1. Freunde
»Guten Morgen, Esseri!«, ertönte eine fröhliche Stimme. »Haben die Götter das nicht wunderbar eingerichtet? Kaum hat man eine Nacht lang geschlafen, ist das, was vergangen ist, in die Ferne gerückt, der Kummer und die Sorge des Vortags sind gemildert. Das sanfte Licht der Sonne gibt einem neue Kraft und neuen Mut. Was war, ist vorbei, und ein neuer Tag beginnt!«
Armin.
Ich hätte ihn erschlagen können. Ich war geneigt, die Decke über meinen Kopf zu ziehen und mich auf die andere Seite zu drehen, aber ich kannte diesen Quälgeist, das würde ihn nicht abhalten.
»Warum bist du nicht im Palast bei deiner Verlobten?«, fragte ich, während mein ehemaliger Diener mit den hölzernen Läden der raumhohen Fenster zum Innenhof unseres Hauses klapperte und helles Licht in mein Zimmer strömen ließ.
»Weil Ihr, Esseri, mich mehr braucht als meine Liebste. Ihr habt es weit gebracht, aber ohne meine Hilfe seid Ihr in dieser Stadt verloren wie ein kleines Kind, das sich im Wald verirrt.«
Ich richtete mich im Bett auf, öffnete ein Auge, um Armin vorwurfsvoll anzusehen. Er war wieder als mein Diener gekleidet: eine blaue seidene Hose, Stiefel, die eine seltsam geschwungene Spitze hatten, ein weißes Hemd und eine blaue Weste mit goldenem Brokat. Zu bunt, wenn man mich fragte. Was sein farbenprächtiges Erscheinungsbild anging, hatte mein Diener jedoch bislang wenig Rücksicht auf meine Meinung genommen. Mit solchen Dingen, meinte er, kannte ich mich nicht aus. Über alldem trug er ein locker fallendes, weißes Gewand, einen Burnus mit einer leichten Haube, die im Moment zurückgeschlagen war und nur dem Zweck diente, das Licht der Sonne abzuhalten. So ähnlich wie Fensterläden – wenn sie nicht gerade zur Seite geschoben wurden.
»Also das hältst du von deinem Herrn, ja?«, fragte ich, gähnte dabei und warf einen bedauernden Blick auf die linke Seite des Betts, wo das zerknitterte Laken immer noch nach Leandra roch. Ich erinnerte mich vage daran, dass sie aufgestanden war und vergeblich versucht hatte, mich ebenfalls dazu zu bringen. Ich weiß nicht, wie lange es her war, dass ich hatte ausschlafen können, und wenn Armin nicht gekommen wäre, hätte ich es bestimmt noch länger im Bett ausgehalten.
Dieses Haus war ein Geschenk des alten Emirs, Erkul des Gerechten, des Vaters von Faihlyd, die vor wenigen Tagen zur Emira gekrönt worden war. Es war ihr sechzehnter Geburtstag gewesen, und da sie in der ganzen Stadt beliebt war, gab es ein großes Volksfest; für einen Tag lang schien es, als hätte die Goldene Stadt nur diese eine Seite: fröhlich, ausgelassen und frohgemut. So prachtvoll sich Feier und Krönung auch anließen, genau an Faihlyds Freudentag hatte sich eine finstere Intrige offenbart: Ihre ältere Schwester Marinae war unter den Einfluss eines Nekromanten geraten – oder eines Seelenreiters, wie man diese abscheulichen Diener des Namenlosen hier in Bessarein nannte –, und hatte den Thron des Emirats für sich beansprucht.
Wer immer Marinae beherrscht hatte, besaß große Macht, trotzte dem Emir und seinem Wunsch, Faihlyd zur Emira zu ernennen, und hatte dabei fast den gesamten Thronraum in seinem Bann gehalten, bis die Götter selbst eingriffen, zum einen, indem sie ein deutliches Zeichen gaben, wer ihre Gunst besaß, zum anderen durch die wundersame Wiedergeburt eines jahrhundertealten Geistes.
Dies war wohl das größte Wunder, das ich je gesehen hatte. Helis, die Schwester Armins, war in die Fänge eines solchen Nekromanten geraten, er hatte ihr die Seele gestohlen und damit auch das Talent, mit Tieren zu reden. Was von Armins Schwester übrig blieb, war eine junge Frau mit einfachstem, aber liebevollem Gemüt. Da man ihr auch das neugeborene Kind genommen hatte, war sie als Faraisas Amme im Thronsaal zugegen gewesen.
Dort hatte sie Eiswehr berührt, eine magische Waffe, ein Bannschwert, das einst von Askannon geschmiedet worden war, dem mächtigen Magier und Herrscher über ein legendäres Reich. Und in jenem Schwert war auf unerklärliche Art und Weise der Geist von Serafine gebunden, der Zeugmeisterin des Ersten Horns, mit dem alles seinen Anfang genommen hatte.
In dem Moment, da Helis das Schwert berührte, fand der Geist dieser Soldatin ein neues Zuhause in dem entseelten Körper der jungen Frau, und Serafine wusste sehr gut, wie man mit Seelenreitern zu verfahren hatte. Ihr Eingreifen hatte das Emirat gerettet und wahrscheinlich auch uns, selbst wenn es dazu führte, dass Faihlyd ihrer eigenen Schwester den Kopf abschlagen musste. So verlor die Emira ihren Vater, dessen krankes Herz all das nicht verkraftete, und eine geliebte Schwester im gleichen Moment. Dabei hätte es der bedeutsamste und schönste Augenblick ihres Lebens sein sollen.
Armin – Diener, sprachgewandter Witzbold und Führer einer Schaustellertruppe, Fürst des verbotenen Hauses des Adlers – war zugleich auch der heimliche Verlobte, wahrscheinlich sogar Gemahl der Emira. Auf der Suche nach seiner geraubten Schwester Helis hatte sein Weg den ihren gekreuzt. So waren Armin, ein Gaukler, und Faihlyd, die Tochter eines Emirs, Verbündete und nun auch Liebende. Denn kurz vor der Krönung hatten sie sich, von allen unbemerkt, an Bord meines Schiffes, der Lanze des Ruhms, getraut. Das letzte Mal hatte ich die Emira Faihlyd vor drei Tagen gesehen, als die Krönungsfeierlichkeiten, die wegen des Zwischenfalls vom Vortag abgebrochen worden waren, einen Tag später ihre Fortsetzung fanden. Ihre Trauer war spürbar, und auch Armin war niedergeschlagen, weil es ihm nicht gelang, seine Liebste aufzumuntern.
Ihn jetzt so wohlgemut zu sehen, war schön, aber dass er solch gute Laune ausgerechnet an diesem Morgen zur Schau stellte, war mir nicht ganz so willkommen.
Das Gebäude war einst die Münzerei des Alten Reichs in Gasalabad gewesen. In vielerlei Hinsicht war der Baustil unverkennbar, die präzise gesetzten Steine brauchten keinen Mörtel, schienen für die Ewigkeit gebaut. Es war, wie oft bei imperialen Bauten, von achteckiger Struktur, mit einem Innenhof. Die Fenster an der Außenwand waren klein und wehrhaft; schwere Läden, stabil verschlossen und verriegelt, erschwerten den Zugang. Die Außenmauer war, wie bei vielen Gebäuden der Goldenen Stadt, mit glasierten Ziegeln verziert, sie war hübsch anzusehen – und bot zugleich keinerlei Halt für ungeladene Gäste mit Kletterkünsten.
Der Innenhof hingegen war weit und luftig, ein Brunnen plätscherte dort im Sonnenlicht, umgeben von einem Ziergarten, dessen Rosen die Luft mit einem süßen Duft erfüllten.
Die Fenster meines Raums führten in eben jenen sonnendurchfluteten achteckigen Innenhof. Vor wenigen Tagen war dort alles verdorrt gewesen, der kleine Brunnen ausgetrocknet, aber durch das Wort des Emirs hatte sich eine wundersame Wandlung vollzogen: Eine Geste des Herrschers hatte das Haus in erstaunlich wenigen Tagen von einem verfallenen Gemäuer in ein herrschaftliches Domizil verwandelt.
Unser Haus lag am Platz des Korns, unweit des Hafens. Gasalabad schlief nie, und außerhalb unserer Mauern wurde das Korn verladen, das die Goldene Stadt am Leben hielt. Doch das Rollen schwerer Wagenräder, die Rufe der Händler oder die wortreichen und blumigen Beschwerden über den Preis der Waren drangen nur als ein fernes, gedämpftes Rauschen an mein Ohr.
Sonnenlicht fiel in den Raum und zeigte mir eine Pracht aus polierten Bodenhölzern, kostbaren Möbeln aus Rosenholz, einen kleinen Schreibtisch an der Seite sowie einen reich verzierten Schrank, in dem sich kostbare Gewänder befanden, die meisten von ihnen aus Seide, einem Stoff, den sich in meiner Heimat nur Könige und reiche Handelsherren leisten konnten.
Gähnend erhob ich mich, wickelte mir die leichte Decke um die Lenden und trat durch die geöffneten Fenster auf den umlaufenden Balkon des Innenhofs, wo auch Armin stand. Für den Moment war er still und hielt den Blick hinab in den Innenhof gerichtet.
Ich trat neben ihn und folgte seinem Blick. Dort unten auf der Bank saßen Leandra, die Liebe meines Herzens, und Faihlyd, die Emira von Gasalabad, und unterhielten sich leise, Faihlyd mit vielen schnellen Gesten, blitzenden Augen und schnellem Lächeln, Leandra ruhiger, aber nicht minder eindringlich. Hier, in der Abgeschiedenheit des Innenhofs verzichtete Leandra auf die Perücke, die sie sonst in der Stadt tragen musste. Kurzes Haar war in diesem Land ein Zeichen von Schande, und Leandras schönes langes Haar war im Kampf gegen einen Nekromanten und Verräter verbrannt. Weit weg von hier, in einem alten Tempel, in den eisigen Höhlen unter den Ausläufern der Donnerberge. Auch sie selbst war verbrannt, aber die Macht des alten Wolfsgottes hatte ihr die Gesundheit wiedergegeben und ihre schweren Wunden spurlos verschwinden lassen, nur ihr Haar war noch nicht wieder nachgewachsen.
Jetzt war es wie ein weißer Helm, nicht mehr als einen Fingerbreit lang, ein leichter, feiner Flaum, den ich gerne unter meinen Händen spürte. In Leandra floss das Blut der Elfen, sie war groß und schlank, ihre Ausbildung als Maestra und Schwertkämpferin hatte ihr Haltung und Muskeln verliehen. Faihlyd hingegen war eher klein und zierlich, mit langem pechschwarzen Haar und durchdringenden dunklen Augen, die lachen oder weinen konnten und denen währenddessen doch nichts entging.
Sechzehn Jahre war sie alt, hatte den Bruder, die Mutter und nun auch den Vater durch einen Anschlag verloren und stand selbst unter ständiger Bedrohung, ermordet zu werden. Dennoch hatte sie stets ein warmes Lächeln für jeden, und obwohl sie von stürmischem Wesen war, strahlte sie eine Freundlichkeit und zugleich Verlässlichkeit aus, die selten bei jemandem ihres Alters zu finden war. Auf den Straßen von Gasalabad nannte man sie die Hoffnung Bessareins, und wenn die Götter es fügten, dann war sie in wenigen Wochen nicht nur Emira des größten Emirats, sondern Kalifa des ganzen Reiches. Wenn die anderen acht Emirate ihrer Wahl zustimmen würden. Dies war nötig, weil der alte Kalif vor wenigen Monden ohne Erben verstorben war. Wo es eine Krone zu gewinnen gab, waren Intrigen, Verrat, Lüge und Mord nicht weit. Gerade als ich zu ihr hinab sah, lachte sie, einen Moment später folgte Leandras glockenhelles Lachen: Die beiden Frauen verstanden sich. Beide trugen sie eine enorme Verantwortung auf ihren Schultern.
»Ich freue mich, die Emira Faihlyd so wohlgemut zu sehen«, sagte ich leise zu Armin.
Er warf mir einen Blick zu und ein leichtes Lächeln. »Das hat einen Grund, und der hat uns auch hierher geführt.«
»Was ist das für ein Grund?«, fragte ich und streckte mich. Es knirschte und knackte vernehmlich. Mein verfluchtes Schwert, ebenfalls ein Bannschwert aus dieser unheimlichen Schmiede Askannons, gab mir mit jedem Leben, das es nahm, einen Teil meiner Jugend zurück, dennoch fühlte ich mich manchmal noch älter, als ich es ohnehin schon war.
Er seufzte und wandte sich mir ganz zu. »Esseri«, begann er leise. »Wisst Ihr, was ein gekröntes Haupt am meisten vermisst?«
Ich konnte es mir denken und nickte nur.
»Freundschaft ohne den Dolch im Ärmel«, fuhr Armin fort. »Leben zu können, wie es das Herz gebietet und nicht, wie die Krone es verlangt. Auch die Blume Eures Herzens, Essera Leandra, verfolgt ein Ziel, auch sie handelt nicht ohne Eigennutz, doch ihr Ziel und ihr Handeln stehen nicht im Widerspruch zu dem meiner schönen Löwin. Eure Freundschaft ist mir mehr wert, als Ihr es denken könnt, und so ist es auch bei meiner Blume. Allein diese Freundschaft ist schon genug für sie, und auch für mich. Die Ruhe dieses Gartens zu suchen, zu wissen, dass man unter Freunden ist und hier niemand einen Dolch im Ärmel trägt – ein weiteres Geschenk von unschätzbarem Wert.« Armins hageres Gesicht war ernst, als er mir tief in die Augen sah. »Freundschaft und Liebe sind Güter, die man nicht kaufen kann, selbst für all das Gold nicht, das in ihren Schatzkammern liegt.«
»Also wollt ihr etwas von uns«, sagte ich mit einem Lächeln, um meinen Worten die Spitze zu nehmen.
Er seufzte. »Musstet Ihr es so auf den Punkt bringen?«, fragte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme, aber auch er lächelte. Manche Dinge waren eben so.
Aber das, was er vorher gesagt hatte, fühlte sich wahr an, und er hatte damit auch recht. Freundschaft allein ist schon ein hohes Geschenk. Armin war ein Mann mit vielen Gesichtern. Im Vergleich zu mir war er drahtig, sein Kopf war bis auf einen Zopf rasiert, er trug Tätowierungen und einen kleinen Spitzbart, der lustig zuckte, wenn er sprach. Ein kleiner Mann, der einen leicht zum Lächeln brachte und den man noch leichter unterschätzen konnte. Hinter diesen dunklen Augen lag ein wacher Geist, der mindestens so wendig war wie seine Zunge.
In einem Ritual war er von seiner Familie für tot erklärt worden, um allein aufzubrechen, seine entführte Schwester zu suchen. Er wusste, wen er jagte: ein Ungeheuer, einen Nekromanten und Seelenreiter. Jemanden, der vom Namenlosen verführt und von allen anderen Göttern verflucht worden war, einen Gegner, gegen den er kaum gewinnen konnte. Dennoch war es letztlich Armin gewesen, der den Nekromanten Ordun besiegt hatte. Dieser hatte seiner Schwester die Seele geraubt und auch mich beinahe mit einem schrecklichen Kuss bezwungen.
Mit meinem Schwert Seelenreißer hatte er Ordun gezwungen, die geraubten Seelen freizugeben, darunter auch die Seele seiner Schwester, die so endlich den Weg zu Soltars Toren fand, dem Gott, dem ich doch recht widerwillig diente und der die Seelen der Toten in ein neues Leben führte.
In Armin steckte so viel Unterschiedliches, dass ich ihn wohl kaum jemals richtig kennenlernen würde. Aber ich spürte, dass er wirklich mein Freund war.
»Was ist es, Armin?«
»Es geht um eure Mission, eure Ziele und um unsere Bestrebungen. Es geht um Feinde und Freundschaft, um Vertrauen und Verrat. Eure Freundin Sieglinde macht vielleicht eine Ballade daraus, und es wäre eine spannende Geschichte.« Er seufzte erneut. »Wir wissen, dass ihr nicht gerne hier in unsere Fallstricke verwickelt seid. Ihr bleibt, weil wir euch baten, unserer Hochzeit beizuwohnen, ihr habt meiner Löwin mehrfach das Leben gerettet, euer eigenes riskiert, und doch wollt ihr nur eines: so schnell wie möglich mit eurem Schiff nach Askir reisen.« Er sah mich offen an. »So habt ihr unsere Feinde zu den euren gemacht und vielleicht eure Feinde zu den unseren. Vielleicht ist es einerlei, und es sind ohnehin unser beider Feinde. So scheint es zumindest. Was meine Löwin mit Eurem Greifen bespricht, ist genau das, was ich Euch sagen will: Es gilt eine Allianz zu schmieden zwischen dem Greifen, dem Einhorn und der Rose, dem Löwen und dem Adler.«
Er schwieg und sah mich fragend an. Ich nickte nur leicht und lächelte beruhigend, ich fand nichts an seinen Worten, gegen das ich mich verwahren wollte.
»Gasalabad ist die Perle Bessareins. Kein anderes Emirat kommt ihr an Größe, Schönheit, Reichtum und Macht gleich – und an Schatten. Selbst wenn Faihlyd in ihrem Streben scheitern und nicht Kalifa werden sollte, so ist sie dennoch eine Macht und auch außerhalb der Grenzen ihres Reichs nicht ohne Einfluss.« Er sah zu mir. »Was sie Eurer Liebsten gerade verspricht, ist, diesen Einfluss und diese Macht an die Seite der Rose von Illian zu stellen. Eine Allianz zwischen unseren Häusern und eurem Königreich. Ob sie nun Kalifa sein wird oder nicht, auch Faihlyd wird nach Askir reisen und im Kronrat ihre Stimme für Euch erheben. Esseri, Havald, Freund. Sie hält immer ihr Wort. Es ist von Gewicht.«
»Ich führe kein Haus, Armin. Aber ich begrüße diese Allianz.«
»Das wird sie erfreuen. Aber es kann nicht stimmen, dass Ihr kein Haus führt. Die Maestra erzählte mir etwas anderes. Ihr seid ein Graf, Ihr führt die Rose und das Einhorn als Wappen. Ihr dient der Rose von Illian, Eurer Königin Eleonora, seit ihrer Geburt. Ihr tragt Titel, alte Titel, die auch in unserem Reich noch bekannt und anerkannt sind, ehrenhafte Titel, die, würdet Ihr sie nutzen wollen, Euch viele Türen öffnen würden. Bewahrer des Reiches …«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn jemand der Paladin unserer Königin ist, dann ist es Leandra. Sie trägt Steinherz, das Reichsschwert, und sie ist es, die für unsere Königin spricht.« Ich legte meine Hände auf das sonnenwarme Geländer aus kunstvoll bearbeitetem Stein und sah in den Garten hinunter. Dort schaute Leandra auf, begegnete meinem Blick und lächelte. Ich lächelte zurück und genoss diesen kurzen, vielsagenden Blickwechsel. Auch Faihlyd schaute auf, sah uns am Geländer stehen, schenkte uns beiden ein strahlendes Lächeln und Armin einen speziellen Blick. Sie winkte sogar, und ich hob die Hand zum Gruß.
»Ohne Leandra wären wir nicht hier«, sprach ich leise weiter. »Sie ist es, deren Mission wir folgen. Sie ist es, die das Unmögliche will: Hilfe gegen Thalak und die Befreiung unserer Reiche. Vielleicht ist das sogar möglich. Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Aber wenn es gelingt, dann ist es ihr Werk.« Ich seufzte. »Was sie nicht wahrhaben will, ist, dass Roderic von Thurgau gestorben ist. Er starb in einer Schlacht, umgeben von guten Männern und loyalen Freunden.« Ich machte eine hilflose Geste. »Ich kann es nicht anders sagen, nicht anders erklären. Graf von Thurgau starb mit den vierzig Getreuen an jenem Pass. Es ist undenkbar, dass er überlebte. Es wäre ein Verrat an jenen, die mit ihm fielen.«
Armin sah mich lange an. »Schämt Ihr Euch zu leben, Herr?«, fragte er dann leise, und ich lachte bitter.
»Eines kann man dich nicht nennen, Armin. Du bist nicht blind.«
»Nein. Ihr irrt«, antwortete er. »Manchmal bin auch ich blind. Männer, so sagt mir meine Löwin, sind es oft. Aber in diesem Moment sehe ich sehr klar. Ich sehe, dass man vor allem weglaufen kann, nur nicht vor sich selbst. Auch Ihr könnt es nicht.«
Darauf gab es keine Antwort. Er wartete einen Moment. Ich sagte nichts, also sprach er weiter. »Wenn es Eurer Maestra gelingt, ein Bündnis gegen Thalak zu schmieden, dann nur, weil sie Hilfe hat. Und Gleiches gilt für die Löwin von Gasalabad und auch für mich. Wir brauchen eure Hilfe, so wie ihr unsere braucht.«
»Armin«, sagte ich. »Wir sind Freunde. Freunde helfen einander. Mehr braucht es für mich nicht. Was die Geschicke von Reichen und Königshäusern angeht, sprich mit Leandra. Mir jedoch genügt es, wenn du mir endlich sagst, wie ich helfen kann.«
»Zuerst gilt es, etwas herauszufinden. Etwas, das wir über Euch vermuten. Dazu müssen wir Euch etwas zeigen, von dem wir denken, dass Ihr es sehen könnt.«
»Ich bin gerade erst wach.« Ich sah zum Himmel, es schien mir kurz nach Mittag. »Es ist der erste ruhige Tag, seit wir unsere Reise begonnen haben, und du, mein Freund, hast mich zu früh geweckt und sprichst seitdem in Rätseln.«
Er nickte. »Es ist schwierig, es anders auszudrücken. Herr, stärkt Euch für den Tag, und wenn Ihr bereit seid, begleitet uns zurück in den Palast. Es ist vor allem Essera Falah, die Euch sehen möchte. Ihr Glauben an Euch, Esseri, ist so unerschütterlich wie ein Fels im Wind. Sie sagt, Ihr werdet die Antworten sehen können, die wir nur vermuten.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Behält sie recht, ist es ein Zeichen und der erste Schritt auf einem Weg, den zu gehen man sich wohl überlegen sollte.«
»Geht es noch etwas verworrener, Armin?«, fragte ich.
»Essera Falah wünscht, dass Ihr sie in das Reich der Toten begleitet, um Euch Marinae und ihren Sohn, den Emir, anzusehen.«
Ich blinzelte, und Armin lächelte verlegen. »Genauer kann ich es Euch nicht sagen, Herr.«
»Das … ist unerwartet«, sagte ich dann. »Ich glaube, jetzt brauche ich wirklich erst einmal ein Frühstück.«
Unser Haus war groß und besaß neben dem Erdgeschoss zwei weitere Stockwerke mit etlichen kleinen und insgesamt sechzehn großen Zimmern. Mehrere von ihnen dienten repräsentativen Zwecken. Die meisten Zimmer hatte ich mir noch gar nicht angesehen, seit der Emir das Haus wieder hatte herrichten lassen. Ohne nachzusehen, wusste ich, dass jeder einzelne Raum prächtig eingerichtet war, mit Gold, Seide und edlen Bodendielen, kostbaren Möbeln und anderem Wertvollen und Schönen.
Die Küche jedoch war anders: ein großer Raum ohne jeden Schnörkel, auf ganzer Breite zum Innenhof offen. Auch von hier aus konnte ich Leandra und Faihlyd sehen, die sich noch immer am Brunnen unterhielten. Der Boden war mit Steinplatten gefliest, die Wände aus unverkleidetem grauen Stein. Die großen Herde kannte ich noch vom Gasthof Zum Hammerkopf. Eine stabile Tür führte von der Küche zum umlaufenden Gang im Erdgeschoss, der zu beiden Seiten in der großen Eingangshalle endete. Zwei weitere Türen führten zu kühlen Räumen mit dicken Mauern, die der Vorratshaltung dienten. Eine weitere schwere Tür gab den Weg in eine Räucherkammer frei, die hinter dem schweren Herd lag, und eine letzte Tür führte hinab in den Keller, wo ein anderes Geheimnis des Hauses verborgen war.
Die Küche war groß, einst mochte hier ein Koch sein Regiment über ein Dutzend Küchenhilfen geführt haben. Sie war mit Bedacht eingerichtet worden. Der große alte Tisch aus Eichenholz war vielleicht das einzige Möbelstück, das sich bereits im Haus befunden hatte, als wir es kauften. Er war einfach zu schwer, um ihn zu stehlen. Als das Haus restauriert wurde, hatte man den Tisch neu abgeschliffen und gesäubert, ließ ihn aber stehen, mit all seinen Kerben, den Zeichen und Worten, die gelangweilte Hände über die Zeiten in seine Oberfläche geritzt hatten. Er besaß Charakter und war groß genug für mindestens zehn Stühle. Es war wohl üblich, dass die Dienerschaft in der Küche aß.
Wir hatten keine Dienerschaft, jedoch einen kostbar ausgestatteten Speiseraum – mit Vasen, Blumen, kunstvollen Deckengemälden, einem verzierten Tisch aus Rosenholz und gepolsterten Stühlen. Und doch schien es mir, als hätten wir unabhängig voneinander entschieden, dass es diese einfachen Küchenräume waren, die uns am besten gefielen.
Hier brauchte ich wenigstens keine Angst zu haben, dass der Stuhl unter meinem Gewicht zusammenbrach. Außerdem musste ich mich hier nicht auf Kissen setzen, etwas, an das ich mich noch nicht so ganz gewöhnt hatte.
Ich fand Sieglinde vor, die mich mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, während sie vergnügt an einer Arbeitsplatte neben dem großen steinernen Herd werkelte. Es machte ihr augenscheinlich Freude. Sie war die Tochter von Eberhardt, dem Wirt des Gasthofs Zum Hammerkopf, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Auch sie war Trägerin eines Bannschwerts, Eiswehr, eines Schwerts, das in Bessarein legendär war. Mittlerweile war sie weit mehr als die Tochter eines Wirts oder eine Schankmagd, dennoch gefiel es ihr, uns zu bekochen oder zu bewirten. Es machte ihr nichts aus, hatte sie mir erklärt, sie finde eine innere Ruhe dabei, und es sei ein Unterschied, ob man etwas tun müsse oder zum Vergnügen tue.
Dass Eiswehr mit der Spitze auf eben jener Arbeitsplatte stand, ohne irgendwo angelehnt oder befestigt zu sein, war ein Beweis dafür, an was man sich alles gewöhnen konnte. Ich schenkte dem ungewöhnlichen Anblick keine Beachtung.
Am oberen Kopfende des Tisches saßen Zokora und Varosch, in ein leises Gespräch vertieft. Beide trugen die hier üblichen weiten und dunklen Gewänder von Leibwächtern, und speziell bei Zokora wirkten diese Kleider mehr als bedrohlich. Zokora war eine Dunkelelfe und stammte aus einem Volk, das in unserer Heimat einen Ruf legendärer Grausamkeit besaß; allein ihr Anblick konnte tapfere Männer flüchten lassen. Ihre Haut war schwarz wie Ebenholz, doch dass sie eine Elfe war, war leicht an ihren anmutigen Bewegungen und feinen Gesichtszügen zu erkennen. Anders als die Elfen, deren Blut in Leandras Adern floss, war sie klein und zierlich, vielleicht einen Hauch größer als Faihlyd, jedoch noch schlanker. Sie war eine Priesterin oder ein Paladin von Solante, der dunklen Schwester Astartes, wie die Dunkelelfen die Göttin nannten, die sie in ihren tiefen Höhlen verehrten. Auch ihr schwarzes Haar war kurz, sie hatte es ebenfalls beim Kampf gegen Balthasar verloren. Ich wusste von Varosch, dass er das bedauerte, denn er liebte es, den Seras das Haar zu bürsten oder zu Zöpfen zu flechten. Varosch war ein Adept des Boron und befand sich auf den vorgeschriebenen Reisejahren. Wenn er zu seinem Tempel zurückkehrte, konnte er sich entscheiden, ob er ihm dann als Priester beitreten und im Tempel des Gottes der Gerechtigkeit dienen wollte, oder ob er ein Leben außerhalb des Tempels anstrebte. Boron war der einzige mir bekannte Gott, der es seinen Dienern erlaubte, Waffen zu tragen und zu benutzen. Varosch war ein sehr präziser Schütze mit seiner Armbrust und hatte sich ursprünglich dem Händler Rigurd als Wächter für dessen Handelszug angeschlossen.
Jetzt war er Zokoras Liebhaber … eine mehr als ungewöhnliche Bindung, die offenbar jedoch zu beiden passte. Varosch sah freundlich auf und nickte Armin und mir zur Begrüßung zu, Zokora beachtete uns nicht. Wir waren nur Männer.
Ich selbst hatte mich unauffällig gekleidet, sehr zum Missmut von Armin, der bunte Farben liebte und manchmal den Vergleich mit einem Pfau nicht zu scheuen brauchte. Ich trug meine Stiefel, eine weite, lockere Leinenhose, ein Hemd und eine Weste sowie den hier üblichen Burnus. Um meine Hüfte lag Seelenreißers Schwertgurt. Das Schwert hielt ich in der Hand und stellte es neben mich, als ich mich setzte.
In der Küche roch es angenehm, denn Sieglinde hatte bereits verschiedene Kräuter zum Trocknen aufgehängt. Es duftete aus dem Ofen nach frischem Brot, und aus dem Garten kam der Geruch der vielen Blumen, die dort gepflanzt worden waren. Die Menschen von Bessarein liebten Blumen, gelegentlich fand sich vor der ärmlichsten Hütte eine einfache Kiste mit Erde und den schönsten Blumen. Die meisten kannte ich gar nicht, aber eines hatten sie gemeinsam: Sie blühten farbenprächtig und überlagerten mit ihrem kräftigen Duft oft auf dankbare Weise die anderen Gerüche der Stadt.
Es war warm, aber nicht zu warm. Oben unter der Decke hatte der längst verstorbene Baumeister des Alten Reiches mehrere Öffnungen in die Wand zur Halle gesetzt: So strömte kühle Luft aus dem Inneren des Hauses durch die Küche nach außen, auch dann, wenn der Herd in Gebrauch war. Die Temperatur blieb stets angenehm. Solche Kleinigkeiten waren es oft, die mich an diesem legendären Alten Reich beeindruckten. Sie legten Zeugnis über das Wissen ab, das in meiner Heimat verloren war, obwohl unsere Vorfahren selbst aus diesem Reich gekommen waren, um die neuen Kolonien zu besiedeln.
Dies war die Basis von Leandras Mission: dass die Neuen Reiche, unsere Heimat, Kolonien des Alten Reiches waren und wir somit Anspruch auf Schutz durch eben dieses Reich besaßen.
Janos, Natalyia und auch Serafine waren heute Morgen nicht anwesend. Serafine. Ich konnte mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass das ehemals so glatte und leere Gesicht von Armins Schwester Helis nun Ausdruck und Charakter einer Frau besaß, die vor fast siebenhundert Jahren hier in Gasalabad als Tochter des damaligen imperialen Gouverneurs geboren worden war. Eine Frau, um die sich hier noch immer Legenden rankten.
Es war eine seltsame Mischung von Gefährten, die sich Leandras Sache angeschlossen hatten. Janos war entweder ein Agent der Königin oder aber der Brigant, der uns damals im Gasthof in Angst und Schrecken versetzt hatte, um von der wahren Gefahr abzulenken. Natalyia war eine ausgebildete Attentäterin des Herrschers von Thalak. Wenn ich daran dachte, spürte ich noch immer das eisige Brennen ihrer Stilette, die sie mir beim Angriff im Wolfstempel in die Seite gerammt hatte. Nur Zokoras Eingreifen hatte verhindert, dass Natalyia mich zu Soltars Hallen beförderte. Es mochte zwar längst überfällig sein, dass ich mich dort einfand, aber damals, wie auch im Moment, hatte ich es nicht so eilig.
Natalyia war Zokoras Gefangene gewesen und hätte beinahe die legendäre Grausamkeit der Dunkelelfen am eigenen Leib erfahren. Aber sie erhielt Gelegenheit, den Mord an Rigurd zu sühnen, und vor Kurzem hatte sie sich zwischen mich und einen Armbrustbolzen geworfen, der sie beinahe getötet hatte.
»Wo sind die anderen?«, fragte ich, als ich am Tisch Platz nahm und dankbar nickte, als Sieglinde mir einen heißen Becher Kafje hinstellte.
»Natalyia und Janos sind auf dem Markt, sie rüsten uns für unsere Reise zurück zum Hammerkopf aus«, antwortete Sieglinde mit einem Lächeln. »Serafine ist unten im Keller, sie sagt, sie müsse ihren Körper stählen.«
Im Keller war es mittags am kühlsten, es gab dort einen großen Raum, der sich zum Üben hervorragend eignete, auch wenn das Licht, das in mit Spiegeln versehenen Schächten vom Innenhof her hineinfiel, mitunter etwas dürftig war. Jetzt jedoch nicht, denn die Sonne stand hoch am Himmel und leuchtete die Schächte gut aus.
Ich dankte ihr und schaute zu Armin hinüber. Er sah, verstand meinen Blick und lächelte. Es war noch nicht so lange her, dass der Geist der Zeugmeisterin den Körper seiner Schwester beseelt hatte, und ich wusste noch nicht so recht, wie er dazu stand.
»Es ist ein Wunder, Esseri, eines, das ich diesem alten Geist, der dennoch schon immer Euer Freund war, nicht verüble. Helis ist bei Soltar sicher, die Tochter des Wassers und Helis sind sich so ähnlich, dass ich mir erlaube zu vergessen, dass sie nicht Helis ist. Manchmal tut es weh, sie zu sehen, aber meist spüre ich, dass es noch immer meine Schwester ist, die ich liebe, und will nicht hinterfragen.« Er lächelte leicht. »Es ist wie eine Gnade, sie zu sehen, lachend oder ernst, klug weit jenseits ihres Alters und doch in vielen Dingen Helis so ähnlich.«
Helis und Armin entstammten dem nach den Wirren um Askannons Abdankung verratenen und verbotenen Haus des Adlers, wie auch Serafine selbst, die den Beinamen Tochter des Wassers trug. Schon als ich Helis das erste Mal gesehen hatte, war mir die Ähnlichkeit zwischen ihr und Serafine aufgefallen, die ich zuvor einmal als geisterhafte Erscheinung in den Eishöhlen erblickt hatte.
Serafine selbst sagte, es gebe keinen erkennbaren Unterschied: Helis hätte sie selbst sein können, nur um Jahrzehnte jünger. Oder Jahrhunderte …
Helis war Zirkusartistin gewesen, und auch wenn ihre Entführung nun fast ein Jahr zurücklag, konnte man nicht behaupten, dass sie schlecht in Form war. Bei dem Gedanken musste ich lächeln: Nach Serafines Maßstäben waren höchstens Zokora oder Natalyia in guter Verfassung, und an den meisten Tagen übten Sieglinde und ich uns morgens nach Serafines Vorgaben. Manchmal schloss sich Janos uns ebenfalls an. Jedenfalls schienen die Übungen zu wirken, ich bewegte mich leichter und flüssiger als in den letzten Jahren, und auch Sieglinde wurde immer sicherer im Umgang mit ihrem Schwert. Ich sah hin zu ihr, unter ihrer Haut spielten schlanke Muskeln, die man dort zuvor nicht hatte sehen können.
Sie hatte in meinen Augen die größte Wandlung von uns allen vollzogen – von der Tochter eines Wirts hin zu einer Kämpferin, die unerschrocken den Gefahren ins Auge sah und in ihrer Bescheidenheit gar nicht merkte, dass sie so selbst zu einer Frau wurde, die anfing, ihre eigene Legende zu gestalten.
Armin hatte recht. Jeder meiner Gefährten verdiente eine eigene Ballade. Über mich gab es schon welche, aber ich mochte sie nicht hören.
Auch Armin erhielt einen Becher mit dem dampfenden Gebräu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er sah zufriedener aus, als ich ihn bisher kannte. Die Traurigkeit, die Faihlyd in den letzten Tagen umgeben hatte, schien vergangen, und das tat auch ihm gut.
»Wird die Essera Falah etwas dagegen haben, wenn Serafine mich in den Palast begleitet?«, fragte ich ihn.
Er sah überrascht auf und schüttelte den Kopf. »Warum?«
»Sie weiß vieles, vor allem über Nekromanten«, erklärte ich ihm. »Sie sieht die Dinge anders als ich oder du. Sie ist in anderen Bereichen aufmerksam, vielleicht bemerkt sie etwas, das wir übersehen würden.«
»Meint Ihr, sie ist mutig genug, um diesen Ort zu betreten?«, fragte er leise.
»Ich glaube, sie war schon näher an meinem Gott als jeder andere, den ich kenne. Sie wird sich nicht scheuen.«
Das Reich Soltars, in das ich der Essera Falah, Faihlyds Großmutter, folgen sollte, war, wenn ich das richtig verstanden hatte, ein Reich der Toten, das die Priesterschaft des Gottes hier im Palast des Mondes mit Gebeten und priesterlicher Magie aufrechterhielt. Dort war man dem Gott und dem Tod näher, als es sonst auf dieser Welt möglich war.
Mehr konnte oder wollte mir auch Armin nicht sagen, er hatte diesen Ort auch noch nie betreten, er wurde gefürchtet, und dies mit Grund. »Der Leibarzt der Essera, der Gelehrte Perin da Halat, erklärte es mir«, sagte Armin, als ich mich ankleidete. Er hielt mir eine leuchtend rote, bestickte Weste hin und schien enttäuscht, als ich eine andere aus einfachem hellen Leinen auswählte. »Er sagt, es sei ein Ort, an dem die Lebenden Antworten von den Toten erhielten, obwohl man nicht direkt mit ihnen sprechen kann. Dennoch greift der Tod nach einem.« Er schüttelte sich leicht. »Esseri, Ihr wisst, wie sehr uns hier die Sonne verwöhnt, doch dort ist es so kalt, dass Ihr Euren Atem sehen könnt. Es gibt ihn, diesen Ort, aber man spricht nicht darüber, und mir ist nicht wohl bei der Sache.« Jetzt sah er mich an. »Wenn Ihr erlaubt, werde ich Serafine selbst fragen, ob sie uns begleiten will«, sagte er leise und etwas scheu.
Ich nickte zustimmend, er trank noch einen Schluck Kafje, stand dann auf, zögerte einen Moment und verschwand im Abgang zum Keller.
»Das muss schwer sein für ihn«, sagte Varosch leise, als er zusah, wie sich die Tür hinter Armin schloss. »Serafine zu sehen …«
»Warum?«, fragte Zokora mit ihrer rauchigen Stimme. »Sie ist seine Schwester. Er tut gut daran, sie aufzusuchen.«
»Es ist der Körper seiner Schwester, aber der Geist Serafines«, sagte Varosch. »Das ist ein Unterschied.«
Zokora zog eine Augenbraue hoch. »Ich sehe keinen.«
Sie wandte sich mir zu und griff zugleich unter ihr Gewand. Sie nahm ihren Beutel heraus und ließ ein längliches Siegel aus Gold an einer feinen Kette in ihre Hand gleiten. Ich erkannte es wieder, es gehörte der Dunkelelfe, die wir auf dem Weg vom Gasthof zur Donnerfeste in diesen dunklen Höhlen im Eis eingefroren gefunden hatten.
»Wenn wir Sieglinde und Janos durch die Eishöhlen zurück zum Gasthof führen, hast du Zeit herauszufinden, ob jemand hier etwas über diesen Clan weiß.« Sie sah mich an. »Für die Menschen hier ist meine Art ungewöhnlich, aber nicht unbekannt. Ich will wissen, wo ich meine Schwestern finden kann. Wenn sie diesem Askannon dienten, wissen sie mehr über Menschen als ich.«
Ich nickte. »Ich werde mich darum kümmern und danke dir für das Vertrauen, das du mir mit dieser Bitte erweist.«
Ihre Augenbraue hob sich noch höher also zuvor.
»Das war keine Bitte«, korrigierte sie mich. »Es ist etwas, das du tun kannst, nicht mehr.«
Varosch und ich tauschten einen Blick aus und schmunzelten. Sieglinde lachte leise.
Zokora sah uns neugierig an. »Habe ich einen Witz gemacht?«
»Es war eine Bitte«, versuchte Varosch ihr zu erklären. »Du hast ihn gefragt, ob …«
»Es war keine Frage«, unterbrach sie ihn. »Es ist etwas, das er tun kann. Wenn er es nicht tun will, kann er es sagen.« Sie schüttelte irritiert den Kopf. »Menschen sind kompliziert.«
»Warum sollte er es tun, wenn es keine Bitte ist?«, fragte Varosch. Ich erkannte, dass dies die Fortführung eines längeren Gesprächs zwischen ihnen war.
»Weil er es kann«, sagte sie in der Art von jemandem, der geduldig einem Kind etwas erklärt. »Und auch, weil er es will.«
»Warum sollte er es wollen?«
»Wenn er es will, dann weiß ich, dass er es tut. Tut er es nicht, kümmere ich mich selbst darum.«
»Also tut er es, damit du weißt, dass er es tut?«, fragte Varosch, und Zokora verdrehte die Augen.
Sie sah zuerst mich an, dann Varosch, schließlich Sieglinde. »Weißt du, was ich meine? Schließlich bist du eine Frau und kannst denken.«
Sieglinde lächelte. »Nein, auch ich halte es für eine Bitte, Zokora.«
Zokora nickte und wandte sich dann wieder Varosch und mir zu. »Es ermüdet mich«, sagte sie, griff ihr Schwert und ging zur Tür hinaus. Wir sahen ihr nach.
»Ist sie verstimmt?«, fragte Sieglinde überrascht, doch Varosch lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nein, ist sie nicht«, sagte er und lachte leise. »Sie gibt sich solche Mühe zu verstehen, wie wir denken, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass sie einfach die Geduld verliert, wenn wir derartig langsam begreifen.« Er grinste. »Sie nimmt es uns nicht übel. Eher wäre sie überrascht, wenn wir etwas schnell verstehen würden. Sie erwartet kein hohes Denkvermögen von Menschen, erst recht nicht von Männern.« Er grinste noch breiter. »Tatsächlich ist sie oft erstaunt, wenn das, was wir tun, einen Sinn ergibt.«
Sieglinde lachte.
»Die Argumentation werde ich mir merken«, sagte Leandra vom Garten her. Sie stand amüsiert da, Faihlyd neben ihr. »Sie ist nützlich.«
Sie kam zu mir, schmiegte sich an mich und sah verschmitzt zu mir hoch.