12. Ein perfekter Plan
»Halt dich gut fest«, riet mir Imra. »Du bist so schwer, dass mein Greif Mühe haben wird, unser beider Gewicht zu tragen. Es wird ereignisreich werden!« Er drehte sich um zu mir und lachte. »Ist er erstmal in der Luft, ist es keine Schwierigkeit mehr, er ist stark und ausdauernd. Nur der Start ist nicht leicht.«
Ereignisreich. Imra schien dieses Wort zu lieben.
Wie erhob sich ein Greif in die Luft? Es war wirklich ereignisreich. Er sprang, während die mächtigen Flügel nach unten schlugen und Staub aufwirbelten. Dann sackte er durch wie ein Stein, während sich die Flügel hoben, anschließend kam wieder der Aufschwung, und ich hatte Mühe, mich zu halten. Durchsacken. Aufschwung. Durchsacken. Aufschwung. Ich spürte, wie die mächtigen Muskeln des stolzen Tiers arbeiteten, und jedes Mal hatte ich Mühe, nicht herunterzurutschen.
»So lebt man!«, rief Imra glücklich, als der Greif wieder durchsackte und geradewegs auf die mit scharfen Speerspitzen versehene Palastmauer zuhielt. Unbegreiflicherweise endeten wir nicht auf den Spießen, der Aufschwung kam im letzten Moment.
Ich hatte vom Start Staub und Sand in Nase, Mund und Augen und hustete. Es bestand kaum die Gefahr zu fallen, denn ich war mit schweren Lederriemen an den Sattel gebunden. Erst einmal hatte ich jedoch genug damit zu tun, meine Augen frei zu bekommen und Luft zu holen, ohne dass ich dabei erstickte. Dann stellte ich fest, dass Aufschwung und Durchsacken nachließen und sich einer sanften Wellenlinie anglichen. Es schien so, als ob der Greif, je schneller er flog, desto weniger Mühe hatte, uns zu tragen. Ich öffnete vorsichtig ein Auge, es tränte sogleich vom Wind. Unter mir, tief unter mir, schlängelte sich das glitzernde Band des Gazar, und als ich zurücksah, sah ich die Goldene Stadt schon in weiter Ferne. Ich hörte Lachen und wandte den Blick zur Seite. Dort ritt Leandra hinter Faril, eine Hand locker in seinem Gürtel, mit der anderen Hand winkte sie mir zu. Ich verstand nicht, was sie rief, aber ich erkannte das Glück auf ihrem Gesicht. Sie schien es zu genießen. Ich nicht, mein Magen rebellierte noch immer.
Die Götter hatten ein Einsehen mit mir. Es dauerte nicht sehr lange, bis sogar ich mich daran gewöhnt hatte, solange ich nicht direkt nach unten, sondern stur nach vorne sah. Nach einer Weile hörte ich mich selbst lachen. Hier oben war die Luft nicht brütend heiß, der Flugwind machte es sogar angenehm kühl. Es hatte etwas Befreiendes, so durch die Luft zu gleiten, zumal ich nun den Rhythmus des Greifen kannte und ihn ohne nachzudenken mitgehen konnte. Als Imra sich lachend zu mir umdrehte und etwas rief, was ihm der Wind von den Lippen pflückte, verstand ich zwar nicht, was er sagte, aber was er meinte, war klar, und ich stimmte ihm zu. Hier oben war man frei. Es konnte einen nichts berühren.
Einen Gedanken hatte ich dennoch. Wenn ich aus solcher Höhe auf die Erde fiel, konnte es mir egal sein, ob man mit dem, was übrig blieb, einen Drachen fütterte oder nicht.
Das Elend kehrte langsam zurück. Die Greifen flogen schnell – es mochte gut dreimal so schnell sein wie ein Pferd in vollem Galopp –, aber die Strecke nach Janas war weit. Es klang schnell, dass wir Janas in einem halben Tag erreichen sollten, doch in diesen Stunden verlor ich das Gefühl in meinen Beinen, obwohl die Lederriemen, die mich hielten, besonders breit waren … und ich verlor auch das Gefühl in meinem Hintern. Der ständige Wind ließ die Augen brennen. Ich lernte später, dass die Elfen oft mit geschlossenen Augen flogen oder gar im Sattel schliefen. Dadurch, dass ich mich beständig festhalten musste, taten mir auch die Finger weh, und unsere Gewänder flatterten im Wind und peitschten um uns. Nach ein paar Stunden war ich so weit, dafür zu beten, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Noch später, die Sonne stand schon deutlich tiefer am Horizont, rief Imra etwas und deutete nach unten. Ich sah ein Schiff, größer und wuchtiger und damit auch langsamer als unsere eigene Dhau. Die Mannschaft starrte zu uns hoch, einer winkte uns sogar zu. Von unserer Höhe aus war es schwer, die Flagge zu lesen, aber die Farben kannte ich. Es war die Flagge des Turms. Eine Frage an den Hafenmeister in Gasalabad und wir hatten herausgefunden, dass nur ein Schiff des Turms in der letzten Zeit von Gasalabad aus in Richtung Janas aufgebrochen war. Es musste also dieses Schiff sein. Ich sah keine Frau an Bord. Wenn sie auf dem Schiff war, dann befand sie sich in der brütenden Hitze unter Deck.
Ich nickte Imra zu, und wir flogen weiter.
Imra löste die letzte Schnalle von meinen Beinen, und ich rutschte hilflos vom breiten Rücken des Greifen. Wir waren gut drei Wegstunden vor Janas gelandet und rechneten damit, dass das Schiff, sollte es nicht über Nacht Halt machen, in etwa zwei Stunden hier eintreffen würde. Meine Beine trugen mich nicht, ich schlug schwer auf dem Boden auf. Den Frauen erging es nicht so übel, Leandra konnte sogar gehen.
Imra half mir, mich in eine sitzende Position aufzurichten. Leandra trat zu mir, während ich versuchte, wieder Leben in meine Beine zu massieren.
»Ich verstehe nicht, warum du diese Schwierigkeiten nicht hast«, sagte ich fast schon vorwurfsvoll. Meine Beine fingen an zu kribbeln und zu brennen.
»Ich kann es dir sagen.« Imra lachte. »Du wiegst doppelt so viel wie sie, und wir mussten dich fester zurren. Das ist schon alles. Frauen sind die besseren Greifenreiter.«
»Hast du auch mal schlechte Laune?«, fragte ich den Elfenprinzen mürrisch. Imra war dabei, dem Greifen den Sattel vom Rücken zu lösen, und pfiff eine fröhliche Weise vor sich hin.
Er hielt inne. »Viel zu oft habe ich gar keine Laune. Neidest du mir das Gefühl, leben zu können, auch wenn es immer nur kurz währt?«
»Beachtet ihn nicht, Imra«, meinte Leandra und setzte sich neben mich. »Er ist nur brummig, weil sich nicht alles nach seinem Willen fügt. Wenn er könnte, würde er die Sterne neu ordnen.«
»Würde ich nicht«, protestierte ich. »Sie sind gut so, wie sie sind.« Ich sah zu Imra hoch. »Ich glaube eher, ich neide dir den Sattel.«
»Damit würde es dir nicht viel besser ergehen.« Der Elf grinste. »Aber mein erster Flug war wie der deine, ich erinnere mich gut daran.«
Serafine und Natalyia kamen zu uns, auch sie hatten beide Mühe mit ihren Beinen. »Es ist anstrengend«, stellte Natalyia fest. »Und auf Dauer sehr unbequem.«
Leandra und Serafine nickten zustimmend. »Damit sagst du nichts als die Wahrheit«, fügte Serafine hinzu und ließ sich im Sitzen rückwärts mit ausgebreiteten Armen ins Gras fallen. Wir hatten uns einen bewaldeten Hügel ausgesucht, um auf das Schiff zu warten. Hier, näher an der Küste, war das Land deutlich grüner und auch die Luft kühler, also wuchs hier auch Gras, und es war nicht überall nur Sand.
»Was habt ihr für einen Plan?«, fragte Lasra neugierig. Wir sahen uns gegenseitig an. Man hätte meinen können, wir hätten schon vorher so weit gedacht.
»Oh, der Plan«, antwortete ich ihr nachlässig. »Ich schwimme an Bord und erkläre dem Kapitän, dass ich Marinae mitnehmen will. Dann legt er an und Marinae und ich gehen von Bord. Das ist der Plan.«
»Das ist der Plan?«, fragte sie erstaunt.
»So in etwa.«
Imra sah in Richtung des Gazar. »Es gibt eine Menge Flussdrachen dort. Ich sehe von hier aus schon drei, es werden mehr sein. Willst du wirklich schwimmen?«
»Nein.« Ich seufzte. »Es wäre ein netter Plan ohne diese Flussdrachen. Aber ich kann sowieso nicht schwimmen. Ich habe es nie gelernt.«
»Es wäre außerdem nett, wenn der Kapitän Havald seine Bitte erfüllen würde«, meinte Leandra.
»Irgendwie habe ich daran so meine Zweifel.«
Ich sah zu Imras Greifen hinüber. »Verstehst du mich?«, fragte ich ihn. Steinwolke verstand mich, vielleicht tat es dieser hier ja auch.
»Er versteht dich, Havald.«
»Kannst du mich mit einer Kralle halten, ohne mir zu schaden, und mich dann auf das Schiff fallen lassen?«
Der Greif gab ein seltsames Geräusch von sich. Ich sah ihn verwundert an. Imra grinste. »Er hat gelacht und sagt, dass es das erste Mal wäre, dass sich ein Mensch freiwillig in seine Krallen begibt. Aber ja, das kann er. Er hat es schon häufiger gemacht.«
»Leute auf ein Schiff fallen lassen?«, fragte ich.
Imra schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, wir befinden uns im Krieg. Manchmal trägt Stahlklaue einen von Thalaks Soldaten hoch in die Lüfte und lässt ihn über einem Heerlager fallen. Er hat schon zweimal das Zelt eines Generals getroffen.« Imra tätschelte die Kreatur. »Es macht immer irgendwie Eindruck auf Thalaks Soldaten, damit kann man den Abmarsch einer Armee um eine halbe Stunde verzögern, und um etwas mehr, wenn man das Zelt trifft.«
»Wo kämpft ihr gegen Thalak?«, fragte ich neugierig. »Welches Reich wird denn noch von ihm bedroht?«
Er sah mich überrascht an. »Sagtest du nicht, du kämst aus den Südlanden? Den Drei Reichen?«
Ich nickte.
Er löste die letzte Schnalle seines Sattels, hob ihn vom Rücken seines Greifen und ließ ihn neben uns ins Gras fallen. »Dort. In deiner Heimat, Havald.«
Wir sahen ihn alle sprachlos an.
»Oh, ich verstehe«, meinte Imra. »Ich sollte es vielleicht erklären. Wir führen anders Krieg als ihr. Wir sind wenige, aber wir sind schnell und hinterhältig. Manchmal müssen die Soldaten Thalaks denken, hinter jedem Baum wäre ein Elf, doch wenn sie dann stürmen, sind wir nicht mehr da. Wir sind nicht viele, Havald. Es sind nicht mehr als siebzig von uns, die in die Schlacht gezogen sind. Wir haben eine einfache Regel. Jeder von uns tötet jeden Tag fünf von Thalaks Soldaten. Aber so, dass man uns nicht sieht, nicht hört und es keine Zeugen gibt, die uns beschreiben könnten. Wir sind der Wind, das Gras, die Bäume. Wenn Stahlklaue einen Mann vom Himmel fallen lässt, dann in der Dämmerung, wenn ihn niemand fliegen sieht. Es fällt ein schreiender Mann aus dem Himmel … Mehr gibt es nicht zu sehen.« Imra musterte mich. »Einst gab es ein Heer von Elfen. Diese Zeiten sind vorbei, meine Mutter regiert nun über einen Clan von nicht viel mehr als viertausend.«
Serafine sah ihn erstaunt an, und Imra nickte ernst. »Wir sind die letzten, die geboren wurden. Seitdem der Fluss der Welten unterbrochen wurde, haben sich viele hingegeben … Andere starben auch so.« Er sah zu mir hinüber. »Wir sterben auf die gleiche Art und Weise wie ihr Menschen, darin gibt es keinen Unterschied. Nur das Alter berührt uns nicht, alles andere schon.« Er wandte sich Serafine zu. »Schwester, mein Volk stirbt. Es ist der Lauf der Welt. Aber noch gibt es uns, und noch sterben jeden Tag die Soldaten Thalaks durch unsere Hand.«
»Der Fluss der Welten fließt wieder«, sagte Lasra mit einem Lächeln. »Also gibt es auch für uns wieder Hoffnung.«
»Was ist der Fluss der Welten?«, fragte ich.
»Es ist die Quelle allen Seins. Es ist das, was jeden von uns nährt, den einen mehr, den anderen weniger. Es ist das, was verändert und schafft und zerstört.«
»Ströme reiner Magie?«, fragte Leandra leise.
Imra nickte. »So nennt ihr Menschen das, wenn ihr es sehen könnt. Du kannst es sehen, Leandra?«
»Ja«, gab sie leise zurück. »Ich kann diese Ströme sehen und fühlen. Sie sind um uns, in uns, in jedem Stein, in jedem Grashalm und in allem, was ist. Nichts bleibt unberührt.«
Imra sah sie mit neuer Achtung an. »Nicht viele sehen den Fluss der Welten so, es sind meist die Frauen, die eine große Bindung zu ihm haben. Wir Elfen … wir nähren uns zum Teil auch von ihm, nicht unsere Körper, sondern unsere Seelen. Der Fluss der Welten verging, als ich ein Kind war. Wo ein mächtiger Strom floss, blieb nicht mehr als ein Rinnsal. Ich selbst kannte es kaum anders, als dass es nur Spuren von ihm gab. Als er zurückkehrte, konnte ich nicht fassen, was es war, das wir verloren hatten, und verstand die Älteren, die vergangen waren, weil ihnen ein Leben ohne diesen Strom nichts mehr bedeutete.«
Ich hatte einen ungeheuerlichen Verdacht und sah den gleichen Gedanken auch in Leandras Augen.
»Es geschah kurz nachdem du Serafine das letzte Mal gesehen hast, nicht wahr?«, fragte ich den Prinzen der Elfen, was mir nun wieder Serafines Aufmerksamkeit einbrachte.
»So ist es.« Imra musterte mich. »Weißt du etwas darüber?«
»Ja«, antwortete Leandra an meiner Stelle. »Wir wissen, was geschehen ist. In unserer Heimat gibt es einen Ort, an dem der Fluss der Welten sich selbst mehrfach kreuzt. Etwa zu der Zeit, in der die Neuen Reiche besiedelt wurden, unterbrach ein Magier namens Balthasar, ein Agent Kolarons, den Fluss der Welten und lenkte ihn um.«
»Welch ein Frevel!« Der Elf holte tief Luft. »So also fing das Sterben an.«
Er sah hoch zum Himmel, dann um sich herum, als könne er dort Dinge sehen, die mir verborgen waren. »Also haben diejenigen recht, die sagten, es sei Menschenwerk. Wisst ihr, wie der Fluss wiederhergestellt wurde?«
»Es war der gleiche Magier, doch seine Absichten waren nicht gut, das ist gewiss.« Leandra zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir wissen nicht, wie er es tat. Oder warum. Er kehrte an den Ort zurück und befreite den Fluss. Das wissen wir. Dann starb er.«
»Das wissen wir nicht«, widersprach Natalyia.
»Wenn er noch lebt, wird er sterben«, stellte Imra fest. Er seufzte. »Diese Kunde wird unsere Völker einander nicht näher bringen. Kolaron ist ein Mensch, und es gibt welche unter uns, die die Menschen abgrundtief hassen. Es sind wenige, aber ihre Stimme wird mehr Gewicht erhalten, wenn sie das erfahren.«
»Ich zögere jetzt, das zu sagen«, sprach Natalyia. »Aber wenn ihr am Sterben seid, zu wenige, um als Volk weiterzuleben, warum paart ihr euch nicht mit uns Menschen? Ich hörte, solche Verbindungen wären weitaus fruchtbarer als die zwischen Elfen. Es heißt, dass ein Halbelf das Beste beider Rassen erhalte.« Sie sah zu Leandra. »Sie leben nicht so lange, das ist wahr, aber sieben- oder achthundert Jahre, das ist lange genug. Nicht jeder Elf hasst Menschen.«
Alle fünf Elfen sahen sie lange an, dann seufzte Imra. »Nein, die meisten von uns hassen euch nicht. Ganz im Gegenteil. Aber wir sind eigen damit, bei wem wir liegen. Dennoch hast du recht. Es ist eine Frage, die sich stellen wird, wenn es ein Vermächtnis von uns geben soll.« Er wandte sich an Leandra: »Faril hier wollte dich nicht beleidigen, als er dich einen Bastard nannte. Es ist nur … eine unerwünschte Verbindung. Aber es ist vielleicht tatsächlich der einzige Weg, wie wir das Erbe unserer Rasse weitergeben können. Für die Menschen ist das jedoch nicht ohne Gefahren. Ein Kind unserer beiden Rassen reift langsam, gute fünfzehn Monate, es ist eine Strapaze für eine Menschenfrau, und oft stirbt sie daran.«
»Und umgekehrt?«, fragte ich. »Müsste es dann nicht euren Frauen leichter fallen?«
Lasra sah mich vorwurfsvoll an.
»Verzeiht«, sagte ich betreten.
»Es geht um unser Vermächtnis«, antwortete Lasra traurig. »Wenn der Rat der Alten entscheidet, dass dies der Weg wäre, den wir gehen müssen, wäre ich auch bereit dazu. Es ändert nichts an meiner Liebe und daran, bei wem ich liegen würde …« Sie wurde etwas rot. »Ich lag schon mal bei einem Menschen. Er war ungeschickt und eilig. Es war kein rechtes Vergnügen.«
»Wie eilig?«, wollte Natalyia wissen.
»Nicht viel länger als eine Viertelkerze, so wie ihr die Zeit messt«, antwortete Lasra. Sie rümpfte die Nase. »Und er stank.«
»Es soll Männer geben, auf die das nicht zutrifft«, sagte Natalyia. Ich tat, als hätte ich es nicht gehört, auch Leandra zeigte keine Regung, aber ich meinte, eine feine Röte an ihrem Hals aufsteigen zu sehen.
»Aber es ist nicht die Lösung«, fuhr Imra fort und sah zärtlich zu Lasra hinüber. »Es gibt nicht mehr viele Frauen unter uns. Als der Strom der Welten versiegte, vergingen hauptsächlich die Frauen. Sie sind näher an der Quelle des Lebens als wir.«
»Wie ist das Verhältnis?«, fragte Leandra leise.
Imra dachte einen Moment nach. »Etwa zwölf zu eins«, teilte er uns traurig mit. »Wenn es Hoffnung für uns gibt, dann nur über die Zeit. Oder wenn wir die anderen finden.«
»Die anderen?«, fragte ich.
Er nickte. »Es gab einst viele Elfenstämme. Aber sie vergingen ebenfalls. Vielleicht gibt es aber noch andere. Irgendwo.«
»Was ist mit den Dunkelelfen?«, fragte ich, als ich mich an etwas erinnerte. Imra sollte die Antwort kennen.
»Ja, es gab einst auch sie«, bestätigte er. »Mutter sagt, wir verstanden uns nicht sonderlich gut mit ihnen. Nur wenige Stämme schlossen sich dem Pakt an, die anderen verachteten den Frieden und zogen davon. Niemand sah sie je wieder.«
»Pakt?«, fragte Leandra neugierig.
»Das war lange vor der Zeit der Menschen«, erklärte Imra. »Es gab einen Krieg zwischen uns. Einen Bruderkrieg. Denn einst waren wir Brüder und Schwestern. Wir trennten uns, sie gingen in die tiefen Höhlen, wir suchten die Höhe der Berge. Sie wurden dunkel und klein, wir heller und größer. Der Pakt besiegelte einen Frieden, der nötig war, denn wir hatten uns gegenseitig dezimiert, und dann kamen die Menschen in unser Land. Mehr und mehr von ihnen, eine nicht enden wollende Flut. Damit begann die Zeit der Menschen. Wir wurden weniger, die dunklen Brüder und Schwestern auch. Wir konnten uns keinen Krieg mehr leisten. Erst recht nicht mit den Menschen. Es gab später noch eine Handvoll von den Dunklen, die sich ebenfalls Askannon anschlossen. Er beeindruckte sie und gab ihnen eine Heimat und eine Aufgabe. Das schätzten sie. Ich kannte den einen oder die andere. Sie waren misstrauisch, aber höflich.«
»Was geschah mit ihnen?«, fragte ich.
»Du weißt es nicht? Nachdem Askannon verschwand, gewann der feige Gott Macht über einen Teil von ihnen, obwohl er es war, den sie bekämpften. Sie ermordeten ihre Brüder und Schwestern, die dem Namenlosen nicht folgen wollten. Sie sind die Falken der Nacht, die Hohepriester des feigen Gottes. Wir können alle froh sein, dass es nicht mehr viele von ihnen gibt.« Er schien amüsiert. »Sie können eine rechte Plage sein, aber sie lieferten schon immer einen guten Kampf.«
»Meine Schwester, Taride, zieht es vor, in Askir zu leben«, sagte Lasra. »Sie ist eine Bardin und mag die Menschen. Sie ist es auch, die andere Stämme sucht, Legenden studiert, Hinweise sammelt, die auf den Verbleib dieser anderen schließen lassen könnten. Sie hatte kürzlich … vor etwa fünfzig Jahren eine Begegnung mit einem dieser verfluchten Brüder. Sie sagt, er hätte sie beinahe besiegt. Sie lernen dazu, haben neue Fähigkeiten erworben.«
»Unsere dunklen Geschwister sind in der Magie nicht so mächtig wie wir«, erklärte Faril. »Deshalb ist das von Belang.« Die anderen Elfen nickten.
»Seid ihr alle darin ausgebildet?«, fragte Leandra gespannt.
»Ja«, antwortete Imra. »Das sind wir.«
Ich hätte jetzt erwartet, dass Leandra sie fragte, ob jemand bereit wäre, ihr etwas beizubringen, aber sie tat es nicht. Sie sah auf das schimmernde Band des Gazar hinab. Langsam schwand das Licht, als die Abendröte verging und sich der Himmel über uns verdunkelte.
»Wir sollten uns vorbereiten. Havald wird nicht allein an Bord gehen.«
»Irgendwie dachte ich mir das schon«, meinte Imra.
Diese andere Art, mit einem Greifen zu reisen, sagte mir noch weniger zu. Stahlklaue stand auf drei Krallen über mir, ich lag auf dem Boden, und die mächtige Kralle hielt mich jetzt schon fest. Leandra, Natalyia und Serafine ging es nicht anders. Das Schiff war schon in Sichtweite, wir warteten nur noch auf den richtigen Moment.
Ich wollte gerade etwas fragen, als Stahlklaue in die Luft sprang und mir dabei fast den Rücken brach. Nur mit meinem Gewicht beladen, sprang er höher und sackte nicht weit durch. Schnell schraubte er sich höher und höher, viel höher, als ich es erwartet hatte, bis das Schiff unter uns nur ein Punkt auf dem Wasser war, dann faltete er die Flügel und wir stießen einem Adler gleich hinab, der Wind war wie eine Mauer und ließ meine Wangen flattern, ich sah nichts … Ein mächtiger Flügelschlag riss mich fast entzwei, als der Greif seine Schwingen ausbreitete, den Sturz abfing und mich, geradezu sanft, auf das Achterdeck der Dhau fallen ließ.
Ganz so hatte ich es nicht geplant. Ich hatte mir vorgestellt, elegant auf beiden Beinen dort zu landen und herrschaftlich den Kapitän in die Knie zu zwingen. So aber rang ich erst mal selbst auf Knien nach Luft.
Der Steuermann und ein weiterer Matrose sahen mich nur fassungslos an, schauten hoch zu Stahlklaue, der im Nachthimmel verschwand, so verblüfft waren sie, dass es mir tatsächlich gelang, mich aufzurichten und mich zu orientieren, bevor sie handeln konnten. Den anderen erging es ähnlich, und die Mannschaft stellte mit noch größerem Erstaunen fest, dass der Himmel ihnen außer meiner Person auch drei Frauen gebracht hatte.
Es war wohl besser, Zeit zu schinden.
»Verzeiht«, sagte ich laut, um alle Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Fährt dieses Schiff nach Janas?«
Der Steuermann nickte nur sprachlos.
»Gut«, sagte ich. »Dann ist es die richtige Richtung. Könnt Ihr uns ein Stück mitnehmen, guter Mann? Ich zahle auch ordentlich.«
Der Steuermann schüttelte den Kopf. Ich sah, dass meine drei Begleiterinnen aufrecht standen, und hoffte, sie waren bereit.
»Nicht? Schade. Warum denn nicht? Weil Ihr ein Schiff des Turms lenkt und im Geheimen jemanden nach Janas bringt, den Ihr unter Deck gefangen haltet?«
Ich könnte schwören, der Steuermann nickte beinahe, bevor er verstand, was ich sagte, und mich dann mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Ich hielt mich an den Plan.
»Seid so gut, werter Mann, und legt am Ufer an. Wir nehmen Eure Gefangene mit, und niemandem geschieht etwas.«
Soweit der Plan.
»Das kann ich nicht zulassen, Esseri«, sagte ein hochgewachsener Mann, der die Treppe zum Achterdeck der Dhau hochkam. Er trug Schwarz, die Ränder seiner Kleider waren mit silbernen Fäden gesäumt.
Er verbeugte sich vor mir, schenkte Leandra, Natalyia und Serafine aber keinen Blick. Sie hatten eine Ecke des Decks für sich, eine gute Position, da niemand sich in ihrem Rücken aufhielt, aber auch sie warteten nur darauf, was geschehen würde.
»Ich nehme an, Ihr seid Havald Bey?«
Ich deutete eine Verbeugung an. »Dann seid Ihr wohl der, den man den Herrn der Puppen nennt?«
»So könnte man sagen.« Er sah zum Himmel hoch. »Mit einem Greifen … Ich muss sagen, Ihr überrascht mich. Nun gut … Beenden wir das.« Er zeigte mit einem Finger auf mich.
»Stirb!«, rief er, und ich fühlte eine Hand nach meinem Herzen greifen, spürte, wie es in meiner Brust barst. Damit war mein Ende besiegelt. Irgendwie hatte ich das befürchtet.
Der Schmerz war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Wenn ich diesem Schmerz Raum ließ, würde ich dem Ungeheuer seinen Wunsch erfüllen. Das sah ich nicht ein. Der Steuermann hatte mir nichts getan, außer mich erstaunt anzusehen. Dennoch war er Seelenreißers erstes Opfer. Im Rückschwung schlug ich dem Puppenspieler gleich noch die ausgestreckte Hand ab.
Er öffnete schon den Mund zu einem Schrei, als die fahle Klinge durch seine Knie fegte. Jetzt schrie er wirklich, er fiel nach hinten, die Treppe hinab. Der eine Matrose schlug mit dem Knüppel nach mir, Seelenreißer schnitt ihm den halben Kopf weg, und ich spürte die erste Welle durch mich gehen, den ersten Rausch. Ich sprang dem Nekromanten nach, landete vor ihm und schlug die andere Hand ab, die in einer blutigen Spur davonflog. »Das kann nicht sein«, keuchte er. »Dein Herz, ich habe es zerquetscht! Du bist tot!«
»Ja«, sagte ich. »Doch ich bin schon öfter gestorben.« Ich setzte Seelenreißers Klinge an, wie Armin es bei Ordun getan hatte, und der Herr der Puppen fing an zu schreien. Seine Augen verloren den Fokus, und ich sah, wie sich sein Gesicht in ein anderes verwandelte, das zu lächeln schien, dann ein weiteres, und dann … sah ich Erkul, den Emir von Gasalabad. Er verweilte einen Hauch länger, fast schien es mir, als ob er mich erkannte und mir zunickte, dann verschwand er. Der Nekromant schrie und schrie, um mich herum geschahen andere Dinge, ich hörte einen Ruf von Leandra, sah aus den Augenwinkeln, wie Natalyia hinter einem Soldaten des Turms auftauchte und er zusammensackte. Ich achtete nicht darauf, sondern hielt die Klinge gegen das Ungeheuer und sah gut ein Dutzend Seelen aus seinem Bann fliehen, bis nur noch sein eigenes Gesicht übrig war.
»So«, sagte ich. »Jetzt du.« Die überraschende Wendung oder die Macht meines Schwertes mussten ihm den Verstand geraubt haben. Er fing an zu lachen und lachte noch immer, als ich ihm mit einem anderen Schwert, das gerade herumlag, den Kopf abschlug.
Selbst dann lachte er noch, doch plötzlich verstand er, was geschehen war. Im letzten Moment sah ich einen Ausdruck schieren Entsetzens auf dem Gesicht, dann war es vorbei.
»Bist du jetzt fertig?«, fragte Leandra milde. Sie und die anderen hatten sich um mich herum postiert, hielten gut zwei Dutzend Soldaten und die anderen Matrosen mit blanken Klingen in Schach. Leandra hatte einen Riss im linken Ärmel und einen blutigen Kratzer im Gesicht, ein Schnitt in ihrem Stoff hatte ihre Rüstung freigelegt. Natalyia und Serafine schienen unverletzt, wobei Letztere zwei blutige Schwerter führte, obwohl sie doch vorher nur mit Dolchen bewaffnet gewesen war.
Ich trat den Kopf des Nekromanten durch ein Loch in der Reling, und wir hörten es platschen.
»Ja«, gab ich Antwort. »Ich denke schon.« Mein Herz raste wie verrückt, doch ich war dankbar dafür.
Es war noch immer eine verfluchte Klinge, aber Seelenreißer und ich verstanden uns langsam etwas besser.
Einer der Soldaten des Turms war ein Leutnant, wenn ich das farbige Band an seiner Schulter richtig deutete. Ich trat vor. »Darf ich um Euren Namen bitten?«
»Janda«, antwortete er und schluckte. »Leutnant Janda.«
»Leutnant Janda also«, sagte ich höflich. »Ihr habt eine Gefangene an Bord, nicht wahr?«
Er nickte.
»Lebt sie?«
Er nickte erneut.
»Habt Ihr etwas dagegen, das Schiff ans Ufer lenken zu lassen und uns die Gefangene unbeschadet zu übergeben?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Esseri. Es wird so geschehen«, sagte er hastig und verbeugte sich tief. Seine schreckgeweiteten Augen sahen immer wieder an mir vorbei auf den kopflosen Leichnam in Schwarz und Silber.
»Dann lasst sie nach oben bringen«, sagte ich freundlich. »Aber achtet darauf, ihr nicht zu schaden, es wäre dreifach Euer Schaden.«
Er verbeugte sich erneut und gab zwei anderen Soldaten den Befehl.
Nur wenige Augenblicke später erschien Marinae im Treppenaufgang, begleitet von den beiden Soldaten, die sofort Abstand von ihr nahmen. Faihlyds Schwester sah sich langsam um, während sie sich die Handgelenke rieb. Sie waren deutlich gerötet. Sie sah nicht gut aus, ihr Gesicht war von Schlägen gezeichnet, das einfache Leinenhemd, das sie trug, blutig, und ich bemerkte Dutzende kleinerer Wunden; sie war oft und hart geschlagen worden. Dennoch stand sie da wie eine Königin. Sie betrachtete die Leichen – ich zählte neun –, dann den Körper in Schwarz und Silber, die Blutlachen überall, in einer davon stand sie mit ihren nackten Füßen. Ich sah genauer hin. An ihrem linken Knöchel konnte ich neben Dreck und Blutspritzern feine Narben ausmachen. Die Prinzessin bückte sich und zog einem toten Matrosen den Dolch aus der Brust. Sie sah mich und meine Gefährtinnen lange an, dann lächelte sie. »Du bist es wieder«, sagte sie. »Willst du mich erneut an einen sicheren Ort geleiten?«
»Ja, Prinzessin«, sagte ich und verbeugte mich. »Ich dachte an den Palast Eures Vaters. Er sollte sicher genug sein.«
Hinter mir hörte ich Holz auf Holz knirschen, als ein ängstlicher Matrose das Ruder herumwarf. Ich schaute nicht hin, Natalyia hatte ihn mit einem Basiliskenblick fixiert, das reichte.
»Sicherer als der letzte Ort, das ist gewiss. Ich dachte oft und lange darüber nach, ob Ihr mich verraten habt, aber das ergab keinen Sinn. Wahrscheinlicher war, dass auch Ihr verraten wurdet.« Sie sah neugierig zu, wie das Schiff langsam von der Flussmitte aus in Richtung Ufer fuhr. »Wie geht es meiner Tochter?«
»Ihr geht es gut, sie ist wohlauf.«
»Den Göttern sei Dank dafür«, sagte sie erleichtert. Sie musterte Serafine eindringlich, dann weiteten sich ihre Augen, aber nur einen kurzem Moment lang.
»Eure Amme hat eine erstaunliche Verwandlung hinter sich.«
»Ja, Hoheit«, bestätigte ich.
Sie musterte die Soldaten des Turms, die uns alle angstvoll anstarrten, danach die Toten. Es gab nur Mondlicht, vielleicht dauerte es deshalb so lange, bis sie den fand, den sie suchte. Bevor jemand eingreifen konnte, machte sie zwei Schritte, fast so schnell wie eine Klapperschlange, und rammte einem der Matrosen, einem muskulösen Kerl mit einer großen Zahnlücke, den Dolch von unten zwischen die Beine. Ich zog scharf die Luft ein, die anderen Matrosen und Soldaten zuckten zusammen, sahen angstvoll zu uns, aber weiter geschah nichts, außer dass der Mann stöhnend vornüber sackte.
»Ich habe ihm eine Belohnung für sein Handeln versprochen«, teilte Marinae uns mit und bedachte den Leutnant mit einem harten Blick.
Der wusste sich nicht besser zu helfen, als sich hilflos zu verbeugen.
Der Kiel knirschte auf Sand. Ich stieß Seelenreißer in die Deckplanken und ritzte ein kompliziertes Muster in die Planken.
»Seht Ihr diesen Bannkreis?«, fragte ich den Leutnant.
Er nickte angstvoll.
»Wenn dieses Schiff noch einmal anhält, bevor es Janas erreicht, oder ein Mann von Bord geht, wird hier ein Dämon erscheinen, der euch alle frisst und das Schiff verbrennt. Hast du das verstanden, Leutnant?«
»Ja, Esseri«, stammelte er und sah kreidebleich den Kreis an.
Wir waren nahe genug am Ufer, und ich sah nach, ob Flussdrachen auf uns warteten. Dem war nicht so, also bot ich Marinae die Hand. Sie nahm sie, und ich hob sie ans Ufer. Nacheinander sprangen auch die anderen an Land.
»Legt ab – und denkt an den Dämon«, rief ich dem Leutnant zu, und er verbeugte sich tief.
»Ja, Esseri.«
Wir sahen zu, wie das Schiff mit langen Stangen vom Ufer weggestoßen wurde, wieder die Flussmitte erreichte und dann langsam unseren Blicken entschwand.
»Ein Dämon, Havald?«, fragte Leandra mit hochgezogener Augenbraue.
»Ich wollte Zeit gewinnen. Vermeiden, dass der Leutnant sich ein Herz fasst und uns zu überraschen sucht.«
»Das wird er jetzt gewiss nicht mehr tun wollen«, sagte Natalyia und lachte laut auf.
Marinae blickte uns nacheinander an. »Sehe ich das richtig?«, fragte sie mit diesem feinen Lächeln auf den Lippen. »Ihr vier überfallt ein Schiff des Turms, das fünfundzwanzig Mann Besatzung hat und von über vierzig Soldaten des Turms geschützt wird?«
Die vierzig Soldaten hatte Sarak freundlicherweise vergessen zu erwähnen. Leandra sah zu mir hinüber und lächelte etwas bissig. Ihr Blick machte deutlich, dass ihr dieser kleine Fehler auch nicht entgangen war. Sie bleckte die Zähne. »Wir hatten einen guten Plan.«
Marinae sah von ihr zu mir. Wenigstens war sie diesmal nicht mit dem Dolch auf mich losgegangen. »Es muss ein sehr guter Plan gewesen sein.«
»O ja«, meinte Serafine, auch sie sah mich vorwurfsvoll an.
»Ein wirklich perfekter Plan, in der Tat«, stimmte Natalyia zu.
Als ob ich etwas dafür könnte! Woher hätte ich denn von den Soldaten wissen sollen?
»Und jetzt?«, fragte Marinae und unterbrach damit die vorwurfsvollen Blicke. »Warten wir hier, bis ein Schiff kommt?«
»Nein«, sagte ich und sah an ihr vorbei. Lautlos waren hinter ihr die fünf Elfen aufgetaucht. »Ich dachte daran, Euch die Gastfreundschaft unseres Lagers, gute Gesellschaft, neue Kleider und eine kleine Stärkung anzubieten. Aber zuerst darf ich Euch Imra, den Prinz der Elfen, und sein Gefolge vorstellen. Sie erklärten sich freundlicherweise bereit, uns mit ihren Greifen zurück nach Gasalabad zu fliegen.«
Marinae wirbelte herum und sah die fünf Elfen dastehen.
»Oh«, sagte sie.
Imra lächelte. Ein ganz klein wenig.
Sie sah mich empört an. »Hättet ihr mit der Vorstellung nicht warten können, bis ich neu eingekleidet bin?«
Ich verbeugte mich tief. »Das nächste Mal werde ich daran denken.«
Die Greifen, so hatte mir Reat erklärt, brauchten noch etwas, bis sie bereit für den Flug zurück waren. Diesmal würde ich bei Conar mitfliegen, dessen Greif auf dem Hinflug keinen zweiten Reiter gehabt hatte. Selbst für Stahlklaue wäre es eine Anstrengung gewesen, mich wieder zurückzufliegen. Wir rasteten also noch etwas. Es gab kein Feuer, wir wollten niemanden auf uns aufmerksam machen. Das hier war schließlich Janas. Zwischen den Bäumen und Sträuchern war es sehr dunkel, aber von den Monden kam etwas Licht, und meine Augen hatten sich an die Dunkelheit angepasst.
Serafine hatte Marinae hinter einen Busch begleitet, wo sich die Prinzessin umzog. Wir hatten für sie die gleichen dunklen Gewänder mitgebracht, die auch wir trugen. Jetzt unterhielt sie sich mit Imra, als wäre nichts weiter geschehen, als hätte es diese brutale Gefangenschaft niemals gegeben. Eines wusste sie noch nicht, denn niemand hatte bisher ihren Vater erwähnt.
»Marinae erinnert mich an Falah«, sagte ich leise zu Leandra. »Sie hat den gleichen unbeugsamen Stolz.«
»Magst du sie?«, fragte Leandra.
»Ja.« Ich runzelte die Stirn. »Ich denke schon. Warum?«
»Nur so«, sagte Leandra.
Ich zog sie an mich. »Was ist?«, fragte ich leise und strich ihr über das weiche Haar.
»Faril fragte mich, ob wir drei dein Harem seien«, gestand mir Leandra leise. »Als ich das verneinte, war er der Meinung, Natalyia und Serafine wären Konkubinen.« Sie schmiegte sich an mich. »Vielleicht hat er recht und es sollte so sein. Natalyia ist bereit, für dich zu sterben. Sie hat es schon einmal beinahe getan. Ich weiß auch, warum. Zokora sagte ihr, dass du es warst, der sie umgestimmt habe. Zokora sprach davon, dass du ihr gesagt hättest, Natalyia sei auch nur ein Hund. Sie nennt sich ja selbst Balthasars Hund, aber das hat sie tief getroffen. Dennoch liebt sie den Grund, auf dem du wandelst. Serafine … Serafine …« Leandra seufzte. »Serafine sieht in dir Jerbil Konai. Für sie warst du schon immer ihr Versprochener, wiedergeboren, um sie aus der Eishöhle zu befreien, wie er es ihr wohl geschworen hatte. Sie liebt dich. Bedingungslos.«
Ich wollte etwas sagen, auch das mit dem Hund hatte Natalyia falsch verstanden, aber Leandra legte mir einen Finger auf die Lippen. »Shhh«, sagte sie, ganz leise und mit belegter Stimme. »Es ist schon gut. Manchmal sehe ich, wie sie hinter dir hersehen. Jede von ihnen würde sofort mit dir vor einen Priester treten oder deine Konkubine werden. Aber ich … ich kann das nicht. Ich kann nicht mit dir vor die Götter treten, bevor Thalak geschlagen und Kolaron nicht mehr ist.«
»Aber ich …«
»Sshhh … ich bin noch nicht fertig, Havald. Faihlyd sieht es auch. Sie fragte, ob es möglich sei, dass du Serafine heiratest, um die Allianz zu besiegeln.«
Götter! Faihlyd! Um die Allianz zu besiegeln, in der Tat! Oder auch, um die Gefahr, die Faihlyd in Serafine erkannte, zu bannen. Ich kannte die Emira gut genug, um zu wissen, dass sie sich nichts Böses dabei dachte, doch es wäre für sie eine Lösung, also warum sie nicht anstreben? Ich schüttelte den Kopf und wollte es Leandra erklären.
Doch sie unterbrach mich erneut. »Havald, ich liebe dich«, sagte sie sanft. »Ich weiß, ich sage es nicht oft, aber es ist so. Wenn du eine oder beide heiraten willst, dann tue es. Ich werde deine Konkubine bleiben, denn das ist es, was ich bin. Nicht mehr.«
Ich schob sanft ihren Finger von meinen Lippen und schaute ihr tief in die Augen. »Du bist so viel mehr für mich. Außerdem hat Faihlyd Angst vor Serafine. Sie will sie auf diese Weise unschädlich machen. Viele Fliegen auf einen Streich. Das steht dahinter, mehr nicht. Du bist meine Liebste.«
»Das weiß ich. Wir sind beide Bastarde, wir passen zusammen. Aber …«
Diesmal legte ich ihr den Finger auf die Lippen. »Du hast es selbst gesagt. Wir haben uns selbst erschaffen. Das zählt. Aber ja, wir passen zusammen.«
»Serafine und Natalyia sind schöne Frauen. Liebst du sie denn nicht?«
Ich zögerte einen Hauch zu lange. »Auf eine andere Art. In Freundschaft.«
Sie nickte. Sie schien nicht besonders überzeugt. »Havald«, sagte sie dann leise. »Ich will dich nicht teilen. Aber ich würde es tun.«
Ich zog sie an mich, einen kurzen Moment lang schien es fast so, als ob sie sich dagegen sträuben würde, dann wurde sie weich und floss in meine Arme. »Lea. Wir werden das zusammen durchstehen. Danach, wenn Kolaron vor dir im Staub liegt, werde ich dich auf meinen Armen in einen Tempel tragen und dich vor den Göttern ehelichen. Das ist ein Versprechen.«
Sie kuschelte sich mit dem Gesicht in meine Halsbeuge. »Dann ist es gut«, hauchte sie.
»Ich weiß nicht, wie du auf solche absurde Ideen kommst …«, sagte ich und hielt inne, als ich ihren regelmäßigen Atem spürte. Sie war in meinen Armen eingeschlafen! Eben noch war ich müde gewesen, dann kam sie und sagte so etwas. Und jetzt schlief sie.
»Frauen«, fluchte ich leise. Jetzt war ich hellwach.
Im Schatten bewegte sich etwas, schon wollte ich nach Seelenreißer greifen, als ich Natalyia erkannte.
»Hast du uns etwa belauscht?«, fragte ich sie ungläubig.
Sie nickte und sah mich unverwandt an. »Zokora sagt, nur so erfährt man, was andere einem nicht sagen wollen.«
»Natalyia …«
»Balthasar hielt mich als seine Hündin. Aber ich bin kein Hund«, sagte sie leise. »Ich werde nie mehr für jemanden ein Hund sein. Aber wenn du willst, dass ich belle, werde ich es tun.« Sie glitt lautlos davon.
Ich musterte das dunkle Gebüsch misstrauisch. »Noch jemand am Lauschen?«
Es war vielleicht nur der Wind, der das Blattwerk rascheln ließ. Leandra murmelte etwas, ich sah auf sie hinunter, aber sie schlief.
»Götter«, fluchte ich leise. »Als ob das alles nicht schon kompliziert genug wäre!«
Wir flogen noch in der Nacht zurück. Conar erklärte mir, dass es am Tage besser wäre für die Greifen – warme Luft erleichterte das Fliegen –, aber die Elfen hatten es eilig, in ihre Berge zurückzukehren. Das kam uns entgegen. Wenigstens redete ich es mir ein. Als Conar mich am Sattel festband, überprüfte ich die breiten Schnallen besonders sorgfältig. Alles schien gut. Sein Greif war nicht ganz so sprunggewaltig wie Stahlklaue, aber im zweiten Anlauf gewannen auch wir an Höhe. Über uns spannte sich ein wolkenloser Nachthimmel voller Sterne. Soltars Reich. Doch ich stürzte nicht ab. Ja, es hatte mich tatsächlich ein Herz gekostet, aber wer glaubte schon an Prophezeiungen?
Stunden später fiel ich vor den Palaststallungen zu Boden und sah von dort aus zu, wie Falah und Faihlyd Marinae unter Tränen in die Arme schlossen, ein schweigsamer Armin daneben, der mit unbehaglicher Miene zu mir schaute. Ich war zu müde, um ihn zu fragen, was los war. Während ich mir meine Beine massierte, schaute ich zu, wie Faihlyd mit betretenem Gesichtsausdruck Marinae etwas erklärte und dann das Auge gegen ihre Hand hielt. Die Prüfung schien erfolgreich, denn die Schwestern fielen sich wieder in die Arme. Dann zuckte Marinae zurück und begann zu schreien, ein Schrei voller Empörung und Schmerz, ein Schrei voller Leid und Verlust. Wir alle zuckten zusammen. Im Licht der Fackeln erkannte ich Marinaes Gesicht, es war voller Entsetzen und Leid, und als sie auf die Knie sank und ihre Schultern zitterten, schaute ich weg. Ich dachte an das Gesicht des Emirs, sein Lächeln, den Moment des Erkennens, und blickte hinauf in die Sterne und hoffte, dass er wusste, wie sehr man ihn geliebt hatte.
Als die Kräfte langsam in meine Beine zurückkehrten, zog ich mich an einer Säule des Stalls hoch, die anderen traten zu mir heran, Leandra lehnte sich an mich. Wir sahen zu, wie die drei Frauen und Armin in Begleitung von Soldaten der Palastwachen durch eine Seitentür den Palast betraten und sich die Tür schloss.
»Sie haben uns vergessen«, sagte Leandra leise. »Einfach vergessen.«
»Uns auch«, hörte ich Imras amüsierte Stimme hinter mir. Ich sah nach hinten, und dort standen die fünf Elfen. Imra zog einen Ring von seinem Finger und reichte ihn mir.
»Damit ihr uns nicht auch vergesst.« Er setzte eine hochmütige Miene auf. »Das sind wir nicht gewohnt!«, deklamierte er in weinerlichem Tonfall.
Serafine lachte und schlug ihm hart auf die Schulter. Der Elfenprinz trug Rüstung, er blinzelte nicht einmal.
Imra umarmte sie und trat dann zurück. »Auf dass wir uns wiedersehen, kleine Schwester.« Er sah mich an. »Ich werde sehen, ob es möglich ist«, sagte er dann zu mir, denn ich hatte ihn um etwas gebeten.
Lasra trat vor und strich Leandra mit den Fingerspitzen über die Wangen. »Wir werden Schwestern sein«, sagte sie dann, lächelte verschmitzt und gab Leandra einen raschen Kuss auf die Wange, was Leandra mit weiten Augen zur Kenntnis nahm. Die Elfe verbeugte sich dann leicht vor Serafine und Natalyia.
»Serafine …«, sagte sie zögerlich. Etwas bedrückte sie. Serafine schien zu wissen, was es war, denn sie lächelte.
»Es ist gut, Schwester«, entgegnete sie, und Lasra schien erleichtert.
»Vielleicht sieht man sich wieder«, sagte Conar, und Reat lächelte, während Faril sich noch einmal verbeugte. Dann drehten sich die Elfen auf dem Absatz um und stiegen auf ihre Greifen. Vom Boden aus sah das Auf und Ab leicht und elegant aus. Der Abwind der mächtigen Flügel wirbelte Staub auf und ließ Serafines und Natalyias Haar wehen, dann, mit einem sanften Rauschen ihrer Federn, entschwanden die Greifen und ihre Reiter in der Dunkelheit der Nacht.
»Lasst uns nach Hause gehen«, sagte Leandra bedächtig, und wir gingen den langen Weg zum Haupttor. Ich sah hoch zur Kuppel des Palasts, der Spiegel stand noch immer aufrecht. Das Tor wurde uns geöffnet, ein anderer Leutnant musterte uns neugierig, als wir das Palastgelände verließen und durch die dunklen Straßen nach Hause gingen. In der Ferne war der Himmel bereits wieder gerötet, um uns herum erwachte allmählich die Stadt.
Halb rechnete ich damit, dass irgendetwas geschah, aber es blieb ruhig, nur ein Betrunkener begegnete uns und wich auf die andere Straßenseite aus. Für ihn waren wohl wir es, die bedrohlich wirkten. Ich schloss die schwere Tür unseres Hauses auf, aber sie wurde uns von innen aufgezogen, Taruk stand da und verbeugte sich tief.
»Willkommen daheim, Esserin«, sagte er mit einem Lächeln. Er schloss die Tür hinter uns und legte einen Riegel vor. Ich war überraschend froh, ihn zu sehen. Was war nur mit Armin los?
Ich nickte Natalyia und Serafine zu und wünschte ihnen eine gute Nacht, dann gingen Leandra und ich hoch in unser Zimmer. Schweigend entkleideten wir uns und gingen zu Bett, Leandra ganz nah bei mir. »Daheim«, sagte sie, fast unhörbar.
»Ja.«
Sie seufzte leise und schlief beim nächsten Atemzug ein. Ich konnte nicht schlafen, noch nicht. So müde ich auch war, verfolgte mich doch ein Bild. Ein rollender Kopf mit einem blutverschmierten Halsstumpf … Kurz bevor der Kopf über Bord gefallen war, hatte ich ihn im vollem Licht des Monds noch einmal angeschaut. Ich hatte in das entsetzte Antlitz eines Mannes geblickt, das ganz anders war, als man es mir beschrieben hatte. Wer auch immer da auf dem Schiff gestorben war, ich wusste, es war nicht der Herr der Puppen.