TARIFA
DIENSTAG, 7. OKTOBER
Die Frau saß in der Lobby direkt hinter den Plastikflamingos und wartete auf mich. Sie war Mitte fünfzig, trug eine weiße Leinenhose und viel zu viele Ketten um den Hals. Miguel von der Rezeption zeigte sie mir mit einer Geste des Bedauerns. Er wusste mittlerweile ebenso wie sein Vater, sein Bruder, seine Frau und die Cousins und Cousinen, dass ich nicht mit Journalisten sprechen wollte. Seit die Nachricht von Patrick die Fernsehsender erreicht hatte, schützten sie mich. Nicht ein einziges kleines Cousinchen hatte sich verplappert und verraten, wo ich wohnte.
Die Frau mit den Ketten umhüllte ein Duft von Moschus, Räucherstäbchen und Rosenöl, der keinen Zweifel ließ: ein Alt-Hippie.
Ich blieb zwei Meter von ihr entfernt stehen und verschränkte die Arme.
»Ich gebe keine Interviews«, sagte ich.
Sie stand auf und streckte mir die Hand entgegen, eine warme, magere Hand mit vielen Silberringen. Die Frau war fast zwei Meter groß.
»Ich heiße Jillian Dunne«, sagte sie mit einem britischen Akzent, der an muffige Internate denken ließ. »Mein Beileid.«
»Danke und auf Wiedersehen«, erwiderte ich.
Sie lächelte milde.
»Ich bin keine Reporterin. Ich bin hier, weil ich glaube, dass es eine Person gibt, die Sie gerne treffen würden.«
Ich musterte sie von oben bis unten, Riemensandalen um sonnengebräunte Knöchel, die Perlen und Sterne, die sie sich an Ketten und Riemchen um Arme und Hals gebunden hatte.
»Sie sind nicht zufällig Therapeutin?«, fragte ich.
Die Frau lachte.
»Nein, nicht direkt. Es geht um Ihren Mann.«
»Aha. Und weiter?«
»Es wird behauptet, dass er auf einem Boot war, dass vor fast zwei Wochen in der Meerenge unterging.«
Ich schwieg und wartete darauf, was kommen würde.
»Aber die Sache ist die, dass dieses Boot niemals unterging«, fuhr Jillian Dunne fort. »Und dass Ihr Mann nicht an Bord war.«
Ich starrte sie an.
»Wie können Sie das wissen?«
Mit einer raumgreifenden Geste schlang sie ihr Tuch um den Hals.
»Kommen Sie mit.«
Sie überquerte mit langen Schritten die Straße und ging nach rechts, in Richtung Strand. Die Stadt war gerade erst erwacht und schläfrig. Die Autos parkten halb auf dem Bürgersteig, ein Mann schleppte Müllsäcke aus der Hintertür eines Geschäfts.
»Wohin gehen wir?«
Ich lief neben Jillian Dunne, deren dünne Kleidung hektisch im Wind flatterte.
»Ein paar Freunde von mir haben ein Café hier in der Gegend.«
»Und wen soll ich dort treffen?«
Sie lächelte ein wenig geheimnisvoll. Mich überkam die böse Vorahnung, dass sie mich zu einer Tarot-Tante schleifen würde, die mir die Zukunft voraussagen sollte. Oder mir selbst die Karten legen wollte.
»Wohnen Sie hier in der Stadt?«, erkundigte ich mich.
»Schon seit zwanzig Jahren.« Jillian Dunne verlangsamte ihre Schritte ein wenig und machte eine Geste, die ganz Tarifa einschließen sollte. »Damals war es hier ganz anders. Wir waren die Bohème und lebten in den Tag hinein, trampten durch die Gegend, und einige von uns blieben eben hier.« Sie lachte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ihre Stimme klang ein wenig melancholisch. »Ich könnte mich nie wieder der britischen Lebensweise anpassen.«
Wir gingen an einer Stierkampfarena vorbei, die verrammelt aussah, ringsherum wucherte das Gestrüpp. Ich musste mich beeilen, um mit ihrem Tempo mitzuhalten.
»Cornwall«, sagte Jillian Dunne und lächelte mich an, »das klingt wie ein britischer Name.«
»Es ist ein Sklavenname«, antwortete ich knapp.
»Ach so, ja, es ist natürlich der Name Ihres Mannes ... daran habe ich nicht gedacht.« Sie zupfte an ihren Ketten. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sklaven einen Nachnamen besaßen ...«
»Damals waren es auch keine Nachnamen«, erklärte ich. »Ein Teil der Sklavenbesitzer benannte die Sklaven nach ihren Heimatorten, so wie London oder Cornwall. Sie wollten damit zeigen, wem die Sklaven gehörten. Als der Vater von Patricks Ururgroßvater freigelassen wurde, registrierte man den Namen Cornwall als Nachnamen. Niemand weiß, ob es ein Fehler war, oder ob er es bewusst so entschied, weil ein freier Mann immer einen Nachnamen hat.«
Jillian Dunne blieb bei einigen Reihenhäusern stehen, die sich zum Meer hin erstreckten.
»Ein Freund von mir fand dort unten vor fast zwei Wochen eine Frau«, sagte sie. »Vorletzten Montag. Sie lag unter einem Steg am Strand, von hier aus sieht man ihn nicht richtig.«
»Vorletzten Montag?« Ich rang nach Atem.
Am selben Tag, an dem auch Patrick gefunden wurde.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie. »Ihr Mann wurde ungefähr einen Kilometer entfernt von hier gefunden.«
Das musste sie mir nicht erzählen. Ich war in den letzten Tagen so oft am Strand entlanggewandert, dass ich die Entfernungen besser einschätzen konnte als Google Earth.
»Sie war nicht tot«, fuhr Jillian Dunne fort, »aber in einem schlechten Zustand. Sie hatte hohes Fieber. Wir halfen zusammen, sie in Sicherheit zu bringen.«
»Ist das die Frau, die wir treffen werden?« Ich beschleunigte meine Schritte.
»Ich weiß nicht, wie sie heißt«, antwortete Jillian Dunne. »Sie hatte bisher kein Wort gesprochen, in all den Tagen nicht. Ich dachte, sie würde kein Englisch verstehen oder hätte einen Schock. Man ahnt ja nicht, was die Leute alles durchgemacht haben, um hierherzukommen.«
Jillian Dunne blieb vor einem terrakottafarbenen Haus stehen, dessen Sockel türkis gestrichen war. Blumen rankten über den ungestrichenen Teil hinaus. Shangri-la stand mit großen Pinselstrichen über der Tür. Café-Bar-Surfshop.
»Und hier versteckt sie sich?«
»Es ist besser, wenn Sie ihren wahren Aufenthaltsort nicht kennen.«
Jillian Dunne holte ein kleines Döschen aus der Tasche und cremte sich die Lippen ein, während sie sich in alle Richtungen umsah.
»Heute morgen brachte ich ihr wie immer das Frühstück«, fuhr sie leise fort. »Ich stellte das Tablett ab, wie ich es immer tue, und goss uns beiden eine Tasse Tee ein.«
Und dann hast du dich auf ihre Bettkante gesetzt und das arme Ding zugesülzt, dachte ich. In deiner unendlichen Güte.
Jillian Dunne legte sich die Hand auf die Brust.
»Stellen Sie sich vor, da fing sie plötzlich an zu reden. Und wissen Sie was?«
»Nein.«
»Sie spricht ausgezeichnet Englisch.«
Ein bärtiger Mann mit einem Ring im Ohr öffnete uns die Tür zum Shangri-la, und Jillian Dunne begrüßte ihn mit Küsschen auf beide Wangen. Er schloss die Tür hinter uns ab.
Das Café bestand aus einem kleinen Raum mit Tischen aus alten Surfbrettern und Wänden, die mit psychedelischen Mustern verziert waren. Jillian Dunne ging durch einen Perlenvorhang hinter der Bar. Ich folgte ihr durch eine kleine Küche und eine schmale Treppe hinauf, von der aus sie in ein Zimmer abbog.
Auf einem Stuhl hinter einem Tisch saß eine schwarze Frau, die weite, grüne Baumwollsachen trug. Die zarten, goldfarbenen Ballerinas an ihren Füßen wirkten zu klein und deplatziert.
Ich ging einen Schritt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.
»Ich heiße Ally Cornwall. Sie wollten mich treffen?«
Die Frau lächelte schwach. Sie war knapp unter dreißig, möglicherweise auch jünger.
»Ich kann meinen Namen nicht sagen«, begrüßte sie mich und schüttelte meine Hand. Sie sprach Pidgin English, genau wie James in dem Fernsehbeitrag.
Ich setzte mich auf den zweiten Holzstuhl. Das Zimmer war eng, ein fensterloser Verschlag von höchstens acht Quadratmetern. An der Wand stapelten sich einige Kartons und es roch nach kaltem Aschenbecher.
»Sie riskiert, nach Hause zurückgeschickt zu werden, wenn jemand erfährt, wer sie ist«, erklärte Jillian Dunne, die in der Tür stehen geblieben war. »Deshalb sind sie immer sehr vorsichtig damit, irgendwelche Details preiszugeben.«
Die schwarze Frau umschloss meine Hand mit ihren Händen.
»Glauben Sie diesem Mann nicht«, sagte sie. »Er war nicht auf dem Boot.«
»Welcher Mann?« Ich spürte, wie mein Herz pochte.
»Der Mann im Fernsehen. Der sich James nennt.«
»Ein Freund von mir hat ihr einen Fernseher besorgt«, warf Jillian Dunne ein.
Ich wandte meinen Blick nicht von der anderen Frau.
»Er sagt, dass er mit auf dem Boot war«, flüsterte sie. »Aber er lügt.«
»Sind Sie sicher?«, fragte ich atemlos.
Die Frau strich sich mit der Hand über die Stirn und nickte.
»Nicht auf diesem Boot«, sagte sie mit Nachdruck.
»Das Gummiboot, das unterging?« Ich lehnte mich zurück und betrachtete die Frau. Um das eine Auge herum war ihre Haut verfärbt, vielleicht von einem Schlag. »Und das wissen Sie, weil Sie selbst auf dem Boot waren?«, fragte ich langsam. »In der Nacht zum Sonntag vor zwei Wochen. Haben Sie versucht, die Meerenge zu überqueren?«
Die Frau senkte ihren Kopf und schloss die Augen.
»Sie müssen verstehen, dass es schwer für sie ist ...«, sagte Jillian Dunne und trat einen Schritt in das Zimmer.
»Ruhe.« Ich hob die Hand.
Im Untergeschoss surrte ein Ventilator. Der Bärtige klirrte mit Gläsern, und der Wind rüttelte an dem Blechdach und den Balkons. Das war alles, was man hörte.
»Sie warfen uns ins Wasser«, hauchte die Frau leise, als atmete sie aus. »Sie warfen uns hinein, um uns umzubringen.« Sie hatte noch immer die Augen geschlossen, und ich ahnte, was sie hinter den dunklen Augenlidern sah: die Wellen und das schwarze Meer und Menschen, die mit den Armen ruderten und strampelten. Mein Magen schnürte sich zusammen.
»Aber Sie haben es geschafft«, sagte ich mit einer so festen Stimme wie möglich. »Sie konnten sich an Land retten.«
Die Frau öffnete die Augen, ein schwarzer Abgrund.
»Ein Fischer hat mich aus dem Meer gezogen, wie einen Fisch.« Ich sah, wie sich ihre Gesichtsmuskeln unter der Haut spannten.
»Und Patrick Cornwall?«, fragte ich vorsichtig. »Er war nicht mit auf dem Boot?«
»Nein, er war nicht dabei.«
Ich lehnte mich über den Tisch und nahm ihre Hände.
»Sind Sie ganz sicher?«
»Drei Nächte lang saßen wir in einem Versteck und warteten«, sagte sie und richtete ihren Blick an die Wand. Dort hing ein Plakat von einem Konzert mit afrikanischen Musikern.
»Sie befahlen uns zu schweigen«, fuhr sie fort. »Wir durften nicht darüber sprechen, wer wir waren, woher wir kamen, wo wir hinwollten. In der ersten Nacht taten wir, was uns gesagt wurde. Wir schwiegen. In der zweiten Nacht schwiegen wir auch. Als ein Mädchen anfing zu weinen, schlug eine der Frauen nach ihm. Ich hörte den Schlag. ›Schweig‹, sagte sie, ›das Heulen hilft dir nicht, nach Europa zu kommen‹. In der dritten Nacht, als die Dunkelheit so dicht war, dass wir unsere Gesichter kaum sehen konnten, begann einer von uns, seinen Namen zu flüstern. ›Ich heiße Peter‹, sagte er. ›Peter Ohenhen‹. Die anderen zischten, er solle den Mund halten, er werde die Schlepper anlocken, er könne sich Schläge einhandeln, weil er die Regeln brach, sie würden uns alle verprügeln. Doch dann flüsterte eine weitere von uns. ›Ich heiße Wisdom, Wisdom Okitola.‹ Und schließlich sagte einer nach dem anderen seinen Namen, erst leise, sodass ihn nur die, die am nächsten saßen, hören konnten, dann lauter, die Namen schwebten wie Geister durch den Raum. Teyo, Zaynab, Catherine, Toyin ... Wir sagten nicht, wo wir herkamen oder wo wir hinwollten, nur den Namen. Ein Junge begann, von seiner Reise zu berichten, ›sei still‹, sagten die anderen. ›Wir sind alle gereist, und deine Reise ist nichts anderes als die eines jeden anderen.‹ Dann sagte keiner mehr etwas, doch als die Nacht um war, wussten wir alle die Namen der anderen. ›Ich heiße Mary Kwara‹, flüsterte ich.«
Sie trocknete sich die Augen mit dem Ärmel und richtete ihren Blick erst auf mich, dann auf Jillian Dunne, die noch immer an die Wand gelehnt dastand.
»Ich heiße Mary Kwara.«
»Wie viele wart ihr?«, fragte ich leise.
»Zwölf. Im Boot waren wir zu zwölft, neben den verrückten Männern. Sie waren zu dritt. Daran musste ich die ganze Zeit denken. Es waren nur drei. Eigentlich hätten sie im Meer liegen müssen.«
Die Frau zog die Knie ans Kinn und schlang ihre Arme darum. Das eine Bein war mit einer Bandage verbunden. »Genau so saßen wir, zusammengezwängt.« Ich starrte auf die goldenen Schuhe an ihren Füßen, die nicht aussahen, als gehörten sie zum Rest ihres Körpers. »Er hieß Taye, Taye Lawal, er, der mir gegenübersaß, er war noch ein Junge. Ich flüsterte alle Namen vor mich hin, einen nach dem anderen, während wir auf dem Meer dahinschaukelten.«
Mary Kwara blickte zur Decke hinauf und schwieg, dann ließ sie ihre Beine wieder auf den Boden sinken.
»Kein Patrick Cornwall«, sagte sie und sah mich an. »Es gab keinen Amerikaner.«
»Aber es muss dunkel gewesen sein. Hat er vielleicht einen anderen Namen gesagt?«
»Die Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit«, antwortete die Frau mit fester Stimme. »Ich habe das Bild im Fernsehen gesehen. Er war nicht dabei.«
Ich schlug mit der Hand auf den Tisch und stand auf.
»Ich wusste es«, sagte ich und drehte mich in dem engen Raum einmal um die eigene Achse, setzte mich erneut auf den Stuhl und fixierte Mary Kwara.
»Das müssen Sie der Polizei erzählen. Das verstehen Sie doch?«
Die Frau schüttelte den Kopf, rutschte ein Stück nach hinten.
»Keine Polizei«, flüsterte sie.
Ich beugte mich zu ihr vor.
»Mein Mann wurde ermordet«, sagte ich. »Er wollte solche Schurken wie diese Männer, die euch ins Wasser geworfen haben, drankriegen. Wollen Sie denn nicht, dass die ins Gefängnis kommen?«
Mary Kwara hielt sich die Hände vors Gesicht.
»Keine Polizei«, wiederholte sie.
Jillian Dunne ging zu der Frau und legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Es reicht jetzt«, sagte sie.
»Lassen Sie sie selbst sprechen«, zischte ich.
»Sie kommt aus Nigeria«, sagte Jillian Dunne. »Wenn sie sich offenbart, wird sie zurückgeschickt. Sie hat kein Recht darauf, in Spanien zu bleiben und auch in keinem anderen EU-Land.«
Ich versuchte erneut, Mary Kwaras Blick einzufangen.
»Sie sind die Einzige, die das hier weiß«, sagte ich. »Vermutlich sind Sie die einzige Überlebende von allen Passagieren des Bootes.«
Ich sah, wie tief in den schwarzen Augen etwas erlosch, als würde es abgeschaltet.
»Sie sind die Einzige, die etwas erzählen kann. Diese Schurken kommen ungeschoren davon. Sie haben meinen Mann ermordet, verstehen Sie?«
Ich sah von der schwarzen Frau zur weißen, die noch immer beschützend ihre Hand auf die Schulter der anderen legte.
»Sie braucht doch nicht zu sagen, wo sie herkommt«, flehte ich Jillian Dunne an. »Sie muss nur erzählen, was sie mir erzählt hat.«
»Und wer sollte mir glauben?«, entgegnete Mary Kwara und stand auf. »Wie soll jemand entscheiden können, was die Wahrheit ist, wenn ich in einer anderen Angelegenheit lüge?«
Die grünen Kleider, die um ihren Körper wallten, sahen aus, als stammten sie aus Jillian Dunnes Garderobe. Der gleiche Duft nach Moschus und Rosen.
»Ich habe alles gesagt, was ich sagen kann«, fuhr Mary Kwara fort und sah zu Boden. »Vor sieben Monaten habe ich mein Zuhause verlassen. Ich bin noch nicht am Ziel.«
Ich ballte die Fäuste.
»Sie können nicht nur an sich denken. Hier geht es um Tausende Menschen. Patrick wollte darüber schreiben, und jetzt ist er tot.«
Mary sah zu Boden.
»Es tut mir leid.«
»Jetzt hören Sie auf, sie unter Druck zu setzen«, sagte Jillian Dunne und trat zwischen uns. »Sie ist bereits ein großes Risiko eingegangen, indem sie hierher kam, um Sie zu treffen.«
Ich sank wieder auf den Stuhl.
»Warum erzählen Sie mir das dann überhaupt?«, fragte ich. »Ich kann nichts davon verwenden. Niemand wird mir glauben.«
»Er war Ihr Mann«, antwortete Mary Kwara. »Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Und Jillian Dunne legte beschützend die Arme um sie.
»Nico fährt dich zurück«, sagte sie leise zu der Frau.
Als der Perlenvorhang um mich herum rasselte, während ich nach draußen ging, hörte ich Jillian Dunne rufen: »Ich verlasse mich darauf, dass Sie das nicht weitertragen.«
Sobald es ein Uhr in Europa und acht Uhr morgens in New York war, rief ich bei The Reporter an. Richard Evans war noch nicht in der Redaktion. Ich biss mir auf die Lippen und brachte eine Stunde damit herum, durch die Zeitungen im Internet zu surfen.
Die Artikel waren geschrumpft und in die Marginalien verdrängt worden. Die Perspektive hatte sich verschoben. Der Immigrant James wurde fleißig zitiert, Patrick hingegen nicht mehr so oft erwähnt wie vorher. Die Formulierung »es besteht der Verdacht, dass er ermordet wurde« war in »starb bei einer Recherche« geändert worden. Jetzt ging es eher um das gesunkene Boot und den Schiffsverkehr aus Afrika im Allgemeinen. Vor zwei Tagen waren in der Nacht zweihundert Einwanderer in der Meerenge zwischen Somalia und dem Jemen umgekommen, Äthiopier und Somalier, die hofften, in Saudi-Arabien eine Stelle als Gastarbeiter zu finden.
Die Nachricht von Patricks Tod geriet in Vergessenheit.
Ich nahm das Frühstück mit auf mein Zimmer. Die Mutter oder Schwiegermutter oder Tante des Portiers tätschelte mir die Hand und wollte auf keinen Fall Geld dafür haben.
Um halb zehn Uhr New Yorker Zeit war Evans endlich im Büro.
»Es ist eine Lüge«, rief ich triumphierend, kaum dass er sich gemeldet hatte. »Patrick war gar nicht auf dem Boot.«
»Ally Cornwall«, sagte er mit einem müden Tonfall. »Ich verstehe ja, dass Sie trauern und so weiter, aber den Journalismus überlassen Sie bitteschön mir.«
»Aber ich habe eine Zeugin getroffen, eine Überlebende. Weder Patrick noch dieser James, der Immigrant, waren mit in dem Boot, sie ist sich ganz sicher.«
Er seufzte laut.
»Ist sie bereit, damit an die Öffentlichkeit zu gehen? Tritt sie mit Namen und Bild auf?«
»Natürlich nicht. Sie ist illegal ins Land gereist, sie versteckt sich.«
»Jetzt hören Sie mir mal zu.« Im Hintergrund schlug eine Tür zu, um ihn herum wurde es still. »Ich habe meine Leute in die halbe Welt ausgesandt, um Ihre Geschichte zu bestätigen, und nichts davon war stichhaltig.«
»Was meinen Sie?« Ich ließ mich aufs Bett fallen, in meinem Ohr rauschte es, oder war es der dämliche Wind. »Was heißt hier nicht stichhaltig?«
»Ich kann die Leute nicht in der Zeitung als Sklavenhändler oder Mörder bezichtigen, ohne Beweise dafür zu haben, das müssen Sie verstehen. Die Zeitung kann sich nicht an irgendeiner privaten Vendetta beteiligen.«
»Aber Arnaud Rachid ...?«
»Leitet eine Organisation, die sich für offene Grenzen einsetzt, hat aber nie illegale Einwanderer bei sich versteckt.«
»Klar, dass er das sagt.«
»Und er kennt auch keine Frau, die Nedjma heißt.«
»Er ist mit ihr zusammen, zum Teufel.«
Ich spürte, wie alles um mich herum zu schwanken begann. Warum log Arnaud, er wollte diese Geschichte doch auch an die Öffentlichkeit bringen? Nedjma, dachte ich, sie ist untergetaucht, sie ist zu sehr in all das verstrickt, und er schützt sie. Ich hätte für Patrick dasselbe getan. Außerdem hatte Nedjma allen Grund, wütend zu sein, denn ich hatte das gebrochen, was sie als unsere »Vereinbarung« bezeichnete. Ich hatte die Dokumente nicht zu ihr nach Paris geschickt, sondern nach New York, an die Zeitung. Sie gehörten zu Patricks Geschichte. Er war für diese verdammten Dokumente gestorben.
»Und diese Anwältin, von der Sie sprachen, Sarah Rachid: Sie verweist auf die Schweigepflicht und sagt keinen Pieps. Wir haben sogar mit dem Kommissar geredet, der die Ermittlungen über den Hotelbrand leitete. Es konnte zweifelsfrei festgestellt werden, dass der Brand durch einen Kurzschluss ausgelöst wurde.«
»Die Polizei ist korrupt«, entgegnete ich leise.
Ich hörte ja selbst, dass es nicht überzeugend war.
»Und dieser Unternehmer, den Sie des Mordes bezichtigen«, fuhr Evans fort und raschelte mit irgendwelchen Papieren, »ist gerade als ›Erneuerer der europäischen Wirtschaft‹ prämiert worden, von einer Organisation in Brüssel, die ...« Er blätterte weiter. »Ich habe es hier irgendwo, aber egal. Wir dürfen froh sein, dass uns niemand für das verklagt hat, was wir bereits im Internet veröffentlicht haben.«
Du Feigling, dachte ich. Hockst da und hast Angst vor der Geschäftsführung.
»Sie haben doch nicht mal Namen genannt.«
»Nein, zu unserem großen Glück. Dieser Lobbyist, wie hieß er noch ...«
»Guy de Barreau.«
»Er hat jedenfalls sofort mit dem Gesetzbuch gewedelt, als unser Stringer, Frau Kenney, fabulierte, dass er mit den Sklavenhändlern unter einer Decke stecke.«
»Was sagt Alain Thery?«, fragte ich. »Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Aber ja. Kenney hat ihn telefonisch auf irgendeiner Yacht in Puerto Banus erreicht. Er wollte keinen Kommentar abgeben. Er traf Patrick Cornwall, stufte ihn aber als unseriös ein und lehnte mehrere Interviewanfragen ab. Er behauptet, Cornwall habe ihn verfolgt, und so weit ich sehe, stimmt das sogar.«
Ich stand langsam auf, wie im Halbschlaf, und öffnete die Balkontüren, um frische Luft zu schnappen. Der Wind rüttelte einige Meter weiter an dem Hotelschild, dessen Halterungen quietschten. Patricks Geschichte stürzte ein wie ein schlecht konstruiertes Bühnenbild. Eine Wahrheit fiel in sich zusammen, und sofort tauchte eine neue auf, die die alte Wahrheit mit einem Schlag in eine Lüge verwandelte.
»Aber Helder Ferreira«, sagte ich, »der Kommissar, den ich in Lissabon traf – er weiß, dass Michail Jetjenko ermordet wurde.«
»Konnte nicht bewiesen werden«, erwiderte Evans. »Jetjenko wurde beerdigt. Und diese Dokumente, die Sie geschickt haben, sprechen ja nicht für sich.«
»Aber Vera Jetjenkova, seine Witwe ...«
»Bitte?« Ich fuhr zusammen. »Was meinen Sie?«
Und während Richard Evans erzählte, brach die Dunkelheit über mich herein, ich blickte hinaus und nahm mit einem Mal die Nischen in der Straße wahr, die Pforten, die zu leeren Grundstücken führten, die Schatten hinter den Müllcontainern ein Stück entfernt. Erkannte, dass mich jemand beobachten konnte. Dass ich vielleicht als Nächste an der Reihe war.
Sie hatten einen Reporter von London nach Lissabon geschickt, der den Weg zum Haus in Alfama gefunden und geklingelt hatte, doch niemand hatte ihm geöffnet. Schließlich war eine Nachbarin gekommen und hatte angeboten, die Haustür aufzuschließen, sie leerte den Briefkasten für den anderen Mieter, der gerade auf Reisen war.
Vera Jetjenkovas Tür war nicht verschlossen.
Sie fanden sie im Wohnzimmer auf dem Boden. Gestorben an einer Überdosis Schlafmittel in Kombination mit großen Mengen Alkohol. Die Polizei ging von Selbstmord aus.
Ich ging rückwärts ins Zimmer hinein und blieb hinter den Gardinen stehen, den Blick auf die Straße gerichtet, meine Beine zitterten.
»Wir haben mit der spanischen Polizei gesprochen«, fuhr Richard Evans fort. »Sie gehen davon aus, dass die Angaben des Immigranten glaubwürdig sind. Genau wie er sagt, ging in jener Nacht ein Boot unter, und viele der Flüchtlinge starben.«
»Das stand in den Zeitungen«, sagte ich, »jeder hätte das behaupten können.«
»Im Unterschied zu allen anderen in dieser Geschichte tritt er mit Name und Foto auf. Hören Sie ...« Evans machte eine Pause und murmelte etwas zu irgendjemandem, der sich im Zimmer befand. Ich verstand nur »zwei Minuten« und begriff, dass dieses Gespräch bald beendet sein würde.
»Wir haben diesen James überprüft«, fuhr er fort. »Der Typ hält sich illegal im Land auf, er wurde mit dem Bus zu einem Internierungslager gefahren und wird innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ausgewiesen. Er hat mit seiner Aussage alles aufs Spiel gesetzt.«
»Sie haben ihn gekauft«, entgegnete ich, »begreifen Sie das denn nicht, genau so arbeiten sie. Er hat mehr Geld bekommen, als er in Europa bis zu seinem Lebensende verdient hätte. Sie haben diesen Taschenverkäufer bestochen, damit er Patrick reinlegt, und jetzt diesen Typen, damit die Polizei aufhört, weiter in dem Mordfall zu ermitteln, sehen Sie das denn nicht? Sie waren doch selbst mal Journalist, jedenfalls irgendwann einmal, vor langer Zeit.«
Einige Sekunden lang blieb es still am anderen Ende. Als Richard Evans erneut zu sprechen begann, war seine Stimme hart und blank wie Stahl, schneidend wie ein Messer.
»Das ist eigentlich genau das, was man von Freien wie Cornwall befürchten muss«, sagte er. »Übertreiben so sehr, dass es sie zerreißt ... wie typisch, sich mit einem Boot in lebensgefährliche Gewässer zu begeben!«
»Ich sagte doch gerade, dass er das nicht getan hat.«
»Ihre Karriere scheitert, und dann ziehen sie hinaus und riskieren ihr Leben in irgendeinem dämlichen, vergessenen Krieg, weil sie glauben, damit Preise zu gewinnen.«
Ich hatte ein Treffen mit Tom McNerney auf der Terrasse des Café Central vereinbart. Er sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, mit aufgeschwemmter, roter Haut und ziemlich übergewichtig. Zu viele Zigaretten, zu viel Bier, ein bequemes Leben. Er drückte mich mit seinen kräftigen Armen an seine Brust.
Sag, dass du Neuigkeiten für mich hast, dachte ich.
Ich bestellte einen Salat und Mineralwasser, er ein Omelette und ein Steak. Als der Kellner den Brotkorb und das Olivenöl abgestellt hatte und in der Bar verschwunden war, räusperte Tom McNerney sich.
»Tja, also, es sind erst die vorläufigen Ergebnisse der Obduktion da«, begann er und putzte sich mit der Serviette die Nase. »Ich musste ihnen ziemlich in den Hintern kriechen, um sie zu bekommen.«
Ich blickte ihn an und wartete. Ein räudiger Hund schnüffelte auf der Suche nach Essensresten unter unserem Tisch herum.
»Er starb durch Ertrinken, so viel können sie auf jeden Fall sagen.« McNerney drehte sich weg und hustete in seine Armbeuge. »Eine Wunde, hier hinten, die aber schon kurz vor seinem Tod verheilt war.« Er rieb sich mit den Fingern an seinem eigenen Hinterkopf.
»Sie haben ihn in Paris überfallen«, sagte ich, »damit er aufhörte, in ihren Angelegenheiten herumzuschnüffeln. Sie prügelten auf ihn ein.«
Das Essen wurde serviert. McNerney befestigte seine Serviette wie ein Lätzchen am Hemdkragen.
Ich stocherte im Couscous. »Und was noch?«
»Einige Schürfwunden, aber die können im Meer entstanden sein, als er mit einem Boot zusammenstieß oder mit Treibholz.«
Er versuchte, sein Fleisch zu salzen, doch der Wind fing das Salz auf dem Weg zum Teller auf, die weiße Prise wurde zur Seite geweht und über den Tisch verstreut.
»Verdammte Küste«, sagte Tom McNerney und stellte den Salzstreuer mit einem Knall auf den Tisch. »Wussten Sie, dass jetzt der Levante bläst, dem Mythos nach treibt er die Menschen in den Wahnsinn.«
Er schob sich einen Bissen in den Mund, was ihn jedoch nicht daran hinderte, weiterzusprechen.
»Vor zwei Wochen, als die Leiche ... ich meine, als Ihr Mann an Land gespült wurde, wehte der Poniente, der Atlantikwind aus dem Westen.« Er tupfte sich etwas Soße vom Mundwinkel. »Doch das Meer ist unberechenbar, man kann nicht genau sagen, wo er ins Wasser fiel.«
»Es muss noch andere Anhaltspunkte geben«, sagte ich. »Was auch immer behauptet wird – ich weiß, dass Patrick nicht auf dem Boot war.«
Tom McNerney schüttelte den Kopf und sah mich mit betrübtem Blick an.
»Patrick Cornwall ertrank. Das ist das Einzige, was sich beweisen lässt.«
Ich ging durch die Stadt, kam erneut an der Blue Heaven Bar vorbei und gelangte schließlich zum Hafen. Dort saß ich lange und beobachtete die Fähre Tarifa – Tanger, die auf das offene Meer zusteuerte.
Wenn Mary Kwara es wagen würde, an die Öffentlichkeit zu gehen ... Und im nächsten Moment fiel mir ein, dass auch sie käuflich war. Sie hatte ihr Leben riskiert, um nach Europa zu gelangen und dort Geld zu verdienen.
Ich stand abrupt auf und ging los. 2 878 Dollar. Ich hatte die Ausgaben genau im Auge behalten, als wäre das Wesen in meinem Bauch ein Wirtschaftsprüfer, der mich eines Tages zur Verantwortung ziehen würde. Das würde nie reichen, aber ich hatte noch sieben- oder achthundert Euro von meinem Honorar übrig und eine kleine Summe auf meinem eigenen Konto. Außerdem konnte ich die Wohnung verkaufen. Mir im schlimmsten Fall etwas von Patricks Eltern leihen. Letzten Endes mussten sie doch dasselbe wollen wie ich – dass Patricks Mörder ins Gefängnis kam.
Als ich mich dem Shangri-la näherte, war in einem Fenster Licht zu sehen, doch die Tür war abgeschlossen. Ich schaute hinein. Um einen der Surfbrett-Tische hockte eine Gruppe auf Kissen und rauchte.
Ich klopfte an. Der Mann mit dem Bart öffnete mir die Tür. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er mich sah. Er starrte mich wütend an.
»Sie? Was zum Teufel wollen Sie?«
Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, seine Attacke kam völlig unvermittelt.
»Ich muss mit Jillian Dunne sprechen«, antwortete ich, »aber ich weiß nicht, wo ich sie finden kann.«
»Ich glaube aber kaum, dass Sie mit Ihnen sprechen möchte.«
Die Surfer standen auf und versammelten sich hinter ihm.
»Entschuldigung, aber was ... ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen.«
Nico beugte sich zu mir, seine Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt.
»Sie haben sie abgeholt. Sie ist weg, dank Ihnen.«
»Wer ... Jillian ... Mary Kwara ...? Das darf doch nicht wahr sein!« Niemand entkam. Ich lehnte mich an die Wand und sah direkt aufs Meer. Auf der Insel blinkte der Leuchtturm und schoss Lichtpfeile in die Dunkelheit.
»Jillian ist ganz verstört«, sagte er, »sie hat alles für diese Frau getan.«
Ich sah ihn an.
»Das heißt, sie lebt?«
»Jillian? Ja ...«
Ich griff nach seinem Handgelenk.
»Bringen Sie mich zu ihr. Bitte!«
Jillian Dunne wohnte in einem hübschen, weißverputzten Reihenhaus, an dessen Mauer eine Bougainvillea mit ihren lilafarbenen Blüten rankte. Sie saß aufgelöst und verheult auf dem Sofa und blickte nicht einmal hoch, als Nico meine Ankunft ankündigte.
»Sie sagt, sie hätte nichts verraten«, knurrte er, drehte sich um und ging.
Jillian Dunne blickte starr geradeaus.
»Sie ist weg«, sagte sie. »Sie haben ihr Angst eingejagt.«
Ich setzte mich an den äußersten Rand des Sofas. Zwang mich zur Ruhe, obwohl ich hätte schreien mögen. Sie hatten Mary Kwara gefunden, die letzte Zeugin. Sie hatte die Überfahrt nur überlebt, um zu sterben, und es war mein Fehler. Ich musste die Männer auf irgendeine Weise selbst zum Versteck geführt haben, ohne zu wissen, wo es lag. Ich dachte an Patrick, Jetjenko, Salif; am Ende hatten sie alle gefunden.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, flüsterte ich.
Jillian Dunne ließ sich zurücksinken und blickte mit leeren Augen an die Decke.
»Sie war weg, als ich zurückkam. Nico fuhr sie heute Vormittag zurück, und dann ging ich einkaufen ...« Ihr Gesicht verzog sich zu einem erneuten Schluchzen. »Ich war in verschiedenen Läden shoppen ... ich habe das hier für sie gekauft.« Sie öffnete ihre geballte Faust, darin lag ein Schmuck aus Silber. »Ich war zu lange weg«, sagte sie, »mehrere Stunden lang bin ich nur durch die Stadt gestreift und habe mit den Leuten geplauscht, ich kenne hier doch so viele ...«
»Was ist Ihrer Meinung nach passiert?«
Sie starrte mich verständnislos an.
»Sie haben sie natürlich mitgenommen. Die Polizei. Und jetzt sitzt sie wahrscheinlich draußen auf der Isla de las Palomas, oder sie haben sie ins Internierungslager gesteckt; jedenfalls wird sie ausgewiesen.«
Wenn es nur das wäre, dachte ich, sagte aber nichts.
Jillian Dunne brach weinend zusammen, und ich saß einige Minuten da und betrachtete ihren Rücken, der bebte, vor Trauer oder Schuldgefühlen, was auch immer das Schlimmere war. Ich versuchte so zu denken, wie sie dachten, Alain Thery und seine Männer. Eiskalt. Ging im Kopf durch, wer alles hatte sterben müssen. Es lag eine Logik dahinter. Sie töteten nicht planlos. Sie waren Geschäftsleute, keine Psychopathen. Sie rächten sich, verwischten Spuren, beseitigten Informationen. Sie konnten über Mary Kwara herfallen, aber sie hatten kaum einen Grund, Jillian Dunne zu bedrohen.
Ich streichelte ihr leicht über die Schulter. Dann stand ich auf und ging.
Eine Viertelstunde vom Hotel entfernt begann ein Mann mir zu folgen, er tauchte aus dem Nichts auf. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es ein Mann war, ich erkannte es an der Schwere seiner Schritte und etwas Unbestimmtem in der Luft. Vibrationen der Bedrohung und herannahenden Gefahr, die zu erkennen man lernt, wenn man in New York aufwächst.
Ich beschleunigte meine Schritte, als ich an einem verwilderten Grundstück vorbeilief. Hörte meine eigenen Gummisohlen auf dem Asphalt, meinen Atem. In den umliegenden Häusern sah ich nur dunkle Fenster, heruntergelassene Gitter und Jalousien.
Er war höchstens zehn Meter von mir entfernt. Eine schwarze Katze schlich vor mir über die Straße. In der Ferne sah ich das Hotelschild und überlegte, das letzte Stück zu sprinten. Doch es stellte ein Risiko dar zu rennen, es verriet meine Angst. Es wäre geradezu eine Aufforderung zum Angriff.
Also stattdessen mit entschlossenen, schnellen Schritten gehen. Nur noch an den Müllcontainern vorbei, dann war ich an der Kreuzung, von der aus man freie Sicht auf die Hauptstraße hatte.
In der nächsten Sekunde spürte ich, wie jemand von hinten meinen Arm packte. Ein weiterer Mann tauchte auf und versperrte mir den Weg, er musste sich hinter den Containern versteckt haben. Eine Mütze verdeckte seine Augen. Der Mann hinter mir war so nahe, dass ich seinen Atem an meinem Haar spüren konnte. Er war einen Kopf größer als ich. Ich schrie, doch er presste mir seine Hand vor den Mund, einen Handschuh aus hartem Leder, der nach Öl roch. Ich trat um mich und strampelte, um mich loszureißen, doch der Griff wurde immer fester. Als ich rückwärts geschleift wurde, schoss mir in einem Moment des Schwindels durch den Kopf, dass ich denselben Griff schon einmal an meinem Arm gespürt hatte, nicht ein- sondern sogar zweimal. Als ich aus dem Büro in Paris geworfen wurde und später, als sie mich aus dem Plaza Athénée beförderten. Das ist nicht möglich, dachte ich, sie können nicht hier sein. Es sind nur ein paar Verrückte aus dem Ort. Und ich biss die Zähne zusammen: Bewahre einen kühlen Kopf, schlag sie, so hart du kannst, tritt ihnen in den Schritt und lauf davon.
Sie zerrten mich in das hohe Gras und Gestrüpp des verlassenen Grundstücks. Es lagen Planken und anderer Schrott herum. Der Mann, den ich noch immer nicht gesehen hatte, drückte mich gegen eine Wand und presste seinen Mund gegen mein Ohr.
»Du gibst also nicht auf, du Hure.«
Er sprach Französisch, und mit einem Mal wurde mir siedend heiß bewusst, dass ich die Letzte in der Reihe derjenigen war, die alles wussten. Und ihre Geschäfte stören konnte.
»Übersetze, was ich sage, damit die Hure ja nichts verpasst.«
Mein Arm wurde nach oben gebogen, mein Gesicht gegen Mörtel und Stein gedrückt.
»Du sollst verdammt noch mal nicht mehr rumschnüffeln. Noch ein Wort, und du ...« Er drückte die Hand gegen meine Kehle, während er seine Drohungen zischte, doch ich hörte nicht mehr zu. Jetzt ist alles aus, dachte ich, so wird es enden. Dann wurde mein Hals nach hinten gebogen, und ich bekam einen brutalen Stoß in den Rücken und landete mit dem Gesicht im Dornengestrüpp. Etwas Hartes schnitt mir ins Knie. Das Kind, dachte ich. Oh Gott, er weiß, dass ich schwanger bin.
»Sollen wir der amerikanischen Hure geben, worum sie uns anbettelt?«
Zweige knackten, dann hörte ich den Atem des Mannes über mir.
Er riss an meinem Arm und warf mich auf den Rücken, und erst da sah ich sein Gesicht. Ein breites Gesicht, mit einer Nase, die zu klein wirkte. Es war tatsächlich derselbe Mann, der Alain Therys Büro in Paris bewacht und an seinem Tisch im Plaza Athénée gesessen hatte. Eine Hand öffnete meinen Gürtel und er keuchte schwer, als er – oder vielleicht auch der andere – mir die Jeans herunterzog.
Ich schrie, als er in mich eindrang, doch mein Schrei wurde von dem Handschuh erstickt, der sich in meinen Mund schob.
Mama, dachte ich, während mein Kopf auf den Boden gehämmert wurde, und in meinem Inneren hörte ich mit einem Mal ihren Schrei, der zwischen den Steinwänden des französischen Hauses widerhallte, ich hatte gesehen, wie Monsieur sie auf das Bett warf, bevor er mich einschloss.
Man überlebt, dachte ich und drehte den Kopf weg. Starrte auf Disteln und leere Flaschen. Ihr kriegt mich nicht, denn ich bin nicht hier.
Die Hände des Mannes drückten sich um meinen Hals. »Du sollst mich ansehen, Hure«, brüllte er auf Französisch, und seine Hände ließen meine Kehle los, als er mir ins Gesicht schlug. Ich richtete meinen Blick auf ihn, sah ein Stück rotgeäderte Haut mit hervorquellenden Augen und einem Mund, aus dem Laute drangen, »du verdammte Fotze«, als er erneut in mich eindrang und dann schwer wie ein Sandsack über mir zusammenfiel, sodass die Luft aus mir herausgepresst wurde und ich dachte: Jetzt ist es aus.
Hauptsache, sie brechen mir nicht die Arme.
Doch der Mann stand auf und zog seine Hosen hoch, feixend. Er lachte zu seinem Komplizen herüber, der im Tor zur Straße stand. Ich rollte mich wie ein Embryo zusammen.
»Ich glaube, die Hure hat genug für heute«, sagte einer von ihnen auf Französisch.
Der andere lachte. »Vielleicht will sie den hier aber auch von hinten spüren.«
Der Sicherheitsmann, oder was auch immer er war, bückte sich und riss an meinen Haaren, zwang mich, ihn erneut anzusehen.
»Übersetze, was ich jetzt sage, damit der Hure nichts entgeht«, bellte er dem anderen zu. Dann atmete er mir ins Gesicht, er stank nach Öl und fauligem Essen.
»Verpiss dich nach Amerika«, sagte er, »sonst werfen wir dich auch ins Meer. Aber dich wird niemand finden.« Er schleifte mich ein Stück an den Haaren über den Boden. »Oder was meinst du«, sagte er zu dem anderen, »sollen wir sie lieber in einem Bordell in Moldawien aufwachen lassen? Dort könntest du noch einiges lernen, du miese Yankee-Hure.«
Er riss meinen Kopf nach hinten.
»Der Chef will keine weiteren amerikanischen Leichen in diesem Kaff sehen«, zischte er, räusperte sich ausführlich und spuckte mir ins Gesicht. »Das ist der einzige Grund, weshalb du noch am Leben bist.«
Dann warf er mich wieder zu Boden.
»Versuch nicht, dich zu verstecken. Wir finden dich überall.«
Ein Tritt traf mich direkt zwischen den Beinen, und ich krümmte mich zu einem kleinen Ball zusammen. Schlang die Arme fest um meinen Bauch. Kniff die Augen zusammen und wartete auf den nächsten Tritt. Wartete. Nichts geschah.
Zweige knackten, dann wurde es still.
Ein Auto, das wegfuhr.
Motorengeräusche, die sich entfernten.
Erst da öffnete ich die Augen und begann, den Boden nach meiner Hose abzutasten.
Als ich die Stadt hinter mir ließ, wurde es still. Ein paar Möwen erhoben sich kreischend in die Lüfte, dann gab es nur noch mich und das Meer. Den Rhythmus der Wellen. Es gab nur die Dunkelheit und den Sand und dornige Gewächse, die mir in die Waden schnitten. Die schwarzen Steine ruhten wie schlafende Tiere im Wasser, und ringsherum atmete das Meer, hob und senkte seinen gewaltigen Bauch.
Ich zog mich aus. Legte Jacke, Pullover, Jeans, Schuhe und Strümpfe auf einen Stapel. Der Wind peitschte den Sand gegen meinen Körper. Nur in Unterhose und BH ging ich ins Wasser hinaus. Die Wellen schwappten über meine Füße, Fesseln, Waden. Das Wasser war plötzlich mild, beinahe warm. Ich meinte, das Meer singen zu hören.
Neben dem schwarzen Steinpier, auf der rechten Seite, auf halbem Wege, setzte ich mich und ließ meine Hände ins Wasser sinken, streichelte den Boden. Hier, zwischen den Steinen eingeklemmt, hatte sein Körper gelegen. Ich versuchte, den Sand aufzufangen, doch er glitt zwischen meinen Händen hindurch.
Entschuldige, flüsterte ich, entschuldige, dass ich nicht gut genug war.
Und ich legte mich ins Wasser, und der Sand formte sich um meinen Körper. Die nächste Welle überrollte mich, und das Salzwasser drang mir in Mund und Nase.
Wo bist du, flüsterte ich. Gibt es ein Danach?
Die Welle zog sich zurück, und die Luft hüllte mich in Kälte, bis die nächste Welle kam und ich seine Hände spürte, warm, weich an meiner Haut, und der Sand unter mir zog sich zurück. Ich schloss die Augen.
Alles für dich, dachte ich. Sag mir, was ich tun soll, ich weiß es nicht mehr. Lass mich nur wissen, ob du da bist oder ob alles verschwindet.
Es brauste in meinen Ohren, ein dumpfer Ton, der an Stärke zunahm. Ich stand so schnell auf, dass sich alles drehte, und kletterte auf die Steine zurück, ließ mich von der Kälte auf meiner nassen Haut einhüllen. Der Gesang in meinen Ohren war zu einem Dröhnen angeschwollen, einem Orkan aus Stimmen. Wie leicht es doch gewesen wäre, sich einfach wegspülen zu lassen.
Zu vergessen.
Im Licht des Leuchtturms sah ich, wie sich die rasenden Wellen weiter entfernt gegen die Klippen warfen. Und ich musste an Mary Kwara denken, die jetzt vielleicht im Meer lag und an Land gespült wurde, heute oder morgen oder wann auch immer es dem Meer beliebte.
Der Wind trug die letzten Gedanken fort. Die Unterwäsche war noch nass, aber mein Körper war getrocknet und eiskalt. Ich watete zum Strand zurück und spürte nichts als das lauwarme Wasser, das sich um meine Fesseln schnürte, mich lockte und an mir zerrte.