12. Ein Name voller Hoffnung
Als ich vor der Tür stehe, hinter der D560 ihr Krankenzimmer hat, sind meine Hände schweißnass. Jegliche Farbe ist mir aus dem Gesicht gewichen und ich fühle mich leicht schwindelig. Wie konnte sie das nur tun? Warum habe ich in der letzten Nacht nur nicht nach ihr gesehen? Vielleicht wäre es dann niemals so weit gekommen.
A233 öffnet für mich die Tür mit ihrem Fingerabdruck. Ich bin froh zu sehen, dass es nicht eine der üblichen Zellen ist, in denen die Legion sonst ihre Gefangenen hält. Dieses Zimmer ist anders. Zwar gibt es auch hier kein Fenster, immerhin befinden wir uns unter der Erde, aber zumindest sind die Wände in einem fröhlichen Grasgrün gestrichen und der Boden besteht aus sandbraunen Platten und nicht dem üblichen tristen Grau. A560s Bett steht in der Mitte des Raums. Sie ist an ein Herzfrequenzmessgerät angeschlossen, das ein ständiges Piepsen von sich gibt. Ihre Handgelenke sind mit einem weißen Verband umwickelt, der sich kaum von ihrer bleichen Haut abhebt. Ihre Augen sind geschlossen, aber selbst im Schlaf wirkt sie traurig und so zerbrechlich, dass selbst die kleinste Berührung sie zum Zerspringen bringen könnte.
A350 steht neben dem Bett und blickt erst von D560 auf, als wir den Raum betreten. Ihr Gesicht ist gezeichnet von Sorge. Sie tritt um das Bett herum auf mich zu.
„Du darfst mit ihr alleine sein, wenn du möchtest.“
Ich nicke schnell und beiße mir auf die Unterlippe, um meine bebenden Lippen unter Kontrolle zu halten.
„Ich warte vor der Tür auf dich“, flüstert mir A350 sanft zu und lässt für einen kurzen Moment ihre Hand auf meiner Schulter verweilen. Danach verlässt sie mit A233 den Raum.
Als sich die Tür schließt, stehe ich immer noch wie erstarrt auf derselben Stelle wie zuvor. Ich traue mich kaum, näher zu treten. Tief in meinem Inneren fühle ich mich schuldig. Schon bei unserer ersten Begegnung habe ich gesehen, wie schlecht es D560 ging. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie sie die Glasscherben in ihre Hände gepresst hat, sodass das Blut aus ihnen hervorquoll. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen herauszufinden, was mit ihr los ist. Stattdessen war ich immer nur mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Ich weiß nicht, warum sie mich belogen hat, als sie sagte, dass A350 ihr befohlen hätte, die Nächte bei mir zu verbringen. Vielleicht wollte sie einfach nicht alleine sein. Warum konnte sie nicht ehrlich zu mir sein? Ich hätte sie niemals weggeschickt. Ganz im Gegenteil, ich habe ihre Nähe doch genossen. Wusste sie das nicht? Hat sie es nicht gespürt?
Ganz langsam trete ich näher an ihr Bett. Ich setze so leise ich kann einen Fuß vor den anderen, um sie ja nicht zu wecken. Als ich vor ihr stehe und auf ihr blasses Gesicht herabblicke, überkommt mich der Wunsch, ihr über die Stirn zu streichen oder wenigstens ihre Hand zu halten, aber ich unterlasse beides. Stattdessen ziehe ich mir den einzigen Stuhl in dem Zimmer heran und setze mich an das Bett. Ich lege meine Hand sachte neben ihre, jedoch ohne sie zu berühren. Ich möchte ihr etwas sagen. Irgendetwas, das ihr vielleicht Hoffnung gibt, wenn sie es hört.
„Außerhalb der Legion gibt es einen kleinen Wald. Die Bäume sind so hoch, dass, wenn man nach oben blickt, man den Himmel durch ihr dichtes Blätterdach erkennen kann. Die Luft riecht dort nach Tannennadeln und dem weichen Moos, das sich über den Boden erstreckt. Wenn man barfuß darüber läuft, fühlt es sich fast wie Teppich an. Der Wald ist niemals still. Am Tag liegen der Gesang der Vögel und das Rascheln von kleinen Tieren in der Luft. Und in der Nacht ist der Ruf des Uhus zu hören. Manchmal klagt auch ein Wolf dem Mond sein Leid.“ An dieser Stelle ende ich, weil ich daran denken muss, dass D560 es wohl genau wie der Wolf täte, wenn sie könnte.
Doch plötzlich berühren ihre Fingerspitzen ganz sachte meine Hand. „Hör nicht auf“, bittet sie flüsternd mit geschlossenen Augen.
Ich bin erleichtert darüber, dass sie wach ist, und schließe nun ebenfalls meine Augen, um mich besser erinnern zu können.
„Mitten in dem Wald gibt es einen kleinen See. Ganz früh am Morgen, wenn die Sonne gerade erst aufgeht, liegt Nebel über der Oberfläche. Wenn der Wind durch den Nebel weht, sieht es aus, als würden fremde Wesen über das Wasser tanzen, wie in einem Märchen. Sobald der Nebel sich lichtet, kann man sehen, wie klar das Wasser ist. Über Nacht hat sich der ganze Schlamm am Boden abgesetzt, sodass man bis auf den Grund blicken kann. Das Wasser ist jedoch auch eiskalt. Es kostet Überwindung, sich trotzdem hineinzutrauen. Doch man wird es nicht bereuen. Denn nach einem Bad am Morgen fühlt man sich wie neugeboren. Es wäscht allen Kummer von einem ab und lässt einen die Probleme klarer sehen.“
Ihre Finger tasten sich etwas näher an meine Hand, sodass sie mich nicht nur berühren, sondern auf meiner Haut ruhen. „Ich wünschte, ich könnte jetzt auch ein Bad in dem See nehmen“, flüstert D560 und ich sehe, wie Tränen unter ihren geschlossenen Augen hervorquellen.
„Soll ich aufhören?“
„Nein, bitte erzähl weiter.“
„Am Mittag ist es am wärmsten am See. Die Sonne steht zu diesem Zeitpunkt an ihrem höchsten Punkt. Wenn man nicht aufpasst, holt man sich dann leicht einen Sonnenbrand. Das ist wirklich eine grausame Angelegenheit. Dabei schält sich die eigene Haut vom Körper ab. Am Anfang tut es weh und später juckt es sogar. Aber unter der verbrannten Haut wächst neue, wie bei einer Schlange, die ihre Haut abwirft. Aber nach dem ersten Sonnenbrand gewöhnt sich die Haut langsam an die Sonne und beginnt, sich zu verändern. Sie zieht Farbe in sich auf, wie ein Schwamm Wasser. Die Haut bekommt dann einen goldenen Glanz und wird ganz warm.“
Als ich von Wärme spreche, tritt für einen kurzen Moment ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. „Und was ist am Abend?“
„Am Abend ist das Wasser des Sees am wärmsten, aber auch am aufgewühltesten. Während es am Morgen so klar war, dass man bis auf den Grund schauen konnte, und es bläulich schimmerte, ist es am Abend schlammigbraun. Dafür quaken dann aber auch die Frösche und Kröten am lautesten. Sie sitzen versteckt im Schilf rund um den See und singen ein Lied, das nur sie selbst verstehen. In den Gräsern, die am Ufer des Sees wachsen, stimmen dann an warmen Tagen die Grillen mit ein. Sie zirpen, als trüge jede von ihnen eine kleine Geige in den zarten Beinen. Ihr Spiel ist so laut, dass man es selbst aus mehreren Metern Entfernung noch hören kann. Es erfüllt die ganze Luft und überdauert selbst den Sonnenuntergang.“
D560 öffnet die Augen und sieht mich erschöpft an, doch das Lächeln auf ihren gesprungenen Lippen ist geblieben. „Wenn man dir zuhört und dabei die Augen schließt, kann man alles vor sich sehen, so als wäre man selbst dabei gewesen. Ich wünschte, ich könnte das alles einmal mit eigenen Augen sehen.“
„Das wirst du eines Tages. Du musst nur Geduld haben“, versichere ich ihr. Doch D560 schüttelt traurig den Kopf.
„Daran glaube ich nicht mehr. Mein Leben ist, wie es ist, und wird auch immer so bleiben. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann, außer es zu beenden. Aber selbst das schaffe ich nicht.“ Erneut quellen Tränen aus ihren rot geäderten Augen. Sie schnappt nach Luft, um sich zu beruhigen, aber stattdessen beginnen ihre Lippen zu zittern.
Ich ergreife ihre Hand, deren Finger nach wie vor auf meiner Haut ruhen. Zu meinem Erstaunen zieht D560 sie nicht zurück. „So darfst du nicht denken. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um dir zu helfen. Wenn du willst, kannst du auch bei mir einziehen.“
Überrascht starrt sie mich an. „Wirklich?“ Ich höre die Hoffnung, die dabei in ihrer Stimme liegt.
„Ja, ich würde mich freuen. Ich mag dich und ich will nicht, dass es dir schlecht geht. Sag mir, was passiert ist. Ich kann dir helfen!“
Panik tritt in ihre Augen und sie schüttelt unwillig den Kopf. „Ich kann nicht!“
„Warum nicht? Was macht dir solche Angst?“
„Ich will nicht darüber reden. Ich will eigentlich nicht einmal daran denken!“ Sie wendet den Kopf von mir ab und starrt auf die grünen Wände, doch vor ihren Augen scheint ein Film abzulaufen, den nur sie selbst sehen kann. Es muss ein schrecklicher Film sein.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
Sie schüttelt erneut energisch den Kopf. „Das kann niemand. Egal was auch passiert, die Erinnerungen werden immer wie Narben in mir zurückbleiben. Ich bin für den Rest meines Lebens entstellt.“
Selbsthass spricht aus ihren Worten. Sie tut mir so leid, dass ich glaube, einen Teil ihres Schmerzes in meiner eigenen Brust zu spüren.
„Du könntest von vorne anfangen. Lass dein altes Leben hinter dir und beginne ein neues.“
Sie wendet mir das Gesicht zwar wieder zu, aber in ihren Augen liegt Unglaube. „Wie soll das gehen? Ich bin immer noch hier.“
„Es ist egal, wo du bist. Entscheidend ist nur, wer du bist.“
„Und was, wenn ich nicht mehr ich selbst sein will?“
„Dann erschaffe ein neues Ich. Jemanden, auf den du stolz wärst.“
Ich sehe, wie sie über meine Worte nachdenkt, und weiß, wie ich ihr das letzte Zögern auch noch nehmen kann.
„Jemand mit einer eigenen Persönlichkeit sollte keine Nummer als Bezeichnung tragen, sondern einen Namen haben.“
Ihre Augen werden groß. „So wie du?“
„Ja, so wie ich und alle freien Menschen. Es sollte ein Name sein, der zu deinem neuen Ich passt.“
Sie zuckt pessimistisch mit den Schultern. „Ich kenne keine Namen.“
„Aber ich, und ich weiß auch schon, welcher zu dir passen würde.“
Ich lächle ihr entgegen und sehe mit Freude, wie die Tränen auf ihren Wangen trocknen und so etwas wie Hoffnung in ihre Augen zurücktritt.
„Welcher?“, fragt sie neugierig. Ihr ganzer Körper bebt vor Spannung.
„Asha. Das bedeutet Hoffnung.“
Sie lässt den Namen auf sich wirken und atmet tief ein und aus, dann spricht sie in selbst aus, ganz vorsichtig, so als wäre er etwas Heiliges, das nicht beschmutzt werden darf. „Asha.“
Als ich Ashas Zimmer verlasse, erwartet mich A350 bereits vor der Tür. Ich hatte sie völlig vergessen, doch zu meiner Überraschung ist sie weder genervt noch ungeduldig, sondern schlicht in Sorge.
„Wie geht es ihr?“
„Besser. Sie hat mit mir gesprochen, aber sie wollte mir nicht erzählen, was passiert ist. Weißt du etwas?“
„Nein, leider nicht. Ich habe sie mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrem Zimmer gefunden.“
„Ist so etwas schon einmal passiert?“
„Nein, noch nie. Die Menschen in der Sicherheitszone kämen nicht einmal auf die Idee, so etwas zu tun. Ihr Leben besteht darin, die ihnen zugeteilte Aufgabe zu erfüllen. Sie würden das niemals verweigern.“
Obwohl es mir nicht gefällt, dass sie behauptet, dass ein Leben nur der Erfüllung einer Aufgabe dienen soll, muss ich ihr zustimmen. Auch ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mich selbst zu töten. Weder vor noch nach der Entführung.
Doch A350 zögert. Ich sehe es an ihrem Gesicht. Es gibt noch etwas, dass ich nicht weiß. „Verheimlichst du mir etwas?“
Sie schüttelt nachgiebig den Kopf. „Nein, ich möchte ehrlich zu dir sein. Aber du darfst mit niemandem darüber sprechen. Es ist wichtig, dass es unter uns bleibt, solange wir nicht die Ursache dafür geklärt haben. Auch dem Arzt, der sie operiert hat, habe ich Stillschweigen befohlen.“
„Ich verspreche es. Was ist es?“, erwidere ich sofort.
A350 blickt prüfend den Gang auf und ab, um zu sehen, ob wirklich niemand außer uns da ist. Dann beugt sie sich zu meinem Ohr vor und flüstert: „D560 war schwanger.“
Ich reiße entsetzt die Augen auf. „Wie ist das möglich? Es ist keine Paarungszeit!“
A350 nickt. „Der Fötus ist letzte Nacht bei ihrem Selbstmordversuch gestorben. Sie war erst etwa in der achten Woche schwanger.“
Normalerweise würde mich jeder Tod traurig stimmen, doch nicht in diesem Fall. Ich bin sicher, Asha hätte das Kind nicht gewollt.
„Von wem war sie schwanger?“
„Das gilt es nun herauszufinden.“
Da Asha die nächsten beiden Nächte noch auf der Krankenstation verbringen wird, möchte ich die Zeit nutzen, um Finn noch einmal zu besuchen. Denn wenn Asha zurück ist, will ich für sie da sein. Natürlich kann ich sie nicht vierundzwanzig Stunden lang betreuen, aber zumindest die Nächte werde ich sie nicht mehr alleine lassen. So gesehen werden meine Chancen, Finn zu sehen, recht gering sein. Deshalb hoffe ich, dass A566 heute in seinem Zimmer ist. Doch ich muss ihn nicht einmal suchen, denn er begegnet mir bereits auf dem Flur.
„A518, was für eine Freude, dich zu sehen“, begrüßt er mich in seiner üblichen charmanten Art. Es fällt mir immer noch schwer, damit umzugehen, aber langsam gewöhne ich mich daran.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, A566.“
„Lass mich raten, du warst auf der Suche nach mir?“, grinst er mir frech entgegen.
Wieder überkommt mich das Gefühl, dass er mich in der Hand hält und alle meine Geheimnisse irgendwann gegen mich verwenden könnte. Aber daran darf ich jetzt nicht denken, wenn ich Finn sehen will. Deshalb gebe ich mich geschlagen und nicke schuldbewusst. „Stimmt, ich möchte D577 in der Sicherheitszone besuchen. Kannst du mir helfen?“
„Nichts leichter als das. Ich besitze magische Finger“, erwidert er mit einem strahlenden Lächeln, das seine perfekten weißen Zähne entblößt und drückt mit dem Zeigefinger auf den Scanner des Aufzugs. Die Tür öffnet sich sofort.
Ich will bereits in den Aufzug steigen, doch A566 versperrt mir den Weg. Triumphierend funkeln seine Augen mich an. „Hast du nicht etwas vergessen?“
Ich weiß nicht, was er meint, gerate aber sofort in Panik. Möchte er eine Gegenleistung? Ich habe nichts, dass ich ihm zum Tausch anbieten könnte. A566 scheint die Verzweiflung von meinem Gesicht ablesen zu können, denn er zwinkert mir plötzlich schelmisch zu. „Ein kleines Wort würde mir schon reichen.“
Erleichtert atme ich aus. „Danke!“
„War doch gar nicht so schwer“, lobt mich A566 und gibt mir den Eingang frei. Der Aufzug setzt sich in Bewegung, während wir einander schweigend gegenüberstehen. Normalerweise führt A566 unsere Gespräche, indem er mich mit einer Frage nach der anderen löchert, aber heute ist er ungewöhnlich still, seine Augen sind dafür umso wachsamer. Es scheint mir fast so, als würde er mich nicht einmal für eine Sekunde aus den Augen lassen. Als die Stille anfängt, unangenehm zu werden, frage ich ihn das, was mir als erstes in den Sinn kommt. „Wo warst du eigentlich in der letzten Nacht?“
Sein Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig. Misstrauisch beäugt er mich. „Warum willst du das wissen?“
So kenne ich ihn gar nicht. Sonst prahlt er regelrecht damit, wenn er etwas Verbotenes getan hat. Er hält sich für wahnsinnig clever, so als könne er jeden und alles austricksen. Für ihn gelten keine Regeln, weil er immer Wege und Möglichkeiten findet, sie zu umgehen.
„Ich habe dich gesucht“, erwidere ich ehrlich. Für einen Moment blickt er weiter prüfend in mein Gesicht, dann löst sich seine angespannte Haltung. „Tut mir leid, aber ich hatte etwas Wichtiges zu tun. Ich stehe dir nicht jede Nacht zur Verfügung.“
Obwohl er mir nicht länger zu misstrauen scheint, bemerke ich den spitzen Tonfall in seiner Stimme. So wie er den letzten Satz ausspricht, hört er sich an, als würde ich genau das von ihm erwarten. So als nähme ich seine Hilfe für selbstverständlich.
„Ich weiß, aber ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte“, gestehe ich ihm, um ihn mit meinen Worten zu besänftigen, zumal sie der Wahrheit entsprechen.
Die Aufzugtüren sind bereits seit einiger Zeit geöffnet, doch ich wage nicht, den ersten Schritt zu tun und warte darauf, dass A566 den Aufzug verlässt, doch er scheint kein Interesse daran zu haben. Stattdessen starrt er mich weiter prüfend an.
„Es ist schön zu hören, dass du das weiß. Vergiss es auch nicht!“
Endlich verlässt er den Aufzug, doch der drohende Unterton in seiner Stimme jagt mir eine Gänsehaut über den Körper. Irgendetwas ist heute anders an ihm. Habe ich ihn womöglich verärgert?
Ich bin froh, als wir das Zimmer von D577 erreichen. Wieder brauche ich A566s Hilfe, um die Tür öffnen zu können. Doch er wartet damit.
„Ich nehme an, du willst alleine mit ihm sein“, stellt er fest, jedoch nicht ohne deutlich zu machen, dass ihm die Aussicht, alleine im Flur herumzulungern, nicht gefällt. Wenn er jedoch mit in das Zimmer käme, könnte ich nicht so frei reden wie ohne ihn. Ich brauche die Zeit mit Finn alleine und kann deshalb keine Rücksicht auf die Wünsche von A566 nehmen.
„Es wird nicht lange dauern“, versichere ihm.
„Ich werde auch nicht lange warten“, entgegnet A566 kalt, öffnet aber die Tür. Wieder setzt er mich unter Druck. Ich weiß, dass, wenn er einfach ohne mich gehen würde, ich hier unten gefangen wäre. Mein unerlaubtes Betreten der Sicherheitszone würde so auf jeden Fall bemerkt werden. Das weiß er auch. Er glaubt, mich damit erpressen zu können. Aber ich hoffe, dass er genauso weiß, dass jedem Legionsführer klar wäre, dass ich nicht ohne fremde Hilfe in die Sicherheitszone gekommen sein kann. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich ihn wirklich verraten würde, denn immerhin hat er mir bereits mehr als einmal geholfen, aber auch A566 kann sich meines Schweigens nicht sicher sein.
Ohne ihn weiter zu beachten, trete ich in das Zimmer von Finn ein. Er liegt auf seinem Bett und schläft, so wie alle Bewohner der Sicherheitszone. Sie haben keine Kontrolle über ihren Schlaf, da selbst das die Legion für sie regelt.
Ich trete erst näher, als ich höre, wie die Tür hinter mir leise zugleitet. Vorsichtig setze ich mich neben Finn auf das Bett und beobachte sein Gesicht. Mir fehlt sein blondes, welliges Haar. Es gab seinem Gesicht so etwas Weiches und Verletzliches. Zwar war Finn schon immer stark und meistens auch grimmig, aber seine Haare waren oft der Hinweis auf seinen verletzlichen Kern.
Auch bei den Rebellen habe ich ihn ab und zu beim Schlafen beobachtet. Dort wirkte er immer friedlich, wenn er nicht gerade einen Albtraum hatte, was leider häufig vorkam. Doch hier in der Sicherheitszone ist sein Gesicht wie erstarrt, so als hätte man es in Eis eingefroren. Er sieht weder glücklich noch traurig aus, sondern mehr wie eine Maschine, ohne jedes menschliche Gefühl.
Zärtlich streiche ich ihm über die Wange. Ich weiß, dass er davon nicht aufwachen wird. Doch er scheint meine Berührung nicht einmal zu spüren. Sein Gesicht bleibt weiterhin ausdruckslos. Wenn ich ihn wecke, wird er mich wahrscheinlich wieder aufgebracht davonjagen, aber mir bleibt nichts anderes übrig, wenn ich ihn erreichen will.
Also beginne ich, ihn an seinen Schultern zu rütteln, erst leicht, dann immer fester, bis er endlich erschrocken die Augen aufreißt.
Er schnappt nach Luft und sieht sich panisch im Zimmer um. Als er sieht, dass außer meiner Anwesenheit alles in Ordnung ist, reagiert er, wie ich es bereits befürchtet habe. Seine Augen richten sich voller Wut auf mich und er rückt sofort ein Stück von mir weg.
„Du schon wieder“, stößt er fast hasserfüllt aus. „Kannst du mich nicht einmal in der Nacht in Ruhe lassen?“
„Es tut mir leid, ich wollte deinen Schlaf nicht stören...“
Er lässt mich nicht ausreden und unterbricht mich abrupt: „Dann geh doch einfach wieder!“
„Ich möchte dir nur etwas erzählen, das ist alles“, versuche ich ihm so sachlich wie möglich zu erklären. Es tut weh, wie er mit mir spricht und mich dabei ansieht. Doch es ist nicht so, als wäre ich es nicht gewöhnt. Genau so habe ich ihn kennengelernt und mich trotzdem in ihn verliebt. Ich weiß, dass unter seiner harten Schale ein weicher Kern steckt.
„Ich will deine Geschichten aber nicht hören. Sie sind alle frei erfunden und nichts als Lügen!“
„Du musst nicht glauben, was ich dir erzähle. Aber du könntest es dir wenigstens anhören“, bitte ich ihn. Erst sieht es so aus, als würde er mir sofort eine weitere Abfuhr erteilen, doch dann stößt er genervt Luft aus.
„Du gibst ohnehin nicht auf, bis ich es mir angehört habe, oder?“
Ich lächle ihm entgegen. „Du kennst mich gut.“
Er erwidert mein Lächeln nicht einmal für eine Sekunde. „Fang einfach an, damit ich es schnell hinter mir habe.“
Ich atme tief ein und aus, um mich von seinen verletzenden Worten nicht treffen zu lassen. „Ich möchte dir von unserem Abschied erzählen.“
Er zuckt desinteressiert mit den Schultern. „Es ist mir völlig gleich, solange du danach gehst.“
„Es ist erst wenige Wochen her. Wir haben an dem Abend mit den anderen Rebellen gefeiert. Alle waren da. Der alte Gustav hat Schallplatten auf einem Grammophon gespielt und seiner Frau Marie dabei zärtlich über die Wange gestreichelt. Maries weißes Haar wehte sachte in dem lauen Abendwind. Florance hatte sich an Paul gelehnt, sodass ihr goldenes Haar über seine starken Schultern fiel. Neben ihnen saß Pep, der den Blick in die Sterne gerichtet hatte, weil der Verlust seines Zwillingsbruders Jep noch zu frisch war. Grace, die beste Freundin deiner Mutter, saß mit ihrer Tochter Emily und meiner kleinen Schwester Iris dicht am Lagerfeuer und hat Fleisch gegrillt. Und wir beide...“
Ich beobachte Finns Gesicht. Er hört mir zwar zu, aber nichts von dem, was ich sage, scheint irgendeine Wirkung auf ihn zu haben. Für ihn sind es nur leere Worte.
„Wir haben getanzt. Es war der erste und vorerst letzte Tanz in meinem Leben. Ich wusste nicht, wie man sich bewegt, aber du hast es mir gezeigt. Beim Tanzen gibt es kein richtig oder falsch. Wichtig ist nur, dass man die Musik spürt und sich zu ihr bewegt. Erinnerst du dich an die Musik?“
„Nein“, schießt es mir prompt abweisend entgegen. Er interessiert sich nicht einmal dafür. Asha wäre von meinen Worten beeindruckt gewesen und hätte alles über Musik und Tanzen wissen wollen. Selbst ein Lagerfeuer hätte sie schon beeindruckend gefunden. Doch Finn will mich nur so schnell wie möglich loswerden.
Trotzdem beginne ich leise, ihm die Melodie des Grammophons vorzusummen. Es waren traurige Töne. Traurig, aber trotzdem schön. Ich erinnere mich noch genau daran. Genau diese Melodie lief immer weiter durch meinen Kopf, während ich die ersten Tage in der Zelle auf der Krankenstation verbracht habe. Sie haben mir Hoffnung darauf gegeben, Finn irgendwann einmal wieder nah sein zu können. Obwohl ich jetzt direkt neben ihm sitze, erscheint er mir weiter weg als je zuvor.
„Hör auf damit!“, unterbricht er mich plötzlich aufgebracht. „Ich will das nicht hören.“ Wie zur Bekräftigung legt er sich die Hände über die Ohren. Erst als ich aufhöre, nimmt er sie wieder herunter. „Du wolltest mir etwas erzählen und nicht komische Geräusche von dir geben.“
„In Ordnung“, seufze ich. Es erscheint mir fast, als wolle er sich gar nicht erinnern. Alles, was irgendetwas bei ihm auslösen könnte, weist er strikt von sich, so als hätte er Angst vor seiner eigenen Erinnerung.
„In dieser Nacht bin ich zurück in die Legion gegangen. Du warst der Einzige, der mich begleitet hat. Du kennst die Wüste so gut wie kein anderer. Du hast den Weg selbst im schwachen Licht der Sterne und des Mondes gefunden, während ich blind neben dir hergestolpert bin. Aber wenn du meine Hand in deine genommen hast, habe ich mich sicher gefühlt. Als wir die hell erleuchtete Kugel der Legionsführer erreicht haben, habe ich mir nichts mehr gewünscht, als dass du mich bittest, bei dir zu bleiben. Ich wollte dich nicht verlassen und ich wollte auch nicht zurück in die Legion. Du hast mich in deine Arme geschlossen und ich erinnere mich noch genau an meine letzten Worte, so als hätte ich sie erst heute zu dir gesagt.“
Ich spüre, wie die Tränen in meinen Augen zu brennen beginnen. Ich will nicht weinen. Es würde Finn verschrecken, doch zum ersten Mal scheine ich wirklich sein Interesse geweckt zu haben, auch wenn er es zu verstecken versucht.
„Was hast du zu mir gesagt?“, fragt er gelangweilt.
„Vergiss mich nicht“, flüstere ich leise, wobei meine Stimme wie Espenlaub zittert. Für einen Moment begegnen sich unsere Blicke und ich habe das Gefühl, für einen winzigen Augenblick den alten Finn in seinen Augen zu sehen. Er ist nicht länger abweisend und kalt, sondern nur erschöpft. Vielleicht tue ich ihm sogar leid. Die Legion muss ihm eingebläut haben, dass Tränen ein Zeichen von Schwäche sind.
Er räuspert sich etwas verlegen. „War es das jetzt?“ Auch wenn seine Worte gemein klingen, ist sein Tonfall bei weitem nicht mehr so schneidend wie am Anfang.
„Fast“, entgegne ich. „Das Wichtigste kommt noch. Du hast etwas zu mir gesagt, was ich niemals vergessen werde.“
„Was habe ich gesagt?“, fragt er nach und dieses Mal glaube ich wirklich Neugierde aus seiner Stimme herauszuhören.
„Vielleicht kannst du deine Gefühle zurückhalten, aber ich kann es nicht und ich will es auch nicht.“
Seine Stimme und sein Körper waren damals voller Kraft und Leidenschaft. Ich hingegen bin schwach und unsicher. Trotzdem tue ich genau das, was er damals getan hat. Ich beuge mich zu Finns Gesicht vor. Ganz langsam, um ihn nicht zu verschrecken. Das Erstaunliche daran ist, dass er nicht einmal zurückweicht. Er wirkt nur irritiert, aber wehrt sich nicht gegen meine Nähe. Ich suche Sicherheit in seinen Augen, ohne welche zu finden. Deshalb schließe ich meine Augen und lege meine Lippen auf seine. Der Kuss ist vollkommen anders als damals in der Wüste. Wir waren verzweifelt und hatten Angst, einander niemals wiederzusehen. Jetzt ist er zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings und so zerbrechlich wie feinstes Glas. Trotzdem spüre ich sofort, wie Wärme, einem Buschfeuer gleich, durch meinen Körper zieht. Jede Faser meiner Haut scheint wie elektrisiert. Ich möchte die Zeit anhalten und für immer so verweilen. Doch der Moment ist von so kurzer Dauer und die Erkenntnis kommt wie ein Faustschlag.
Finn stößt mich so plötzlich und so kraftvoll von sich, dass ich vor ihm auf dem Boden lande. Er starrt mich entsetzt an, bis die Wut in seine Augen zurückkehrt. „Was soll das?“, schimpft er aufgebracht und hält sich mit beiden Händen den Kopf, so als habe er Angst, er würde jeden Moment explodieren.
„Ich wollte nur, dass du dich erinnerst“, jammere ich verzweifelt und richte mich langsam wieder auf.
„Ich will mich nicht erinnern. Kapierst du das nicht?“, schreit er mir entgegen. „Verschwinde endlich!“
Ich kann nicht anders, als den Tränen freien Lauf zu lassen, und drehe mich um. Die Tür ist bereits geöffnet und A566 steht wartend darin. Ich weiß nicht, wie lange er dort schon so steht und wie viel er von unserem Gespräch mitbekommen hat, aber es ist mir auch egal. Zum ersten Mal seit langer Zeit möchte ich einfach nur noch weg von Finn. Ich kann ihn nicht länger ansehen. Es ist, als würde man mir vor Augen halten, was ich verloren habe.
Ich stürze an A566 vorbei und renne förmlich zum Aufzug. A566 ist direkt hinter mir, denn er öffnet ihn sofort, und ich flüchte mich in das Innere wie in eine Schutzkammer, die mich vor all meinen Ängsten und Sorgen abschirmt. Erst als die Türen sich schließen, wage ich auszuatmen. Warum musste ich Finn auch küssen? Er fing gerade an mir zuzuhören und ich habe alles kaputt gemacht. Was habe ich mir davon erwartet? Dass er sich plötzlich erinnert wie in einem von Maries albernen Kindermärchen? Ich wusste, dass es zu früh war. Ich wusste es selbst, als ich meine Lippen auf seine legte, und trotzdem konnte ich es nicht verhindern. Ich habe mich so sehr nach seiner Nähe gesehnt. Unsere Beziehung hatte doch gerade erst begonnen. Sie kann doch nicht schon vorbei sein, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat.
Wieder einmal bin ich so von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen überwältigt, dass ich erst jetzt bemerke, dass der Aufzug stehen geblieben ist. Wir befinden uns in der gläsernen Röhre, die die Sicherheitszone mit der Kugel der Legionsführer verbindet. Unter uns liegt die rote Wüste in Dunkelheit, während über uns der Sternenhimmel thront. Fragend blicke ich zu A566. „Warum haben wir angehalten?“
Er mustert mich kritisch, so als hätte ich ein Verbrechen begangen. „Es wird Zeit, dass du deine Schulden begleichst.“
Seine Stimme ist leise, aber gefährlich. So wie das Knurren eines Raubtieres. Ich weiß nicht, was er damit meint, aber empfinde plötzlich die kleine Kammer des Aufzugs als zu eng für uns beide. Ich weiche vor ihm zurück an das andere Ende des Aufzugs, trotzdem trennen uns nur wenige Schritte voneinander. Er lässt mich keinen Moment aus den Augen, wie eine Schlange, kurz bevor sie zum Angriff ansetzt.
„Können wir darüber nicht außerhalb des Aufzugs reden? Ich fühle mich hier in der Luft schwebend nicht wohl“, bitte ich ihn und versuche dabei, meine Angst zu verstecken.
Er tritt einen Schritt auf mich zu und ich muss mich beherrschen, nicht zu Boden zu sinken, um mich vor ihm zu verstecken. Stattdessen straffe ich meine Schultern und tue so, als hätte ich weiterhin kein Problem mit seiner Nähe. „Die Zeit zum Reden ist vorbei, jetzt folgen Taten“, erklärt er mir sachlich. Seine Augen sind jedoch vollkommen auf mich fixiert. Ich spüre, wie mir kalter Schweiß den Rücken hinabrinnt und mein Hals trocken wird, sodass ich schlucken muss, um nicht zu husten.
„Von welchen Taten sprichst du? Soll ich dir bei irgendetwas helfen?“
Er lächelt mich geringschätzig an. „Du tust immer so stark und überlegen, dabei bist du in Wirklichkeit nur ein naives, kleines Mädchen. Ich habe dich vom ersten Tag an durchschaut“, gesteht er mir und tritt noch näher auf mich zu, sodass nur noch ein Schritt zwischen uns liegt.
„Ich habe nie behauptet, dass ich irgendjemandem überlegen wäre. Es tut mir leid, wenn du das so empfunden hast. Ich wollte nie...“
Seine Hand knallt neben meinem Kopf gegen die Aufzugwand und lässt mich erschrocken aufschreien. „Ich habe genug von deinen ganzen Reden. Du glaubst, du könntest die Menschen mit deinen schönen Worten um den kleinen Finger wickeln, aber der Trick zieht bei mir nicht“, zischt er mir entgegen. Dabei ist sein Kopf meinem so nah, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berühren. Ich habe Angst vor ihm und spüre, wie meine Knie zu zittern beginnen. Am liebsten würde ich ihn fragen, was er von mir will, aber egal was ich sage, es scheint ihn nur noch wütender zu machen. Deshalb halte ich jetzt lieber meinen Mund. Ich wünschte nur, er würde den Aufzug wieder starten. Der Knopf liegt auf der gegenüberliegenden Seite. Zwar sind es nur wenige Meter, aber er erscheint mir dennoch unendlich weit entfernt.
„Ich habe gesehen, wie du den Verstoßenen geküsst hast“, raunt mir A566 ins Ohr, wobei seine Lippen mein Ohrläppchen streifen. „Es war nicht das erste Mal.“
Nein, das war es nicht und ich hoffe, dass es auch nicht das letzte Mal gewesen ist. Aber ich kann nicht an Finn denken, solange A566 mich bedroht. Dabei weiß ich nicht einmal, womit er mir eigentlich droht oder was er von mir erwartet. Ich zwinge mich, den Blick in seine Augen zu erwidern, auch wenn mir, je länger ich sie betrachte, immer kälter wird.
„Er wollte nicht von dir geküsst werden“, spricht A566 weiter. Ich möchte ihm widersprechen, lasse es aber.
„Weißt du, wie es ist, wenn dich jemand küsst und du es nicht willst?“
Ich antworte ihm nicht, weil ich nicht glaube, dass er eine Antwort erwartet. Doch genau das tut er, aber das wird mir erst bewusst, als seine Faust erneut gegen die Wand hinter mir donnert. „Antworte mir!“
Verzweifelt schüttele ich den Kopf. „Nein, ich weiß es nicht.“
„Küss mich“, fordert er plötzlich. Entsetzt starre ich ihn an. Warum sollte er so etwas wollen? Er ist doch genau wie ich in der Sicherheitszone aufgewachsen, solche Verlangen müssten ihm fremd sein. Doch A566 meint es ernst. „Küss mich, wie du ihn geküsst hast.“
„Ich kann nicht“, stoße ich aus. Die Vorstellung, einen anderen als Finn zu küssen, ist schrecklich. Ich will es nicht.
„Du schuldest mir etwas, erinnerst du dich? Wir sehen alle gleich aus, es macht also keinen Unterschied.“
Es macht einen enormen Unterschied, aber das versteht er nicht. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich mich weigere. Im Moment scheint er zu allem bereit zu sein.
„Ich werde dich nicht gehen lassen, bevor du es nicht tust“, drängt er mich weiter. Ich denke an all die Geheimnisse, die er über mich weiß. Wenn er will, könnte er mir schaden. Nicht nur, indem er meine nächtlichen Ausflüge den anderen Legionsführern verrät, sondern auch, indem er Zoe oder Finn etwas antut. Sie sind ihm in der Sicherheitszone praktisch hilflos ausgeliefert. Er kann die Kameraaufnahmen so manipulieren, dass nie jemand etwas davon mitbekommen würde. Genauso wenig, wie hiervon jemals jemand etwas erfahren wird. Sicher ist es das Leichteste, mich einfach seinem Willen zu beugen, auch wenn es mir zuwider ist. Vielleicht wird ihn das auch besänftigen, sodass er danach den Aufzug wieder startet. In Zukunft werde ich ihm einfach aus dem Weg gehen, um ihn und mich nicht noch einmal in so eine Situation zu bringen.
„Okay“, stimme ich ihm schließlich zu, woraufhin er seine Schultern leicht lockert. Er nimmt den Arm hinter meinem Kopf weg und stellt sich gerade vor mich. Auch ich stelle mich gerade hin, sodass er mich nur wenige Zentimeter überragt, wie alle männlichen Bewohner der Legion. Ich bewege meinen Kopf vorsichtig auf sein Gesicht zu und schließe die Augen. Vielleicht ist es weniger schlimm, wenn ich dabei an Finn denke. Doch als meine Lippen seine berühren, ist es, als würde eine Falle zuschnappen. Seine Arme schlingen sich um meinen Körper wie Fesseln und seine Hände scheinen den dünnen Stoff des weißen Anzugs geradewegs zu verbrennen. Ich habe das Gefühl, sie überall auf meiner Haut zu spüren. Seine Lippen pressen unnachgiebig gegen meine und seine Zunge bahnt sich gewaltsam einen Weg in meinen Mund, sodass ich kaum Luft bekomme. Ich spüre, wie der Stoff an meinem Rücken unter seinen Fingern reißt. Erst ist es nur ein kleiner Spalt, doch durch einen Ruck seiner Hände klafft mein gesamter Anzug auf. Er reißt immer weiter, bis auch mein Po nackt gegen das kalte Glas der Scheibe gedrückt wird. Ich versuche ihn von mir zu drücken, doch je mehr ich mich wehre, umso fester presst er mich gegen den Aufzug. Seine Zähne beißen auf meine Zunge und ich schmecke, wie der metallische Geschmack von Blut mir den Rachen hinunterrinnt. Sofort beginne ich zu würgen und erst da lässt er von mir ab. Mit seinen Armen packt er mich fest an den Oberarmen und dreht mich herum, sodass mein Kopf gegen das Glas geschleudert wird. Für einen kurzen Moment wird mir schwarz vor Augen, doch als ich spüre, wie sein Körper sich gegen meinen nackten Rücken presst, lässt Panik mein Herz schneller schlagen. Ich weiß jetzt, was er vorhat. Es ist die Art von Folter, die mir bisher nur von der alten Erde bekannt war. Es ist die schlimmste Art, wie ein Mann eine Frau demütigen kann. Bereits bei den Bildungsfilmen über den zweiten Weltkrieg habe ich immer die Augen geschlossen, um die schrecklichen Bilder nicht mit ansehen zu müssen. Aber die Schreie der Frauen klingen mir nun umso lauter in den Ohren. Ich will das nicht. Es würde mich zerstören und das kann ich nicht zulassen. Seine Hände liegen zwischen meinen Beinen und ich weiß, dass auch hier der dünne Stoffe reißen wird, wenn er nur heftig genug daran zieht. Ich presse mich mit beiden Händen gegen das Glas und stoße mich so fest ich kann ab. Damit hat A566 nicht gerechnet und taumelt zurück, nur um sich sofort wieder auf mich zu stürzen. Mit einer Hand schlägt er meinen Kopf erneut gegen das Glas, während seine andere weiter an dem Anzug reißt. Ich hole mit meinem rechten Bein aus und trete hinter mich, ohne auch nur darauf zu achten, wohin. Ich treffe sein Knie, woraufhin er vor Schmerz aufschreit. Sofort stürze ich zu den Knöpfen des Aufzugs und löse den Stopp-Schalter. Der Aufzug setzt sich erneut in Bewegung, doch A566 ist schneller bei mir, als ich reagieren kann. Er verpasst mir mit der Faust einen Schlag mitten ins Gesicht. Schon als ich stürze, spüre ich, wie der Aufzug erneut stoppt. Meine Hände federn den Sturz ab, sodass ich mich schnell zur Seite rollen kann, als A566 mich bereits wieder angreift. Seine Atmung geht stoßweise. „Es gefällt mir, dass du dich wehrst. Ich muss sagen, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich hatte eher Tränen und Betteln erwartet.“
Als Antwort beginne ich, wild mit meinen Beinen nach ihm zu treten, sodass es ihm kaum möglich ist, in meine Nähe zu kommen. Doch schließlich schafft er es, mit einer Hand eines meiner Beine zu fassen zu kriegen, während ich ihm mit dem anderen in den Bauch trete. Er schreit vor Schmerz auf, aber schafft es dennoch, auch mein anderes Bein festzuhalten. An den Füßen zieht er mich von der Wand weg, sodass ich flach auf dem stählernen Boden des Aufzugs liege. Er kniet sich auf meine Beine, wobei sich seine Kniescheiben schmerzhaft in meine Haut pressen und ich unfähig bin, ihn weiter zu treten. Seine Hände umschließen meine Handgelenke. Er drückt so fest zu, dass ich sie kaum noch spüren kann. Ich tue das Einzige, was mir in dieser Situation noch übrig bleibt, und ramme meinen Kopf mit voller Wucht gegen seinen. Mir bleibt die Luft weg und ich sehe nur noch schwarz, aber gleichzeitig lässt der Druck auf meinen Beinen nach und ich ziehe mich auf allen vieren zurück zu der Schalterreihe und lege erneut den Schalter um. Aber anstatt mich wieder von ihm angreifen zu lassen, bin ich es dieses Mal, die auf ihn losgeht. Ich nutze den Moment, den er noch am Boden liegt, um ihm, so fest ich kann, mit dem Fuß in den Magen zu treten. Er gibt einen entsetzlichen Schrei von sich, der sogar Tränen aus seinen Augen quellen lässt. Ich möchte ihn immer weiter treten, solange, bis er kein Geräusch mehr von sich gibt und sich nicht mehr regt, doch stattdessen drücke ich ihm meinen Fuß gegen den Hals, während mein anderer Fuß mit vollem Gewicht auf seiner Hand ruht. Er versucht, mich mit seiner freien Hand von sich zu reißen, doch genau in diesem Moment öffnet sich die Aufzugstür und ich falle förmlich in den rettenden Flur. Ich warte nicht eine Sekunde und rappele mich sofort wieder auf. Ich renne los, ohne mich auch nur umzusehen oder darauf zu achten, wohin ich überhaupt laufe. Als ich um die nächste Ecke biege, stürze ich geradewegs in jemanden hinein und taumle zur Seite. Panisch blicke ich meinem Gegenüber entgegen und schluchze vor Erleichterung auf, als ich A350 erkenne, die mich geschockt anstarrt.
Ihre Starre währt nur einen kurzen Augenblick, denn bereits im nächsten ist sie an meiner Seite und packt mich an beiden Schultern. „Was ist passiert?“, will sie alarmiert wissen. Doch ich bin unfähig zu sprechen. Ich kann mich kaum noch auf meinen eigenen Beinen halten, so sehr zittert mein gesamter Körper. „A566“, stoße ich nur atemlos hervor.
Mehr brauche ich auch nicht zu sagen. A350 versteht sofort. Doch anders, als ich es von ihr erwartet hätte, stürzt sie nicht los, um A566 festnehmen zu lassen, sondern zieht mich stattdessen in ihre Arme. Mein Kopf ruht wie automatisch an ihrer Schulter und ihre Hände streichen, als hätten sie nie etwas anderes getan, über meinen kahlen Kopf. Ihre Nähe reicht aus, um sämtliche Selbstbeherrschung bei mir fallen zu lassen, und ich beginne zu weinen, wobei mein ganzer Körper bebt. A350 fängt nicht nur meine Tränen, sondern auch mich auf. Sie drückt mich so fest an sich, dass ich das Gefühl habe, mit ihr zu verschmelzen. Sie saugt mein Leid in sich auf, während mir ihre Berührungen die Sicherheit zurückgeben, die mir A566 genommen hat. Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Haltung verharren, aber ich bin erst in der Lage zu sprechen, als wir uns in A350s Zimmer befinden und sie mir eine Tasse mit dampfendem Tee in die Hände drückt. Niemals hätte ich ihr so viel Fürsorge und Einfühlungsvermögen zugetraut. Ihr Verhalten überzeugt mich davon, dass sie die Einzige ist, der ich wirklich vertrauen kann. Es gibt nichts, was ich tun könnte, um ihren Schutz zu verlieren. Ich sehe es in ihren Augen und an ihren Händen, die mich nicht mehr loslassen wollen. Deshalb erzähle ich ihr die Wahrheit. Ich erzähle ihr alles. Von jedem verbotenen Besuch in der Sicherheitszone und lasse dabei nichts aus. Sie hört mir zu, ohne etwas zu erwidern, nur in ihren Augen kann ich ab und zu einen Funken Enttäuschung und Wut aufblitzen sehen. Als ich ende, schweigt sie für einen Moment und blickt zu Boden, während ihre Hand jedoch weiter beruhigend über meinen Rücken streicht. Erst als sie den Blick wieder hebt, lässt sie ihre Hand sinken.
„Warum hast du nicht mich um Hilfe gebeten? Warum bist du zu A566 gegangen?“ Offensichtlich verletzt es sie, dass ich ihr nicht vertraut habe.
„Ist das dein Ernst? Du hast dafür gestimmt, Finn zu töten, und genauso hast du für den Angriff auf die Rebellen gestimmt. Du hast alles dafür getan, um die Menschen zu töten, die mir am Herzen liegen.“
Ich denke nicht länger über meine Worte nach und spreche einfach das aus, was mich schon lange belastet. Das ist der Grund, warum ich ihr nie gänzlich vertrauen konnte. Aber jetzt weiß ich, dass sie nichts tun würde, was mir schaden könnte.
Sie greift nach meiner Hand. „Ich weiß und es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich meine Entscheidungen bereue. Aber ich sehe ein, dass es nicht immer nur falsch oder richtig gibt. Manchmal gibt es auch einen Mittelweg und ich weiß, dass du diesen finden wirst.“