14. Vertrauen gegen ein Geheimnis
Am nächsten Morgen waren wir alle zeitig auf, dennoch fühlte ich mich ausgeschlafen, denn nach dem kleinen Abenteuer gestern Abend war ich früh zurückgekehrt. Armin war erst später nachgekommen, er hatte gesagt, er wollte der Emira ein paar Dinge berichten und außerdem ihr Augenmerk auf einen gewissen Rekul lenken, einen Hauptmann ihrer Reiterei.
Er war wohl noch in der Nacht zurückgekehrt, ich fand ihn in der Küche, in eine Unterhaltung mit Serafine vertieft, als Leandra und ich die Küche betraten.
In der letzten Zeit hatte ich nicht gerade viel gegessen und war von einem Heißhunger erfüllt. Diesmal erwies ich dem Frühstück, das uns Afala bereitet hatte, allen Respekt.
Ohne dass es eines Zeichens bedurfte, verließ Afala die Küche, nachdem sie jedem von uns noch einmal nachgeschenkt hatte.
»Wir brauchen einen Raum, in dem wir nicht belauscht werden können«, sagte ich und biss herzhaft in ein Brot.
»Ihr besitzt so einen, im Keller«, antwortete Armin. »Es ist der Raum, in dem man damals die frisch geprägten Münzen gelagert hat.«
Wir sahen alle einander an, dann zuckte Leandra mit den Schultern.
Serafine lächelte. »Mir gefällt es hier.«
»Das Audienzzimmer hat keine dieser Wandöffnungen«, teilte mir Armin mit.
»Innerhalb des Hauses kann man lauschen. Außerhalb dürfte es schwer sein.« Leandra sah mich an. »Du willst etwas besprechen? Hast du einen Plan?«
»Eine Idee, nicht viel mehr. Ich komme später dazu. Es gilt noch einiges herauszufinden.« Ich blickte zu Natalyia. »Diesmal würde fast alles nur von dir abhängen.«
Sie schaute mich wachsam an. »Ich werde tun, was ich kann«, sagte sie. »Was ist es, das du willst?«
»Du hast Sarak durch diese Wand im Palast des Turms gezogen. Wie weit könntest du jemanden wie mich durch gewachsenen Fels ziehen?«
»Erfasst Euch leicht die Angst?«, fragte sie im Gegenzug. »Angst vor Dunkelheit oder Hilflosigkeit?«
»Nicht leicht«, antwortete ich nach einigem Nachdenken. Es hatte keinen Sinn, wenn ich mir etwas vormachte, sonst war das, was mir vorschwebte, nicht durchführbar. »Ich werde es ertragen können.«
»In gewachsenem Fels und auf gerader Strecke könnte ich Euch gut fünfzig Schritt ziehen, dann wird es schwierig. Nach zwanzig weiteren Schritten werde ich Luft brauchen. Es ist wie schwimmen.«
Ich nickte. Etwas, das ich auch dringend lernen sollte.
»Also brauche ich nur die Luft anzuhalten?«
»Nein, Havald. Für Euch wäre es, als ob Ihr Euch an einem dunklen, schwarzen Ort befinden würdet. Im Stein. Der Stein erfüllt Euch, berührt Euch, ist mit Euch verwachsen im tiefsten Inneren. Ihr werdet die Kälte spüren, das Gewicht, die ungezählten Äonen, die der Stein alt ist. Ihr werdet nicht merken, dass Ihr Euch bewegt, Ihr werdet nicht die Zeit spüren, die Ihr Euch im Stein befindet. Für Euch wird es wie eine Ewigkeit scheinen. Ihr könntet darüber den Verstand verlieren.«
»Ist es so für dich?«, fragte ich leise.
»Nein. Für mich ist der Stein wie dunkles Wasser. Ein Freund, etwas, das ich fühlen und sehen kann. Wir sind eins, und es ist, als ob ich ein kühles Bad nehme. Wenn ich nicht die Luft zum Atmen bräuchte, würde ich im Stein schlafen wollen.«
»Woher weißt du dann, wie es für andere ist?«, fragte ich.
Ihre Augen wurden dunkler. »Mein Talent ist einzigartig. Kolaron wollte wissen, ob es sich dazu eignen würde, gesicherte Orte zu infiltrieren. Er ließ mich Soldaten durch den Stein ziehen. Ein paar starben. Andere brachen weinend zusammen, wieder andere verloren den Verstand. Etwa einer von zwölfen überstand es unbeschadet.«
»Gut. Bevor ich weiterrede, muss ich wissen, wie es ist. Unser Haus hier steht auf einem Fundament aus Stein. Nimm mich mit in die Tiefe und bring mich wieder nach oben.«
»Wollt Ihr das wirklich?«, fragte sie leise.
»Ich muss wissen, wie es ist, damit ich weiß, ob ich mir nicht etwas anderes überlegen muss. Sag, siehst du aus dem Stein heraus?«
»Wie durch dunkles Glas. Aber ich kann auch wirklich aus dem Stein herausschauen«, sagte sie und lächelte. »Niemand erwartet ein Gesicht in einem Fels, und wenn doch eines auftaucht, dann wundert man sich höchstens über das hübsche Relief …«
»Dann lass es uns versuchen.«
»Jetzt gleich?«
Ich nickte.
Wir gingen in den Keller hinunter. Dort stellte sie sich mir gegenüber und nahm meine Hand.
»Ist es ungefährlich?«, fragte Leandra besorgt.
»Der Stein wird ihm nichts tun«, antwortete Natalyia. »Das, was in seinen Gedanken geschieht, das kann gefährlich sein.« Sie sah mich ernst an. »Es beginnt. Schaut hinab.«
Meine Füße waren im Stein verschwunden, ich hatte es gar nicht gemerkt. Sie hatte recht, es war, als ob ich mit meinen Stiefeln in Wasser stand, ein kühler Druck. »Es geht eigent …«
Der Boden raste mir entgegen, dann herrschte Schwärze.
Es war nicht ganz so, wie Natalyia es beschrieben hatte. Es war nicht der Stein, der mich gefangen hielt, es war die Nacht. Sie war in mir und um mich herum, angefüllt mit unzähligen Sternen, die ich nie zuvor in solcher Klarheit gesehen hatte. Es war ein wundersamer Anblick, der sich mir offenbarte, Bänder aus funkelndem Licht in unendlicher Nacht, eine Leere, die so unendlich groß war und so unendlich vieles in sich barg.
»Havald?«, fragte Leandra besorgt. Ich lag auf dem Boden im Keller, und alle sahen mich an. »Was ist? Ist alles in Ordnung?« Sie fuhr mit dem Finger leicht über meine Augenwinkel. »Du weinst, Havald.«
»Hat er den Verstand verloren?«, fragte Armin neugierig. Ich sah ihn an, und er schluckte. »Wohl nicht«, bemerkte er, als er sich aus meinem Blickfeld wegduckte. Serafine lachte laut, und Leandra war sichtlich erleichtert.
Ich richtete mich auf. »Es war anders, als du gesagt hast«, teilte ich Natalyia mit. »Es war … schön. Du hast mir nichts von den Sternen erzählt …«
»Das wundert mich nicht«, sagte sie leise. »Als ich Euch in den Stein zog, habe ich keinen Widerstand gespürt. Die meisten Menschen sperren sich dagegen, Ihr nicht. Ihr wart leicht in meinen Händen, Havald. Habt Ihr denn irgendetwas gemerkt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich sah nur die Sterne.« Ich stand auf. »Lasst uns wieder hochgehen.«
Oben angekommen, war ich dennoch dankbar, etwas Warmes zu trinken zu bekommen und mich weiter an dem Frühstück bedienen zu können.
»Die Überlegung ist folgende«, teilte ich den anderen mit. »Die Nachtfalken sind auf jeden Fall unsere Feinde, sie dienen dem Namenlosen. Außerdem scheinen sie eine Allianz mit Kolaron eingegangen zu sein. Jetzt hat man uns mit diesen Münzen verwarnt.« Ich legte mein Exemplar auf den Tisch.
»Verwarnt. Das ist ein schönes Wort, das Ihr da gefunden habt, Herr«, sagte Armin traurig. »Denkt Ihr auch bitte daran, dass man Euch töten wird, wenn morgen die Sonne untergeht?«
»Man wird es versuchen«, verbesserte ich. »Bislang hat Soltar mich nicht gewollt. Also gut, weiter. Mord ist in diesem Reich Politik, und wir können uns denken, wer hier unser Ende will.«
»Der Turm«, sagte Armin.
»Das ist wahrscheinlich«, stimmte ich ihm zu. »Sicher aber ist er der Feind des Löwen und des Adlers. Seine anderen Verbündeten sind das Haus der Schlange und das Haus des Tigers. Letzteres ist vielleicht das gefährlichere, aber wir wissen nicht so viel über den Tiger wie über den Turm. Also werde ich das Haus des Turms vernichten.«
Sie sahen mich alle überrascht an.
»Warum?«, fragte Armin. »Ihr wisst, dass mir das entgegenkäme, aber …«
»Der Prinz hat einen Menschen zu viel töten lassen.«
»Es ist nicht nötig. Marinae wird heute Anklage gegen den Turm erheben. Boron wird ihn richten, daran gibt es keinen Zweifel.«
»Boron wird Tarsun richten. Aber nicht das Haus.« Ich sah Natalyia an. »Ich will, dass du diese Münze unter das Bett von Prinz Tarsun legst. Kannst du das tun? Noch heute? Sodass man die Münze finden kann, als wäre sie vielleicht vom Bett gefallen?«
»Das kann ich. Man wird mich nicht entdecken. Aber was hast du vor?«
»Danach bringst du Leandras Münze in den Palast des Tigers, dort legst du sie auf das Bett von Prinz Kasir.«
Armin fing an zu husten, dann strahlte er mich an. »Das ist herrlich hinterhältig! Zwietracht unter Verbündeten! Sie werden es glauben, jeder glaubt es, es geschieht oft genug.«
Leandra warf ihm einen undeutbaren Blick zu. »Und dann?«, fragte sie
»Ich werde Prinz Tarsun töten«, sagte ich. »Prinz Kasir ebenfalls.«
»Gibt es Beweise gegen ihn?«, fragte Leandra ernst. »Oder ist es nur ein Verdacht?«
»Es gibt Beweise«, sagte ich und tauschte einen Blick mit Armin. »Sarak hat uns genug geliefert.«
»Damit greifst du aber Boron vor«, gab Serafine zu bedenken.
»Ich denke nicht. Seine Priester sind der irdische Arm, nach dem Buch Borons wird die gleiche Anklage auch in den Himmeln erhoben. Prinz Tarsun wird sich auch vor Boron selbst verantworten müssen.«
»In Ordnung«, sagte Natalyia. »Ich denke, ich kann beide ohne Schwierigkeiten töten.«
»Ich dachte, du willst nicht morden?«, fragte ich erstaunt.
»Ich sagte, ich bräuchte einen gerechten Grund. Ich habe einen.«
»Ich auch. Ich begehe meine Morde selbst«, teilte ich ihr mit.
»Wollt ihr euch darum streiten, wer von euch wen tötet?«, fragte Leandra voller Abscheu. »Ich finde das alles nicht angebracht. Noch weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Ich verstehe, dass du die Mittel unserer Gegner gegen sie verwenden willst, aber das macht uns nicht besser als sie.«
»Aber wir müssen nicht besser sein als sie. Wir müssen nur gewinnen.«
Meine Antwort machte sie nicht glücklich, aber sie sagte nichts weiter dazu. »Wie hilft uns das gegen die Nachtfalken?«, fragte sie stattdessen.
»Wir gehen davon aus, dass Prinz Tarsun uns töten lassen will. Es kann aber auch Kasir sein oder der Gesandte der Schlange. Wir haben nur zwei Münzen, also geben wir sie den wichtigsten Feinden. Wenn einer von ihnen unseren Tod in Auftrag gab, haben sie vielleicht einen Weg, mit den Nachtfalken in Verbindung zu treten.« Jetzt blickte ich zu Armin. »Es heißt, dass es keinen Sinn hat, aber ich möchte trotzdem wetten, dass Prinz Tarsun genau dies versuchen wird. Kannst du dafür sorgen, dass es Augen und Ohren gibt, die beobachten, was beim Palast des Turms geschieht?«
Er nickte. »Ich werde mit der Löwin sprechen müssen, aber es sollte möglich sein.«
»Gut. Das ist vielleicht ein weiterer Weg, wenn meine andere Idee nichts bringt. Vielleicht führt uns Tarsun ja zum Tempel des Namenlosen.«
»Du willst den Tempel wirklich stürmen?«, fragte Leandra.
Ich schüttelte den Kopf. »Stürmen ist das falsche Wort. Ich werde ihn vernichten. Ich will diese Stricke nicht mehr haben, die uns hier binden. Es soll dem Gegner eine Warnung sein. Ich will auch baldmöglichst abreisen. Zuvor gibt es noch Dinge zu regeln, aber wenn das getan ist, will ich, dass uns keine Verpflichtungen mehr halten, sondern nur noch freundschaftliche Bande.« Ich hatte Armin angesehen, als ich das sagte. Er nickte, er hatte mich verstanden.
»Bessarein darf nicht gespalten werden. Wir brauchen es geeint, wenn wir gegen Thalak ins Feld ziehen wollen. Armin, Faihlyd kennt den Namen des Hauptmanns. Mir ist gleich, was sie tut, von mir aus soll sie den Mann Botschafter von Gering schenken, nur eines ist wichtig: Sie muss die Spannungen zwischen Gasalabad und der Reichsstadt lösen. Die Zweite Legion wird hier wiedererstehen. Wir brauchen dazu Freude und Begeisterung, ein jubelndes Gasalabad, das an der Auferstehung dieser Legende teilhaben will. Keine Feindschaft.«
»Ich werde es ihr ausrichten«, sagte Armin vorsichtig.
Ich sah ihn offen an. »Du verstehst nicht, aber ich will, dass sie es versteht. Neben allen Freundschaftsbanden, über die ich froh bin, gibt es genau einen Grund, weshalb wir hier sitzen: Die Zweite Legion wird in Gasalabad wiederauferstehen. Das wird geschehen, Armin, ob nun mit ihrer Hilfe oder nicht. Sie hat die Wahl, ob die Legende der Legion ihre eigene Legende strahlen lassen wird, oder ob sie ihre verdunkelt. Aber die Legion wird hier wieder auferstehen.«
»Ich werde es so formulieren, dass sie es nicht als Drohung auffasst«, sagte Armin betont neutral, und sein Blick war bedeckt.
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist keine Drohung. Es ist eine Gelegenheit für sie. Das ist es, was du ihr zeigen sollst. Sie soll sich einfach vorstellen, wie es ist, wenn die Legion auf dem Platz der Ferne Aufstellung nimmt, die erste Legion in voller Kriegsstärke seit Jahrhunderten. Sie soll sich vorstellen, wie sie vor den Toren des Palasts steht, die Priester die tapferen Soldaten segnen und auch sie den Soldaten des Imperiums eine sichere Heimkehr wünscht. Deine Löwin … sie wird sehen, was ich sehe. Sie hat den Blick dazu.«
Armin nickte, ich erkannte an seinem Blick, dass er es begriffen hatte. »O Esseri«, sagte er dann leise. »Sie wird froh sein, dass Ihr ein Freund seid.«
»Und froh darüber, wenn wir abreisen?«, fragte Leandra etwas spitz.
»Ja, Essera, ganz ohne Zweifel«, bestätigte Armin. »Darf ich fragen, wie Ihr nun gedenkt, den Tempel zu zerstören.«
»Wir hatten es mit Füchsen, Armin. Bei einer anderen Gelegenheit habe ich gelernt, dass es Dinge gibt, die ich nicht kann, die andere jedoch sehr wohl können. Falken und ich haben etwas gemeinsam. Wir können nicht schwimmen. Aber ich habe Freunde, die mir helfen. Sie nicht. Ich habe eine Idee, wie ich den Tempel finden kann. Ich werde hingehen. Ich werde töten, wen ich töten kann, den Rest werde ich ersaufen lassen.«
»Ersaufen?«, fragte Armin, dann formte sich sein Mund zu einem runden O.
»Richtig, du sagst, sie sind in der Kanalisation. Du willst sie fluten«, sagte Leandra. Ihre Augen bohrten sich in meine. »Was ist mit den armen Seelen, die in der Kanalisation leben? Willst du auch die ertränken wie Hunde?«
»Was ist los, was denkst du denn von mir?«, fragte ich.
»Weiß ich das? Ich sitze hier und höre, wie du zwei Morde planst. Was weiß ich von dir? Du sagst immer, ich würde dich nicht kennen. Vielleicht hast du recht. Ich stehe gegen Thalak, aber ich will nicht zu seinem Spiegelbild werden. Ich fürchte, du wirst es gerade.«
»Nein. Die Prinzen Tarsun und Kasir sind unsere Feinde, denn sie sind in einer Allianz mit Thalak. Dafür gibt es Beweise. Wir befinden uns im Krieg. Es ist immer erfolgversprechender, die Generäle zu töten.« Ich schob die Falkenmünze in die Mitte des Tischs. »Ich werde nicht stillhalten und zulassen, dass du getötet wirst, Leandra.«
»So leicht wird das nicht gehen«, sagte sie, aber sie lächelte wieder. »Ich mag es nicht, den Tod von Unschuldigen zu planen«, sagte sie. »Das ist es.«
»Essera Leandra, erinnert Euch daran, dass es dort unten das Reich der Diebe gibt«, sagte Armin. »Dieb ist ein zu freundliches Wort, die meisten dürften kaltblütige Halsabschneider sein.«
»Dennoch gibt es Unschuldige dort. Ich habe nicht vor, Soltar die Seelen hundertfach zuzuführen. Ich werde noch heute erfahren, ob mein Plan durchführbar ist. Wenn ja, dann wird es in großen Teilen an Natalyia hängen. Sie wird diesmal am wichtigsten sein.«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Natalyia einfach.
»Ich vertraue dir«, meinte Leandra. »Wenn du sagst, dass du auf die Schuldlosen achten wirst, dann wird es so sein. Aber ich frage dich, warum willst du in den Tempel?«
»Weil ich glaube, dort den Herrn der Puppen zu finden. Wir haben noch eine Rechnung offen.«
»Du hast ihn doch auf dem Schiff gerichtet«, warf Serafine überrascht ein. »Wir haben es doch alle gesehen.«
»Nein«, entgegnete ich und schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Puppe gerichtet. Aber ich habe auch etwas von seinem Wesen verstanden.«
Sie sahen mich alle fragend und zum Teil auch entsetzt an.
»Er hat ein ganz besonderes Talent«, erklärte ich ihnen. »Wir wissen, dass es Menschen gibt, die mehrere Talente zugleich haben können. Er ist ein Nekromant und jemand, der wie ein Dämon den Willen und Körper anderer übernehmen kann. Er wird sich selbst dort befinden, wo es für ihn am sichersten ist – im Tempel des Namenlosen. Ich glaube nicht, dass er ihn überhaupt verlässt. Aber sein Geist geht in den Puppen spazieren. Und die … sind entweder selbst Nekromanten, oder er nutzt seine Fähigkeiten, um diese Puppen mit gestohlenen Gaben mächtiger zu machen. Auf dem Schiff habe ich nur eine Puppe getötet. Eine mit Macht, aber nur eine Puppe. Ich habe nicht vor, ihn entkommen zu lassen, und die einzige Methode, dies sicherzustellen, ist, ihn mit Seelenreißer zu richten. Deshalb muss ich den Tempel betreten, denn dort wird er sein.«
»Wir kommen mit«, sagte Serafine, und die anderen nickten.
»Nein«, widersprach ich. »Dann wird der Plan nicht gelingen. Ich muss allein dorthin. Aber ich werde doch nicht ganz allein sein. Ich verlasse mich auf den Schatten im Stein, um das Licht wiederzusehen.«
Wir sahen alle Natalyia an. »Ich werde da sein«, sagte sie knapp.
»Danke. Ich weiß, dass du da sein wirst. Aber noch ist es nicht so weit. Es gibt anderes zu tun.«
»Wann wird das alles geschehen?«, fragte Armin nachdenklich. Ich schaute auf die Münze vor mir auf dem Tisch, dann zu ihm.
»Das fragst du noch? Sie haben uns gestern diese Münzen gegeben. Also Morgen. Am Tempeltag. Ich finde, dass drei Tage reichen, damit auch sie ihre Angelegenheiten regeln können.«
»Vielleicht hätte jemand ihnen das sagen sollen«, meinte er.
»Sie sollten es wissen«, gab ich ihm Antwort. »Du sagst, es sei ihre eigene Tradition.«
Diesmal standen die Tore der Bibliothek offen. Wieder beeindruckte mich die Eingangshalle mit ihren mächtigen Säulen, die geschäftige Betriebsamkeit, die langen Reihen vor den Pulten der Schreiber. Die Menschen verhielten sich ruhig, es war nur ein leises Gemurmel zu hören, irgendwie war das Gebäude wirklich respektgebietend. Ich meinte den Weg zum Hüter des Wissens zu kennen, verlief mich trotzdem zweimal, bevor ich an seiner Tür klopfte und hörte, wie Abdul uns hereinbat.
»Ich freue mich, euch zu sehen, Esserin«, sagte Abdul mit einer tiefen Verbeugung. »Ich war bei der Krönung anwesend und habe vielleicht auch mehr als andere gesehen. Meinen tief empfunden Dank für dieses Wunder.« Seine blassen Augen ruhten auf Serafine. »Ihr umgebt Euch mit Wundern, Havald Bey. Mit einem Gaukler, der ein Fürst ist, und einer Legende aus alten Tagen.«
»Ihr erkennt mich?«, fragte Serafine überrascht.
Der Hüter des Wissens sah sie milde an. »Es gab Bildnisse von Euch, Tochter des Wassers. Sie wurden verboten. Was meint Ihr, wo werden sie wohl aufbewahrt und wie groß ist die Neugier, die ein Junge verspürt wegen eines Hauses, das verboten wurde und dem dennoch ein Denkmal errichtet wurde?«
»Denkmal?«, fragte sie überrascht.
»Ihr wisst es nicht? Auf dem Platz der Ferne steht die Säule der Ehre, und er lässt den Adler in die Freiheit fliegen. Jeder, der die Ehrennamen kannte, versteht das Bild, und Ihr wusstet es nicht?«
Serafine schluckte. »Ist das Jerbil auf der Spitze der Säule? Er steht so hoch, er ist nicht zu erkennen …«
Der Archivar kniff die Augen zusammen. »Vielleicht ist er es, vielleicht nicht. Seit Jahrhunderten hat niemand mehr sein Gesicht erblickt. Aber es ist die Säule der Ehre, und er lässt den Adler fliegen. Das ist deutlich genug.« Er musterte sie freundlich. »Wenn Ihr einem alten Mann eine Freude machen wollt, wäre ich froh, Euch zu einem Tee einladen zu dürfen und Euch mit Fragen zu quälen. Über das alte Gasalabad und darüber, wie es sein kann, dass Ihr unter den Lebenden wandelt.«
Serafine wischte sich über die Augen und lächelte. »Ich werde Euch sicherlich besuchen.«
Der alte Mann nickte und schaute nun mich an. »Nehmt doch alle Platz«, sagte er. »Irgendwo. Räumt die Stühle frei, und dort in der Ecke muss es hinter den Schriftrollen auch noch Kissen geben. Ihr seid nicht hier, um mich mit Wundern zu verblüffen, ihr braucht meine Hilfe. Sie gehört euch, nur muss ich schon erfahren, was es ist, das ich tun soll.«
»Entschuldigt, o Hüter des Wissens. Woher wisst Ihr von mir?«, fragte Armin vorsichtig.
Abdul lächelte sanft. »Armin Antale Seraphon di Basra Talek, Fürst des Adlers, Herr der Gaukler, Agent der Löwin. Woher, glaubt Ihr, kommen die Dokumente, mit denen Ihr Eure Feinde zum Narren gehalten habt? Woher das Wissen, das Ihr nutzt, um sie zu Fall zu bringen? Meint Ihr, es war ein Zufall, dass Ihr von der Spur erfahren habt, die Euch zu Eurer Schwester führte?« Er sah zu Serafine hinüber. »Zuerst hielt ich sie für Euch. Aber Eure Mimik ist zu deutlich, Ihr könnt nicht Helis sein.«
»Ihr wisst von alldem?«, fragte Armin fassungslos, während ich zwei staubige Kissen aus der Ecke zerrte und auf den Boden vor Abdul legte, um mich anschließend zu setzen.
Abdul schaute uns alle an. »Die Essera Falah ist eine gute und alte Freundin. Wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Es dauerte nicht lange, da fand sie heraus, dass ich niemals etwas vergesse. Sie war schon als Kind schlau und wusste, wohin sie gehen wollte. Ich weiß, dass sie mich achtet und schätzt und mir freundschaftlich verbunden ist. Manchmal glaubte ich sogar, es könnte mehr sein. Aber sie ist Falah, heute nennt man sie die Mutter des Löwen, lange war sie jedoch selbst die Löwin von Gasalabad. Sie wusste, dass es nützlich ist, das Wissen, das sie brauchte, greifbar zu haben. Das kam mir entgegen, denn die Schriften sind meine Leidenschaft, also benutzte sie mich nicht mehr als ich sie. Ich bin dort, wo ich sein will. Vom ersten Tag an, als ich als Kind mit großen Augen diese Welt betrat, hatte ich eine einzige Aufgabe.« Er studierte uns, um herauszufinden, ob wir verstanden, was er uns sagen wollte. »Meine Aufgabe war und ist es, alles zu wissen, was es zu wissen gibt. Dazu gehört auch das Wissen, dass der Priester, der den Bund zwischen Euch, Armin di Basra, und Faihlyd schloss, nicht plaudern wird, auch nicht gegenüber seinen Brüdern. Ich kenne Tausende Geschichten von Lebenden und solchen, die nicht mehr unter uns weilen, denn ihre Worte und Gedanken sind noch hier …« Er vollführte eine Geste, welche die gesamte Bibliothek einschloss. »Ich sitze hier in diesen Mauern, umgeben von Spiegeln und von Texten, und doch sehe ich die Stadt besser als jeder andere. Ich lese, was andere nicht lesen dürfen, also auch das, was Ihr geschrieben habt, Fürst der Adler.«
»Ihr dürftet nicht leben«, sagte Armin leise, und er meinte es ernst. Ich sah ihn verwundert und auch erschreckt an und war damit nicht der Einzige.
Abdul lachte. »Ja, ja. Die Essera Falah sagt es hin und wieder. Ich weiß, dass sie bereits einmal mein Todesurteil unterschrieben hat. Ich weiß nicht, ob sie es weiß, aber das Urteil ist in den Akten.«
»Warum sagt Ihr uns das?«
»Weil Falah es mir auftrug. Ein Geheimnis gegen ein Geheimnis. Eine Frage gegen Vertrauen.«
Ich blinzelte, denn das kam unerwartet.
»Ich soll Euch in ihrem Auftrag etwas fragen«, fuhr Abdul fort.
»Dann fragt.«
»Wie kommt es, dass ich, der alles Wissen in seinem Herzen trägt, nichts von den magischen Toren weiß?«
»Ihr wisst nichts von ihnen?«, fragte ich erstaunt.
Er schüttelte den Kopf.
Serafine war genauso verblüfft wie Leandra und ich. Natalyia sagte nichts dazu, aber Armin schaute mich neugierig an. Richtig, wir hatten die Tore auch vor ihm verborgen.
»Man wusste nicht immer, wo sie waren«, sagte Serafine vorsichtig. »Aber man wusste, dass es sie gab, und spekulierte gerne darüber, wo sich ein solches Tor befand. Es war klar, dass sie an bestimmten Orten sein mussten. Im Palast oder auch in der Stadtfeste. Oder in der Garnison. Vielleicht wusste man nicht, wo sie sich genau befanden, aber dass es sie gab, wusste wirklich jeder.«
»Dann stellt sich die Frage, wie man dieses Wissen vergessen konnte«, sagte Abdul leise und runzelte die Stirn. »Ich weiß, was die Menschen damals für Lieder sangen, ich kann Euch sagen, wie die Sonne stand, als Ihr von Eurem Pony gefallen seid und Euch zwei Finger gebrochen habt. Also müsste ich wissen, was die Menschen damals wussten.«
»Wie hieß mein Pony?«, fragte Serafine spitzbübisch.
»Du. Es hieß Du.« Der Hüter des Wissens lächelte. »Es war eine Anekdote bei den Stallburschen, dass Ihr dem Pony nie einen Namen gegeben habt. Du, komm her.« Er lachte leise. »Es hat mich immer amüsiert.«
Serafines schmunzelte. »Stallburschen wissen nicht alles. Es hieß Durma. Meine Mutter gab ihm den Namen, aber ich konnte ihn nicht aussprechen.« Sie sah ihn beeindruckt an. »Ihr seid wahrlich der Hüter des Wissens, wenn Euch so etwas bekannt ist.«
Abdul nickte und schaute dann zu Armin hinüber. »Ich werde meine Nützlichkeit bald verlieren, Fürst des Adlers. Denn ich werde alt und« – er lächelte verlegen – »vergesslich. Ich fange an, Dinge zu verwechseln, und noch merke ich es früh genug. Ich liebe die Essera Falah, aber ich weiß, dass sie nicht riskieren wird, dass dieses ganze Wissen von einem senilen Alten ausgeplappert wird. Sie versprach mir, dass sie es selbst tun wird, damit bin ich glücklich.«
»Was tun wird?«, fragte Leandra verwirrt, während Serafine und Armin sofort verstanden. Vielleicht auch Natalyia, aber wie üblich sprach sie wenig.
»Sie wird mir die Tore zu Soltars Hallen öffnen.«
»Sie will Euch töten? Jemanden, der ihr so lange so treu gedient hat?«, fragte Leandra fassungslos. »Essera Falah? Das kann nicht sein!«
»Sie muss es tun«, entgegnete Abdul gelassen. »Ich weiß es schon lange und habe es ihr verziehen. Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern. Allein, dass ich mich euch offenbaren sollte, war mir schon Warnung genug.«
»Das ist barbarisch«, stieß Leandra entsetzt aus.
»Es ist notwendig.« Er holte tief Luft. »Und jetzt, Esserin, sagt mir, was ich für euch tun kann.«
Es war selbst für den Hüter des Wissens ein überraschendes Anliegen, sogar er musste nachdenken, wo sich das befand, was wir suchten. Doch schließlich fand er es, auch wenn es eine Weile dauerte. Wir gingen in einen anderen Raum, wo große Spiegel für Licht sorgten und es große Tische gab, die er erst freiräumen musste, Stapel von Büchern und Rollen blockierten sie. Wir durften dabei nicht helfen; er tat es selbst, damit er wusste, was sich wo befand, dann zog er die alten Pläne aus den Lederrohren, die sie jahrhundertelang geschützt hatten, und entrollte sie andächtig auf dem Tisch. Das Papyira war an manchen Stellen brüchig, hier und da war die Tusche verblasst, aber insgesamt war alles noch gut zu erkennen.
»Es wäre eine Meisterleistung der Konstruktion gewesen«, sagte er ehrfurchtsvoll. »Seht ihr, hier …?« Er zeigte auf ein Zeichen unten rechts in den Ecken der Pläne. Es tauchte immer wieder auf. »Es ist sein Zeichen. Was es bedeutet, weiß niemand, aber so hat er signiert. Das ist Askannons Zeichen, er selbst hat diese Pläne gezeichnet.«
Er rollte einen anderen Plan aus und legte ihn über den ersten. »Ihr müsst euch beide Pläne gleichzeitig vorstellen, damit ihr sehen könnt, wie groß sein Wirken war.«
Der zweite Plan zeigte die Mauern der Stadt, die inneren und äußeren. Es war zu erkennen, wie weit die Kanalisation reichen sollte. Sie hätte wie ein Netz die ganze Stadt durchzogen.
»Was davon wurde gebaut?«, fragte Leandra beeindruckt.
»Dieser Teil. Das, was hier dunkel markiert ist«, sagte der Hüter des Wissens und nahm den obersten Plan zur Seite. »Dieser Bereich.«
Für mich war es die gleiche Schwierigkeit wie bei Landkarten. Diese Striche und Linien ergaben nie viel Sinn für mich, ich konnte es einfach nicht mit der Wirklichkeit um mich herum vereinbaren.
»Das hier ist die Halle der Diebe«, sagte Armin, der diese Schwierigkeiten offensichtlich nicht hatte. Ich sah auf die Stelle, an der sein Finger lag. Linien und Striche. Ich konnte da allenfalls etwas erahnen.
»Warum wurden die Kanäle nie fertig gestellt?«, fragte Leandra.
»Gasalabad ist eine große Stadt. Um all den Unrat fortzuspülen und zu verteilen … Hier.« Er zeigte uns einen anderen Plan, zu meinem Erstaunen war der Maßstab viel kleiner. »Manche der Tunnel hätten viele Meilen lang sein müssen. Es war ein Gefälle nötig. Es hätte Jahrzehnte gebraucht, und Tausende Männer hätten daran arbeiten müssen. Wisst ihr, dass Askir eine Kanalisation hat? Deswegen können so viele Menschen dort leben, ohne in ihrem Müll zu ersticken. Er wusste also, wie es ging … Aber Gasalabad steht auf einem Felsen in einem Meer aus Sand. Der Felsen reicht nicht weit genug. Die Ingenieure fanden es zu spät heraus, erst nachdem mit den Arbeiten bereits begonnen war. Sie hatten Bohrungen zwischen einzelnen Punkten vorgenommen und dachten, überall dazwischen wäre Fels. Es war aber nicht so, und es gab ein Unglück, bei dem Hunderte verschüttet wurden. Also wurde eine Notlösung angestrebt, ein Provisorium.« Er lächelte. »Eines, das seit Jahrhunderten seinen Dienst tut. Es gibt an vielen Stellen diese flachen Gräben. Einmal in der Woche wird nachts das Wasser des Gazar durch die Gräben geleitet, und ein Heer von Sklaven schiebt den ganzen Unrat hinein, damit er weggespült wird. Am nächsten Morgen sind die Gräben trocken und dienen wieder als Straßen und Wege. Das eigentliche Unterfangen wurde nach gut fünfundzwanzig Jahren Bauzeit abgebrochen. Die Gräben sind alles, was davon blieb.«
»Also wusste Askannon auch nicht alles«, konstatierte Natalyia nachdenklich.
Abdul sah zu ihr hinüber. »Er wusste genug. Du kannst es nicht erkennen, Tochter, aber diese Pläne sind ein Kunstwerk.«
Leandra nickte. »Das sind sie wirklich.« Sie fuhr schon fleißig die Linien mit ihren Fingern nach. »Wenn nicht mehr gebaut wurde, dann muss das hier« – sie tippte auf eine Stelle auf dem Plan – »der tiefste Ort sein.«
»Am weitesten entfernt vom Licht«, sagte ich.
Abdul schaute auf die Zeichnung und nickte zustimmend. »So sieht es auch für mich aus. Es ist in der Tat tief. Eine Grube, in der sich der Dreck der Stadt setzen sollte. Nicht weit von der Halle der Diebe entfernt, die ebenfalls als ein Senkraum geplant war.«
»Dann kenne ich bis hierher den Weg«, sagte Natalyia erleichtert. »Ich werde mich zurechtfinden.«
Ich blickte auf die sinnlosen Striche herab und hoffte, dass sie es mir gut erklären konnte, wenn sie zurückkam.
»Also, Leandra«, sagte ich. »Du kannst die Pläne lesen. Ist es möglich?«
Sie biss sich auf die Lippen. »Der Zufluss muss nicht groß sein«, antwortete sie. »Nur tief, damit das Wasser Druck hat. Hier wäre wohl der beste Ort dafür, unterhalb der Kaimauer im Hafen, dort wird kein Schlick den Zufluss verstopfen. Das Wasser wird hier entlang fließen. Es wird die Menschen erschrecken, und sie werden wahrscheinlich aus den Kanälen fliehen.« Sie lächelte leicht. »Das ist es ja, was wir wollen. Die Fluten werden diesen Weg nehmen und zuerst die Tiefen füllen.« Sie sah die Pläne nachdenklich an. »Oder besser hier. Natalyia, du warst dort. Der Fluss liegt hinter dieser Wand …«
»Ich habe ihn gehört, gesehen und gespürt«, bestätigte Natalyia. »Es ist gewachsener Fels. Ja, es ist möglich.«
»Gut«, sagte Leandra. »Dann hier. Damit wird das Wasser in die Halle der Diebe strömen. Sie wird schnell geflutet werden, aber es wird trotzdem seine Zeit dauern, denn zugleich wird es hier entlang strömen. Das hier ist ein deutliches Gefälle …« Ihr Finger folgte den Linien. »Sie werden diesen Ort für den Tempel gewählt haben, weil die ganzen Kanäle ihnen viele Fluchtwege geben, aber sie laufen hier zusammen … Das Wasser wird die Kanäle fluten, noch bevor es den Tempel erreicht, und sie werden abgeschnitten sein. Es wird hier aus einem hohen Kanal kommen wie ein Sturzbach, der alles mit sich reißt. Bis das Wasser all diese tiefen Räume geflutet hat, wird Zeit vergehen. Dann wird es von unten steigen und sich in der Kanalisation ausbreiten.«
Sie sah mich an und lächelte.
»Es wird den Menschen in den oberen Kanälen auf jeden Fall Zeit geben, die Kanalisation zu verlassen. Aber alles, was tiefer liegt, ist in dem Moment verloren, in dem diese Wand bricht.« Diesmal war ihr Blick ernst. »Niemand wird entkommen können, Havald. Auch dein Überleben ist nicht so sicher.«
»Nein«, sagte Natalyia. »Havald wird nicht ertrinken.« Es war eine Feststellung.
Leandra sah mich beunruhigt an. »Musst du wirklich hinein?«, fragte sie mich noch einmal.
»Ich muss sicher sein, dass er dort ist.«
Armin schaute von dem Plan hoch zu mir. »Havald, die Vernichtung eines Tempels wird sie hart treffen. Es wurde schon oft versucht, aber es ist nie gelungen. Nicht seit den Zeiten des Alten Reichs«, fügte er hinzu, als Serafine den Mund öffnete. »Wenn es gelingt, ist es ein ungeheurer Sieg und jeder seiner Gläubigen wird danach trachten, Euch zu vernichten.«
»Also alles so, wie es immer ist. Man will uns umbringen«, bemerkte ich. »Du vergisst eines, Armin.«
»Was denn, Esseri?«
»Der Einzige, der davon berichten kann, was dort unten geschehen ist, werde ich sein. Und ich werde es nicht weitererzählen. Nach Jahrhunderten ist eine Wand gebrochen und hat den Tempel des Dunklen Gottes absaufen lassen. Sie können ja auch einmal Pech haben.«
Natalyia fing an zu kichern.
»Wir brauchen noch eines«, meinte Serafine nachdenklich. »Denn Havald hat recht. Niemand wird wissen, was dort unten geschieht. Auch wir nicht. Außerdem steht er Nekromanten gegenüber. Er braucht einen Schutz.« Sie sah Armin an. »Es ist unhöflich zu fragen, ob man etwas wiederhaben kann, das man verschenkt hat. Aber wir brauchen die Perlen, die ich Faihlyd gegeben habe. Wir brauchen sie, damit Leandra weiß, was Havald fühlt, und damit er vor den Nekromanten geschützt ist.«
»Ich werde sie fragen«, sagte Armin. »Ich weiß, dass sie lieber das Auge trägt. Die Perlen sind uns zu …« Er suchte das passende Wort.
»Sie lassen nicht viele Grenzen stehen«, umschrieb es Serafine. »Ich weiß. Auch wir trugen sie sehr selten, nur, wenn wir getrennt waren, und dann auch nicht ständig. Sosehr man auch liebt, es sollte Grenzen geben.«
»Hat Askannon sich mit seinem Geschenk geirrt?«, fragte ich.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Es ist eine große Gabe, aber man kann sie nicht lange ertragen. Deshalb wird es Leandra sein, die diese zweite Perle trägt. Anders tun sie ihren Dienst nicht, denn es muss Liebe zwischen den beiden Trägern herrschen.«
Leandra biss sich auf die Lippen. Sie schien nicht sehr erfreut bei dem Gedanken. Ich war mir aber auch nicht sicher.
Serafine lächelte sanft. »Man kann selbst Grenzen wahren, die diese Perlen nicht setzen. Sucht nicht nach dem, was euch nicht gezeigt wird. Man sollte dieser Verlockung nicht erliegen. Ich glaube, selbst Askannon wusste nicht alles über die Macht der Perlen. Aber eins ist sicher: Sie werden Havald vor den Seelenreitern schützen, solange er sie an seinem Kopf trägt.«
»Mitten auf der Stirn, wo sie es sehen können«, gab Armin zu bedenken. »Es wird sie nur noch mehr reizen.«
»Ich habe sie oft unter meinem Haar am Hinterkopf getragen«, berichtete Serafine. »Da geht es genauso gut.«
Abdul hatte wortlos zugehört. »Die Perlen der Liebe.« Er betrachtete Serafine. »Ich weiß, dass Ihr sie einst verflucht habt. Und jetzt ratet Ihr, sie zu benutzen?«
»Sie sind nicht verflucht. Sie sind nur zu groß für uns Menschen«, entgegnete sie mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht. »Man muss sie achten, das ist alles.«
Abdul rollte die Pläne sorgfältig wieder zusammen. »Ich hoffe, die Götter werden euer Vorhaben unterstützen.« Er schaute mich an. »Wenn Ihr noch hier seid, werdet Ihr dann Abschied von mir nehmen?«
»Ich verspreche es.«
»Was hat Abdul gemeint?«, fragte Leandra, als wir wieder auf den Platz der Ferne traten. Oben auf der Säule glänzte der Adler.
»Dass wir nicht gehen sollen, ohne uns von ihm zu verabschieden«, sagte ich, und es war ja auch die Wahrheit.
»Das werden wir sicher beherzigen«, meinte sie. »Er ist ein beeindruckender Mann.«
Wie lange wusste er schon, dass er Falah liebte, und seit wann war ihm bewusst, dass sie sein Tod sein würde? Ich schaute zu Leandra hinüber, die zu dem goldenen Adler aufsah, dachte an dieses wunderschöne Bild, das Serafine von ihr gezeichnet hatte und dennoch Leandra nicht gerecht wurde. Ich liebte sie, aber ich wusste eins: Sie behielt noch viele Geheimnisse für sich. So wie ich auch.