater. Auch ein Lachen war dabei, oder das Echo eines Lachens. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich mich umgedreht hatte, doch plötzlich schwand das Gefühl seiner Hände an meinem Körper, und ich war nicht mehr länger sicher, ob all das tatsächlich geschehen war.

Einige Meter entfernt öffnete sich die Mauer, und eine Treppe führte zum Fluss hinab. Ich setzte mich auf die Stufen, nahm meinen Reiseführer aus der Tasche und suchte die Nummer der amerikanischen Botschaft heraus. Vom Kai unter mir stieg Uringestank auf.

»Entschuldigung, wie war Ihr Name noch?«

Der Beamte, auf dessen Schreibtisch die Fälle von verschwundenen Amerikanern landeten, hustete am anderen Ende des Hörers.

»Alena Cornwall. Ich weiß nicht, ob meinem Mann etwas zugestoßen ist, ich frage mich nur, ob Sie irgendeinen Bericht bekommen haben ...«

»Und wie lange ist Ihr Mann schon weg?«

Es war beinahe noch komplizierter, als mit der Polizei zu sprechen. Patricks Name konnte bei der Botschaft ein Begriff sein, vielleicht lasen sie obendrein The Reporter.

Ich gab eine knappe Erklärung ab, ohne Patricks Job zu erwähnen.

»Sind Sie schon lange verheiratet?«, fragte er.

»Was hat das mit der Sache zu tun?«

»Ich selbst bin schon seit dreizehn Jahren verheiratet. Nicht alle wissen es zu schätzen, jeden Tag gemeinsam zu essen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Er biss von irgendetwas ab, ich vernahm ein Schmatzen im Hörer. Ich umklammerte das Eisengeländer der Treppe, um die Ruhe zu wahren.

»Mein Problem ist, dass ich nicht besonders gut Französisch spreche und es daher schwer für mich ist, mit der Polizei zu reden. Und Sie müssten doch erfahren, wenn etwas vorfällt, was mit einem Amerikaner zu tun hat? Ein Unfall oder Ähnliches?«

»Ich sehe eben mal nach, einen Moment ... hier haben wir etwas ...«

Mein Herz machte einen Satz und schlug einen Salto, um schließlich tief unten im Bauch wieder aufzukommen, als der Mann weiterredete.

»Einem Rentner aus Illinois ist am Freitag am Eiffelturm seine Kameratasche gestohlen worden. Er hatte sie abgestellt, um seinen Platz in der Schlange freizuhalten, als er auf die Toilette musste. Er hatte zwei Stunden angestanden und wollte seine Position auf keinen Fall wieder verlieren.«

»Patrick ist achtunddreißig Jahre alt.« Ein Ausflugsdampfer in Form einer Riesenschildkröte näherte sich dem Ufer, und die Touristen zückten ihre Kameras. Ich duckte mich, um nicht vor Notre-Dame-Kulisse in irgendeinem Fotoalbum zu landen.

»Dann hören Sie sich das mal an: Ein Paar hatte sich letzte Nacht auf den Père Lachaise geschmuggelt, sie hatten sich in einer Gruft versteckt, bis die Tore schlossen. Sie wollten Jim Morrison zu Ehren auf seinem Grab Bourbon trinken und unanständige Dinge tun. Der Mann sagte – ich zitiere -, dass ›Jims Geist während des Orgasmus aus dem Grab aufsteigen würde‹. Ich nehme nicht an, dass er das war?«

»Patrick kann Jim Morrison nicht leiden.«

Es knackte und rauschte im Hörer, er hustete erneut. Oder unterdrückte er ein Lachen?

»Ich an Ihrer Stelle würde nach Hause fahren und brav noch eine Woche abwarten«, sagte er in einem amüsierten Tonfall. »Falls irgendwo ein Mister Cornwall auftauchen sollte, richte ich ihm aus, dass er sich zu Hause melden soll, asap. Okay?«

Mein Geld würde bald zur Neige gehen, falls ich mich weiterhin mit dem Taxi durch die Stadt kutschieren ließe, dachte ich und kletterte aus dem Wagen.

Darüber, dass Alain Thery sich um sein Auskommen keine Sorgen machen musste, herrschte dagegen kein Zweifel.

Avenue Kléber 76 war ein alter Palast aus Stein, dessen gesamtes Untergeschoss komplett mit einer schwarzen Glasverkleidung modernisiert worden war. Es lag nur zwei Ecken vom Arc de Triomphe entfernt neben zwei Botschaften und einer Ferrari--Boutique.

Da bei Lugus niemand auf meine Mail reagiert hatte, konnte ich Alain Thery genauso gut selbst aufsuchen, bevor er Feierabend machte. Von Telefongesprächen hatte ich für heute erst einmal genug. Außerdem wollte ich gern sein Gesicht sehen, wenn ich nach Patrick fragte.

Lugus war kein Unternehmen, das zu einem spontanen Besuch einlud. Die Türen ließen sich nur von innen oder per Türcode öffnen. Eine Klingel gab es nicht. Ich versuchte, durch das dunkle Glas zu spähen, konnte aber nur eine Spiegelung meiner selbst und der Straße sehen. Als ich nach oben blickte, glotzte ein Löwenkopf aus Stein von einer Brüstung auf mich herab.

Aus allen umliegenden Häusern kamen die Büroangestellten in einem gleichmäßigen Strom, doch die Pforte der Nummer 76 blieb geschlossen.

Ich war kurz davor aufzugeben, als ein Motorrad vor dem Haus anhielt. Der Fahrer zog einen dicken Umschlag aus seiner Tasche, ging zu der Eingangssäule und gab einen Code ein. In der nächsten Sekunde glitt die Tür mit dem Geräusch eines langsamen Atemzugs auf.

Schon war ich direkt hinter ihm.

»Was für ein schönes Wetter wir heute haben«, sagte ich und folgte ihm dicht auf den Fersen durch die Eingangspforte.

Drinnen lief Pop mit karibischem Einschlag auf niedriger Lautstärke, die Schritte wurden von einem dicken, grauen Teppich gedämpft. An der Rezeption saß ein blonder junger Mann und nahm das Päckchen entgegen. Alain Thery schien wirklich ein Fan von schwarzem Glas zu sein, denn die Innenwände waren genauso blank und undurchdringlich wie die Außenfassade. Vielleicht stand jemand auf der anderen Seite der Wand und beobachtete mich, jemand, den ich nicht erkennen könnte, so sehr ich mich auch bemühte. Stattdessen sah ich den Motorradboten in mehreren, ineinander gespiegelten Versionen, als er zur Türschleuse ging, die sich mit einem leisen Seufzen hinter ihm schloss.

»Guten Morgen, ich würde gern mit Alain Thery sprechen«, sagte ich. »Ich repräsentiere eine amerikanische Firma, und wir würden unsere Kompetenzen im Zusammenspiel mit unserem Umfeld gern auf eine effektivere Weise ausbauen.«

»Er ist nicht hier«, sagte der Rezeptionist und begann, seine Nagelhaut einzucremen. Ein Duft von Mandeln und Honig verbreitete sich. Im Hintergrund begann ein neues Lied, eine Sängerin, die zu tanzbaren Rhythmen auf Französisch zwitscherte.

»Könnte ich dann bitte mit Alains Sekretärin sprechen?«, fragte ich und schielte zu der Treppe, die hinter ihm nach oben führte. Sie endete an einer weiteren Glaswand.

»Schreiben Sie eine Mail«, sagte der Rezeptionist und holte eine Nagelfeile aus einem kleinen Etui.

»Das habe ich bereits getan«, entgegnete ich, aber er würdigte mich keines Blickes.

Na gut, dachte ich und ging zwei Schritte zurück. Dann nahm ich die Treppe ins Visier, umrundete blitzschnell die Rezeption und nahm zwei Treppenstufen auf einmal.

»Warten Sie. Hallo. Sie können nicht einfach ... Bleiben Sie stehen!«

Ich hörte, wie er hinter mir ins Französische wechselte. Merde und putain waren Worte, die ich ausgezeichnet verstand. Am Ende der Treppe stieß ich eine Glastür auf und betrat eine riesige Bürolandschaft, die sich über die gesamte Etage erstreckte. Die Geschichte des Hauses spiegelte sich in massiven Steinwänden und dem Stuck an der Decke, der Rest wirkte hingegen wie ein Ausschnitt einer Einrichtungszeitschrift für das moderne Büro. Schreibtische aus Aluminium und Glas, Computer mit überdimensionalen Bildschirmen, eingelassene Deckenstrahler. Ich blieb mitten im Raum stehen.

Nicht ein einziger Mensch war zu sehen. Der Raum war vollkommen leer. Die Bildschirme schwarz, die Schreibtische blank, keine Akten, kein Büroklammerngewirr, keine farbenfrohen Schreibblöcke oder andere Dinge, die normalerweise zu einem Arbeitsplatz gehörten. Ich ging zu einem Papierkorb aus glänzendem Metall und sah hinein. Nicht eine zusammengeknüllte Aufzeichnung, nicht einmal das Kerngehäuse eines Apfels.

Dies ist eine Kulisse, dachte ich. Hier gibt es nichts. Es ist nur die Projektion einer Firma, das Bild eines perfekten Büros.

In diesem Moment spürte ich einen Lufthauch hinter meinem Rücken, und in der nächsten Sekunde schloss sich eine Hand um meinen Oberarm. Ich schrie auf und drehte mich um, starrte auf eine Männerbrust. Ein kurzärmeliges Hemd, pralle Muskeln. Der Mann war einen Kopf größer als ich und hatte ein breites Gesicht mit einer Nase, die zu klein wirkte, Schweinsäuglein und einen kahl geschorenen Schädel.

»Ich bin auf der Suche nach Alain Thery«, stotterte ich und spürte, wie der Griff härter wurde, »aber offenbar ist er nicht hier, also kann ich wohl gehen ... Lassen Sie mich los, zum Teufel!«

Doch der Wachmann, oder was auch immer er war, lockerte seinen Griff nicht, bis ich wieder unten vor der Rezeption stand.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie eigentlich? Für wen arbeiten Sie?« Der blonde junge Mann übersetzte die Fragen, da der Wachmann offenbar kein Englisch sprach.

Ich dachte hastig nach, war wirr im Kopf. »Ich habe eine Toilette gesucht. Ich dachte, dass ich kurz davor wäre zu ... brechen. Wenn Sie verstehen.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich bin ... schwanger.«

Das hätte ich nicht sagen sollen, aber es war das Einzige, was mir so schnell eingefallen war. Der Blonde übersetzte. Enceinte war das französische Wort. Der Wächter ließ mich los und versetzte mir einen Stoß in den Rücken, zeigte mit ausgestreckter Hand auf den Ausgang.

»Rufen Sie am Montag noch mal an«, sagte der Blonde.

Die Türschleuse glitt auf und schloss sich hinter mir wie eine große Muschel, als ich wieder auf der Straße stand.

»Hast du eine Verabredung mit Arnaud?«

Das Mädchen, das vor dem Eingang stand, trug zerrissene Jeans und hatte raspelkurze Haare. Auf die Wand neben ihr hatte jemand zone antipatriotique gekritzelt.

»Er hat mich gebten, dich reinzulassen«, sagte sie und drückte die Zigarette in einer abgeschnittenen Konservendose aus.

Ich stellte mich vor und folgte ihr in das Gebäude. Die Lampe im Treppenhaus war kaputt, und durch ein dreckiges Fenster drang nur schwach das Tageslicht.

»Viele würden auf die Idee kommen, etwas durchs Fenster zu werfen, wenn wir unsere Adresse draußen dranschreiben würden«, sagte das Mädchen, das Sylvie hieß und nun eine schwere Eisentür öffnete. Zum ersten Mal während meiner Zeit in Paris wusste ich, dass ich richtig war. Patrick war hier gewesen. Das merkte ich am Geruch von Papier, Tinte, Energie und Kampfeslust, den Plakaten an der Wand, den geballten Fäusten und Symbolen. Auch wenn Patrick heute ein gut gekleideter Journalist war, steckte noch immer der Revoluzzer aus der Studentenzeit in ihm.

»Also arbeitest du auch mit illegalen Einwanderern?«, fragte ich.

»Das ist Politikersprache«, sagte sie und starrte mich vorwurfsvoll an. »Kein Mensch ist illegal!«

Wir betraten eine alte Fabrikhalle, in der Rohre und Leitungen kreuz und quer unter der Decke entlang liefen, überall standen Computer und Bücherregale, stapelten sich Zeitungen und Bücher.

»Zu meinen Aufgabenbereichen gehört das Fairtrade-Siegel«, erklärte Sylvie, »und die kollektive Vielfalt. Wir sind mehrere Organisationen, die sich hier die Kosten teilen, aber eigentlich arbeiten wir alle für ein gemeinsames Ziel: Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Ländern und für die unterdrückten Völker dieser Welt.«

»Hast du Patrick getroffen, als er hier war?«, fragte ich.

»Ja natürlich«, antwortete sie, »er interviewte Arnaud ja ständig.« Ihr Blick wanderte zu einem großen Mann mit einem farbenfrohen Schal um den Hals und dunklen, zerzausten Haaren, der sich gerade einen Weg durch die Kartons und Zeitungsstapel bahnte und auf uns zu kam.

»Hallo, du musst Helena sein!«, sagte Arnaud Rachid.

»Alena«, korrigierte Sylvie. »Arnaud kann sich einfach keine Namen merken«, sagte sie und strahlte ihn an.

Arnaud Rachids Büro lag im hinteren Teil der großen Halle. In vier Metern Höhe gab es eine Reihe staubiger Fenster, das übrige Licht kam von Neonröhren an der Decke, die aussahen, als hätten sie schon zu den Hochzeiten der Industrialisierung dort gehangen.

»Willkommen im Paradies der Heuchler«, sagte er und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Dieses Land würde keinen einzigen Tag funktionieren ohne all die Menschen ohne Papiere, die hier die Drecksarbeit erledigen, Putzleute, Bauarbeiter, Obstpflücker. Unsere überalterte Bevölkerung würde aussterben, wenn sie niemanden hätte, der ihr den Hintern abputzt. Spätestens dann müsste Europa den Geruch seiner eigenen Scheiße riechen.«

Ich schob einen Stapel Post beiseite und setzte mich auf den Schreibtisch.

»Wann hast du Patrick zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich.

»Das muss ungefähr zwei Wochen her sein.« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Wie geht es mit seinen Artikeln voran?«

»Ich habe sie noch nicht gelesen.«

»Also ist er jetzt wieder zu Hause in New York?«

»Nein, er musste erst noch etwas anderes erledigen.«

Ich wich seinem Blick aus und betrachtete die Regale, in denen die Bücher zweireihig standen, darunter Karl Marx, Malcolm X und Che Guevara. Arnaud Rachid sprach derweil weiter von Politikern, die die Grenzen dichtmachten und gleichzeitig das Recht haben wollten, unter den Bevölkerungen dieser Welt Arbeitskräfte zu wählen und sie genauso schnell wieder loswerden zu können. Ich muss zur Sache kommen, dachte ich, sonst versinkt die ganze Angelegenheit im Sumpf von Rhetorik und Propaganda.

»Patrick hat einige Männer interviewt, die aus der Sklaverei geflohen waren«, sagte ich und hielt meinen Notizblock parat. »Hattest du auch etwas mit dieser Sache zu tun?«

»Darüber kannst du nicht schreiben. Das gehört nicht zum offiziellen Teil unserer Tätigkeit.«

»Ich schreibe nicht, ich recherchiere.«

Arnaud öffnete seinen Schal und wickelte ihn dann erneut um seinen Hals.

»Wir versteckten sie«, sagte er. »Ich habe Patrick zu ihrem Unterschlupf geführt.«

Er lehnte sich zurück, und ich beobachtete ihn, während er erzählte. Ich hatte den Eindruck, dass er nervös war, seine Hand nestelte ständig am Schal herum, der Fuß wippte auf dem Boden.

Es ging um drei junge Männer aus Mali, die ins Land geschleust worden waren und als Arbeitssklaven ausgenutzt wurden, auf dem Bau, als Umzugshelfer und bei schweren Verladearbeiten, ganz ohne Lohn. Wenn sie nicht arbeiteten, wurden sie unter Gewaltandrohung in einem alten Lager, einem so genannten safe house, gefangen gehalten. Arnaud wurde der Kontakt zu den Männern hergestellt, nachdem ihnen die Flucht gelungen war.

»Also hatte Patrick darauf sein Hauptaugenmerk gelegt? Auf eine Art kriminelles Netzwerk, das Menschen nach Frankreich schleuste?«

Er seufzte laut und legte seine Füße auf den Schreibtisch.

»Das darfst du jetzt nicht missverstehen«, sagte er und raufte sich die Haare, sodass sie noch zerzauster aussahen. »Wir sind nicht gegen Menschenschmuggel, wir sind für ein Europa der offenen Grenzen. Wenn die Einwanderung nicht so stark begrenzt würde, gäbe es auch keinen Markt für Schlepperbanden. Sie bieten lediglich eine gefragte Dienstleistung an. Natürlich gibt es auch Schurken, die unverschämte Preise verlangen und das Leben der Menschen aufs Spiel setzen, aber das ist eine andere Sache.«

»Wusste dieses kriminelle Netzwerk etwas über Patricks Projekt?«

»Wieso, ist ihm etwa was zugestoßen?« Arnaud Rachid zog mit einem Ruck die Füße vom Tisch und riss dabei einen Teil der Post zu Boden. Er beugte sich hinab und hob die Umschläge auf.

»Wo wollte Patrick hin, als er Paris verließ?«, fragte ich weiter.

»Ich habe keine Ahnung.« Er sah mich forschend an. »Wisst ihr in der Redaktion denn etwa nichts darüber?«

Zum Glück wurde ich davor bewahrt, mir eine Antwort ausdenken zu müssen, denn im selben Moment hörte ich Sylvies Stimme hinter mir.

»Möchtet ihr auch einen Kaffee?«, fragte sie.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Arnaud schnell und erhob sich hastig.

Die Kaffeemaschine war in einer engen Rumpelkammer untergebracht. Arnaud wühlte in einer Schublade zwischen kleinen Plastikverpackungen in verschiedenen Farben, wählte eine schwarze und stopfte sie in eine Öffnung, die sich oben in der Kaffeemaschine befand. Er zog an einem Hebel und drückte einen Knopf. Nichts geschah.

»Wer ist Josef K.?«, fragte ich.

Er zuckte zusammen und sah mich an.

»Wie, Josef K.? Wie bei Kafka, oder was meinst du?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »Patrick erwähnte den Namen ...« Die Kammer war eng, und seine Hüfte stieß gegen meine, als er sich bewegte. Ich schluckte und ging ein Stück zurück, sodass ich in der Tür stand. »Was ist aus diesen Männern geworden?«, fuhr ich fort. »Versteckt ihr sie immer noch? Kann ich sie treffen?«

»Merde«, sagte Arnaud und hämmerte gegen die Kaffeemaschine. »Ich verstehe nicht, warum diese Dinger nie einfach so funktionieren. Sieh dir das an!« Er wedelte mit der kleinen Plastikverpackung, die eine Portion Kaffee enthielt. »Warum diese Ressourcenverschwendung für eine einzige Tasse Espresso?«

Arnaud drückte erneut auf den Kopf, woraufhin die Maschine Wasser ausspie.

»Wir gehen draußen was trinken«, sagte er und stellte die Maschine aus. »Ich muss nur eben schnell aufs Klo.«

Als er eine kleine Treppe nach oben verschwand, kam das Mädchen mit den zerrissenen Jeans zu mir.

»Du musst es ruhig angehen lassen mit Arnaud«, sagte sie und kam mir etwas zu nahe. »Wusstest du, dass er einige von denen kannte, die in dem Haus verbrannt sind? Man merkt es ihm nicht an, aber es macht ihm schwer zu schaffen.«

Mir wurde kalt.

»In dem Hotel, meinst du? Das vor zwei Wochen abgebrannt ist?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Arnaud wieder auf uns zukam, quer durch den Raum, die Jacke über die Schulter geworfen.

»Übrigens habe ich gehört, dass du nach Josef K. gefragt hast«, sagte Sylvie leise.

Mein Herz begann zu rasen.

»Was weiß du über ihn?«, fragte ich.

»Ich dachte, du wüsstest es«, sagte sie und blickte mich forschend an. »Josef K. ist ein Menschenhändler, es handelt sich natürlich um einen Decknamen, ein Gangster aus der Ukraine. Früher war er beim KGB, dann wurde er Kapitalist, wie alle anderen auch nach Glasnost, ein wirklich widerlicher Typ.«

Ich musste mich am Türrahmen abstützen. Der letzte Name in Patricks Notizbuch. War er abgereist, um ihn zu treffen? Das Klischee eines Russengangsters tauchte vor meinem inneren Auge auf, kahlköpfig und vernarbt, mit totem Blick. Nur noch eine Sache erledigen ... dies ist eine Reise in die Dunkelheit ...

Nein, dachte ich, mein Liebster ...

»Ich komme gern mit«, sagte Sylvie, »wenn ihr draußen einen Kaffee trinken wollt.«

Arnaud schüttelte den Kopf.

»Nicht jetzt«, sagte er und setzte sich in Bewegung. Es gelang mir, Sylvie kurz zuzulächeln. Es war offensichtlich, dass sie hoffnungslos in ihren Revolutionskameraden verschossen war.

»Wenn dich die Sache wirklich interessiert, kannst du dich hier für unseren Newsletter anmelden«, sagte sie und reichte mir einen Flyer, den ich zusammenknüllte und in den nächsten Mülleimer warf, sobald wir auf der Straße waren.

»Sylvie ist unglaublich engagiert«, sagte Arnaud. »Ich erkenne mich selbst darin wieder, die Anfangszeit, in der einem gerade erst die Augen geöffnet worden sind. Damals konnte ich auch rund um die Uhr arbeiten. Sie ist immer hier.«

Er machte große Schritte, und ich musste im Stechschritt nebenhereilen, um mithalten zu können.

»Sie hat mir erzählt, dass du einige der Menschen kanntest, die verbrannten«, sagte ich. »War das bei dem Hotelbrand auf dem Boulevard Michelet?«

Arnaud blieb abrupt stehen und sah mich an.

»Was weißt du von dem Brand?«, fragte er.

»Dass siebzehn Menschen dabei ums Leben kamen«, antwortete ich. »Außerdem glaube ich, dass Patrick in jener Nacht dort war.«

Arnaud ging weiter, ohne mir zu antworten.

»Habt ihr sie dort versteckt, in dem Hotel?«, fragte ich und begriff im gleichen Moment, wie alles zusammenhing. »Diese Männer aus Mali gehören auch zu den Opfern, oder?«

Arnaud Rachid bog rechts in die Rue Bretagne ab und drängte sich an Gemüseauslagen und Eimern mit lebenden Schalentieren vorbei. Wieder musste ich mich anstrengen, um mitzuhalten. Dies war ein Wohnviertel, in dem die Menschen Fahrrad fuhren, gutes Essen kauften und ihren Müll in farbigen Plastikcontainern trennten. Es erinnerte mich ein wenig an East Village.

»Wir gehen hier rein«, sagte er und hielt die Tür zu einer Bar auf. »Was möchtest du haben?«

Ich bat um ein Sandwich und einen Saft und setzte mich in eine Ecke. Arnaud gab die Bestellung auf und gesellte sich zu mir, holte ein Tabakpäckchen aus der Jackentasche und drehte sich eine Zigarette.

»Wir dachten, es wäre sicher«, sagte er. »Ansonsten hätten wir diese Unterkunft ja nicht gewählt.«

Bei der Erinnerung an das ausgebrannte Haus überkam mich ein Schauer. Arnauds Hände zitterten so sehr, dass ein Teil des Tabaks auf den Boden fiel.

»Sie mussten sich ein Zimmer teilen«, sagte er. »Es war sehr einfach, aber immerhin hatten sie ein Dach über dem Kopf und Betten. Es gab ein Bad mit Warmwasser auf dem Flur.«

»Das Hotel war eine Todesfalle«, sagte ich.

»Es gibt nicht viele Orte in Paris, wo sie nicht nach den Papieren fragen. Niemand wusste, dass sie dort wohnten, außer mir und einigen wenigen anderen.«

Arnaud zog ein Feuerzeug hervor, steckte es dann aber schnell wieder weg, zusammen mit der Zigarette. »Verdammt, ich vergesse es immer noch ständig. Wer hätte gedacht, dass es tatsächlich gelingen würde, ganz Frankreich rauchfrei zu machen.« Er fuhr sich erneut mit der Hand durchs Haar und sah sich nervös um.

»Patrick war mehrmals dort und sprach mit ihnen«, fuhr er fort. »Zum letzten Mal an jenem Nachmittag, an dem alles vollkommen ruhig schien. Sonst hätten wir sie sofort woanders hingebracht, verstehst du.«

Der Kellner stellte mir einen doppelten Toast hin, der zerlaufene Käse rann auf den Teller.

»Jemand rief Patrick in jener Nacht an und sagte, dass es brenne«, sagte ich. »Warst du das?«

»Nein, ich hatte mein Handy ausgestellt und nicht zu Hause übernachtet.«

Aha, wo denn, dachte ich, aber es ging mich wohl kaum etwas an, wo Arnaud Rachid seine Nächte verbrachte. Er fischte einen Blister mit Nikotinkaugummis aus der Tasche und stopfte sich einen davon in den Mund.

»Am Samstag nach dem Brand trafen wir uns«, fuhr er fort. »Wir sahen uns den Brandort an, und Patrick sprach mit den Polizisten. Er war davon überzeugt, dass es sich um Brandstiftung handelte.«

»Aber in der Zeitung stand, es lägen keine Hinweise darüber vor.«

»Die Polizei nahm seine Zeugenaussage auf. Danach stellten sie die Ermittlungen ein.« Er fixierte mich. »Diese Leute haben überall Kontakte.«

»Aber woher wusste Patrick, dass der Brand gelegt war? Wusste er denn auch, wer es war?«

Arnaud spielte an seinem Schal herum.

»Es gibt Dinge, über die ich nicht sprechen kann«, sagte er. »Ich muss in erster Linie an die Menschen denken, die wir schützen.«

Endlich kam ich dazu, von meinem Toast abzubeißen, wobei ich Arnaud nicht aus den Augen ließ. Der geschmolzene Käse war hart geworden. Arnaud leerte sein Bier.

»Was hat Sarah eigentlich zu dir gesagt?«, fragte er.

»Dass du ein Idealist bist«, sagte ich.

Er verzog das Gesicht. »Sarah glaubt tatsächlich, dass sie Recht spricht, und dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Aber in dieser Stadt leben eine halbe Million Menschen ohne Papiere, die keinerlei Rechte besitzen. Das Einzige, was das Gesetz mit ihnen anstellt, ist, sie aus dem Land zu werfen.«

»Warum hast du Patrick dann zu ihr geschickt?«

Er sah sich nervös um und senkte seine Stimme.

»Diese Männer hatten Angst. Eigentlich wollte nur Salif an die Öffentlichkeit gehen und seine Geschichte erzählen. Die anderen forderten eine Garantie dafür, eine Aufenthaltsgenehmigung, einen Schutz, sonst wollten sie nicht in der Zeitung aussagen. Ich gab Patrick den Tipp mit Sarah. Sie kann nach außen hin hart wirken, aber ich weiß, dass sie sich kümmert. Und ich glaube sogar, dass sich meine Schwester ein bisschen verguckt hat.«

»In Patrick?«

Ich starrte ihn verblüfft an. Das hatte sie also mit off the record gemeint.

»Aber sie ist doch verheiratet«, sagte ich, wobei es mir gelang, beherrscht zu klingen.

Er lachte laut. »Nein, nein, das ist sie nie gewesen. Den Ehering trägt sie nur, um ihn bei Gericht vorzuzeigen, weil man ihr dann mehr Respekt entgegenbringt.«

Ich wandte den Blick ab. Sah einen Mann, der einen anderen Mann küsste, Menschen, die beisammensaßen und tranken und über das Wetter plauderten.

»Ich muss jetzt los«, sagte er und stand auf, »aber du kannst mich ja anrufen, wenn noch was ist. Wo wohnst du denn eigentlich?«

»Bei der Sorbonne«, sagte ich. »Im selben Hotel wie Patrick.«

Ich blieb sitzen und sah ihn durch die Tür verschwinden. Ein Satz von Arnaud übertönte alles andere, was er gesagt hatte: Und ich glaube sogar, dass sich meine Schwester ein bisschen verguckt hat.

»Darf es noch was sein?«

Harry schüttelte die Flasche mit der Worcestersauce und spritzte einige Tropfen davon in seinen hundertsten Bloody Mary dieses Abends.

Ich winkte mit dem Whiskyglas. »Noch so einen, bitte. Und ein Glas Wasser.«

Ich trank dasselbe, was Patrick meiner Vermutung nach getrunken hatte, an jenem Abend, als er mich zum letzten Mal angerufen hatte und betrunken gewesen war. Der Whisky schmeckte nach Asche. Es war voll im Lokal, und die Wärme verwandelte sich in einen feuchten Nebel. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos, Zeichnungen von klassischen Pariser Cabarets und amerikanische Sportwimpel. Alles war unglaublich pre-war. Ein Ort, der von seinen Erinnerungen lebte.

Ich schob dem Bartender eine Fotografie hinüber.

»Erkennen Sie diesen Typen wieder?«, fragte ich.

»Warum fragen Sie?« Er schielte nach dem Foto.

»Weil ich ihn vermisse.«

Harry trocknete sich die Hände ab und hielt das Foto von Patrick hoch, betrachtete sein Gesicht im Licht der Nouveau-Art-Lampen an der Wand.

»War der nicht vor ein paar Wochen hier?« Er runzelte die Stirn. »Doch, ich glaube, ich erinnere mich tatsächlich an ihn. Er redete von seiner Frau.«

Ich verschluckte mich und hustete so sehr, dass mir der Whisky in der Nase brannte.

»Von seiner Frau?«

»Er sagte, dass er eine wunderbare Frau hätte.« Harry lachte und zerstieß geviertelte Limetten und Minze in einem Glas. Er hatte eine besondere Technik, das Eis zu zerkleinern, in dem er es in eine Handfläche legte und mit dem Barstößel wie mit einem Baseballschläger darauf einhieb. »Er hatte Sehnsucht nach New York und keine Lust mehr auf solche Reisen. Sie wollten ein Kind, sagte er, er wünschte sich eine eigene Familie.« Er füllte mit Rum und Soda auf, ließ einige Eiswürfel hineingleiten und stellte das Glas auf den Tresen, wo es von einem Kellner abgeholt wurde. »Ich riet ihm, er solle sich ranhalten. Kinder sind das Beste, was einem Mann passieren kann, alles andere erscheint einem unwichtig, wenn sie erst einmal da sind. Ich selbst habe vier Kinder, die beiden Jüngsten sind Zwillinge.«

Er trocknete sich erneut die Hände ab und schob das Foto zu mir zurück.

»Für Sie gibt es also nichts bei ihm zu holen, Mädchen.«

Ich sah nach unten, in Patricks Augen, und ließ mein Haar vors Gesicht fallen, sodass es einen Vorhang um uns herum bildete. An dieser Stelle musste es aufhören. Ich konnte nicht länger seinem Schatten hinterherjagen. Schon möglich, dass er in irgendwelchen Bars hockte und über mich redete, aber wenn er mich wirklich liebte, würde er wohl kaum alles für irgendeine Story riskieren? Ich wollte zurück zu meinem Leben, wollte neue, fiktive Welten bauen, die nach der letzten Vorstellung abgerissen wurden.

»Ich weiß«, sagte ich leise zu ihm und strich mit meinem Finger an seinem Kinn entlang, »ich weiß, dass du mal wieder den schwierigsten Weg gewählt hast, und weißt du, woher ich das weiß?« Bei jedem Wort schlug ich nachdrücklich mit meiner Hand auf den Tresen. »Weil du ein verdammt schwieriger Mensch bist.«

Ich leerte den Whisky. Als ich wieder aufsah, schaukelten die Flaschen an der Wand.

»Nehmen wir einmal an«, sagte ich und lehnte mich vor, bis ich halb über dem Tresen hing. »Ein Mann reist nach Paris. Er hat Sehnsucht nach seinem Zuhause. Er sagt, dass er dorthin zurückfahren möchte, und damit ist New York gemeint, New York, Amerika. Sie sind verheiratet, also erklären Sie mir einmal, warum sich ein Mann so etwas einfach nur ausdenken sollte?«

»Schwer zu sagen«, antwortete Harry und streckte sich nach der Rumflasche.

Natürlich hieß er nicht Harry, das war lediglich ein absurder Gedanke, der mir nach dem zweiten oder dritten Whisky gekommen war: Dass Harry genauso unsterblich war wie die Bar, die er vor fast hundert Jahren eröffnet hatte – Europas erste Cocktailbar, so stand es im Klappentext eines roten Büchleins mit Rezepten, das auf dem Tresen lag und damit prahlte, dass hier der Bloody Mary erfunden worden sei.

»Er sagte, dass er etwas Schreckliches getan hätte«, fuhr der Barkeeper, der nicht Harry hieß, fort.

»Ich weiß, ich weiß, deshalb ist er ja auch hierhergereist, um etwas über Sklavenarbeit herauszufinden, weil er die ganze beschissene Welt retten will, aber das geht nun mal nicht.«

Der Bartender rührte mit einem Stirrer in einem neuen Glas.

»So unglücklich, wie der Typ aussah, dachte ich ja, er wäre seiner Frau untreu gewesen oder etwas in dieser Art. Aber wissen Sie, was er gemacht hat?«

Ich schüttelte den Kopf, und der Raum schaukelte noch bedrohlicher. Der Bartender lächelte.

»Er hatte sich heimlich etwas vom baby money geliehen. Das wäre so, als hätte er seinem Kind ein Stück Zukunft gestohlen, sagte er, und dass er das Geld zurückzahlen müsse und den Job klarmachen, bevor er wieder nach Hause fahren könne.«

Ich verschluckte mich erneut und hustete, während die Worte in mir tanzten. Er hatte sich das Geld nur geliehen. Er hatte geplant, zurückzukommen. Er hatte mich nicht betrogen.

Und dann erreichte mich der Rest der Botschaft: Deshalb war er nicht nach Hause gekommen. Er hatte mir nicht in die Augen sehen und mir sagen können, dass er das Geld unseres Kindes für eine Reportage auf den Kopf gehauen hatte, die nicht fertig wurde.

»Ich hab ihm gesagt, dass es nicht schlimm wäre«, fuhr der Bartender fort. »Nicht das Geld zählt für diese kleinen Wesen, sondern die Liebe, man muss sie bis zu seinem Tod lieben, das ist das einzig Wichtige.«

Ich griff nach dem Glas, verfehlte es allerdings, sodass es überschwappte, vom Tresen flog und zwischen den Füßen einiger britischer Fußballfans eine Bruchlandung hinlegte. »Schorry«, sagte ich.

Der Bartender fegte die Glasscherben zusammen.

»Wollen Sie einen guten Rat hören?« Er zeigte auf das Bild von Patrick. »Vergessen Sie den Typen einfach. Er ist verheiratet, er möchte Kinder. Für Sie gibt es nichts zu holen bei ihm.«

Ich nahm das Foto, über das ein Teil des Drinks gelaufen war, quer über Patricks Gesicht und weiter über das dunkle Holz in einem kleinen Rinnsal, das schließlich auf meine Knie tropfte.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, ein Taxi zu rufen«, sagte der Barkeeper, der nicht Harry hieß.

Die Tür stand einen Spalt weit offen und ließ einen Lichtstreif auf den Teppich fallen. Ich öffnete sie und gelangte in einen Durchgang, der zu einem weiteren Raum führte, viel größer als das kleine Hotelzimmer, das lediglich ein Wartezimmer gewesen war, wie ich nun begriff. Durch eine Reihe von Dachgauben flutete das Tageslicht herein. An einem Schreibtisch mitten im Zimmer saß Patrick über seinen Laptop gebeugt.

»Bezahlen wir etwa für all das?«, fragte ich. »Hast du die ganze Zeit gewusst, dass es diesen Raum gibt?«

»Irgendwo muss ich ja schließlich arbeiten«, antwortete Patrick.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du hier bist?«

»Sie haben das Kind gefunden«, sagte er, und ich wusste, dass er von dem Säugling sprach, dessen Mutter im Krankenhaus von Los Cristianos gestorben war.

»Lebt es noch?«, wollte ich fragen, doch mit einem Mal war Patrick weg. Ich ging von Raum zu Raum und suchte ihn, und die Sirenen schlugen Alarm, denn das Haus war dabei, im Fluss zu versinken. Auf dem Weg nach draußen kehrte ich um und rannte erneut die Treppen hinauf, weil ich etwas vergessen hatte. Benji war da und Duncan, der Choreograf, die Arbeit ging einfach weiter, obwohl wir gerade untergingen und das eiskalte Wasser stieg und Stockwerk um Stockwerk überflutete, während die Sirenen heulten.

Ich erwachte mit einem Ruck und hatte mich im Laken verheddert. Die Decke war auf den Fußboden geglitten, und vor dem Fenster war es nachtschwarz. Der Traum hatte ein Gefühl geweckt, das ich festhalten wollte. Etwas, das ich vergessen hatte, das mir wieder einfallen musste. Der Alarm war noch immer zu hören, und ich begriff, dass es mein Handy war, das auf dem Nachttisch blinkte und lärmte. Die Zeit auf dem Display: 01:23 Uhr.

»Wurde ja auch mal Zeit, dass ich einen von euch beiden erwische. Aber ich verstehe nicht, warum er sich nicht meldet.« Es war Patricks Mutter. »Haben wir ihm was getan? Geht es schon wieder um seinen Vater? Dass es so schwer sein kann, mal ein bisschen zu planen.«

»Ach, hallo, du bist es«, sagte ich und richtete mich kerzengerade auf.

Wenn meine Schwiegermutter mitten in der Nacht anrief, musste etwas passiert sein. Dann fiel mir ein, dass es dort, wo sie sich befand, keineswegs Nacht war. Ich sah das helle Ledersofa im Wohnzimmer vor mir, wo sie und ihr Mann stets nebeneinander saßen und alle Mahlzeiten einnahmen, wenn sie allein waren. Im Salon wurde nur gedeckt, wenn Gäste kamen. Silberne Kerzenleuchter, Blumenservietten und vier Gänge. Eleonora Cornwall war immer ein wenig zu sehr bemüht.

»Ich muss es schließlich jetzt planen, wenn ich nicht selbst in der Küche stehen will, ich muss das Essen bestellen, und sie wollen es immer so lange im Voraus wissen.«

Ich beugte mich herab, zog die Decke vom Boden und wickelte mich darin ein. Mein Kopf war kurz vorm Zerspringen, und ich hatte einen Geschmack von altem Fisch im Mund. Von welchem Essen faselte sie? Dann fiel mir ein, dass sie in ein paar Wochen ihren Hochzeitstag feierten. Den achtundvierzigsten?

»Nur weil sein Vater und er unterschiedlicher Meinung sind, muss man sich doch noch lange nicht von der Familie distanzieren. So haben wir ihn nicht erzogen!«

»Wir kommen natürlich«, sagte ich matt.

»Ja, es ist ja kein runder Jahrestag, es wird also nichts Großes.«

»Wie viele Jahre sind es inzwischen?«

»Siebenundvierzig. Und mittlerweile sind wir einfach zu alt, um uns scheiden zu lassen.«

Für kurze Zeit hatte ich ein Bild von Patrick und mir vor Augen, wie wir auf dem Sofa saßen und uns beim Essen anschwiegen, dem Fernseher zugewandt, als hätten wir genug voneinander gesehen. Mir hatte stets vor einer solchen Zeit gegraut, und jetzt wünschte ich mir mit einem Mal nichts sehnlicher, als darauf hoffen zu dürfen.

Während Eleonora davon sprach, welches Menü sie sich für den Hochzeitstag vorstellte, es sollten ja nur die nächsten Verwandten kommen, eine schlichte Veranstaltung – also ungefähr vierzehn Verwandte plus einige Nachbarn und Roberts ehemalige Kollegen aus dem Krankenhaus –, dachte ich über die Möglichkeit nach, die Wahrheit zu erzählen. Aber das hätte Patrick nicht gewollt. Er wollte vielleicht zurückkommen und seinen Pulitzerpreis vorzeigen, aber auf keinen Fall, dass sie sich ihm aufdrängten und sich Sorgen machten. Ich sah seinen Vater vor sich, wie er in seiner Bibliothek saß und sich in seine medizinische Literatur vertiefte, rund zweitausend Bände. »Das hier«, sagte er, »ist das Wissen über Leben und Tod. Das ist es, was auf dieser Welt von Bedeutung ist.« »Im Gegensatz zu dem, was ich mache?«, fragte Patrick, und schon waren sie wieder mittendrin.

Ich kroch aus dem Bett und eilte mit dem Handy in der Hand ins Bad.

»Wir melden uns, sobald Patrick aus Paris zurück ist«, sagte ich und drückte das Gespräch weg, ohne auf ihre Antwort zu warten.

Dann erbrach ich mich. Anschließend spritzte ich mir immer wieder kaltes Wasser ins Gesicht. Als ich wieder ins Bett zurückkehrte, war das Echo des Gesprächs verschwunden. Ich rückte zur Decke, die dort zusammengeknäult lag, und umarmte sie fest. Schloss die Augen und stellte mir vor, es sei Patricks Körper.

»Du Idiot«, flüsterte ich. »Begreifst du denn nicht, dass ich auf das Geld pfeife – ich will doch nur, dass du hier bist.«

Dann erinnerte ich mich plötzlich an weitere Szenen aus meinem Traum: Ich hatte ein Kind im Arm gehabt und es irgendwo im Haus zurückgelassen. Und nicht mehr gewusst wo.