13. Des Dieners neue Kleider

 

Diesmal weckte mich tatsächlich niemand, und ich schlief wie ein Stein, so lange, bis mir der Rücken wehtat und ich wirklich und wahrhaftig ausgeschlafen war. Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte. Nur mit einem Laken um die Hüften tapste ich zum Balkon und schaute zum Himmel. Es war deutlich nach Mittag.

Dann sah ich hinunter in den Hof, dort stand Armin, aber er wandte sich ab und ging ins Haus. Irgendetwas war nicht, wie es sein sollte. Ich kleidete mich an, wieder in die einfachen Leinengewänder, die ich im Haus bevorzugte, und ging in die Küche.

Dort fand ich, wie erwartet, Armin. Afala verbeugte sich leicht, stellte mir einen Becher Kafje hin, so wie ich ihn mochte, eilte davon und zog lautlos die Tür hinter sich zu. Sonst war niemand in der Küche.

»Armin«, begann ich. »Was ist eigentlich …«

»Ihr brecht mein Herz, Esseri«, unterbrach er mich, was selten genug vorkam. »Wie könnt Ihr das tun? Vor allem wird es ihr Herz brechen, denn Ihr liebt sie nicht!«

Ich begann zu verstehen. »Armin, ich …«

»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich Euch bewundere. Und, ja, noch immer nenne ich Euch einen Freund, aber habt Ihr Euch das überlegt? Das kann doch nicht Euer Wille sein!« Es fehlte nicht viel, und er hätte verzweifelt die Hände gerungen.

»Armin, schau …«

»Es wäre eine Sünde, Herr!«, unterbrach er mich zum dritten Mal und schaute mich flehend an. »Ein Mann spricht einem anderen nicht in solche Angelegenheiten hinein. Aber sie ist meine Schwester, Herr! Wie wollt Ihr vor den Götten stehen und …«

»Armin!«

Er zuckte zusammen und öffnete den Mund.

Ich hob einen Finger. »Still! Wenn du mich jetzt nicht ausreden lässt, werde ich wirklich laut! Ich liebe Leandra. Ich werde sie in den Tempel führen. Keine andere.« Er öffnete den Mund erneut, und ich hob wieder den Finger. »Deine Löwin hatte diese Idee. Sie allein kam darauf und hat damit schon genug Verwirrung gestiftet. Ich habe nicht die Absicht, Serafine … Helis, meine ich … in den Tempel zu führen, noch wird sie meine Konkubine sein. Bevor auch das wieder falsch verstanden wird: Ja, es wäre eine Ehre für mich, und nein, ich habe sie nicht entehrt, und ja, ich mag sie auch.«

»Aber Esseri …«

Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an, und er schwieg tatsächlich.

»Richte deiner Löwin aus, dass ich auch sie mag und bewundere und dass ich jeden Respekt vor ihr habe, persönlich und als Herrin von Gasalabad. Aber richte ihr auch aus, dass sie genügend andere zu regieren hat und es ihr nicht zusteht, mein Leben zu beherrschen.« Ich holte Luft. »Du kannst ihr auch ausrichten, dass ich dich bitten werde, sie übers Knie zu legen, wenn sie damit nicht aufhört.«

Armin blinzelte zweimal, dann spielte ein Lächeln um seine Lippen und ich sah den gewohnten Schalk in seinen Augen blitzen.

»Es war die Idee meiner Löwin?«, fragte er deutlich erleichtert. Diesmal rieb er seine Hände in offensichtlicher Vorfreude. »Ihr könnt mir glauben, Herr, ich werde ihr mit Genuss Eure Botschaft ausrichten! Ich bin versucht, ihr deutlich zu machen, dass ich ebenfalls nicht zufrieden damit bin, zu erfahren, dass sie meine Schwester verkuppeln wollte. Obwohl …« Er seufzte. »Sie könnte argumentieren, dass sie das Recht dazu hat. Esseri, Ihr wisst nicht, wie geschickt sie mit ihren Worten ist.« Er hielt inne, schien zu merken, was er gesagt hatte, und lachte. »Manchmal muss sogar ich aufpassen, dass sie mir die Worte nicht verdreht.«

Hinter mir öffnete sich die Tür, und ich ahnte schon, wer da hereinkam. Ich sah hin und behielt recht, es war Serafine. Ich nickte ihr freundlich zu.

»Armin«, sagte sie, als sie sich zu uns an den Tisch setzte, allerdings ohne mich weiter zu würdigen. »Es wäre gut gewesen, mit mir darüber zu sprechen!«

»Das wollte ich doch, Helis«, entgegnete er. »Aber …«

»Ich bin Helis. Das sagte mir der Diener Soltars, und ich glaube ihm. Aber ich bin nicht mehr deine kleine Schwester, Armin. Eher ist es jetzt anders herum.« Sie stand auf und berührte ihn leicht an der Wange. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Sie schaute mich an, und ihr Blick war ungewohnt hart. »Ihr braucht keine Angst zu haben, Havald Bey«, sprach sie formell. »Ich werfe mich schon nicht vor Eure Füße, Ihr braucht nicht zu befürchten, dass Ihr über mich stolpert.« Sie ging zur Tür, blieb dort kurz stehen, bedachte uns beide mit einem vernichtenden Blick und zog ganz langsam die Tür hinter sich zu.

Armin ging zur Tür und öffnete sie wieder, aber es war niemand da.

»Ist dieses Haus hellhörig?«, fragte er in der Art eines Mannes, der nur schlechte Nachrichten erwartete.

»Nicht dass ich wüsste. Ich denke, sie haben allesamt gute Ohren. Zudem gibt es da noch Zokoras Einfluss …«

Er sah mich mit traurigen Augen an und kam wie ein geprügelter Hund zum Tisch zurückgeschlichen. Ich musste mir ein Lächeln verbeißen. Imra und er hatten viel gemeinsam.

Armin seufzte theatralisch. »Es sind doch die Männer, denen die Götter die Welt in die Hände gaben, oder? Sie machten ihnen Frau und Tier untertan, auf dass sie die Weltenscheibe regieren. So steht es doch geschrieben, oder nicht?«

Ich sagte nichts, denn er war noch nicht fertig.

»Wir sind stärker als sie. Weiser, klüger, und die Götter haben uns über sie gesetzt, auf dass sie uns gehorchen. So steht es in den Büchern. Ich habe die Passagen selbst gelesen. Es steht wirklich so darin. Sagt mir, Esseri, wie kommt es dann, dass ich mich gerade fühle wie ein Ochse, der an seinem Nasenring gezogen wird? Helis hat stets zu mir aufgesehen, ich war ihr großer Bruder, der immer alles für sie richtete. Habe ich nicht meinen Schwur gehalten? Habe ich sie nicht befreit aus den Klauen dieses Verfluchten? Habe ich mich nicht um sie gekümmert?« Er sah mich flehend an. »Was habe ich falsch gemacht?«

Ich seufzte. »Nichts, Armin. Du hast all das getan, und das war auch gut. Aber es ist nicht Helis, die zurückkam, sondern Serafine. Und obwohl sie, wie sie sagt, über die Erinnerungen deiner Schwester verfügt, mag sie die Dinge anders sehen. Sie war drei Dutzend und zwei Jahre alt, als sie in dieser Eishölle starb. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen.«

»Solange sie unverheiratet ist, bin ich noch immer das Oberhaupt der Familie.«

Ich schloss die Augen und massierte meine Schläfen. In meinem Kopf dröhnte es. »Manchmal irren auch die Götter. Ich habe meine Zweifel, ob es reicht, wenn man den Frauen sagt, dass sie zu gehorchen haben. Sie könnten auf die Idee kommen, zu fragen, warum sie das tun sollten.« Ich machte eine kurze Pause. »Bist du dir sicher, dass du größer, weiser und schlauer bist als Serafine? Oder Leandra? Oder Faihlyd? Was, wenn sie sich alle drei gegen dich zusammentun würden, wie sähe es dann aus?«

Er ließ den Kopf in seine Hände sinken. »Bedenklich, Esseri, sehr bedenklich.« Er sah mich durch die Finger mit einem Auge an. »Darf ich Euch fragen, was Ihr getan habt, dass Helis Euch so böse angesehen hat?«

»Nichts.«

»Aber wieso …?«

»Wenn ich das weiß, werde ich es dir sagen.« Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »War das der einzige Grund, aus dem du gekommen bist?«

Er schüttelte den Kopf und richtete sich auf. »Nein, Esseri. Ich werde für heute wieder Euer Diener sein und Euren Großmut preisen, dass Ihr mir meine Torheit so leicht verzeiht. Zudem bringe ich Nachricht von meiner Löwin. Sie lässt ausrichten, dass gestern Nacht kein geeigneter Zeitpunkt für ihren Dank gewesen sei, er aber gewiss nicht in Vergessenheit gerate.«

Ich dachte an den Greifenritt zurück, und bei der Erinnerung allein wurden mir die Beine fast taub. »Ich bin froh, dass Marinae endlich wohlbehalten in den Kreis ihrer Familie gelangt ist.«

Er sah mich verlegen an.

»Was ist noch?«, fragte ich misstrauisch.

»Sie wird morgen im Tempel des Boron Anklage erheben. Sie wusste nicht genau, wer Ihr seid, obwohl Ihr sie schon zweimal befreit habt. Jetzt weiß sie es. Sie neigt dazu, zu fordern, aber Euch bittet sie höflich, ob Ihr nicht zugegen sein könnt, wenn sie vor den Gott der Gerechtigkeit tritt. Sie bat auch die Maestra, Helis und Natalyia hinzu.«

»Und?«

»Die Essera Falah bittet Euch, die Maestra und meine Schwester zum Tee. Wenn Ihr einen Boten schickt, wird sie sich, was den Zeitpunkt betrifft, nach Euch richten. Das tut sie sonst für niemanden«, erklärte Armin.

Ich unterdrückte einen Seufzer. Die Essera Falah hütete ein Buch mit Prophezeiungen und war fest davon überzeugt, dass etwas über mich darinstand. Ich war sicher, dass dieses Buch der Grund der Einladung war.

»Natalyia ist nicht eingeladen?«

Armin schüttelte den Kopf.

»War das alles?«

Er zögerte. »Das hier noch«, sagte er dann. »Taruk fand es auf Eurem Bett.« Fast zögerlich griff er unter seine Jacke und reichte mir eine schwere silberne Münze, die aber gleichmäßig schwarz angelaufen oder lackiert war. Die eine Seite war glatt, die andere enthielt die Prägung eines Falken.

»Ist es das, was ich denke?«, fragte ich und legte die Münze auf den Tisch.

»Ja, Esseri«, bestätigte er. »Es ist genau das. Somit habt Ihr noch zwei Tage zu leben.«

»Wirklich?«, fragte ich ihn überrascht. »Wieso das?«

»Es ist Tradition, dass Ihr nach der Warnung drei Tage Zeit habt, Eure Angelegenheiten zu regeln.«

»Das ist sehr zuvorkommend.« Ich sah auf die Münze herab. »Sie lag auf meinem Bett?«

Er nickte bloß.

»Ich habe mich gewundert, warum sie mich nicht schon früher angegriffen haben«, sagte ich.

»Ihr versteht nicht, Esseri. Es sind nicht die Nachtfalken selbst, die Euren Tod wünschen. Tatsächlich bedeutet diese Münze, dass sie Euch respektieren. Es ist die alte Art. Außerdem sagt diese Münze Euch, dass sie beauftragt wurden. Das gibt Euch also genau diese drei Tage Zeit, Euren Mörder ausfindig zu machen und Euch vielleicht selbst zu rächen.« Er lächelte schief. »Es heißt, es sei ab und an geschehen, dass sowohl der Auftraggeber als auch das Opfer eine Münze erhielten.«

»Das bedeutet, dass sie den Kontrakt erfüllen werden, auch wenn ich den Auftraggeber vorher ausfindig mache und ihn selbst zur Verantwortung ziehe?«

»Wenn Ihr ihn vorher tötet?«, fragte Armin. »Es hilft nichts. Der Kontrakt ist bindend. Es ist eine Frage der Ehre für die Nachtfalken.« Er sah mich ernst an. »Ich bin froh, dass sie Euch die Münze gebracht haben. Der Mörder wird sich Euch zeigen und im Kampf stellen. Es wird Euch nichts nützen, denn dieser Kampf wird von Anfang an zugunsten des Nachtfalken gewichtet sein. Solltet Ihr ihn aber besiegen, wird es keinen neuen Kontrakt mehr geben. Zumindest nicht für zwanzig Jahre.«

Ein Nachtfalke im offenen Kampf. Ich dachte an Serafines Worte zurück, sie hatte diese Attentäter als feige bezeichnet.

»Noch etwas, Herr. Wenn Euch jemand in diesem Kampf beisteht und Ihr dann siegt, wird man einen neuen Nachtfalken schicken. Ihr müsst Euren Angreifer allein besiegen, damit Ihr zwanzig Jahre lang geschützt seid.«

»Du glaubst nicht, dass ich siegen werde?«

»Ich hoffe es. Wenn einer siegen kann, dann Ihr. Ihr seid der Engel des Todes … aber …« Er ließ den Kopf hängen. »Es gelingt kaum jemandem, einem Nachtfalken zu entkommen.«

Ich schob die Münze vor mir auf dem Tisch hin und her. »Ich frage mich gerade, ob ich wirklich entkommen will.« Die Münze war aus Silber, aber die Schwärze war überall gleichmäßig und eben. Es war kein Lack und keine Farbe. Es war gewiss nicht einfach, diese Münze zu fälschen.

»Weiß schon jemand anders davon?«, fragte ich.

»Taruk weiß es. Er ist verschwiegen und hat es nur mir mitgeteilt. Er hätte es Euch selbst gesagt, aber er wollte Euch diesmal schlafen lassen.«

»Wieso zwei Tage, wenn es doch drei sein sollten?«

»Ihr habt die Münze schon gestern erhalten.«

Wieder ging die Tür hinter mir auf, und ich nahm mir vor, mich das nächste Mal seitlich zu setzen. Ich schaute mich um, diesmal war es Leandra, und ich war erleichtert, dass wenigstens sie mich mit einem Lächeln begrüßte. »Hast du gut geschlafen, Havald?«, fragte sie, beugte sich herab, um mir einen Kuss zu geben, und erstarrte in der Bewegung.

»Was hast du da in der Hand?«, fragte sie.

»Eine Münze«, antwortete ich und steckte sie möglichst nebensächlich ein. »Nichts weiter von Belang.«

Sie sah mich seltsam an, gab mir dann doch den Kuss und strich mir mit den Fingerspitzen über die Wange, als sie sich setzte.

Sie nestelte an ihrem Hals herum, zog ihren Geldbeutel aus dem Kragen hervor, öffnete ihn und entnahm ihm eine schwarze Münze. Sie legte sie vor sich auf den Tisch.

Einen Moment lang dachte ich, mir würde Herz und Atem stocken, dann spürte ich, wie mein Puls zu galoppieren anfing. Götter! Nicht auch Leandra!

»Ich glaube, Havald, du bist Heimlichkeit wirklich nicht gewohnt«, sagte sie und lächelte mich an, auch wenn es etwas traurig wirkte. »Wenn du etwas verstecken willst, merkt es jeder.«

Ich starrte auf die Münze vor ihr. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass auch sie ein Ziel sein würde, aber das war dumm und blöde von mir, denn sie war ja die Botschafterin der Rose von Illian.

»O Esseri …«, hauchte Armin und sah von ihr zu mir. »Es tut mir ja so leid!«

»Wir haben zwei Tage, unsere Angelegenheiten zu regeln«, verkündete ich. Ich lächelte, und es musste ein grimmiges Lächeln gewesen sein, so wie Leandra und Armin mich ansahen. Ich fixierte Armin. »Vorher muss ich etwas in Ordnung bringen. Vergiss nicht, der Emira auszurichten, wie wenig erfreut wir über ihre Einmischung sind.«

Ich klopfte und öffnete die Tür zu Natalyias Raum. Ich hatte sie nirgends sonst gefunden. Sicher konnte ich nicht sein, in einem Haus aus Stein brauchte Natalyia nicht unbedingt eine Tür. Ich nahm mir vor, sie zu fragen, ob die glasierten Ziegel an der Außenwand ein Hindernis für sie darstellten.

Der Raum erschien mir im ersten Moment leer. Doch dann nahm ich eine Bewegung wahr, wich zurück und hatte den Dolch in meiner Hand, bevor ich wusste, dass ich ihn gezogen hatte. Aber es war nur Natalyia, die federnd vor mir landete und sich mit einem Lächeln aufrichtete.

Sie war barfuß, trug eine Leinenhose wie ich auch, allerdings war ihre schwarz und mit feinen Lederriemen entlang ihrer Beine geschnürt, sodass sie eng anlag. Dazu ein ärmelloses Oberteil aus demselben dunklen Leinen, ebenfalls mit Leder geschnürt, sowie zwei lederne Unterarmschützer, die jeweils zwei schmalen Stiletten Platz boten. Ich sah einen geröteten Schnitt auf ihrem linken Oberarm und ahnte durch den Stoff einen Verband knapp über ihrem rechten Knie, was mich an den Kampf gestern erinnerte. Vierzig Soldaten! Götter!

In der letzten Zeit schien es mir, als ob wir jeden Tag unser Glück mehr und mehr aufbrauchen würden. Ich hoffte nur, dass noch etwas davon übrig blieb.

»Verzeiht, Havald«, sagte sie. »Kommt herein, ich habe gerade nur ein wenig geübt.«

Ich sah hoch zur Decke, die, wie in den meisten mir bekannten imperialen Gebäuden sauber aus Stein gefügt war, und musterte dann wieder Natalyia. Der glatte Stein hätte kaum jemandem Halt geboten, nur bei ihr war das natürlich anders.

Ein Schwert hatte ich in ihren Händen noch nie gesehen, aber ich wusste, dass sie auch mit einer Armbrust tödlich war.

Wenn man die Dolche außer Acht ließ, schien es schwer vorstellbar, dass Natalyia eine ausgebildete Attentäterin war. Sie war kleiner als Leandra und nicht so gertenschlank wie meine Liebste, ihre Gestalt war voller, weiblicher, mit schlanker Taille, großem Busen, einer wohlgeschwungenen Hüfte mit langen, schlanken und dennoch muskulösen Beinen. Lange braune Haare, Augen von der Farbe dunklen Bernsteins, ein Charaktergesicht mit dem leichten Aufwärtsschwung ihrer Nase, feinen Augenbrauen, langen dunklen Wimpern, hohen Wangenknochen und mit vollen, sinnlichen Lippen … Fleischgewordene Versuchung.

Nein, sie sah nicht aus, als müsste man sich vor ihr in Acht nehmen, dennoch hätte sie mich beinahe und scheinbar mühelos in Soltars Reich geschickt, wenn Zokora nicht in letzter Sekunde eingegriffen hätte. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie mir genau diese Stilette mit einem Gefühl von brennendem Eis tief in den Leib gestoßen wurden. Nur der Zufall war es, der diesen Angriff nicht hatte tödlich enden lassen.

Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir.

»Kommt Ihr, um mich wegen meiner Worte gestern Nacht zu tadeln?«, fragte sie, während ich mich in ihrem Raum umsah. Das Zimmer war vom Grundriss her meinem und Leandras gleich, aber kärglich eingerichtet: ein Schrank, das Bett, ein Tisch, ein Stuhl, zurzeit alles an die Wände geschoben, um in der Mitte Platz zu schaffen.

»Nein«, sagte ich. »Nicht deswegen. Ich will dich nicht tadeln, ich will etwas erklären. Zuerst will ich dir sagen, dass ich dir vertraue. Vertrauen ist etwas, das man sich verdient. Manchmal sehr teuer.« Unwillkürlich ruhte mein Blick auf ihrem Busen. Ich wusste, dass es dort unter dem dünnen Stoff eine feine Narbe gab; sie stammte von einem für mich bestimmten Armbrustbolzen, dem sie sich in den Weg geworfen hatte.

Sie sah mich überrascht an und schluckte. »Havald …«, sagte sie leise und trat einen Schritt zurück. Sie hatte meinen Blick falsch gedeutet.

»Nein«, beeilte ich mich zu sagen, den Blick wieder auf ihr Gesicht gerichtet, in dem eine feine Röte stand. »Ich dachte eben an den Bolzen, der dort …« Ich machte eine hilflose Geste. Heute schien der Tag, an dem ich nur das Falsche sagte und tat. »Du hast dir mein Vertrauen verdient, das war es, was ich sagen wollte«, fügte ich hastig hinzu. »Ich habe nur unwillkürlich …«

»Ich verstehe«, meinte sie und senkte den Blick. Dann schaute sie mich wieder an und lächelte leicht – das verführerischste Lächeln, das ich jemals bei ihr gesehen hatte. »Es wäre vielleicht lohnend gewesen. Ich bin auch in den Künsten der Liebe sehr gut ausgebildet.«

»Das glaube ich dir gern«, antwortete ich und dachte verzweifelt an Leandra. Meine Stimme klang plötzlich etwas belegt. »Aber es sind deine anderen Fähigkeiten, die mich zu dir führen. Diese und noch ein weiterer Grund.«

Sie sah mich prüfend an und nickte dann vorsichtig.

»Du bist sehr selbstbewusst, was deine Fähigkeiten betrifft«, fuhr ich fort. »Was denkst du? Könntest du Zokora besiegen?«

Ihre Augen weiteten sich. »Ich würde es nicht wollen.«

»Aber jemanden wie Zokora? Einen Nachtfalken zum Beispiel?«

Sie lächelte. »Ich würde es hoffen. Sie kennen meine Art zu kämpfen nicht.«

»Und du nicht ihre.«

»Ich weiß mehr von ihnen als sie von mir«, entgegnete sie. »Ich würde nicht den offenen Kampf suchen.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Meuchler glauben nicht daran, dass man sie meucheln kann. Das ist ein Irrtum. Es ist das Erste, was ich gelernt habe.«

»Also hättest du keine Furcht, dich einem Nachtfalken zu stellen?«

»Zokora hat mir die Furcht genommen. Es gibt nicht mehr viel, was ich fürchten kann. Es gibt Ängste, die ich habe, aber wenig Furcht.« Sie sah nachdenklich aus. »Also hat Leandra Euch von der Münze erzählt. Jetzt wollt Ihr Euch mit den Nachtfalken messen und überlegt, ob Ihr allein gehen wollt, oder ob ich Euch begleiten soll.«

Ganz offensichtlich sprachen die Frauen mehr miteinander, als es den Anschein hatte, genauso offensichtlich war, dass sie mich ganz gut kannten.

»Das trifft es in etwa.«

Sie musterte mich offen. »Ihr braucht mich, Havald«, fügte sie dann leise hinzu. »Leandra und Serafine auch. Was ist, wenn Ihr Euer Schwert nicht zur Hand habt? Ihr braucht jemanden, der auf Euren Rücken achtet.«

»Hältst du mich für hilflos?«, fragte ich.

Sie lachte leise. »Nicht, wenn Ihr Eure Klinge führt. Vor dieser Klinge fürchte ich mich. Vor dieser Klinge und Zokora. Sonst fürchte ich nichts.« Sie holte tief Luft. »Es gibt keinen besseren Leibwächter als einen Attentäter«, sprach sie weiter. »Jeder unterschätzt mich, auch Ihr. Auch Janos. Noch immer. Meine Stärke ist Geschwindigkeit und Präzision, dazu kommt noch, dass ich die Schatten liebe.«

»Geschwindigkeit und Präzision«, wiederholte ich. »Du solltest dich mit Serafine unterhalten, sie sieht die Dinge ähnlich.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Wir sprachen bereits darüber. Wir können uns gegenseitig viel beibringen.«

Irgendwie war das keine besondere Überraschung.

»Du bist also dabei?«, fragte ich. »Es ist nicht dein Kampf.«

»Da irrt Ihr, Havald«, sagte sie mit einem seltsamen Blick.

Ich sah es anders. Aber gut. »Es gibt noch etwas, das ich dir sagen will. Ich will dir etwas erklären.«

»Ja?«

»Ich habe Zokora ein Gleichnis erzählt. Es ging um zwei Hunde, die ich hatte, einer groß und träge, der andere klein und schnell. Unterschiedlich wie Tag und Nacht. Es ging darum, dass beide Hunde dennoch Hunde waren. Das Gleichnis sollte ausdrücken, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Mensch und Elf. Sie verstand es sogar. Das war es, was sie meinte, als sie sagte, du wärst auch ein Hund. Sie gab damit zu, dass du und sie gleich sind, auch wenn es Unterschiede gibt. Es hat nichts damit zu tun, dass du dich als Balthasars Hund gesehen hast. Du bist kein Hund. Auch nicht der meine.«

Sie sah mich lange aus diesen unergründlichen Augen an. »Sie ließ mich gehen, weil Ihr Zokora erklärt habt, dass Mensch und Elf gleich sind? Dass wir Schwestern sind, obgleich sie ein Elf ist und ich ein Mensch?«

Ich nickte.

Sie seufzte, und mit einer fließenden Bewegung sank sie vor mir auf die Knie. In einer ganz und gar seltsamen Art landete sie in einer Art gekreuztem Sitz, die Stirn auf die Dielen gepresst. Ohne dass ich sah, woher, waren in ihren Händen die Stilette erschienen, sie hielt sie vor sich auf den Boden, die Klingen vor meinen Füßen gekreuzt. Ihr langes Haar war wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht, ihr schlanker Nacken frei. Zum ersten Mal sah ich, dass sie dort eine Tätowierung trug, eine Art Rune mit Schnörkeln und Querbalken.

»Natalyia?«, fragte ich vorsichtig.

Sie schien mich nicht einmal zu hören.

»Natalyia, was soll das bedeuten?« Ich berührte sie leicht an der Schulter, aber sie rührte sich noch immer nicht. »Was machst du da?«

Keine Antwort.

»Steh auf!«, befahl ich.

Es war, als ob sie einfach zurückfließen würde in ihre vorherige aufrechte Haltung. Eine Körperkontrolle, die mich an Zokora erinnerte. Zugleich war es eine … sinnliche Bewegung. Mit einer Hand schob sie ihr Haar aus dem Gesicht und sah mich aus diesen bernsteinfarbenen Augen an. Katzenaugen. Sie glänzten seltsam.

»Was sollte das eben bedeuten?«

»Es ist besser, wenn Ihr jetzt geht«, sagte sie und senkte den Blick.

»Natalyia …«

»Bitte.«

Ich wartete einen Moment, aber sie schaute nur weiter zu Boden. Ich wandte mich zum Gehen, was blieb mir anderes übrig? Mit der Hand auf dem Türknauf zögerte ich.

»Kann ich dich noch etwas fragen?«

Sie schaute hoch, es schien, als ob sie leicht lächeln würde. Irgendwie war ich erleichtert, was auch immer das alles zu bedeuten hatte, wenigstens schien sie keinen Groll gegen mich zu hegen.

»Das kommt auf die Frage an.«

»Warum hast du den Bolzen nicht aufgefangen?«

Sie sah mich mit großen Augen an. »Ihr meint den Armbrustbolzen, der mich traf?«

Ich nickte.

»So schnell, einen Armbrustbolzen aus der Luft zu fangen, kann niemand sein«, antwortete sie. »Nicht einmal ich. Das sind Legenden.«

Diesmal klopfte ich an Serafines Tür. Sie öffnete mir sofort. Sie war ähnlich gekleidet wie ich, nur dass diese leichten Gewänder bei ihr eine schlanke Taille und Figur betonten. Sie trug sie, als wäre sie in ihnen geboren worden. Was ja auch gewissermaßen zutraf.

»Wenn du mich tadeln willst, Havald, kommst du im falschen Moment.« Ihre Stimme war belegt, und wenn ich mich nicht sehr täuschte, waren ihre Augen leicht gerötet. Hatte sie geweint?

»Götter!«, sagte ich verdrossen. »Warum denkt denn ein jeder, dass ich tadeln will? Tadele ich so oft?«

»Eigentlich nie«, meinte sie. Sie trat zurück, ließ mich ein und sank in einen der Stühle an dem kleinen Tisch. Ich nahm den anderen. Ich sah mich in ihrem Zimmer um, es war ähnlich eingerichtet wie meines und Leandras, aber es gab hier noch keine persönliche Note, bis auf eine. Auf dem kleinen Tisch, neben dem wir saßen, lagen teure Blätter aus Papyira und verschiedene geschnitzte Kohlestücke. Ihre Hände trugen Spuren der Kohle, das oberste Blatt war umgedreht, auf einer Ecke auf dem Blatt darunter sah ich, dass auch das eine Zeichnung enthielt. Sie folgte meinem Blick und lächelte verlegen.

»Du zeichnest?«, fragte ich. »Das wusste ich nicht.«

Sie sah mich an, lächelte und schüttelte den Kopf. »Woher denn auch? Du kennst mich nicht, Havald. Ich spiele außerdem noch Harfe und Flöte, bin fähig, in vier verschiedenen Sprachen gepflegte Konversation zu betreiben, eine Rüstung zu reparieren, Wehranlagen zu planen und Umhänge zu besticken. Ich bin eine Tochter aus gutem Haus. Mein Vater verzweifelte oft an mir, sparte aber nicht an meiner Erziehung. Ich kann einen Ball ausrichten und den Wochenbedarf an Versorgung für eintausend Soldaten im Kopf zusammenstellen, ohne etwas zu vergessen. Dennoch ist es nur ein Bruchteil dessen, was ich kann und bin. Ja, ich zeichne … unter anderem.«

»Darf ich mal sehen?«, fragte ich.

Sie seufzte. »Wenn du willst.«

Ich drehte das oberste Blatt um. Es war ein Bild von Leandra. Sie sah richtig verwegen darauf aus, mit einem Funkeln in den Augen und einem breiten Grinsen, als hätte gerade jemand einen Witz gerissen. Es war ein wunderschönes Bild. Nicht so technisch präzise wie die Bilder, die der Zeichner von Sarak und seinen Leuten angefertigt hatte, aber eines, das Leandra selbst einfing, ihre Art und ihr Wesen. Es war genau die Art, wie ich Leandra sah, und ich schaute Serafine überrascht an. Dann erblickte ich das andere Bild.

Zögerlich nahm ich es auf, denn es zeigte mich. Aber es war niemand, den ich in einem Spiegel erkennen würde. Es war eine frontale Ansicht. Ich wirkte hagerer, die Nasenfalten waren tief, eine feine Narbe bedrohte mein linkes Auge, der Mund war schmal und entschlossen; knapp am rechten Mundwinkel vorbei zog sich eine weitere Narbe zum Kinn. Die Augenbrauen, die in Wirklichkeit bestimmt auch nicht so buschig waren, hatte ich zusammengezogen, mit zwei steilen, tiefen Furchen auf der Stirn. Man sah, dass meine Nase zweimal gebrochen war. Ich wirkte über die Maßen brutal, denn auf dem Bild hatte ich die Zähne zusammengepresst, die Wangenmuskeln traten hervor, mein Kinn, das doch nicht wirklich so breit und stur sein konnte, war geradezu kämpferisch vorgereckt, und es lagen dunkle Schatten um mich, mit leichten Strichen angedeutet, als ob dunkler Rauch um mich wehen würde. Meine Augen waren schmal und drohend, doch es gab keine Augäpfel oder Pupillen, nur Schwärze und darin … Sterne.

Die Zeichnung vermittelte ein Ausmaß an Entschlossenheit, nein, Angriffslust, Wut, Wille … all das und mehr … alles in diesen dunklen, sternenbehafteten Blick gebannt, sodass ich unwillkürlich zurückwich und die Zeichnung fallen ließ, als hätte ich mir die Finger daran verbrannt.

»Das bin nicht ich!«, entfuhr es mir.

Sie nahm die Zeichnung, fuhr einmal leicht mit den Fingerspitzen darüber und legte sie mit dem Bild nach unten wieder auf den Tisch.

»Doch, das bist du«, sagte sie. »Du bist es nicht immer. Aber oft genug.« Sie schaute zu mir hoch. »So hast du ausgesehen, als du diesen Kreis in das Deck des Schiffes geritzt und dem Leutnant erklärt hast, dass ein Dämon dort auftauchen würde, wenn er nicht täte, was du sagtest. Er hat es geglaubt.« Sie sah mir direkt in die Augen. »Ich habe es geglaubt. Ich glaube außerdem, dass genau das geschehen wäre, wenn sie sich nicht an deine Anweisungen gehalten hätten.«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nicht sein. Dass ich so aussah, meine ich. Es gibt auch keinen Dämon, ich habe nur auf ihren Aberglauben spekuliert.« Ich tippte mit dem Finger auf den Rücken des Bilds. »Du hast mich so gezeichnet, als wäre ich einer dieser Teufel.«

»Hat dieses Bild eine große Ähnlichkeit mit Leandra?«, fragte sie leise und deutete auf das Bild meiner Liebsten.

Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare. »Ja, du weißt, dass es so ist. Du hast sie vorzüglich eingefangen.«

»Das Bild von dir ist besser. Genau so hast du gestern Nacht auf dem Schiff ausgesehen. Das ist der Grund, weshalb wir noch leben. Du hast vor den Augen der Soldaten einen Nekromanten getötet. Jeder konnte erkennen, dass es einer war, wir alle haben die Seelen gesehen, die er freigab, auch die Soldaten des Turms waren Zeugen. Sie mögen loyal zu ihrem Haus sein, aber auch sie fürchten die Seelenreiter. Es sah so mühelos aus, wie du ihn besiegt hast.«

Allein bei der Erinnerung zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Mühelos.

Sie bemerkte meinen Blick und verstand. »So hat es gewirkt, Havald. Nachdem du ihn besiegt hattest, hast du dich aufgerichtet und sie alle angesehen, genau so, wie ich dich hier gezeichnet habe. Hast du in diesen Landen schon einen Mann gesehen, der so groß und breit ist wie du? Außer den Nordmännern, meine ich.«

»Janos ist breiter«, protestierte ich.

»Er ist auch einen Kopf kleiner. In der Nacht fällt ein Mann, ein Riese, vom Himmel, in dunkle Gewänder gekleidet, mit Sternen in den Augen, in der Hand ein Schwert, dessen Klinge wie Mondlicht ist. Er zerstört einen der Unheiligen, als wäre es nichts, und teilt dann dem Leutnant mit, er möge doch bitte die Gefangene herausgeben. Wunderst du dich, dass man dir gehorcht hat?« Sie schüttelte den Kopf und wirkte noch immer fassungslos. »Es gab auf dem Schiff nur so lange Widerstand, bis die Soldaten dich gut sehen konnten … Dann war es vorbei, sie gaben auf.«

»Es muss Seelenreißer sein«, sagte ich langsam. »In der letzten Zeit habe ich mich ihm mehr geöffnet. Es war notwendig gestern Nacht, denn der Nekromant hat mein Herz zum Bersten gebracht. Ich war gezwungen, einen der Matrosen zu töten, nur weil ich sein Leben brauchte, damit Seelenreißer mir das Herz heilt. Früher habe ich mich fern gehalten von der Gier meines Schwerts, heute … Manchmal gehe ich darin auf. Es muss Seelenreißer sein.«

Sie sah mich an und lächelte. »Das ist möglich. Denn sonst bist du nicht so.«

»Serafine. Egal, wer ich sonst auch bin, ich bin nicht Jerbil Konai«, sagte ich brutal. »Du musst das einsehen! Er ist seit Jahrhunderten tot!«

»Ja«, sagte sie einfach. »Aber was bedeutet das schon?«

Ich sah sie ungläubig an.

»Erinnere dich daran, was der Diener Soltars sagte. Stirbt ein Mensch, wird er wiedergeboren, und die, die ihn lieben, werden ihn erkennen.«

»Es ist nicht möglich. Schau, Helis. Ich habe den Geist des Sergeanten vor mir stehen sehen. Wenn wir die gleiche Seele hätten, hätte es sie zweimal gegeben, zumindest in diesem Moment.«

»Ja. Es wäre wundersam, nicht wahr? Unverständlich und etwas, das nur die Götter verstehen.«

»Serafine. Ich bin nicht er.«

»Und ich bin nicht Helis. Und doch sagt der Priester, dass ich es bin.«

»Serafine, hör mir zu.«

»Ssshh, hör du mir jetzt zu.« Zum zweiten Mal in kurzer Zeit legte mir eine Frau einen Finger auf die Lippen. »Havald, ob du Jerbils Seele trägst oder nicht, ist nicht von Belang. Du liebst Leandra und nicht mich. Das ist es, was wichtig ist. Schau mich an, was fühlst du, wenn du mich ansiehst?«

»Serafine …«

»Beantworte mir diese Frage. Oder ist sie so schwierig?«

»Nein.« Ich atmete tief durch. »Ich sehe eine junge Frau, die ich sehr mag, achte und respektiere. Ich vertraue dir in einem Maße, wie ich es nicht gewohnt bin, und obwohl wir uns nicht lange kennen, spüre ich eine tiefe Freundschaft und Bindung zu dir. Aber es ist nicht Liebe. Es ist nicht das, was mich zu Leandra zieht. Es ist nicht dieses Verzehren, dieses Gefühl, vergehen zu müssen … Ich kann es nicht beschr …«

»Das musst du nicht«, unterbrach sie mich mit leiser Stimme. »Ich kenne es wohl, dieses Gefühl. Du bist hierher gekommen, um mir zu sagen, dass ich dich nicht lieben soll, weil es keine Hoffnung darauf gibt, dass du mich ebenso lieben wirst, nicht wahr?«

Ich nickte nur.

Sie drehte das Bild von dem um, der nicht ich sein konnte. »Kann man diesen Mann lieben, Havald?«

Ich schaute auf das Bild herab. »Habe ich wirklich so ausgesehen?«, fragte ich und merkte, wie belegt meine Stimme war.

Sie nickte.

»Dann bin ich froh, dass Leandra ihn lieben kann«, sagte ich und stand auf. Es gab nichts mehr zu sagen. Nur noch eins. »Hätte ich gewusst, was die Emira plant, wäre es nie so weit gekommen.«

»Ich weiß, Havald. Sind wir Freunde?«

Jetzt sah ich sie überrascht an. »Hast du nicht zugehört, Serafine?«

»Doch«, meinte sie. »Ich wollte nur wissen, ob ich es richtig verstanden habe.«

»Serafine … verzeih, Helis … ich habe jedes Wort so gemeint.«

»Das habe ich gehofft.«

Ich wandte mich zum Gehen.

»Havald?«

Ich sah zu ihr zurück.

»Wolltest du mich nicht fragen, ob ich mitkomme, um die Nachtfalken zu vernichten?«

Ich runzelte die Stirn. »Gibt es in diesem Haus denn keine Geheimnisse?«

Sie lachte. »Doch, viel mehr, als du denkst, Havald. Aber ja, ich komme mit. Ihr werdet mich brauchen.«

Das hatte Natalyia auch gesagt. Ich nahm den Türknauf in die Hand.

»Havald?«

Ich seufzte. Sie zeigte mit einem schlanken Finger an die Decke. Dort an der Wand, knapp unter der Decke, gab es in jeder Wand fünf rechteckige Löcher, etwa zwei Handbreit. Wenn es warm war in Gasalabad, und das war es immer, und sich das Haus aufheizte, dann erlaubten diese Löcher der warmen Luft einen Ausweg, sodass das Haus nie stickig war. Jedes Zimmer hatte diese Löcher unter der Decke. Unsere Zimmer, auch Natalyias und Serafines, lagen zum Innenhof hin, es gab weitere Zimmer auf der anderen Seite des Gangs, die an der Außenmauer lagen, dunklere Zimmer mit kleineren, meist fest verschlossenen Fenstern. Kühler und dunkler. Links von Serafines Raum befand sich Natalyias Gemach, rechts von Serafine das von Leandra, danach folgte meins.

Armin hatte recht. Dieses Haus war hellhörig. Mehr, als ich gedacht hatte.

Ich sah zu den Lüftungslöchern hoch. »Wieso höre ich nie etwas?«, fragte ich, immer noch ungläubig darüber, dass ich das übersehen hatte.

»Ich möchte wetten, du hast Janos gehört, wenn er mit Sieglinde sprach, oder auch manchmal Varosch. Oder Armin.«

Ich nickte. »Ja, sicher. Aber nie euch.«

»Wir Frauen reden anders miteinander. Und hören auch anders zu.« Sie stand auf, trat an mich heran, öffnete die Tür und schob mich mit leisem Druck hinaus. »Ich sollte dich nicht länger aufhalten«, sagte sie freundlich. »Du hast noch viel zu tun.«

Ich stand auf dem Gang und sah die Tür verdutzt an. Ich hörte leises Lachen und sah mich um. Dort stand Armin, mit schmunzelndem Gesicht. »Spürt Ihr auch gerade den Nasenring?«

Die Tür sprang auf, und Serafine streckte den Kopf heraus. »Manchmal denkt der Ochse auch nur, man würde ihn führen, tatsächlich stolpert er aber blind vor sich hin«, sagte sie mit einem vernichtenden Blick in Armins Richtung. Sie funkelte auch mich an, dann schlug sie die Tür wieder zu.

Armin und ich wechselten einen Blick.

»Es gibt auch in der Stadt noch etwas zu tun«, sagte ich milde. »Oh«, meinte er. »Gewiss. Dann sollte man es auch tun. Es steht geschrieben, dass, schiebt man etwas auf die lange Bank, es manchmal von ihr herunterfällt.«

»Ich frage mich, wo das wirklich alles geschrieben steht«, gab ich zurück, als wir uns in Richtung Treppe bewegten.

»In den heiligen Schriften, in den weisen Worten, die uns hinterlassen wurden, und im Buch des Lebens. Jeden Tag lese ich Neues und bin immer gern bereit, Euch an meiner so hart erkämpften Weisheit teilhaben zu lassen.« Er verbeugte sich tief. »Ich bin Euer untertänigster Diener, Esseri.«

»Ich habe kürzlich einen Elfen kennengelernt, mit dem du dich gut verstehen würdest«, sagte ich trocken.

Taruk wartete unten in der Halle auf uns und verbeugte sich, als er mich sah. Mir fiel etwas ein. Mein Augenmerk galt dem Kandelaber, der so hoch über uns hing.

»Taruk«, sagte ich. »Siehst du diese vielen Kerzen?«

Er sah hoch und nickte dann. »Ja, Herr. Der Kronleuchter ist staubig«, stellte er dann fest.

Ich winkte ab. »Das ist es nicht. Ich erkenne nur keinen Sinn darin, so viele Kerzen dort in schwindelnder Höhe zu haben, wenn man nicht daran gelangt. Es muss einen Weg geben.«

»Wollt Ihr ihn entzündet sehen, wenn es Nacht wird?«, fragte er. »Oder soll er gereinigt werden?«

Es waren Dutzende in klares Glas gefasste Lampen, noch mehr freistehende Kerzen sowie Hunderte dieser Kristalle und Linsen auf diesen imposanten acht Armen verteilt. Eine Armee von Dienern müsste eine Woche lang putzen … wahrscheinlich jeden dieser Kristalle aushängen und dann auch wieder an die richtige Stelle zurückhängen. Was für eine Arbeit!

Also schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich will nur wissen, was es mit diesem Kandelaber auf sich hat. Er beunruhigt mich, so wie er da über unseren Köpfen hängt. Ich will wissen, wie sicher er ist. Außerdem muss er irgendeinen Sinn haben. In diesem Haus hat alles einen Sinn. Finde heraus, welchen.«

Auch Armin sah zu dem Kristallleuchter hoch, als hätte er ihn nie zuvor gesehen. »Er ist wirklich gigantisch«, stellte er mit Ehrfurcht fest. Eine Falte erschien auf seiner Stirn. »Wenn er herunterfällt, wird er jeden, der hier steht, erschlagen.«

»Eben«, sagte ich. »Weißt du etwas darüber? Du hast die Arbeiten im Haus beaufsichtigt.«

Er schüttelte den Kopf. »Ja, aber ich kann mich nicht erinnern, dass jemand etwas über den Kandelaber gesagt hat. Er war schon immer hier.«

Ich sah ihn ungläubig an. »Du meinst, er hängt schon hier, seit das die imperiale Münzerei war?«

Er nickte. »Seit siebenhundert Jahren.« Er zuckte hilflos mit den Schultern.

Ich sah Taruk an.

»Ich werde herausfinden, wie fest er hängt«, sagte der und verbeugte sich leicht. Er öffnete die Tür, aber auch er sah nun skeptisch hoch zur Decke.

»Wohin, Esseri?«, fragte Armin, als er mir nacheilte. Er wirkte etwas unglücklich.

»Zum Haus der Hundert Brunnen«, teilte ich ihm mit. »Was siehst du mich so an?«

»Wenn wir zum Haus der Hundert Brunnen gehen, ist es nichts, Esseri«, teilte er mir erleichtert mit. »Dort werdet Ihr Euch sicher umziehen wollen.«

Ich schaute an mir herab. Ich trug das leichte Leinen, das ich mir vorhin übergeworfen hatte. Wenn ich mich umsah, konnte ich auf einen Blick Dutzende sehen, die ähnlich wie ich gekleidet waren. Bis auf die Stiefel. Meine waren neu und bequem, andere gingen oft barfuß oder trugen Sandalen, teilweise aus einfachem Leder oder gar nur aus Seil gefertigt. Zudem hatte ich einen weißen Burnus umgelegt und trug Seelenreißer an der Seite und einen schönen Dolch im Gürtel. »Es gibt nichts daran auszusetzen, wie ich gekleidet bin«, teilte ich ihm mit.

»Gewiss, gewiss, Herr. Aber Ihr seht nicht aus wie ein mächtiger Fürst.«

»Das ist Absicht, Armin. Ich will gar nicht so aussehen.«

»Oh«, sagte er. »Sollte dann etwa ich mich umkleiden?« Er bemerkte meinen Blick und reckte stolz das Kinn mit dem Bärtchen. Tatsächlich hatte er sich heute selbst übertroffen. Er war farbenprächtig wie immer, diesmal trug er eine gelbe Weste mit roten und goldenen Stickereien, und auf seinen Stiefeln waren … ich glaubte es kaum … Perlen festgenäht!

»Sind das echte Perlen?«, fragte ich ungläubig.

»Ja, Esseri«, strahlte er. »Keine guten, sie sind aus dem Fluss und kosten nicht viel, aber sie sind echt. Gibt es denn auch falsche?«

Ich blinzelte. Es gab falsche Edelsteine, solche, die man aus Glas schliff, so viel wusste ich, aber wie sollte es falsche Perlen geben? »Du musst ein Vermögen für deine Kleidung ausgeben!«

Er bedachte mich mit einem strahlenden Lächeln. »Ja, Esseri, aber ich finde, jedes Kupferstück hat sich gelohnt, nicht wahr?«

Ich zog es vor, nicht darauf zu antworten. Wenn es notwendig war, dann sollte er sich eben als Herr bezeichnen, und ich mimte den Diener.

»Der Mann, den Ihr sucht, heißt Rekul. Hauptmann der Reitergarde«, teilte mir der Hüter der Geheimnisse mit, während ich in unseren alten Gemächern saß und einen Kafje trank, der mir von einem der diskreten jungen Männer gebracht worden war. »Er ist zwei Dutzend und vier Jahre alt, jung für seinen Rang, den er auf Empfehlung erhielt. Diese Empfehlung« – er schloss kurz die Augen, als er sich erinnerte – »diese Empfehlung stammte von Esseri Pasaran, dem ständigen Gesandten des Hauses der Schlange hier in Gasalabad. Es scheint, als sei der damalige Leutnant dem Gesandten gegen Räuber behilflich gewesen.«

Ich nickte. Die Häuser der Schlange, des Turms und des Tigers bildeten die Eckpunkte der Allianz gegen den Löwen.

»Er verrichtet seinen Dienst zuverlässig und gut, allerdings hat er eine kranke Schwester, so sagt er. Damit er sich um sie kümmern kann, übernimmt er oft zusätzliche Wachen, sodass er auch manchmal zwei oder drei Tage am Stück frei hat. Diese Schwester gibt es tatsächlich. Sie arbeitet im Haus der Leidenschaften, allerdings ist sie nicht krank.«

Das Haus der Leidenschaften. Ich hatte den Namen schon einmal gehört.

»Der Hauptmann hofiert die Tochter eines Schneiders: Man geht davon aus, dass diese Verbindung geknüpft werden wird. Der Hauptmann führt ein normales Leben, bis auf die Tatsache, dass er manchmal mitten in der Nacht sein Haus verlässt. Ihm gehört ein eigenes Haus, obwohl er nichts geerbt hat. Sein Sold reicht auch nicht dazu.« Der Hüter der Geheimnisse öffnete die Augen wieder. »Er war wohl einmal unvorsichtig, der Herr Hauptmann, und hat auf Hahnenkämpfe gewettet. Er verlor hoch und stand tief in der Schuld eines Geldverleihers namens Hasur. Dieser starb kürzlich im Haus der Leidenschaften, sein armes Herz war überanstrengt. Es heißt, er habe einen schönen Tod gehabt. Doch schon Wochen zuvor hatte er dem Hauptmann überraschenderweise alle Schulden erlassen, worauf der Hauptmann sein Haus erstand. Gestern Nacht verließ der Hauptmann das Haus wieder, traf sich mit drei anderen am Osttor und ritt mit ihnen zusammen aus. Sie waren einfach gekleidet, mit dunklen Gewändern, aber sie trugen darunter Rüstungen. Auch diese drei anderen waren Soldaten, einer davon dient allerdings dem Baum, die anderen, wie der Hauptmann selbst, dem Löwen. Am frühen Morgen kehrte er zurück, besuchte erst das Haus der Leidenschaften und ging dann nach Hause. Heute Abend wird er Dienst haben, eine Patrouille im Osten, entlang des Handelwegs, der den Lauf des Gazar begleitet.« Der Hüter der Geheimnisse verbeugte sich. »Das ist es, was wir über den Hauptmann herausgefunden haben. Über die Frau gibt es nur ein Gerücht. Jemand hat gesehen, wie eine Frau, auf die die Beschreibung passt, auf ein Flussschiff gebracht wurde. Sie wehrte sich, deshalb fiel es auf. Es war ein Schiff des Turms. Wenn Ihr möchtet, kann ich weitere Nachforschungen einleiten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein.«

Er nickte. »Wie Ihr wünscht. Der andere Mann, den Ihr sucht, ist Saik Sarak, ein Söldner im Dienst des Turms. Er verschwand vor ein paar Nächten spurlos aus seinem Bett im Palast des Turms. Dort herrscht seitdem helle Aufregung, und die Wachen wurden vervierfacht. Ich weiß nicht, ob es von Belang ist, aber es gibt jemanden, der behauptet, er habe den Mann mit der Narbe am Kinn erkannt. Der sei an einem Doppelmord beteiligt gewesen. Der Zeuge hat sich allerdings nicht an die Stadtwachen gewandt … Er bleibt gern auf Distanz zu den Soldaten der Emira.«

»Was für ein Doppelmord?«

»Ein Nordländer und eine Hure. Mehr ist mir nicht bekannt. Soll ich es in Erfahrung bringen?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. Reka. Ich hatte sie nur kurz kennengelernt, eine Hure, die niemandem etwas bedeutete. Ich hatte ihr Gold gegeben, damit sie freikam, und wollte mich noch darum kümmern, dass sie tatsächlich fliehen konnte, aber ich hatte es vergessen.

Vergessen!

Jetzt war sie tot.

»Wann geschah der Mord, o Hüter der Fragen?«

»Heute Nacht, in den frühen Morgenstunden«, teilte mir der diskrete junge Mann mit. »Der Mann wurde einfach nur erschlagen, die Frau erlitt, so sagte man mir, ein schlimmeres Schicksal. Sie sei lange gefoltert worden und man habe sich an ihr vergangen. War sie wichtig?«

»Ja«, sagte ich, und der Hüter der Fragen wirkte erstaunt.

Ja. Sie war bestimmt jemandem wichtig gewesen. Ihren Eltern oder Geschwistern, vielleicht auch nur sich selbst. Sie hatte nichts verbrochen, außer mir eine Geschichte zu erzählen. Letztlich war sie es gewesen, die es uns ermöglicht hatte, Prinzessin Marinae zu befreien. Sie hätte uns – mir – wichtig sein sollen.

»Danke«, sagte ich.

»Gibt es noch etwas, mit dem ich Euch behilflich sein kann?«

»Ja, allerdings weiß ich nicht, ob Ihr das wollt. Ich habe gehört, dass schon einmal ein Gast des Hauses von Nachtfalken bedroht wurde.«

»Das ist richtig. Er starb.«

Natürlich.

»Hat das Haus versucht, ihn zu schützen?«

Der Mann wurde nun vorsichtig. »Ja, doch ohne Erfolg. Aber es musste versucht werden. Wir verloren gute Männer, das weiß ich.«

»Wisst Ihr vielleicht auch etwas über die Nachtfalken, das nicht jeder weiß? Wo sie sich verstecken?«

»Sie dienen dem Namenlosen, Esseri. Sie verstecken sich nicht, sie sind nur nicht zu sehen. Ich denke, sie werden sich im Tempel des namenlosen Gottes versammeln.«

»Wisst Ihr, wo man diesen Tempel finden kann?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Nein, Esseri. Es heißt allerdings, er liege tief unten in der alten Kanalisation, in der finstersten Dunkelheit, so weit wie möglich vom Licht entfernt.«

»Hhm«, sagte ich. »An der tiefsten Stelle der Kanalisation?«

»Das würde ich vermuten. Niemand weiß mehr darüber, auch ich nicht.« Er zögerte. »Ich kann versuchen, mehr zu erfahren, aber es ist zweifelhaft, ob es gelingt. Wenn Ihr wünscht, werde ich …«

Ich schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viele Nachtfalken es gibt?«

»Es werden dreizehn sein. Es sind immer dreizehn für jeden Tempel. Das ist bekannt. Sie sind seine Priester.«

»Ich danke Euch.«

Er erhob sich, verbeugte sich einmal tief und verließ wortlos den Raum.

»Das wird Euch viel Gold kosten, Esseri«, meinte Armin leise.

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Nur, dass Ihr ein Fuchs seid, Herr.«

»Weißt du, Armin, da irrst du. Ich bin kein Fuchs. Aber ich weiß, was auch Füchse wissen: Der Bau hat immer mehr als einen Ausgang.«

»Das ist bekannt, Esseri.«

»Weißt du auch, dass man niemals einen Fuchsbau am Wasser findet?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Esseri, das wusste ich nicht. Wir haben Füchse in der Wüste, aber nicht viel Wasser. Warum meiden sie das Wasser?«

»Weil Füchse schlau sind.« Ich trank meinen Becher leer. »Es wird Zeit für einen weiteren Besuch.«

Wir kamen zu spät, die Tore der Bibliothek waren schon geschlossen. Ich hatte zu lange geschlafen und die Zeit vertrödelt, die Abenddämmerung nahte schon.

»Ich darf niemanden mehr einlassen«, erklärte der Wachsoldat vor den großen Toren des imposanten Baus mit großer Wichtigkeit. »Es ist auch niemand mehr dort, außer weiteren Wachen«, fügte er hinzu. Sein Blick machte deutlich, dass wir das bedenken sollten, bevor wir auf absonderliche Ideen kämen.

»Ist der Hüter des Wissens noch zugegen?«, fragte ich höflich und ließ ein Silberstück zwischen meinen Fingern glänzen.

Der Wachsoldat sah mich nur verächtlich an. »Es ist in den Archiven kein offenes Licht erlaubt, nur die Spiegel. Jedes Kind weiß das! Wenn die Sonne untergeht, wird die Bibliothek fest verschlossen und gesichert. Das Wissen von Jahrhunderten und ganzen Herrschergeschlechtern lagert hier, und Ihr denkt wirklich, dass jemand, der die Ehre hat, das Wissen des Reichs zu bewachen, empfänglich ist für eine Bestechung?« Seine Stimme hob sich während der letzten Worte immer mehr, und seine Augen funkelten mich mit dem Zorn des Gerechten an.

»Aber …«, begann ich.

»Ihr versteht das falsch!«, unterbrach mich Armin etwas hastig. »O Beispiel der Tugend, mein Herr wünscht Euch nur dafür zu belohnen, dass Ihr Eure Pflicht so vorbildlich erfüllt, denn seht, er weiß, dass das Wissen, das er sucht, hier liegt und somit auch von Euch geschützt wird. Also tut Ihr auch ihm einen Dienst, nichts anderes will er zum Ausdruck bringen.« Armin nahm mir das Silberstück aus den Fingern und drückte es dem Soldaten in die Hand. »Seht, mein Herr ist jemand, der Wissen achtet. Wir sind zu spät gekommen und werden am Morgen wiederkehren, wenn die Tore zum Hort des Wissens geöffnet sind und ein alter Freund, Abdul, der Hüter des Wissens, uns empfangen wird. Wir waren nur zu spät, es ist nichts weiter.«

Der Mann sah uns noch immer misstrauisch hinterher, als wir wieder gingen. Armin seufzte. »Bestechung braucht eine gewisse Finesse, Herr. Oder wolltet Ihr den armen Kerl beleidigen?«

»Nein«, sagte ich, während ich überlegte, wohin ich jetzt gehen wollte. »Gut. Dann eben morgen.« Ich lenkte meine Schritte in eine gewisse Richtung.

»Wohin wollt Ihr, Herr?«

»Zur Botschaft der Reichsstadt.«

»Die Sonne geht unter. Die Tore werden geschlossen sein. Es ist immer so. Niemand kommt dann hinein.«

»Das werden wir sehen.«

»Die Bullen am Tor sind unbestechlich. Oft sind es Menschen mit wenig Humor, sie handeln manchmal etwas … grob, allein schon beim Versuch. Sie sind so stur, dass nicht einmal mein Geschick mit Worten Euch diese Türen öffnen wird. Wäre die Maestra dabei, ihr strahlendes, feines Lächeln und vor allem ihr Status als Botschafterin könnten dieses Wunder vielleicht bewirken, aber das Licht Eures Herzens ist nicht hier, und so werden diese mächtigen Tore geschlossen bleiben, seine harten Mauern auch gegen uns ein Bollwerk darstellen.«

»Ich denke schon, dass sie uns öffnen werden.«

Vorerst sollte ich aber noch nicht herausfinden, ob ich recht behalten würde. Wir gingen gerade über den Platz der Ferne. Hier wurden allmählich die Stände der Märkte geschlossen, es war weit weniger los als am helllichten Tag, aber noch immer genug, dass ich die sechs Soldaten der Stadtwache etwas zu spät wahrnahm. Selbst wenn ich sie bemerkt hätte, hätte ich mir nichts weiter dabei gedacht, es gab für mich meist wenig Grund, mich vor den Wachen zu fürchten.

»Halt, ihr da, stehen bleiben!«, bellte der Anführer des kleinen Trupps, ein Korporal, wenn ich das Band an seiner Schulter richtig deutete.

»Wollen wir nicht wegrennen?«, fragte mich Armin höflich.

»Nein«

Wir blieben stehen.

Ein anderer Mann, der uns durchaus bekannt war, trat vor. Wir hatten ihn gerade eben erst vor einem Tor stehen und Wache halten sehen. Er hielt anklagend ein Silberstück hoch und deutete mit dem Finger auf mich.

Armin erkannte ihn und stöhnte. »Wir hätten doch wegrennen sollen!«

»Ja! Das ist der Kerl!«, rief der Mann und funkelte mich böse an. »Das sind die Schurken, die nach der Schließung in das Haus gelangen wollten! Seht, womit sie mich bestechen wollten!«

Einer der Stadtsoldaten musterte das Silberstück, dann den jungen Soldaten und verdrehte die Augen. Ich konnte seine Gedanken lesen. Wie konnte man nur so blöde sein!

Ich sah auf Armin herab, der zuckte die Schultern. »Ich sagte ja, Herr, es braucht Finesse.«

»Ihr beide seid verhaftet«, bellte der Korporal. »Ihr werdet eure Waffen und Besitztümer hier auf den Boden legen und dann langsam zurücktreten.«

O Götter. Das versprach heiter zu werden.

»Verhaftet sie! Am besten legt sie gleich in Ketten!«, rief der eifrige Wachmann. »Die Verbrecher verdienen keine Rücksicht, denn sie haben keinen Respekt vor dem Wissen unserer Vorfahren, wahrscheinlich wollten sie die Bibliothek sogar anzünden! Seht in ihren Taschen nach, ob sie Feuerstein und Zunder mit sich führen, das wird es beweisen.«

»Wofür hast du denn das Silberstück bekommen, o du Sinnbild der Tugend und der Einfachheit?«, begehrte Armin auf. »Sagte ich dir nicht, dass es dir gehört, weil du die Tore brav und pflichtbewusst verschlossen gehalten hast? Wie kannst du meine Worte nur so verdrehen! Niemand verlangte von dir, die Tore zu öffnen.«

Der Mann nickte. »Ja, das hast du gesagt, du falsche Zunge! Du hast mir das Silberstück gegeben, als Lohn dafür, dass ich meine Pflicht tue, so sagtest du. Doch ich habe mehr als den Kopf eines Huhns, ich bin nicht dumm, du Sohn eines falschen Wiesels, ich weiß sehr wohl, wer hier wen bestechen wollte, und ich war es nicht, der dich bestochen hat!« Er wandte sich triumphierend an den Korporal. »Habt Ihr gehört, o Herr der Aufmerksamkeit, er hat eben zugegeben, dass er mir das Silberstück gab!«

Armin suchte hilflos meinen Blick. »Manchen ist so gar kein Hirn gegeben«, seufzte er. Er sah sich um, bemerkte einen neugierigen Jungen, der sich das alles aus sicherer Deckung ansah, und winkte ihn herbei.

»Waffen ablegen!«, herrschte der Korporal uns wieder an. »Wird’s bald, oder sollen wir nachhelfen?« Er hatte schon drohend die Hand an seinem Schwert liegen. Die anderen fünf griffen ihre Speere und Knüppel fester.

»Es gibt da eine Schwierigkeit«, begann ich.

»Was machst du da?«, rief der Korporal erzürnt und tat einen Schritt auf Armin zu.

»Ich entlohne den Jungen«, antwortete Armin, hielt für alle sichtbar ein Silberstück hoch und drückte es dem Jungen in die Hand, der es ungläubig bestaunte. »Darf ich das nicht?«, fragte Armin unschuldig.

»Wofür entlohnst du ihn?«, fragte der Korporal misstrauisch.

»Für nichts weiter, o Herr des Stahls. Er hat eine Botschaft überbracht. In Windeseile. Man wird ihm ewig dankbar sein dafür. Und jetzt kann er gehen«, entgegnete Armin und schaute den Jungen bedeutsam an. Der verstand endlich, verbeugte sich hastig und rannte davon. Einer der Soldaten machte einen vergeblichen Schritt auf den Jungen zu, aber der Knabe duckte sich unter einem Verkaufsstand hindurch und war verschwunden.

»Lasst den Jungen«, röhrte der Korporal. »Bei den Göttern, ist das denn so schwer? Ich sagte, Waffen und Zeug auf den Boden und zurücktreten!«

Ich räusperte mich. »Wie ich schon sagte, es gibt da eine Schwierigkeit.«

Ich erzählte ihm davon.

»Also«, sagte der Hauptmann der Stadtwache mit gerunzelter Stirn, nachdem ich geendet hatte. »Ihr sagt, Ihr seid ein Fürst aus fremden Landen, Euer Schwert sei Soltar geweiht, weshalb es niemand anfassen dürfe. Die Edelsteine in Eurem Beutel seien verflucht, weshalb auch die niemand anfassen dürfe. Ihr seid ein persönlicher Freund der Emira, das viele Gold in Eurem Beutel und diese schönen neuen Stiefel gehörten Euch und seien nicht gestohlen, und alles würde sich aufklären, wenn ich nur einen Mann zum Palast schicken würde, um dort zu fragen? Zudem seid Ihr ein Freund des Hüters des Wissens, des Archivars der Bibliothek, und habt den Wachmann nicht bestochen, sondern ihm das Silberstück nur gegeben, weil Ihr sein Pflichtbewusstsein belohnen wolltet?«

Ich sah zu Armin hinüber. »Genau so ist es.«

Armin schlug die Hände vor seinem Gesicht zusammen.

»Ich wollte nur wissen, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte der Hauptmann, machte eine Notiz in ein kleines Buch, schüttete Löschsand drüber und blies ihn ab, bevor er das Buch sorgsam schloss. »Ihr seid der Bestechung einer Wache des Emirats für schuldig befunden. Der Zeuge besitzt einen guten Leumund. Die Kosten für den Aufwand tragt Ihr, der Beschuldigte. Sie belaufen sich auf neun Kupferstücke, ich werde sie von Eurem Geld einbehalten. Morgen bei Sonnenaufgang werdet Ihr die Bastonade erfahren, dreißig Schläge mit dem Stock auf Eure Fußsohlen, zwanzig für das kleine Großmaul. Bis dahin werdet Ihr in Gewahrsam gehalten. Danach erhaltet Ihr Eure Mittel wieder, Eure Kleider, auch das magische Schwert und die verfluchten Edelsteine. Wir sind keine Diebe.« Er funkelte Armin an. »Die Hälfte der Stockhiebe sind dafür, dass Ihr einem Hauptmann der Stadtwache unterstellt habt, er würde Euch bestehlen wollen.«

Er nickte den Soldaten zu, jeweils zwei von ihnen hielten Armin und auch mich. Wir wurden bis auf unsere Hosen entkleidet und in schwere Ketten gelegt.

»Abführen.«

In der letzten Zeit hatte ich einige Kenntnis über Zellen gewonnen. Diese hier war luxuriös. Das Heu auf dem Boden war verhältnismäßig frisch, es gab zwei einfache Pritschen, und der Schmied der Stadtwache hatte unsere Ketten so befestigt, dass wir auf ihnen liegen konnten. Die Zelle war aus Stein. Es gab keine Öffnung außer der Tür. Sie war aus schwerem Eisen mit einem kleinen Gitter in der Mitte, durch das Licht in die Zelle fiel, gespendet von einer trüben Funzel draußen im Gang. Es war weit und breit keine Ratte zu sehen, und es roch nur leicht nach Urin. In der Mitte des Raums, mit einer Kette an einem Pflock im Boden festgemacht, stand eine große Stahlschüssel. Wenn wir uns etwas verbogen, waren unsere eigenen Ketten lang genug, dass wir die Schüssel zu uns heranziehen konnten, um darin unser Geschäft zu verrichten.

Die Manschetten, die meine Hand- und Fußgelenke hielten, waren massiv und besaßen ein Schloss für einen keilförmigen Schlüssel. Meinen Trick mit dem Stift aus Fahrds Kerker konnte ich hier vergessen, jedes einzelne Stück Metall war mindestens daumendick, auch die Ketten waren stark und so sauber in den Stein hinter uns eingelassen, dass selbst eines dieser riesigen grauen Rüsseltiere aus der Parade es nicht aus der Wand ziehen würde. Es würde ja auch gar nicht in die Zelle passen. An der Zellentür gab es eine Klappe, durch diese hatte man uns mithilfe einer Holzstange einen Krug mit einem breiten Boden hineingeschoben, der ebenfalls an einer Kette hing. Der Krug stand neben der Schüssel und enthielt Wasser, um sich zu waschen oder den Durst zu stillen.

Die Kette an meinem linken Fuß endete in einem Loch hoch oben im stählernen Türrahmen. Armin hatte es mir erklärt. Bevor jemand die Zelle betrat, zog man an dieser Kette, bis der Fuß hoch in der Luft hing und der Gefangene zwischen Hand- und Fußkette verspannt war. Dann hakte man draußen die Kette in einen massiven Stift ein. Danach erst wurde die Tür geöffnet.

»Wir haben Glück, dass man uns zur Kommandantur gebracht hat«, erklärte mir Armin. »Da hier so viele Botschaften liegen und so viele Fremde unterwegs sind, die die Sitten nicht kennen, aber unter Umständen wichtig sind, hält man diese Zellen sauber und bleibt höflich. Das Wachhaus am Osttor ist anders. Da stößt man die Gefangenen in ein Loch, und will man sie wiederhaben, wirft man ein Seil hinab. Es ist ein Spiel dort, dass die Soldaten einem nie sagen, wer klettern soll. Sie warten, bis man oben ist, und ist man nicht der, den sie wollen, stoßen sie einen wieder hinunter.« Er seufzte und legte sich mit einem leisen Kettenrasseln bequemer hin. »Angeblich gibt es hier nicht einmal Ratten. Morgen sind wir wieder draußen.«

»Und die Bastonade?«

»Die ist schmerzhaft. Wir werden kaum gehen können, wenn sie fertig sind, und werden blutige Spuren am Boden hinterlassen. Da wir das Geld zurückerhalten, können wir uns eine Sänfte leisten. Wir werden dankbar dafür sein. Ihr werdet Eure schönen neuen Stiefel nicht anziehen wollen, Herr.« Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wenn kein Priester helfen will, werde ich eine oder zwei Wochen nicht laufen können. Ihr hingegen habt es besser. Ich habe gehört, Ihr braucht nur ein Ferkel.«

Ich überhörte das mit dem Ferkel. »Mir wäre es lieber, wir wären gar nicht hier«, grummelte ich. »Dieser Hauptmann! Wie kann man nur so stur sein! Es war die reine Wahrheit,«

»Er war nicht stur, Herr. Er hat Euch ja geglaubt. Obwohl man hier die Wahrheit gewiss selten hört. Aber es ist, wie es ist. Der Zeuge hat einen guten Leumund, und ich habe ihm das Silberstück gegeben.« Er seufzte. »So wird man für Freundlichkeit belohnt! Hätte der Hauptmann Euch nicht geglaubt, wäre unsere Lage misslicher.« Er sah mich fast bewundernd an. »Es war schon beeindruckend, wie glaubhaft Ihr wart …«

»Es war die Wahrheit, Armin«, wies ich ihn milde zurecht.

»Ja, aber diese Wahrheit auch glaubhaft auszusprechen ist wahrlich eine Kunst. Wirklich, manchmal sind gute Lügen leichter zu glauben. Seht Ihr, Ihr habt ja auch gelogen. Ihr sagtet, diese Steine wären verflucht und …«

Irgendetwas polterte und rasselte draußen im Gang.

»Armin«, sagte ich leise. »Ich habe Kopfschmerzen. Im Moment möchte ich auch deine Stimme nicht mehr hören.«

Überraschenderweise öffnete sich die Zellentür, ohne dass uns die Beine langgezogen wurden. Eine zierliche Frau in einem kostbaren dunkelblauen Umhang betrat die Zelle und schlug die Kapuze zurück. Eine große Perle schimmerte auf ihrer Stirn. Als sie ihren Schleier löste, lächelte sie spitzbübisch, während ihre flinken Augen unsere missliche Lage begutachteten.

»Habt Ihr auch etwas dagegen, meinen Worten Gehör zu schenken, Havald Bey?«, fragte Faihlyd, Emira von Gasalabad. »Oder braucht Ihr Ruhe und wünscht, dass ich wieder gehe?«

Hinter ihr sah ich einen der Stadtsoldaten im Gang auf dem Boden liegen, Stirn und Nase fest auf die nicht allzu sauberen Bodensteine gedrückt, die Arme angewinkelt, weil er sich die Ohren zuhielt. Er bewegte sich nicht und schien sogar die Luft anzuhalten.

Ich fand es immer wieder beeindruckend, mit welchem Enthusiasmus sich die Leute vor Faihlyd auf den Boden warfen, um dann regungslos zu erstarren. »Nun, sie zeigen damit auch, welch treue Diener sie sind«, hatte Armin mir erklärt. »Außerdem lieben sie ihr Leben und wollen keine Missverständnisse heraufbeschwören.« Für diese Ehrenbezeugung, so hatte ich gelernt, gab es einen tieferen Grund. Der Mann war bewaffnet – das war in der Gegenwart eines Mitglieds der Emirsfamilie schon fast ein Todesurteil –, also demonstrierte er so seine Harmlosigkeit. Es war zudem praktischer, als immer alle Waffen einzusammeln und die Leute wegzusperren. Wenigstens hatte Armin das gesagt.

»Keineswegs, Hoheit«, meinte ich und verbeugte mich auf meiner Pritsche. »Eure Stimme ist lieblich wie die eines Singvogels, Eure Bewegungen sind anmutig gleich denen eines Schwans und Eure zarten Worte Labsal für eine jede dürstende Seele.«

Armin sah mich mit offenem Mund an, und Faihlyd kicherte, als sie sich ihm zuwandte, mit einem schlanken Finger seinen Mund verschloss und ihm einen schnellen Kuss gab. »Er ist schon zu lange mit dir zusammen«, sagte sie, während Armin mich immer noch misstrauisch betrachtete. Sie setzte sich neben ihn auf die Pritsche und strich ihren Rock glatt, bevor sie sorgsam die Hände im Schoß verschränkte. Ihre Augen funkelten.

»Das ist das vierte Mal in einem Monat«, sagte sie zu ihm. Sie lächelte dabei, und es klang nur ein leiser Vorwurf in ihrer Stimme mit. »Was ist es diesmal? Wobei hat man dich erwischt? Bist du bei einem Feind eingestiegen und hast Beweise gesucht oder einen Spion erschlagen oder noch einen Nekromanten entdeckt? Was ist es? Oder hast du wieder einfach nur vergessen, den Schneider zu bezahlen, und er hat dich angezeigt?«

Armin stöhnte leise und sah hilfesuchend zu mir.

Leandra hielt die Hand vor den Mund und kicherte. »Das erklärt zumindest seine Kleider«, meinte sie und fing an zu kichern. »Das Ganze hätte ich zu gern gesehen.« Sie saß mir gegenüber auf meinem Bett und trug außer dem kunstvoll drapierten Laken und diesem Lächeln wenig. Ich war dabei, mich zu entkleiden, und hatte ihr gerade erzählt, was uns zugestoßen war. »Wenigstens bist du zu Hause. Tut sie das öfter?«, fragte sie und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Es scheint mit schöner Regelmäßigkeit notwendig«, antwortete ich und stellte Seelenreißer neben das Bett, bevor ich mich zu ihr setzte. »Um seine Ehre zu retten, sollte ich dir auch sagen, dass sie ihn mit dem Schneider nur aufgezogen hat. Es ist ja wirklich so, dass Armin eine gefährliche Aufgabe für sie übernommen hat. Wir wissen, dass er als Agent für sie unterwegs ist. Solche Situationen können dann entstehen.«

»Nun, die hier war nicht besonders gefährlich.«

»Ich weiß nicht, was meine Füße am Morgen dazu gesagt hätten«, widersprach ich.

»Dann seid ihr einfach so gegangen?«, fragte sie schmunzelnd.

»Ja. Wir haben auch alle unsere Sachen zurückbekommen, und der Hauptmann hat sich entschuldigt.« Ich lachte nun selbst. »Es gab noch ein Nachspiel. Als wir das Wachgebäude verließen, stand da noch immer dieser Wachmann von der Bibliothek, erzählte, wie unbestechlich er sei, und zeigte jedem, der es hören wollte oder nicht, dieses Silberstück. Armin bemerkte das und war so empört darüber, dass er hinlief, dem sprachlosen Mann erklärte, dass das Hirn eines Huhns ein Walfisch gegenüber seinem wäre. Dann hat er ihm das Silberstück wieder abgenommen, weil er es nicht verdient habe, denn schließlich habe er ja seinen Posten verlassen.«

Leandra lachte schallend, und ich nahm sie in die Arme. Links von unserem Bett stand Seelenreißer, rechts Steinherz. Die Türen zum Innenhof waren offen, die Nächte in Gasalabad waren immer lau, nur diesmal war ein Fischernetz mit Glöckchen daran über die ganze Breite des Raums gespannt. Vielleicht half es etwas. Sie wandte sich mir zu und lächelte mich auf diese gewisse Weise an. Als das Laken herunterfiel, vergaß ich die Nachtfalken.