15. Unter Freunden

 

Als ich mein Zimmer betrete, liegt Asha bereits in unserem Bett. A350 hat den Scanner so eingestellt, dass er nun auch auf Ashas Fingerabdruck reagiert und sie so kommen und gehen kann, wie sie möchte. Wir sind jetzt offiziell Zimmerpartnerinnen. Nie zuvor hatte ein D-ler ein eigenes Zimmer in der Legionsführerkugel. Aber die Umstände, die Asha zu dieser Ehre gebracht haben, sind viel zu grausam, um sich darüber richtig freuen zu können.

Auch jetzt ist ihr Blick beinahe geistesabwesend an die Decke gerichtet. Die ersten beiden Tage, als sie von der Krankenstation zurückgekehrt war, schien sie optimistischer zu sein als zuvor. Aber der Zustand ist bald wieder verflogen und zurückgeblieben ist eine stets negativ eingestellte Person. Asha sieht in jedem einen Verräter und in allem einen Hinterhalt. Sie vertraut grundsätzlich niemandem, nicht einmal mir.

Hey, wie war dein Tag?“, frage ich sie freundlich und weiß sofort, dass es eine blöde Frage war. Asha redet nicht gerne über ihre Arbeit. Im Grunde redet sie über gar nichts gerne. Sie hört lieber zu.

Dasselbe wie jeden Tag“, antwortet sie in monotoner Stimmlage. „Und so wird jeder Tag meines restlichen Lebens sein.“

Ich höre das Bedauern aus ihrer Stimme. Manchmal denke ich, dass sie bereut, dass ihr Selbstmordversuch gescheitert ist. Zwar kann A566 sie nicht länger belästigen, aber deshalb ist ihr Leben noch lange nicht aufregender oder abwechslungsreicher als zuvor. Immer wenn ich sie dabei erwische, wie sie aus den großen Fenstern blickt, sehe ich die Sehnsucht in ihren Augen wie ein Feuer lodern. Die Erinnerung daran bringt mich auf eine gewagte Idee, aber vielleicht ist es genau das, was Asha jetzt braucht.

Hast du Lust auf einen kleinen Ausflug?“

Neugierig, aber zugleich auch misstrauisch, dreht sie ihren Kopf in meine Richtung. „Ein Ausflug?“

Es ist nichts Gefährliches“, versichere ich ihr, ohne zu erwähnen, dass es verboten ist.

Was hast du denn vor?“, will sie weiterhin zweifelnd wissen.

Das ist eine Überraschung!“

Kannst du mir nicht einfach sagen, was du vorhast?“, fragt sie genervt, aber hat sich bereits aufbruchbereit in dem Bett aufgesetzt.

Dann wäre es keine Überraschung mehr. Vertrau mir einfach!“

Ich weiß, dass das leichter gesagt als getan ist. Asha ist bisher wenig Gutes im Leben widerfahren. Trotzdem steht sie nun auf und folgt mir aus der Tür in Richtung der Aufzüge. Obwohl sie nun die Berechtigung hat, unser gemeinsames Zimmer zu öffnen, liegt die Erlaubnis zur Benutzung des Aufzugs nach wie vor einzig und allein bei den Legionsführern. Schnell lege ich meinen Daumen auf den Scanner und schaue zufrieden dabei zu, wie die Tür sich vor unseren Augen öffnet.

Asha und ich treten ein. Doch anders als sonst drücke ich nicht den Knopf mit der Aufschrift ‚S‘ für Sicherheitszone, sondern den Knopf zwischen der Sicherheitszone und der Legionsführerkugel mit der Bezeichnung ‚F‘. F wie Freigelände. Asha schaut mich mit großen Augen an. Für sie scheint ‚F‘ nicht für Freigelände, sondern für Freiheit zu stehen.

Ich sagte doch, es ist eine Überraschung“, sage ich und kann mir ein Grinsen kaum verkneifen.

Sobald die Türen sich öffnen, schlägt uns bereits ein völlig anderer Geruch entgegen. In der ganzen Legion riecht es oft nach nichts oder es liegt der sterile Duft von Desinfektionsmitteln in der Luft. Außerhalb des Aufzugs wird die Nase jedoch beinahe von den vielen verschiedenen Gerüchen überwältigt. Da ist der Duft nach dem roten Sand, der sich am Tag von der Sonne aufheizt und in der Nacht vollkommen abkühlt. Außerdem der Geruch nach Motorenöl und Benzin von den Fahrzeugen der Legion. Metall und Stahl von den Gehäusen liegt in der Luft, sowie der kühle Duft der Nacht, den der Wind einem ins Gesicht bläst. Mir wird erst jetzt bewusst, wie sehr ich das alles vermisst habe. Dabei habe ich nur wenige Monate außerhalb der Sicherheitszone gelebt. Wie muss es da erst Zoe und Finn ergehen, die außerhalb der Legion aufgewachsen sind?

Asha setzt vorsichtig einen Fuß außerhalb des Aufzugs, so als habe sie Angst, sich an dem roten Sand zu verbrennen. Ihre Stiefel würden ohnehin keine Hitze durchlassen, abgesehen davon, dass der Sand schon längst abgekühlt ist. Aber ihre Vorsicht hat etwas Ehrfürchtiges an sich, das mich tief berührt. Als ich nach meiner Entführung in einer Höhle der Rebellen aufgewacht bin, war meine Panik, an der Radioaktivität zu sterben, viel zu groß, um die vielen unterschiedlichen Düfte in der Luft überhaupt wahrzunehmen. Asha braucht davor keine Angst zu haben. Sie weiß von mir, dass die Luft nicht länger radioaktiv verseucht ist.

Sobald sie den zweiten Fuß außerhalb des Aufzugs gesetzt hat, atmet sie erleichtert aus und wieder ein. Sie scheint die fremde Luft förmlich zu inhalieren und schließt schließlich sogar die Augen. Sie hebt ihre Hände und genießt die sanfte Berührung des lauen Nachtwindes. Finn hat mir einmal gestanden, dass er sich bereits in mich verliebt hatte, als er gesehen hat, wie ich zum ersten Mal die Sterne betrachtet habe. Er hat in meinen Augen damals gesehen, dass ich mich bereits in die Welt und auch ihre Freiheit verliebt habe. Nur war er zu stolz, um sich das selbst einzugestehen.

Asha hat sich nicht erst jetzt in die Sterne und die rote Wüste verliebt, sondern sie hat sich seit dem ersten Tag, an dem sie sie durch die großen Fenster der Legionsführerkugel gesehen hatte, nach ihnen gesehnt. Ihre Sehnsucht war so stark, dass es sie fast getötet hätte.

Ich löse sie nur ungern aus ihrer Starre, aber wir haben leider nicht so viel Zeit außerhalb der Legion, wie ich ihr gerne schenken würde. Alleine, dass wir den Aufzug verlassen haben, verstößt gegen sämtliche Regeln. Deshalb greife ich nun nach Ashas Hand und ziehe sie mit mir zu einem der kleineren Fahrgeräte. Es ist ein Wüstendrift. Eine Mischung aus Motorrad und Jet Ski der alten Erde. Gerade zwei Personen haben darauf Platz, wobei die Kämpfer sie meistens alleine benutzen, da ihre Schutzuniformen viel Platz wegnehmen.

Ich bin noch nie mit einem gefahren, aber ich habe vor wenigen Tagen ein paar Kämpfer dabei beobachtet und es sah einfach aus. Da ich Asha jedoch nicht verängstigen will, setze ich mich zielsicher auf den Sattel eines dunkelgrün glänzenden Wüstendrifts und klopfe auf die freie Fläche hinter mir. Zögernd steigt Asha auf und legt vorsichtig ihre Hände um meine Taille.

Halt dich gut fest! Die Teile sind extrem schnell“, bitte ich sie und frage mich gerade, ob es vielleicht ein Fehler war. Die Kämpfer tragen beim Fahren nicht nur Schutzanzüge, sondern auch Helme und Handschuhe. Wir hingegen sind lediglich mit unseren dünnen Anzügen bekleidet. Sollten wir stürzen, werden sie keinen Schutz darstellen. Aber ich will auch keinen Rückzieher machen, denn Asha wirkt zum ersten Mal wieder richtig lebendig und lächelt sogar jedes Mal, wenn der Wind ihr um die Stupsnase streift.

Ich lege meine Hände auf die Griffe an der Lenkstange. Um die Wüstendrifts zu starten, braucht man weder einen Schlüssel noch einen Code. Jeder kann sie fahren. Es wundert mich, dass die Rebellen sie noch nie versucht haben zu stehlen, aber vielleicht kommt das noch.

Ich atme einmal tief ein und aus, um meinen Herzschlag zu beruhigen.

Alles okay?“, fragt Asha noch besorgt, doch da habe ich die Griffe des Wasserdrifts bereits nach vorne gedrückt und wir düsen in einem unglaublichen Tempo los. Wir werden beide durch den plötzlich Ruck zurückgeschleudert. Ich kann mich gerade noch festhalten und spüre, wie sich Asha fester an meinen Rücken presst und erschrocken Luft ausstößt. Wir fliegen förmlich über den roten Sand, wobei die Scheinwerfer des Wüstendrifts quer durch die Luft tanzen. Unsere Fahrt ist holprig und erinnert mich nur wenig an das sanfte Gleiten der Kämpfer, die ich beobachtet habe. Dazu wackelt die Lenkstange wie verrückt, sodass ich mich kaum an ihr festhalten kann. Als dann auch noch ein Hügel wie aus dem Nichts vor uns auftaucht, verliere ich endgültig die Kontrolle über das Gefährt und wir stürzen beide in hohem Bogen zu Boden.

Bedauerlicherweise lande ich auch noch auf Asha. Ich rolle mich schnell von ihr runter. „Es tut mir leid“, entschuldige ich mich sofort mit hochrotem Kopf. „Ist dir etwas passiert?“

Doch Asha strahlt über das ganze Gesicht und beginnt plötzlich, so unbeschwert und aus voller Seele zu lachen, wie ich es zuvor noch nie bei ihr gesehen habe.

Ich wette, das ist das erste Mal, dass du so ein Ding fährst“, zieht sie mich grinsend auf.

Schuldbewusst, aber ebenfalls grinsend, gebe ich ihr recht. „Es sah immer so einfach aus“, verteidige ich mich spielerisch.

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, versucht mich Asha mit für sie ungewöhnlichem Optimismus aufzumuntern. „Darf ich es auch mal versuchen?“

Nur zu“, fordere ich sie auf und setze mich hinter sie auf das Wüstendrift. Ohne zu zögern, startet Asha den Motor und es geht in genauso rasantem Tempo los wie bei mir zuvor. Anfangs ruckelt das Gerät und lässt uns auf und ab hüpfen, aber schon nach kurzer Zeit gleiten wir über den Sand wie Libellen über das Wasser eines Sees. Asha scheint ein wahres Naturtalent zu sein. Auch die Geschwindigkeit bereitet ihr keine Probleme. Ganz im Gegenteil, ihr Lächeln wird immer breiter, je schneller wir fahren. Bald ist die helle Lichtkugel der Legionsführer nur noch ein kleines Licht am Horizont. Ich habe keine Ahnung, wo wir uns befinden, aber es interessiert mich auch nicht, solange Asha vor Freude kreischt und jauchzt. Sie ist völlig gelöst und wirkt wie ausgetauscht. Nie zuvor habe ich jemanden glücklicher gesehen als sie. Nicht einmal Iris, als ich ihr Dumbo zum Geburtstag geschenkt habe.

Wir jagen förmlich durch die Wüste. Einen Hügel hinauf und den nächsten wieder hinunter. Asha schafft es, Kurven so scharf zu nehmen, dass wir praktisch den Boden berühren, jedoch ohne zu stürzen. Erst als die ersten Strahlen der Dämmerung über den Horizont ziehen, erkenne ich, wie schnell die Zeit vergangen ist. Wir müssen die ganze Nacht durchgefahren sein und das bedeutet, dass es höchste Zeit für uns wird zurückzukehren. Mir bleibt nur zu hoffen, dass unser Verschwinden noch nicht bemerkt wurde.

Asha, wir müssen zurück“, rufe ich ihr gegen den Fahrtwind ins Ohr. Ruckartig kommt das Wüstendrift zum Stehen, sodass ich mit dem Kinn auf Ashas Schulter knalle und meine Zähne unangenehm gegeneinander schlagen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibe ich mir übers Kinn und lasse meinen Kiefer beim Öffnen des Mundes knacken.

Was ist denn los?“, frage ich sie verwirrt. Doch Asha sitzt wie erstarrt vor mir. Ihre Hände krallen sich förmlich um die Lenkstange, sodass ihre Fingerknöchel weiß aus ihrer ohnehin bleichen Haut hervortreten.

Ich will nicht zurück“, gesteht sie mir leise.

Damit hatte ich gerechnet. „Ich weiß. Ich würde auch lieber noch weiter mit dir durch die Nacht fahren, aber es gibt Aufgaben, die erledigt werden müssen.“

Sie werden schon jemand anderen finden, der die Legionsführer bedient“, faucht Asha unerwartet.

Ich versuche das Gefühl zu verdrängen, aber dennoch fühle ich mich angegriffen. Immerhin bin ich auch eine Legionsführerin.

Die Paarungskämpfe stehen kurz bevor. Es gibt viel zu organisieren“, versuche ich ihr zu erklären, ohne auf ihre Antwort einzugehen. Doch darauf pfeift sie nur abwertend durch die Zähne.

Auch das noch. Ich kann es kaum erwarten, das Sperma irgendeines Vollidioten eingesetzt zu bekommen, nachdem mir der Samen des letzten Monsters erst entfernt wurde“, erwidert sie sarkastisch. Sie weiß also von der Schwangerschaft. Wir haben nie darüber geredet.

Die Regeln wurde geändert. Es nehmen jetzt auch die Frauen an den Paarungskämpfen teil und man weiß, mit wem man gepaart wird“, versuche ich sie aufzuheitern, aber erreiche damit genau das Gegenteil.

Glaubst du, das macht es besser? Vorher hätte ich wenigstens nicht gewusst, der Samen wessen Ekels in mir wie ein Parasit heranwächst. Außerdem habe ich doch eh keine Chance. Bei den Leistungstests hatte mein Gegner mich bereits nach wenigen Sekunden besiegt. Ich bin eine absolute Niete!“

Willkommen im Club“, erwidere ich scherzend, aber auch darauf steigt Asha nicht ein.

Was wäre, wenn wir einfach nicht zurückkehren würden? Wir könnten uns den Rebellen anschließen“, schlägt sie vor und ich höre ihr deutlich an, dass sie es ernst meint. Flehend dreht sie sich zu mir um. Doch ich kann ihr unmöglich den Gefallen tun. Zum einen sind da Finn und Zoe, die meine Hilfe brauchen, und zum anderen, WILL ich die Legion nicht verlassen. Ich WILL keine Rebellin sein. Mein Platz ist in der Legion. Es ist meine Aufgabe als Führerin, die Menschen der Sicherheitszone zu beschützen, und das kann ich nur, solange ich auch ein Teil der Legion bin.

Die Rebellen leben ein gefährliches Leben“, warne ich sie, doch das beeindruckt sie nur wenig.

Lieber ein Leben in Gefahr als in Gefangenschaft“, erwidert sie nur schulterzuckend und erinnert mich damit stark an den alten Finn. Der Satz hätte von ihm sein können.

Ich weiß nicht, ob die Rebellen dich überhaupt akzeptieren würden“, behaupte ich deshalb. Für Sharon aus dem Süden mag das vielleicht sogar stimmen, aber Florance und die anderen würden sie wahrscheinlich mit offenen Armen empfangen. Sie ist, was ihre Gefühlsebene angeht, sehr viel weiter, als ich es am Anfang war. Vielleicht sogar, als ich es jetzt bin, gestehe ich mir neidvoll ein.

Die Aussage scheint Asha zu verunsichern, denn sie schweigt und starrt stattdessen hinaus in die Nacht. Der dunkelblaue Himmel färbt sich langsam lila. Die Zeit drängt.

Lass uns bitte zurückfahren!“

Asha schüttelt den Kopf und steigt von dem Wüstendrift.

Du musst ohne mich gehen. Ich bleibe hier!“

Alarmiert schüttele ich den Kopf und steige ebenfalls von dem Fahrzeug. Es würde auf mich zurückfallen, wenn ich ohne sie wiederkäme, aber das ist nicht der entscheidende Punkt.

Asha, bitte. Wir sind doch Freundinnen“, flehe ich sie an.

Zweifelnd mustert sie mein Gesicht. Sie hatte nie eine Freundin. Der Begriff der Freundschaft ist ihr genauso fremd, wie er mir lange war.

Ich brauche dich!“

Ihre Augen weiten sich ungläubig. „Du brauchst mich?“, bringt sie zögernd mit zittriger Stimme hervor.

Natürlich! Sogar mehr als jeden anderen. Wenn du nicht wärst, hätte ich mir schon oft einfach die Decke über den Kopf gezogen und geheult, bis keine Tränen mehr kommen. Aber du warst immer da, um mich zu trösten.“

Ich wurde noch nie für irgendetwas oder von irgendjemandem gebraucht“, gesteht sie mir nachdenklich.

A350 will mich für die Paarungskämpfe trainieren. Du kannst mitmachen. Dann haben wir beide eine bessere Chance. Bitte, Asha! Ich verspreche dir, dass ich nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert.“

Zögernd greift sie nach meiner ausgestreckten Hand. Unsere Hände legen sich umeinander. Sie sind kaum voneinander zu unterscheiden.

Schließlich nickt sie. „Okay, ich komme mit, aber nur deinetwegen. Und ich will, dass du mir etwas versprichst.“

Alles, was du willst!“, rufe ich erleichtert aus.

Wenn du irgendwann die Legion verlässt, dann darfst du nicht ohne mich gehen.“

Das hatte ich ohnehin nicht vor. Ich drücke ihre Hand etwas fester. „Versprochen.“

 

A350 und Clyde warten in der Mitte der Arena auf mich. Ihre Augen weiten sich überrascht, als außer mir noch Asha, Ruby, Zoe und Finn den sandigen Boden der Arena betreten. Doch anders als A350 lächelt Clyde, als er sieht, dass ich nicht alleine komme. Ich habe das Gefühl, dass seine Augen dabei einen Moment länger auf Zoes Gesicht verweilen als nötig. Sie erwidert sein Lächeln sofort, aber wendet sich dann wieder Finn zu, der fasziniert an die Decke der Arena starrt. Er ist der Einzige von uns, der zuvor noch nie hier war. Die Größe des Bauwerks ist beeindruckend, wenn man bedenkt, dass sich die gesamte Sicherheitszone unter der Erde befindet. Es ist so hell, dass man meinen könnte, dass vom Himmel wirklich Sonnenlicht und nicht nur besonders starke Deckenplatten leuchten.

Kannst du mir den Aufmarsch erklären?“, fordert A350 wütend.

Ich bin nicht die Einzige, die in den Paarungskämpfen antritt, deshalb sollte ich auch nicht die Einzige sein, die dafür trainiert.“

A350 presst ihre Lippen aufeinander und formt ihre Augen für einen Moment zu schmalen Schlitzen. Sie scheint zu überlegen, ob sie meine Entscheidung einfach so hinnehmen oder den anderen befehlen soll, die Arena zu verlassen, und sich damit meinen Ärger aufhalst.

Schließlich stöhnt sie genervt auf. „Ein paar Übungsgegner werden sicher nicht schaden.“

Sie teilt uns als erstes in drei Gruppen ein. Ruby und Clyde bilden als Kämpfer die erste und stärkste Gruppe. Zoe und Finn scheint sie hingegen als die beiden Schwächsten anzusehen und lässt sie deshalb gegeneinander kämpfen, während sie selbst mit mir und Asha üben will.

A350 verteilt an jeden ein Lasergerät, das wir uns jeweils um den rechten Arm schnallen. Die Arena ist so groß, dass wir uns problemlos in den Gruppen weit voneinander entfernt aufstellen können. Zuerst sollen Asha und ich gegeneinander kämpfen, damit A350 uns dabei beobachten kann, um so unsere Schwachstellen zu erkennen. Ich befürchte jedoch, dass sie weniger auf Asha als auf mich achten wird.

Wir stellen uns mit einigen Metern Entfernung einander gegenüber. Asha geht sofort in die uns beigebrachte Position, indem sie ihre Beine leicht auseinander stellt und für einen festen Stand etwas in die Knie geht. Gleichzeitig beugt sie ihren Oberkörper nach vorne und hebt ihren rechten Arm mit dem Laser in meine Richtung. A350 hat noch nicht einmal angezählt, aber wahrscheinlich will Asha sich vor ihr einfach nicht blamieren und ihr zeigen, dass sie dankbar dafür ist, dass sie mit mir trainieren darf. Also nehme auch ich meine Position ein. Durch Anzählen gibt A350 uns das Startzeichen.

3,2,1. Los!“

Der erste Schuss von Asha geht los, kaum dass A350 ‚Los‘ gesagt hat und trifft mich mitten auf der Brust. Wenn wir mit geladenen Geräten spielen würden, wäre ich jetzt tot. Der Kampf ist also beendet, noch ehe er überhaupt für mich begonnen hat. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Asha sofort schießt. Normalerweise umkreisen sich die Gegner erst einige Zeit, bevor überhaupt einer zu schießen wagt.

Verdammt A518, schläfst du oder was ist los?“, fährt mich auch noch A350 verärgert an. „Sobald du das Feld betrittst, musst du mit einem Angriff rechnen. Noch einmal!“

Wieder nehmen wir unsere Starthaltung ein.

3,2,1. Los!“

Wieder feuert Asha direkt einen Schuss ab, doch dieses Mal bin ich darauf vorbereitet, sodass ich mich gerade noch zur Seite retten kann. Ohne innezuhalten, schießt sie direkt weiter auf mich, als ginge es um Leben und Tod. Ich komme nicht einmal dazu zurückzuschießen, da ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, vor ihren Schüssen zu flüchten. Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir beim Training etwas Spaß miteinander haben würden, aber Asha scheint das anders zu sehen. Für sie ist es bitterer Ernst.

Schieß doch!“, schreit A350 mich aufgebracht an, während ich mich vor einem weiteren Strahl von Asha ducke. Wie denn?, würde ich am liebsten zurückbrüllen, aber nicht mal dafür bleibt mir Zeit. Asha hetzt mich förmlich über das Feld, sodass mir nach fünf Minuten langsam die Puste ausgeht, während Asha unerbittlich weiterfeuert. Aber sie steht ja auch nur mit erhobenem Arm da, wohingegen ich von einer Stelle zur nächsten jage.

Das ist kein Fangspiel!“, schimpft A350 wütend. Je länger der Kampf dauert, umso verärgerter scheint sie zu werden. Ich hatte sie ja gewarnt, dass ich nicht gut bin, aber wahrscheinlich hatte sie nicht erwartet, dass ich so extrem schlecht bin und nicht einmal gegen Asha eine Chance habe.

Gerade als ich mich vor dem nächsten Schuss zur Seite abrolle, erhasche ich einen Blick auf Zoe, der es ähnlich wie mir ergeht. Finn nimmt es mit dem Training offensichtlich genauso ernst wie Asha. Ich schaue von Zoe zu Finn und als unsere Blicke sich begegnen, trifft mich Ashas Strahl. Der Kampf ist vorbei und ich habe schon wieder verloren.

Du hast nicht ein einziges Mal geschossen!“, brüllt mir A350 entgegen. "Soll das eine Art Protest sein?“

Ich komme ja gar nicht zum Schießen“, verteidige ich mich, jedoch ohne große Hoffnung auf Mitgefühl.

Du kannst nicht nur aus dem Stehen, sondern auch aus gebückter Haltung oder sogar liegend schießen“, erwidert A350 verständnislos und schüttelt über meine Antwort nur den Kopf.

Wir machen das Ganze jetzt noch einmal und wehe, du schießt wieder nicht!“, droht sie mir. Sie beginnt sofort anzuzählen, sodass ich nicht mal mehr Zeit habe, um Luft zu holen.

3, 2, 1. Los!“

Dieses Mal mache ich es wie Asha und schieße auch sofort, als das ‚Los‘ ertönt. Genau wie ich weicht sie zur Seite aus und feuert dabei den nächsten Schuss ab. Wir rennen praktisch im Kreis, bis ich plötzlich die Richtung wechsele und Asha nur knapp verfehle. Obwohl ich dieses Mal genauso eifrig drauflos feuere wie Asha, ist A350 immer noch nicht zufrieden.

Schneller! Ihr seid beide zu langsam.“

Ihr bewegt euch wie zwei Stöcke, da wären selbst die Kämpfer der zweiten Generation schneller.“

Umtanzt euch nicht, sondern greift frontal an!“

Bei diesem Kommando ändert Asha plötzlich ihre Taktik und geht gezielt auf mich zu, wobei sie durch Ducken und Springen meinen Schüssen ausweicht. Da ich nun nicht dasselbe machen kann wie sie, beschließe ich, es anders zu versuchen, und renne, so schnell ich kann, um sie herum, um sie so von hinten anzugreifen. Mit dieser Taktik überrumple ich sie und streife mit meinem Laserstrahl ihr rechtes Ohr. Doch die ‚Verletzung‘ würde nicht ausreichen, um sie zu töten, und würde somit nur als Treffer gewertet werden, aber nicht als Sieg. Die Paarungskämpfe unterscheiden sich von den Leistungskämpfen in dem Punkt, dass sie nicht nach einer bestimmten Zeit einfach enden, sondern sie dauern so lange, bis einer bei geladenen Waffen tödlich verletzt würde. Selbst wenn so ein Kampf über mehrere Stunden dauert.

Nachdem Ashas Taktik des frontalen Angriffs nicht erfolgreich war, jagen wir uns wieder gegenseitig durch die Arena. Dabei kommt mir meine gute Ausdauer letztendlich zu Hilfe, denn nach einigen Minuten feuert Asha immer seltener und wird langsamer, sodass es mir schließlich gelingt, sie zu erschießen, als sie am Boden liegt und sich gerade wieder aufrappeln will. Wenigstens ein Sieg.

Aber A350 ist nach wie vor unzufrieden.

Seht das als Aufwärmtraining an. Wir sind noch lange nicht fertig!“, sagt sie in herrischem Tonfall. „Partnertausch!“

A350 schickt Asha nun zu Finn, Zoe zu Ruby und zu uns tritt Clyde. Ist das ihr Ernst? Ich habe es ja nicht einmal geschafft, mich gegen Asha zu behaupten. Wie soll ich dann auch nur eine geringste Chance gegen Clyde haben? Ungläubig und erschöpft starre ich sie an.

Doch A350 zuckt nur mit den Schultern. „Bei den Paarungskämpfen wirst du gegen die Stärksten der Starken antreten müssen, wenn du gewinnen willst. Wir haben nicht genug Zeit, um euch tagelang gegen Gegner eures Levels antreten zu lassen. Messe dich lieber mit den Besten!“

Clyde errötet leicht bei ihren Worten und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Da jedes Murren und Jammern ohnehin nicht hilft, gebe ich mich geschlagen und begebe mich zurück auf unsere Startposition.

3, 2, 1. Los!“

Anders als Asha feuert Clyde nicht sofort, sondern fixiert mich und wartet auf eine Reaktion meinerseits. Für einen Überraschungsangriff ist es bereits zu spät, deshalb versuche ich, ihn erneut mit Geschwindigkeit zu überlisten, wie zuletzt auch bei Asha. Wie von der Tarantel gestochen, renne ich los und feuere einen Schuss ab, als ich mich hinter ihm befinde. Clyde reagiert deutlich schneller als Asha, und ehe ich mich versehe, steht er vor mir und wehrt meinen Schussarm mit seinem linken Unterarm ab. Ich bin es nicht gewohnt, dass es beim Arenakampf zu körperlichem Kontakt kommt. Normalerweise werden diese Kämpfe immer aus einer gewissen Entfernung geführt, doch Clyde zieht mir genau in diesem Moment die Füße unter den Beinen weg, sodass ich zu Boden stürze. Ich weiß, dass er mich bereits jetzt problemlos erschießen könnte, doch stattdessen weicht er zurück und gibt mir die Gelegenheit, mich wieder aufzurappeln. Wir nehmen wieder Distanz zueinander ein und ohne mit der Wimper zu zucken, feuere ich einen Schuss ab und setze direkt den nächsten hinterher, so wie Asha es zuvor immer bei mir gemacht hat. Mein Ziel ist, Clyde genauso über das Feld zu jagen wie Asha zuvor mich, aber Clyde ist schneller, als ich es war, und so ist er hinter mir, noch ehe ich mich ducken kann. Aber er schießt nicht auf mich, sondern schmeißt mich durch einen groben Stoß zu Boden.

Sehr gut! Hätte er sofort geschossen, wäre die Chance groß gewesen, dass du hättest ausweichen können. Doch wenn du erst mal mit dem Gesicht voran im Sand liegst, sind deine Chancen gering“, kommentiert A350 das Ganze, während ich prustend den Sand versuche auszuspucken. In meinem ganzen Mund knirscht es vor lauter Sand. Es ist das zweite Mal, dass Clyde mich hätte erschießen könne, aber es nicht tut. Er ist mir haushoch überlegen.

Erschöpft drehe ich mich auf den Rücken und blicke in das helle Licht der Deckenleuchten.

Wirst du wohl wieder aufstehen?“, schreit A350 völlig aufgebracht. „Ich habe dir nicht erlaubt, dich auszuruhen!“

Clyde beugt sich über mich und hält mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Erleichtert nehme ich sein Angebot an.

Verdammt! Warum schießt du in diesem Moment denn nicht?“, flucht A350, kaum dass ich neben Clyde wieder auf den Beinen stehe.

Überrumpelt starre ich sie an. „Er hat mir seine Hilfe angeboten, dann erschieße ich ihn doch nicht. Wie unfair wäre das denn?!“

Bei den Paarungskämpfen geht es nicht darum, wer sich am fairsten benimmt, sondern nur darum, wer gewinnt!“, schreit sie mit hochrotem Kopf und tritt dann bedrohlich auf mich zu.

Wenn du einer Befruchtung entgehen willst, solltest du lieber mit allen Mitteln kämpfen“, zischt sie mir zu.

Sie wirkt mittlerweile genauso erschöpft wie ich, dabei hat sie nicht einmal gekämpft. Offensichtlich hat sie sich so in den Kampf hineingesteigert, dass sie ihn förmlich mitempfindet.

Ich denke, es ist jetzt Zeit für eine kurze Pause“, erklärt sie dann aber gutmütig. Wahrscheinlich hat sie auch eingesehen, dass es einfach nichts bringt weiterzukämpfen, solange ich und auch einige andere mit ihren Kräften am Ende sind.

Clyde klopft mir aufmunternd auf die Schulter, als wir von A350 zu den anderen auf die gegenüberliegende Seite der Arena laufen.

Du hast dich gar nicht so schlecht geschlagen. Deine Ausdauer ist sogar ziemlich gut.“

Ich weiß, dass er es nur gut meint, aber genauso weiß ich auch, dass ich meine Gegner nicht besiegen kann, indem ich ihnen davonlaufe. Ich muss sie erschießen, um gewinnen zu können.

Asha, Zoe und Ruby haben sich in einem Kreis auf den Boden gesetzt. Nur Finn lehnt ein Stück abseits von ihnen an der Mauer.

Fragend blicke ich zu Zoe, doch die macht nur eine wegwerfende Handbewegung. „Ich hab alles versucht, aber er ist sturer als jeder Esel. Zumindest in der Hinsicht ist er noch genau der Gleiche, auch wenn das leider schon alles ist. Glaub mir, ich habe es im Guten versucht und ihm alle möglichen Kindheitserinnerungen aufgetischt. Als das nichts geholfen hat, habe ich ihn angeschrieen und ihm sogar eine geknallt.“ Sie schaut beschämt zu Boden. „Aber nichts davon hat geholfen. Es scheint fast so, als würde er sich mit Händen und Füßen gegen jede Erinnerung wehren, und je mehr ich es versuche, desto mehr Abstand sucht er zu mir. Ich bin wirklich ratlos“, gesteht sie mir verzweifelt. Mitfühlend nicke ich ihr zu. Ich verstehe sie nur zu gut, aber genau das ist das Problem. Je mehr wir uns wünschen, dass Finn sich erinnert, und je mehr wir ihn bedrängen, umso mehr verlieren wir ihn. Es hat mich ohnehin schon gewundert, dass er überhaupt bereit war, mit an dem Training teilzunehmen. Das überzeugende Argument war, dass sich so sein Ranglistenplatz bei der Paarung verbessern könnte. Es geht ihm alleine darum und nicht etwa darum, mit uns Zeit verbringen zu können.

Trotzdem steuere ich nun langsam auf ihn zu, weil ich es einfach nicht ertrage, ihn alleine an der Mauer stehen zu sehen. Egal, ob er sich erinnert, selbst wenn er sich nie mehr erinnert, ist er ein Teil von uns.

Er schaut misstrauisch auf, als ich vor ihm stehe, ohne etwas zu sagen.

Na, wie lief das Training?“, frage ich ihn und lasse mich neben ihm zu Boden gleiten. Erstaunlicherweise folgt er meinem Beispiel und setzt sich neben mich.

D523 ist eine Niete. Sie gibt sich gar keine Mühe“, bemängelt er mit einem abwertenden Blick in Zoes Richtung. Auch sie schaut zu uns herüber und streckt ihm die Zunge raus, als sie seinen Blick bemerkt. Finn schaut schnell wieder weg. Er kann mit ihrer Geste nichts anfangen, während ich leise kichern muss.

Und Asha?“

Ich benutze gezielt unsere Namen und nicht etwa die Bezeichnungen. Ich habe Finn, bevor wir in die Arena gingen, noch einmal alle namentlich vorgestellt, aber er weigert sich offensichtlich trotzdem, diese auch anzunehmen.

Sie ist besser und hat wenigstens Ehrgeiz. Sie weiß, worum es geht.“

Hast du gegen sie gewonnen?“, frage ich ihn lächelnd.

Ja“, antwortet er stolz und erwidert unsicher mein Lächeln. Es fällt ihm mit jedem Tag ohne seine Erinnerung immer schwerer, Emotionen umzusetzen.

Trotzdem bin ich froh, dass die Kämpfe für ihn so gut laufen. Eigentlich hatten wir damit gerechnet, dass er der Schlechteste von uns sein würde, da er zuvor nie Unterricht erhalten hat, aber er erweist sich als Naturtalent. Wer weiß, vielleicht wäre er jetzt wie Clyde ein Kämpfer, wenn er von Geburt an in der Legion aufgewachsen wäre. Oder sogar ein Legionsführer wie ich.

Wir schweigen für einen Moment und blicken über das Kampffeld zu der Tribüne, auf der sonst die Legionsführer Platz nehmen. Unsere Arme berühren sich dabei leicht und ich spüre, wie ich eine leichte Gänsehaut bekomme. Obwohl er nicht mehr der Alte ist, hat seine Anziehungskraft auf mich nicht abgenommen.

Bist du eigentlich noch traurig?“, fragt er plötzlich und wendet mir das Gesicht zu. Überrascht schüttele ich den Kopf. Mit dieser Frage hätte ich nicht gerechnet. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich darüber weiter Gedanken macht, aber offensichtlich hat er genau das getan. Er hat an mich gedacht. Diese Erkenntnis bringt mein Herz zum Klopfen und meine Hände werden leicht zittrig.

Das ist gut“, erwidert er erleichtert. Ich habe das Gefühl, dass er noch mehr sagen möchte, aber er zögert und blickt sich fast hilfesuchend in der Gegend um. Gedankenverloren wühlt er mit seinen Fingerspitzen den Sand neben seinen Beinen auf.

Ich wollte dir auch noch etwas sagen“, beginnt er stockend. Die Worte gehen ihm nicht leicht über die Zunge. „Ich glaube dir jetzt.“

Was genau meinst du?“

Ich glaube dir und D523, dass ich der bin, für den ihr mich haltet.“

Erinnerst du dich wieder an etwas?“, frage ich sofort neugierig. Doch Finn schüttelt den Kopf.

Nein, aber ich weiß, dass du mich nicht belügen würdest. Du bist ehrlich.“

Sein blindes Vertrauen berührt mich. Anscheinend habe ich doch nicht alles falsch gemacht.

Ich weiß, dass du und D523 euch nichts mehr wünscht, als dass ich mich wieder erinnere, aber ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt möchte. Um ehrlich zu sein, habe ich ziemlich Angst davor.“

Warum?“, will ich entsetzt wissen. Er wehrt sich offenbar tatsächlich gegen seine eigene Erinnerung.

Dieser Finn scheint mir kein guter Mensch zu sein. Er ist ein Verräter und ein Verbrecher. Ich möchte so jemand nicht sein. Es gefällt mir in der Legion. Ich mag meine Aufgabe und den geregelten Tagesablauf. Es gibt mir Sicherheit.“

Seine Worte beweisen mir, dass er sich wirklich nicht erinnern kann. Dem alten Finn hätte es niemals in der Legion gefallen. Er hätte sich wie ein Tier im Käfig gefühlt. Seine Freiheit war für ihn das Wichtigste. Aber mir kommt gleichzeitig auch ein anderer Gedanke. Vielleicht passt der neue Finn viel besser zu mir als der alte, denn auch ich mag die Legion in einer gewissen Hinsicht. Sie ist mein Zuhause.

Der einzige Grund, warum dieser Finn nicht ganz so schrecklich gewesen sein kann, wie es mir scheint, ist, dass du ihn mochtest.“

In seinen Augen liegt fast so etwas wie Wehmut. Ich bedeute ihm etwas, auch ohne seine Erinnerung.

Ich mag dich auch jetzt noch, aber ich hatte nie das Gefühl, dass es dir genauso gehen könnte“, antworte ich ihm ehrlich. „Du schienst eher immer wahnsinnig genervt von mir zu sein.“

Finn lacht. „Das war ich auch. Sehr sogar! Aber das lag daran, dass du immer nur von meiner Erinnerung gesprochen hast. Dir war vollkommen egal, wer ich jetzt bin, sondern es ging dir nur darum, wer ich einmal war. Aber das hat sich geändert. Du warst heute zum Beispiel die Einzige, die mich nicht als erstes darauf angesprochen hat. Wahrscheinlich hättest du gar nicht damit angefangen, wenn ich dich nicht selbst darauf gebracht hätte.“

Stimmt, ich habe verstanden, dass es dich unter Druck setzt.“

Ich wünschte, Zoe würde das auch verstehen“, seufzt Finn und mir fällt sofort auf, dass er dieses Mal ihren Namen und nicht ihre Bezeichnung verwendet. Es ist, als hätte er seine Schutzmauern fallen gelassen.

Wir blicken einander in die Augen, und obwohl es nicht wie früher ist, fühlt es sich gut an. Er ist mir näher als je zuvor. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass er mich wirklich versteht. Zwischen mir und dem alten Finn standen immer unsere unterschiedlichen Ansichten über die Legion, aber das ist vorbei. Der neue Finn sieht in ihr dasselbe Zuhause wie ich. Er hat alles vergessen, was war, aber trotzdem mag er mich. Er mag mich genauso, wie ich bin. Ich brauche nichts vor ihm zu verbergen, sondern kann alles frei aussprechen, und er versteht mich. Ich fühle mich von ihm verstanden.

Weißt du, warum es mir wichtig ist, einen guten Ranglistenplatz zu erzielen?“, fragt er mich plötzlich ganz unerwartet.

Ich dachte, es ginge ihm um sein Ansehen in der Legion, aber da ihm seine Aufgabe in der Putzkolonne gefällt, kann das nicht der Grund sein. Deshalb schüttele ich den Kopf.

Ich möchte die Chance bekommen, gegen dich kämpfen zu dürfen und zu gewinnen.“

Bei seinen Worten wendet er nicht eine Sekunde den Blick von mir ab, sondern starrt mir förmlich in die Augen.

Weißt du, was das bedeuten würde?“, stoße ich verwirrt hervor.

Er nickt, ohne die Augen von mir zu lassen. „Du hattest recht, wir sind nicht alle gleich. Du magst vielleicht aussehen wie alle anderen und die meisten werden dich nur für eine von vielen halten, aber für mich bist du einzigartig. Du bist das einzige Mädchen, dass ich je weinen gesehen hab. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Du hast etwas in mir bewegt, dass ich weder beschreiben noch deuten kann. Aber seit diesem Tag ist nichts mehr wie zuvor. Ich fühle mich in deiner Nähe lebendig.“

Er sprüht förmlich vor Emotionen und ich kann nicht anders, als meine Lippen auf seine zu pressen. Ich denke nicht einmal daran, dass A350 uns sehen könnte. Alles um uns herum ist in diesem kurzen Augenblick vergessen. Finn stößt mich nicht von sich, stattdessen legt er seine rauen Hände sanft auf meine Wangen und schiebt mein Gesicht wenige Zentimeter von seinem. Unsere Nasenspitzen berühren einander, während er mir in die Augen blickt und darin etwas zu suchen scheint. Ich bin jetzt völlig verwirrt und weiß nicht mehr, was ich denken oder fühlen soll. In dem einen Moment sehne ich mich so sehr nach dem alten Finn, dass es weh tut, und im nächsten Moment erkenne ich bereits, dass der neue Finn vielleicht gar nicht so schlecht ist. Ich halte es für ausgeschlossen, dass er sich erinnert, aber während er meinen Kuss erwidert, ist es, als hätte er nie auch nur eine Sekunde unserer gemeinsamen Zeit vergessen. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Kann es vielleicht sein, dass Finn sich doch erinnert und es nur nicht zugeben will? Spielt er mir nur etwas vor?

Ich rechne förmlich damit, dass die anderen zu uns herüberstarren, doch nicht einer von ihnen schaut in unsere Richtung. Niemand hat unseren Kuss bemerkt. Von Zoe und den anderen lasse ich meinen Blick über den Rand der Arena wandern und ich muss nicht lange suchen, um fündig zu werden. A350 starrt direkt in unsere Richtung. Sie hat den Kuss gesehen und sie bebt vor Wut.

 

Nach dem Training habe ich das Gefühl, jeden einzelnen Muskel meines Körpers zu spüren. Sie scheinen allesamt völlig überanstrengt zu sein. Am liebsten würde ich mich einfach nur noch in mein Bett legen und eine Woche lang nicht mehr aufstehen, aber bereits am nächsten Tag geht das Training in der Frühe weiter, und auch jetzt bleibt keine Zeit, um auszuruhen. Ich habe ein Versprechen einzulösen.

Als ich im Aufzug in die Sicherheitszone gleite, hat sich der Himmel bereits dunkelblau verfärbt. Wolken verdecken die Sicht auf die Sterne und den Mond. Es ist eine finstere Nacht.

Kaum, dass ich den Aufzug verlasse, erkenne ich bereits vor den Flügeltüren zur Krankenstation Ruby in Begleitung von Zoe und Finn. Während Zoe unruhig von einem Fuß auf den anderen tippelt, steht Finn mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihr und wirkt eher genervt als in freudiger Erwartung. Ruby sieht mich als erstes und stürzt ungehalten in meine Richtung.

Du bist fünf Minuten zu spät! Kannst du dir vorstellen, in welche Panik du mich damit versetzt hast?“, fragt sie mich vorwurfsvoll. Ich weiß, dass sie sich nicht etwa Sorgen um mich gemacht hat, sondern mehr darum, im Atrium mit zwei D-lern erwischt zu werden. Aber ich wette, sie hatte sich für diesen Fall bereits eine Ausrede parat gelegt.

Entschuldigt bitte“, erwidere ich trotzdem höflich und öffne mit meinem Fingerabdruck den Weg zur Krankenstation. Die Türen gleiten gehorsam auseinander und gewähren uns Einlass.

Kaum, dass die Türen hinter uns schließen, schlingt sich Zoe zitternd die Arme um den Körper.

Ich bin froh, dass ich nicht mehr hier bin. Alleine die Luft riecht schon nach Folter.“

Finn blickt sie skeptisch an und sieht sich eher interessiert um. Wahrscheinlich erinnert er sich kaum noch an seine ersten Stunden hier. Seine Wiedereingliederung erfolgte sehr schnell.

Ruby hingegen hat es wie immer eilig. Sie ist immer auf der Hut und stets wachsam. Vielleicht ist das der Grund, warum sie in ihrer Tätigkeit als Spionin noch nie aufgeflogen ist. Ich weiß nicht einmal, wie sie überhaupt dazu gekommen ist und wie lange sie die Rebellen schon mit Informationen versorgt. Aber ich wette, wenn ich sie danach fragen würde, bekäme ich ohnehin keine Antwort. Wahrscheinlich würde sie nur erwidern: ‚Je weniger du weißt, umso besser.‘

Die Gänge der Krankenstation wirken nach wie vor wie ein Labyrinth auf mich. Ein Gang gleicht dem anderen. Doch dieses Mal bin ich besser vorbereitet als beim letzten Mal und habe mir heimlich einen Plan der gesamten Krankenstation ausgedruckt, sodass es nun wesentlich leichter ist, die Zelle von Z318 wiederzufinden.

Als wir vor der Tür stehen bleiben, ist Zoes Gesicht fast so bleich wie die grauen Wände um uns herum. Finn zieht, als er die Bezeichnung liest, misstrauisch seine rechte Augenbraue nach oben.

Was wollen wir hier?“

Nennen wir es einfach einen Krankenbesuch“, erwidert Zoe kalt. Sie scheint immer mehr die Geduld mit ihrem älteren Bruder zu verlieren.

Warum? Ich kenne diesen Bewohner gar nicht und ich will ihn, ehrlich gesagt, auch gar nicht kennen. Jemand mit einem Z vor der Nummer sitzt nicht ohne Grund abseits von allen anderen in einer Zelle fest.“

Offensichtlich hat ihm Zoe noch nicht erzählt, um wen es sich bei Z318 handelt. Wahrscheinlich wäre Finn dann nicht einmal mitgekommen.

Findest du es etwa richtig, dass die Legionsführer jemanden wegsperren, nur weil derjenige eine andere Meinung hat als sie?!“, schimpft Zoe direkt aufgebracht und mit geballten Fäusten los.

Hey, lasst uns doch erst einmal reingehen“, versuche ich die beiden zu beruhigen. „Schau sie dir wenigstens einmal an. Danach darfst du gehen, wann immer du willst“, sage ich an Finn gerichtet. Das scheint ihn etwas zu beruhigen, denn seine angespannte Körperhaltung löst sich etwas.

Ich öffne die Tür und wir treten in den dunklen Raum, der nur von dem grellen Licht aus dem kleinen Fenster der Zelle von Z318 erhellt wird.

Ein Blick auf Zoe genügt, um ihr Herz förmlich schlagen zu hören. Sie steht wie angewurzelt in dem Raum und starrt auf das kleine Fenster, als wäre es der Weg in eine andere, bessere Welt.

Langsam nähert sie sich der Tür, so als hätte sie Angst, dass diese sich in Luft auflösen könnte, wenn sie zu schnell auf sie zustürmt.

Ganz vorsichtig legt sie ihre Hände auf die kalte Scheibe des Fensters und blickt in das Innere der Zelle. Erschrocken schnappt sie nach Luft und beginnt zu schluchzen. „Sie ist es.“

Tränen quellen unaufhaltsam aus ihren Augen, als sie sich mir zuwendet und ihre Aussage noch einmal wiederholt, so als könne sie es selbst kaum glauben. „Sie ist es. Kannst du die Tür öffnen?“, setzt sie flehend hinzu.

Ich weiß es nicht genau. Die Tür ist durch ein Zahlenfeld gesichert. Beim letzten Mal hatte ich Angst davor zu versuchen, irgendeine Zahl einzugeben. Ich hatte Angst vor Z318 und habe es irgendwie auch immer noch.

Willst du auch mal durchsehen?“, fordere ich Finn freundlich auf, doch er zuckt nur unbeteiligt mit den Schultern.

Warum, wenn du ohnehin die Tür öffnest?!“

Er scheint verärgert über mich zu sein, dass er überhaupt mit hierher kommen musste. Aber vielleicht ändert sich das ja, wenn er seine Mutter erst einmal vor sich stehen sieht.

Die einzige mögliche Zahl, die mir in den Sinn kommt, ist die Jahreszahl der Gründung der Legion. 2105.

Mit zittrigen Fingern tippe ich die Zahl in das Tastenfeld. Ich rechne fest damit, ein rotes Licht zu sehen und die Computerstimme zu hören, die uns den Zugang verwehrt. Doch nichts von dem passiert. Stattdessen gibt die Tür nur ein kurzes Klicken von sich und schwingt dann einen schmalen Spalt breit auf.

Für Zoe gibt es kein Halten mehr, noch ehe ich etwas unternehmen könnte, stürmt sie an mir vorbei und reißt die Tür auf. Sie rennt in das Innere der Zelle und schmeißt sich ihrer Mutter weinend in die Arme.

Mama“, schluchzt sie dabei immer wieder.

Während Maggie im ersten Moment noch überrumpelt wirkt, schließt sie im nächsten bereits Zoe fest in ihre Arme und vergräbt ihr Gesicht an ihrer Halsbeuge. Tränen sickern von ihren Wangen in den braunen Stoff von Zoes Anzug. Sie streicht ihrer Tochter über den kahlen Kopf.

Die Szene berührt mich und kommt mir gleichzeitig seltsam bekannt vor. Ich kann nicht sagen woher, aber es scheint mir, als hätte ich dasselbe so schon einmal gesehen. Nein, nicht gesehen, sondern gefühlt. Vor allem die fürsorgliche Reaktion von Maggie, die wohl typisch für eine Mutter ist, erinnert mich an irgendjemanden. Vielleicht Grace? Aber sie und Emily waren nie getrennt. Ich kann so eine Szene bei ihnen nicht beobachtet haben.

Betreten blicke ich weg, um den beiden wenigstens etwas Privatsphäre zu gönnen. Mein Blick bleibt an Finn haften, der wie zur Salzsäule erstarrt hinter mir steht und mit gebanntem Blick in das Innere der Zelle starrt.

Nun bemerken auch Zoe und Maggie Finn. Lächelnd strecken beide ihre Hände nach ihm aus, um ihn ihre Mitte aufzunehmen.

Komm zu uns“, fordert ihn Zoe auf, wobei ihre Stimme vor lauter Emotionen zittert.

Panisch schüttelt Finn den Kopf und tritt einen Schritt zurück.

Finn, mein Sohn“, flüstert Maggie liebevoll und geht einen Schritt in seine Richtung.

Geschockt stößt Finn Luft aus und schlägt die offene Tür zu, sodass seine Mutter und seine Schwester hinter der Zellentür verschwinden.

Wütend funkelt er mich an. „Wie konntest du mir das nur antun?“

Ich bin überrumpelt und weiß nicht, was ich antworten soll. Ich wollte ihm doch nur helfen.

Ich dachte, deine Mutter zu sehen, würde dir helfen, dich zu erinnern…“

Seine Faust donnert gegen die geschlossene Tür, noch bevor ich meinen Satz überhaupt beendet habe.

Und wieder geht es nur um meine verdammte Erinnerung! Ich dachte, du hättest verstanden, dass ich ein neues Leben begonnen habe. Der alte Finn ist tot!“

Seine Stimme hallt wie ein unangenehmes Summen in meinen Ohren nach. Ich weiche erschrocken vor ihm zurück. Obwohl er mir sagt, dass der alte Finn tot ist, benimmt er sich in diesem Moment haargenau wie er: Aggressiv und haltlos.

Ich verstehe dich, aber es ändert nichts daran, dass Maggie deine Mutter ist“, erwidere ich kleinlaut.

Z318“, entgegnet Finn kalt.

Ich kann nicht glauben, wie emotionslos er über seine eigene Mutter spricht. Die Mutter, deren Tod ihn fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Die Mutter, um die er Tage, Nächte, Wochen und Monate geweint und getrauert hat. Die Mutter, für deren Tod er bereit war, die ganze Legion zu zerstören, nur um sie zu rächen.

Außerdem weiß ich, dass er sich sehr wohl an sie erinnert. Er muss! Denn sonst wäre er kaum bei ihrem Anblick so erstarrt und vollkommen aus der Haut gefahren.

Vom Inneren der Zelle ist ein Klopfen gegen die Tür zu hören.

Bring mich weg von hier!“, fordert Finn an Ruby gewandt. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, geht sie in die entgegengesetzte Richtung und öffnet Finn die Tür, durch die wir reingekommen sind.

Nichts lieber als das“, murmelt sie leise. Finn folgt ihr, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen. Schlimmer könnte er mich nicht bestrafen und das gerade heute, wo wir uns erst am Mittag noch so nahegekommen sind.

Ich atme tief ein und aus, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Am liebsten würde ich laut schreien und mit den Fäusten gegen die Wand hämmern. Der Schmerz in meinem Inneren scheint mich schier zu zerreißen. Ich versuche, das Zittern in meinen Händen unter Kontrolle zu bekommen und meinen Kopf von all den Gedanken und Erinnerungen zu befreien.

Erst als ich meinen Körper und meine Gefühle auf ein Minimum heruntergefahren habe, fühle ich mich in der Lage, erneut den Code ‚2105‘ in das Tastenfeld zu tippen, um so Maggie und Zoe die Tür zu öffnen.

Sie wirken beide alarmiert und suchen sofort den kleinen Vorraum nach Finn ab, doch ich bin die Einzige, die noch hier ist. Ihre Enttäuschung zeichnet sich deutlich auf ihren Gesichtern ab.

Wie kann er nur so sein?“, stößt Zoe verletzt aus, wobei ihre Unterlippe erneut zu zittern beginnt.

Er dachte, ich wäre tot“, versucht Maggie ihren Sohn zu verteidigen.

Gerade deshalb“, entgegnet Zoe jedoch nur herablassend.

Er erinnert sich“, werfe ich überzeugt ein. Entgeistert blicken mir die beiden Frauen entgegen.

Bist du sicher?“, flüstert Maggie hoffend.

Doch noch ehe ich mich ihr erklären kann, kommt mir Zoe zuvor. „Wenn er sich erinnern würde, hätte er nicht so reagiert. Das ist nicht mein Bruder! Wir haben Finn verloren!“