13. Z318

 

Seitdem A566 mich im Aufzug angegriffen hat, fühle ich mich ständig wie unter Beobachtung. Ich habe Angst, ihm alleine über den Weg zu laufen. Es ist nicht so, dass ich mich davor fürchten würde, dass er es noch einmal versuchen könnte, sondern eher so, dass ich nicht in sein selbstgefälliges Gesicht blicken will. Ich schäme mich vor ihm und weiß nicht einmal, warum. Letztendlich bin ich ihm durch meine eigene Kraft entkommen, aber es war knapp. Es schmerzt, dass ich im Grunde die ganze Zeit wusste, dass ihm nicht zu trauen ist, und ich mich trotzdem auf ihn eingelassen habe. Ich fühle mich dabei wahnsinnig dumm und naiv. Er hat gesagt, dass er mich für ein schwaches Mädchen hält, das nichts weiter als permanent losheulen kann, und genauso fühle ich mich jetzt. Zwar hat, seit A350 mich gefunden hat, nicht mehr eine Träne meine Augen verlassen, aber das Gefühl, losweinen zu wollen, ist zu einem ständigen Begleiter geworden. A350 wollte den Vorfall den anderen Legionsführern melden, um A566 zu deklassifizieren und zu bestrafen, aber ich konnte sie davon abhalten. Es steht zu viel für mich auf dem Spiel. Wenn er über unsere nächtlichen Unternehmungen auspackt, würden sie mich wahrscheinlich direkt mit herabstufen.

Aber ich bin froh darüber, dass Asha nun wieder bei mir wohnt, und dieses Mal sogar mit offizieller Erlaubnis von A350. Zwar habe ich Asha nichts von dem Überfall erzählt, um sie nicht zusätzlich zu ängstigen, aber es tut einfach gut, nachts ihre Nähe zu spüren und nicht alleine zu sein. Wir sprechen wenig miteinander, aber das ist auch nicht nötig. Es reicht mir, wenn ich sie anblicke und sie meinen Blick mit einem zaghaften Lächeln erwidert. Dann weiß ich, dass es ihr gut geht.

Seit dem Angriff konnte ich auch nicht mehr zu Finn oder Zoe. Ich bin praktisch wie gefangen in der Legionsführerkugel. Meine einzige Möglichkeit, einen der beiden zu sehen, sind die Überwachungskameras im Kontrollraum. Aber dort traue ich mich auch nur noch tagsüber hin, sodass es schwer ist, Finn zu erwischen, da er die meiste Zeit des Tages arbeitet. Auch jetzt sitze ich wieder vor dem Monitor und starre auf sein verlassenes Zimmer. Ich würde in diesem Moment alles für eine Umarmung von ihm geben, aber selbst, wenn er genau jetzt vor mir stehen würde, käme es nicht dazu. Gerade jetzt fällt es mir oft schwer, die Hoffnung nicht aufzugeben und weiter daran zu glauben, dass er sich irgendwann wieder an mich erinnern wird.

Ich lasse meine Finger über die Bezeichnungen des Kontrollboards gleiten. Jeder Bewohner ist aufgelistet. Das Board beginnt bei der A-Klassifizierung und endet bei der F-Klassifizierung für die Kleinkinder, wobei diese keine eigenen Zimmer haben, sondern in einem Gemeinschaftsraum schlafen. Doch ich stocke, denn F ist nicht der letzte Buchstabe auf dem Kontrollboard. Stattdessen befindet sich auf dem letzten Posten die Bezeichnung „Z318“. Das verstehe ich nicht. Wofür soll ‚Z’ stehen? Ich weiß, dass die Verstoßenen manchmal mit ‚G’ betitelt werden, aber noch nie habe ich von einer Z-Klassifizierung gehört. Neugierig drücke ich den Knopf und starre wie gebannt auf den Bildschirm vor mir. Es erscheint eine Aufnahme aus einer der Zellen der Krankenstation, das erkenne ich an der spärlichen Einrichtung. In der rechten Ecke des Zimmers sitzt eine Frau im Alter der dritten Generation, die sich unablässig vor und zurück wiegt und dabei ein Lied zu singen scheint, denn ihre Lippen bewegen sich. Doch ihr Verhalten ist fast unauffällig gegenüber ihrem Äußeren. Denn sie ist wohl die einzige Person in der ganzen Legion, die lange Haare auf dem Kopf trägt. Es steht ihr wirr vom Kopf ab und an einigen Stellen blitzt ihre Kopfhaut durch, so als hätte sie sich selbst Haare ausgerissen oder sie wurden ihr ausgerissen. Die Farbe ihrer Augen kann ich nicht erkennen, aber ich würde wetten, dass auch diese nicht lichtblau sind, wie sie eigentlich sein sollten. Was ist das für eine Frau, bei der die Legion nicht einmal darauf achtet, die Norm zu wahren?

Es ertönt ein Räuspern hinter mir und ich fahre erschrocken herum, atme aber erleichtert aus, als es nur A350 ist. Sie starrt jedoch leicht ärgerlich auf den Bildschirm vor mir.

Wer ist das?“, stoße ich sofort neugierig aus.

Z318“, antwortet A350 nichtssagend, immerhin kann ich ihre Bezeichnung selber lesen.

Wofür steht das Z?“

Z für Feinde der Legion“, entgegnet sie kurz. Offensichtlich ist sie nicht in der Laune, mir das genauer zu erklären, aber ich werde mich dieses Mal nicht wieder abwimmeln lassen.

Warum ist sie ein Feind der Legion?“

Weil sie uns angegriffen hat.“

Finn hat die Legion auch angegriffen und trotzdem hat er nicht die Klassifizierung ‚Z’ erhalten. Was ist an ihr anders?“

Bei ihr hat die Operation nicht funktioniert. Sie hat nie ihre Erinnerungen verloren, auch wenn sie uns das einige Zeit glauben lassen wollte.“

Aber ich dachte, ihr hättet die Operation nie zuvor an einem Menschen ausprobiert?“

Nie erfolgreich“, schließt A350 leicht genervt und schaltet von Z318 auf eine Kameraaufnahme, die das Gelände außerhalb der Legion zeigt. Offensichtlich ist damit für sie das Thema beendet, aber für mich noch lange nicht.

Warum habt ihr sie danach nicht umgebracht?“

A350 wirft mir einen verärgerten Blick zu. „Ich habe es dir schon mehrfach gesagt. Die Legion ist nicht so grausam, wie du anscheinend immer noch glaubst. Wir töten nicht wahllos Menschen.“

Ich erinnere mich an die anderen Entführten und an das schreckliche Bild ihrer Leichen. Im ersten Moment war ich überzeugt davon, dass die Legion sie eiskalt erschossen hätte, aber stattdessen waren es die Rebellen. Leider konnte ich Finn nie danach fragen, auch jetzt nicht.

Wie lange ist sie schon hier?“

Etwa ein Jahr“, zuckt A350 mit den Schultern, so als ob sie es nicht genau wüsste, was ich ihr einfach nicht abnehme. Ein Jahr. Genauso lange wie Zoe also.

Ist sie eine Verstoßene?“

Jetzt nicht mehr. Jetzt ist sie nur noch Z318 und das wird sie auch für immer bleiben.“

Mir kommt jedoch ein ganz anderer Verdacht. Vor einem Jahr wurde Zoe von der Legion bei einem Angriff entführt, während ihre und Finns Eltern sowie der Mann von Grace starben. Was ist, wenn sie sich getäuscht haben? Was, wenn doch nicht alle gestorben sind, genauso wenig wie Zoe gestorben ist? Ich habe bei den Rebellen nie Gräber für die drei gesehen. Ist es möglich, dass sie ihre Leichen nie gefunden haben? Besteht die Chance, dass Z318 in Wirklichkeit Maggie, die Mutter von Finn und Zoe, ist?

Ich weiß, dass es nutzlos ist, A350 danach zu fragen, denn sie würde nur behaupten, dass es in der Legion keine Mütter und Väter gibt. Stattdessen komme ich bei dem Blick auf die Außenaufnahmen auf einen ganz anderen Gedanken. Was ist mit den Sichtungen, die mir alle verheimlichen wollen? Ich starre wie gebannt auf den Bildschirm, doch es ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Nur rote Wüste, soweit das Auge reicht. Aber vielleicht ist das nicht immer so.

Über was für eine Sichtung hatte eigentlich der oberste Kämpfer damals gesprochen?“

A350 seufzt genervt auf. „Ich wollte dir eigentlich eine gute Nachricht überbringen, stattdessen löcherst du mich mit einer Frage nach der anderen. Wann wirst du endlich aufhören, mir und der Legion zu misstrauen?“

Ich schwanke, ob ich sie weiter nach den Sichtungen fragen oder meiner Neugier bezüglich der guten Nachricht nachgeben soll. Geht es um Finn? Erinnert er sich? Aber würde sie das als gute Nachricht bezeichnen? Wohl eher nicht. Vielleicht geht es aber auch um A566 und er bekommt nun doch eine Strafe. Ich beschließe, die Sichtungen weiter aufzuschieben. Immerhin kann ich die Monitore selbst im Blick behalten und werde so schon dahinterkommen oder A350 einfach bei nächster Gelegenheit noch einmal danach fragen.

Also gut, ich gebe mich geschlagen. Um was für eine gute Nachricht geht es?“

A350 lächel mich zufrieden an. „Komm mit, ich will es dir selbst zeigen.“

Jetzt bin ich aber erst recht gespannt. Aufgeregt folge ich ihr hinaus in den Flur, bis wir vor dem Aufzug stehen bleiben. Ist es etwas in der Sicherheitszone? Haben sie etwa schon die Essensvergabe mit normalem Essen eingeleitet?

Leg deinen Daumen auf den Sensor“, fordert mich A350 fröhlich auf. Im ersten Moment will ich protestieren, doch dann erkenne ich, was die gute Nachricht in Wirklichkeit zu bedeuten hat. Schnell lege ich meine Hand auf das kühle Glasfeld des Sensors, der sofort von rot auf grün schaltet. Wie von Zauberhand gleiten die Türen vor mir auf und gewähren mir Eintritt in den Fahrstuhl. Ich habe endlich die Erlaubnis, jede Tür in der Legion zu öffnen. Ich bin nicht länger auf die Hilfe anderer angewiesen und am wenigsten auf die Hilfe von A566.

Ich falle A350 ,von meinen Gefühlen überwältigt, glücklich um den Hals. „Danke! Wie hast du das nur geschafft?“

Ich habe mich für dich eingesetzt. Es war an der Zeit, dass du die Erlaubnis erhältst und so zu einer richtigen Legionsführerin wirst. Jetzt fehlt nur noch der Mikrochip hinter deinem Ohr, aber das ist nur ein kurzer Eingriff. Du wirst es kaum bemerken.“

Ich bin mir nicht sicher, ob ich so einen Mikrochip überhaupt eingepflanzt bekommen möchte. Aber es gehört wohl dazu. Wenn ich wirklich eine von ihnen sein will, dann werde ich die Prozedur über mich ergehen lassen müssen. Es ist ja auch nicht so, als könnte die Legion danach meine Gedanken lesen. Ich werde nur immer mit den anderen Legionsführern in Kontakt stehen. Ich kann sie in meinem Kopf hören, so wie meine eigenen Gedanken, und es wird nichts mehr geben, dass sie mir länger verheimlichen können. Ich will bereits in den Aufzug einsteigen, um direkt zu Zoe oder Finn zu fahren, aber A350 hält mich an meinem Arm fest.

Es ist eine Chance, verspiel sie nicht“, erinnert sie mich warnend und ich verstehe sofort, was sie meint. Nur, weil ich jetzt die Erlaubnis habe, jede Tür zu öffnen, darf ich noch lange nicht jede freie Minute in der Sicherheitszone oder auf der Krankenstation verbringen. Ich habe Aufgaben zu erledigen, so wie jeder andere auch, und dazu gehört nicht, Freundschaften zu schließen. Einsichtig trete ich aus dem Aufzug wieder heraus. „Was steht heute an?“, frage ich A350, die nach wie vor meine Ausbildung zur Legionsführerin übernimmt.

 

Am Abend liege ich unruhig in meinem Bett und finde keinen Schlaf. Jetzt, wo ich weiß, dass ich Finn besuchen kann, wann immer ich möchte, ist das Verlangen einfach zu stark. Als ich wusste, dass es keine Möglichkeit für mich gibt, ihn zu sehen, fiel mir das Schlafen leichter. Den ganzen Tag habe ich schon hin und her überlegt, ob ich es wagen soll, ihn zu besuchen, oder es lieber sein lasse. Denn im Gegenteil zu A566 weiß ich nicht, wie man Kameraaufnahmen manipuliert. Ich möchte nicht A350s Vertrauen missbrauchen. Sicher war es nicht leicht für sie, die anderen Legionsführer dazu zu überreden, mir die Erlaubnis zum Öffnen aller Türen zu erteilen. Wenn ich auffliege, würde ich somit auch sie bloßstellen. Aber Finn sehen zu wollen, ist wie eine Sucht. Ich kann an nichts anderes mehr denken.

Wie von selbst gleiten meine Beine aus dem Bett. Ich trage bereits mein Nachthemd, deshalb schlüpfe ich nur schnell in die Stiefel. An der Tür halte ich noch einmal inne und werfe einen Blick zurück auf das Bett. Asha sitzt aufrecht und blickt mir entgegen.

Wohin gehst du?“

Zu Finn, aber ich bleibe nicht lange. Mach dir keine Sorgen.“

Gehst du wieder mit A566?“, fragt sie mich ängstlich.

Schnell schüttele ich den Kopf. „Nein, den brauche ich nicht mehr.“

Ihre Augen weiten sich erstaunt. „Das heißt, du kannst jetzt alle Türen alleine öffnen?“

Ich nicke ihr lächelnd zu, bevor ich leise aus der Tür schleiche. Als ich meinen Finger auf den Sensor des Aufzugs lege, kann ich immer noch nicht fassen, dass sich die Türen tatsächlich öffnen. Es erscheint mir fast wie ein Trick oder ein Versehen. Es ist unglaublich, dass ich es nun wirklich geschafft habe, eine richtige Legionsführerin zu werden. Davon habe ich schon als Kind geträumt. Auch wenn es im Moment so aussieht, als wäre alles nur Tarnung, um den Rebellen bei ihrem Sieg zu helfen, stimmt das so nicht. Natürlich möchte ich zwar den Rebellen helfen, aber ich würde nie die Legion auslöschen. Ich nehme meine Aufgabe als Legionsführerin ernst und das bedeutet, dass für mich die Sicherheit der Bewohner der Legion mindestens genauso wichtig ist wie das Leben der Rebellen. Es gibt so viel, dass ich verändern möchte. Es wird ein langer und harter Weg werden, aber jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt und den habe ich mit Einführung einer gemeinsamen Nahrungsvergabe bereits erreicht.

Der Aufzug kommt zum Stehen und ich trete hinaus in das verlassene Atrium. Es ist nachts ein Ort der Ruhe. Jeder Schritt hallt von den hohen Wänden wider. Obwohl in der Nacht die falschen Bilder der Wälder, Strände und Städte der alten Erde abgeschaltet sind, muss ich dem Atrium eine gewisse Schönheit zugestehen. Es gibt keine Fenster, aber durch die hohen Wände hat man nicht das Gefühl, gefangen zu sein. Wenn ich zur Decke emporblicke, habe ich das Gefühl, als würde ich zu den Sternen blicken. Die große Entfernung macht einem bewusst, was für eine winzige Rolle man eigentlich auf der Erde spielt. Unsere Welt dreht sich um die Legionen, dabei muss es außerhalb davon noch viel mehr geben. Wir wissen nicht, was aus anderen Ländern und Kontinenten geworden ist. Niemand weiß, wie stark die Radioaktivität dort zugeschlagen hat und ob es Überlebende gibt. Jeglicher Kontakt ist vor langer Zeit abgebrochen. Es ist fast wie man Anfang der Erde, als man noch glaubte, die Erde sei eine Scheibe.

Vor Finns Tür halte ich inne. Er schläft mit Sicherheit und wird verärgert darüber sein, dass ich ihn wecke, aber selbst, wenn er mich anschreit, wird es mir besser gehen. Seine Wut und sein Zorn haben mich auch früher schon nicht davon abgehalten, mich in ihn zu verlieben.

Sobald das rote Licht des Sensors auf grün schaltet, gleiten die Türen des Zimmers auf und ich bin erstaunt, als ich Finn wach auf seinem Bett sitzen sehe. Er muss bewusst gar nicht erst zu Bett gegangen sein, denn sonst wäre es ihm unmöglich, vor der vorgegebenen Zeit wieder aufzuwachen.

Er wirkt nachdenklich und fast verzweifelt, aber als seine Augen mich erblicken, verfinstern sie sich sofort. Leise trete ich ein, wage es jedoch nicht, mich ihm weiter zu nähern. Die Türen schließen sich direkt hinter meinem Rücken.

Was willst du?“, fragt mich Finn feindselig.

Ich weiß es nicht. Ich wollte ihn einfach nur sehen, aber das würde er nicht verstehen. Wenn er noch der alte Finn wäre, der Finn, der sich an mich erinnert, würde ich ihm von dem Überfall erzählen. Er würde mich aufbauen und mir meine Stärke zurückgeben. Und danach würde er A566 töten.

Aber Finn ist nicht mehr der, der er einmal war. Und vielleicht wird er es auch nie wieder sein. Der neue Finn versteht Gefühle nicht und fürchtet sich sogar vor ihnen. Der neue Finn kann mich nicht einmal gut leiden.

Bist du jetzt stumm oder was?“, schnauzt er mich an, während ich mit gesenktem Kopf immer noch vor der Tür stehe. Vielleicht war es keine gute Idee, zu ihm zu kommen. Vielleicht wäre ich besser zu Zoe gegangen. Sie ist ein Mädchen, sie hätte mich ohnehin besser verstanden. Aber es tut weh, dass ich überhaupt so denke. Ich habe Angst, dass ich ihn jeden Tag ein Stückchen mehr verliere.

Obwohl ich nicht mehr weinen wollte, treten mir nun die Tränen erneut in die Augen und diesmal halte ich sie nicht zurück. Ich lasse ihnen freien Lauf, denn so fange ich wenigstens nicht auch noch an zu schluchzen.

Finn mustert mich misstrauisch, aber die Zornesfalten auf seiner Stirn weichen langsam. „Warum tust du das?“, will er verständnislos wissen.

Weil ich traurig bin“, entgegne ich schlicht und traue mich endlich, ein paar Schritte auf ihn zuzugehen.

Wird es denn besser, wenn du weinst?“

Ungewollt fange ich an zu lachen. Die Worte hätten sogar von dem alten Finn stammen können. Er war nie ein Freund von Tränen, sondern immer ein Mann der Taten. Bevor er es zuließ zu weinen, kämpfte er lieber bis zum Zusammenbruch.

Nein“, gestehe ich ihm ehrlich. „Aber es erleichtert ein bisschen.“

Ich habe das Gefühl, dass die Stimmung nicht ganz so angespannt ist wie sonst, und wage es deshalb, mich neben ihn auf das Bett zu setzen. Er rutscht weder von mir weg noch jagt er mich davon.

Warum bist du traurig?“

Ich frage mich, ob es ihn wirklich interessiert oder ob es reine Neugierde ist, aber Hauptsache, er spricht mit mir. „Mir hat jemand weh getan.“

Finn nickt verständnisvoll. „Das Gefühl kenne ich.“

Erstaunt starre ich ihm entgegen. „Wer hat dir wehgetan?“

Die Antwort scheint ihm Unbehagen zu bereiten, denn er presst gedankenverloren seine Hände gegeneinander und schaut mich nicht mehr an.

Um ehrlich zu sein, bist du es, die mir weh tut.“

Entsetzt reiße ich meine Augen auf. Das kann er unmöglich ernst meinen.

Wie meinst du das?“

Er blickt mir nun wieder in die Augen. Sein Zorn ist verschwunden und Verzweiflung gewichen. „Du kommst ständig zu mir und flehst mich an, dass ich mich an Dinge erinnere, die für mich so fremd sind, als stammen sie aus dem Leben eines anderen. Jedes Mal sehe ich, wie wichtig dieser andere Mensch dir gewesen sein muss. Du glaubst fest daran, dass ich dieser jemand bin, aber ich muss dich immer wieder enttäuschen. Das macht mir auch keinen Spaß, falls du das geglaubt hast. Ich fühle mich unter Druck gesetzt, mich an etwas zu erinnern, dass mir nur Probleme einbringen würde. Alles, was du mir erzählst, ist verboten. Die Rebellen sind gefährlich und Gefühle sind mir fremd. Ich wünschte mir wirklich, du würdest damit aufhören.“

Mein Gesicht ist wie erstarrt. Zum ersten Mal redet er in einem normalen Ton mit mir, ohne mich anzuschreien oder mir Vorwürfe zu machen. Ich erkenne, dass es ihm ernst ist, und würde ihm seinen Wunsch gerne erfüllen, aber wenn ich aufhöre, um ihn zu kämpfen, wird er sich vielleicht nie erinnern. Wenn ich jedoch weitermache, werde ich vielleicht nicht nur den alten, sondern auch den neuen Finn für immer verlieren. Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll, aber eine Antwort scheint ihm auch gar nicht so wichtig zu sein, denn plötzlich reibt er sich die Augen. „Ich bin müde“, gesteht er mir und legt sich neben mir in das Bett. Es ist der Hinweis für mich, dass es nun besser wäre, wenn ich gehe, aber ich will ihn nicht jetzt schon verlassen. Am liebsten würde ich ihn nie verlassen.

Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich neben dich lege? Nur eine Weile lang“, bitte ich ihn. Er sieht mich erst zögernd an, aber dann nickt er tatsächlich und stimmt somit meiner Bitte zu. Der neue Finn ist nicht einmal halb so gefühllos, wie ich dachte.

Als ich mich neben ihn in das schmale Bett lege und sich unsere Körper so berühren, zieht sich eine wohlige Gänsehaut über meinen Körper. Ich kann seine Atmung spüren und seinen Herzschlag beinahe fühlen. Obwohl er sich nicht an mich erinnern kann, bin ich ihm nun nahe. Er ist kein schlechter Mensch, selbst ohne seine Erinnerung nicht.

Ich drehe mein Gesicht zu ihm und blicke in seine Augen, die genauso lichtblau leuchten wie meine eigenen. Obwohl es weder seine noch meine natürliche Augenfarbe ist, habe ich das Gefühl, in sein Herz schauen zu können. Es tut gut, dass er den Blick nicht von mir abwendet. Wir konnten schon immer ohne Worte miteinander kommunizieren. Augen verraten oft soviel mehr, als es der Mund je könnte. Er nimmt mich weder in den Arm noch versucht er mich zu trösten, und trotzdem fühle ich mich nun stärker als ohne ihn.

Du bist seltsam und ich verstehe dich nicht“, entgegnet er mir leise.

Aber?“, erwidere ich hoffnungsvoll und lächele ihm zögernd entgegen.

Aber es fühlt sich gut an, wenn du in meiner Nähe bist.“ Es ist das erste Mal, dass er mein Lächeln wenigstens für einen kurzen Moment erwidert. „Na ja, jedenfalls solange du den Mund hältst.“

Die Erkenntnis, dass wir einander nah sein können, auch ohne seine Erinnerung, ist beruhigend. Wenn wir zusammengehören, werden wir immer wieder zueinander finden, egal was passiert.

 

Ein heftiges Klopfen an der Tür reißt mich aus dem Schlaf. Erschrocken fahre ich hoch und erkenne, dass ich in meinem eigenen Zimmer liege. In meinem Traum war ich immer noch bei Finn. Es war in der letzten Nacht doch spät geworden. Als ich den Aufzug zurück in die Legionsführerkugel genommen habe, fing es bereits an zu dämmern. Ein Blick durch die großen Fenster bestätigt mir, dass es auch jetzt noch früh am Morgen ist. Ich kann erst wenige Minuten geschlafen haben. Das Hämmern gegen die Tür geht weiter.

Willst du nicht aufmachen?“, fragt Asha neben mir, die mich besorgt von der Seite mustert. Als ich zurückkam, war sie noch wach, sodass ich das Gefühl hatte, dass sie gar nicht geschlafen und stattdessen die ganze Zeit auf mich gewartet hat.

Schnell stehe ich auf und sehe über den kleinen Monitor A350 vor der Tür stehen. Sie wirkt gestresst und besorgt zugleich. Ich öffne ihr sofort.

Verdammt, hast du was an den Ohren? Ich klopfe bereits seit Minuten gegen deine Tür. Es ist ein Wunder, dass sie nicht nachgegeben hat“, schnauzt sie mich sofort an und lässt dann den Blick verärgert an mir auf und ab gleiten. „Du bist ja noch nicht einmal angezogen. Los, jetzt aber schnell!“

Eilig laufe ich zu dem Fach, in dem der frisch gewaschene Legionsführeranzug wartet. „Was ist denn los? Habe ich etwas vergessen?“

Nein, aber es ist letzte Nacht etwas passiert. A566 hat deshalb eine Konferenz einberufen.“

A566?“, fragen Asha und ich wie aus einem Mund. Das sieht ihm nicht ähnlich. Normalerweise beruft A489 alle außerplanmäßigen Konferenzen ein. Für einen Moment wird mir ganz kalt und ich befürchte, dass es um mich und Finn gehen könnte. Vielleicht hat er mich beobachtet und will sich jetzt an mir rächen.

Weißt du, worum es bei der Konferenz geht?“, erkundige ich mich vorsichtshalber, während ich in den weißen Anzug schlüpfe. Mittlerweile habe ich kein Problem mehr damit, mich vor anderen Frauen nackt zu zeigen, auch wenn beide mir aus Respekt den Rücken zugekehrt haben.

Nicht genau, aber es hat wohl einen internen Angriff gegeben“, antwortet sie mir. Jedoch bin ich von ihrer Antwort zu verwirrt, um erleichtert darüber zu sein, dass es offenbar nicht um Finn und mich geht.

Was soll das heißen?“

A350 stöhnt genervt auf. „Das wirst du gleich selbst erfahren. Komm jetzt endlich!“ Ungeduldig schließt sie mir den Anzug im Rücken. Ich hatte nicht einmal Zeit für eine Dampfdusche, so wie es sich eigentlich am Morgen gehört. Trotzdem renne ich ihr aus dem Zimmer hinterher zu dem großen Sitzungssaal.

Wie so oft, sind wir die beiden Letzten, die noch gefehlt haben, wofür wir prompt tadelnde Blicke ernten. Ich wette, A350 ist das mehr als unangenehm. Denn ich schätze sie nicht so ein, dass sie ohne mich je zu spät kommen würde. Ich denke eher, dass sie normalerweise die Erste ist, die irgendwo eintrifft.

Schnell lassen wir uns auf unsere Sitze gleiten. Sofort erhebt sich A566 und ich bemerke direkt sein blutunterlaufenes und geschwollenes rechtes Auge. Auch an seinem Kinn befinden sich blutige Schrammen. Offensichtlich wurde der Angriff also auf ihn verübt. Geschieht ihm gerade recht.

Sein ganzer Körper bebt förmlich vor Wut. „In der letzten Nacht hat es einen Angriff auf meine Person gegeben und ich erwarte, dass der Täter bestraft wird.“

A489 erhebt sich neben A566 ebenfalls. „Nun mal langsam, erzähl uns bitte, was genau vorgefallen ist.“

A566 holt tief Luft, um seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. „Am gestrigen Abend habe ich ein letztes Mal die Kameraaufnahmen kontrolliert und dabei auch einen Blick auf die Krankenstation geworfen. Dabei sah ich, dass eine der Zellen unerlaubterweise geöffnet wurde. Alarmiert bin ich sofort in die Krankenstation gefahren, um für Ordnung zu sorgen. Ich kam bei der geöffneten Zelle von Patientin D523 an und erwischte ihren Nachtwächter C515 dabei, wie er ihr offensichtlich zur Flucht verhelfen wollte. Natürlich habe ich ihn zur Rede gestellt, doch da ging er gemeinsam mit D523 sofort auf mich los. Sie waren so aggressiv, wie es sonst nur für wilde Tiere üblich ist. Beide hatten jegliche Kontrolle über sich verloren und verletzten mich schwer. Nur mit Hilfe von zwei anderen Wachen gelang es mir, sie zu bändigen. Ich ließ C515 sofort zur Befragung einsperren und verschloss die Zelle von D523.“

Als A566 seinen Bericht beendet und dabei ein betroffenes Gesicht aufsetzt, würde ich ihm die Lüge am liebsten laut entgegenbrüllen. Es stimmt niemals, was er erzählt hat. C515 ist als Kämpfer ja nicht einmal in der Lage, alleine die Zellentüren zu öffnen.

Genau diesen Einwand bringt nun auch A350: „Wie soll C515 denn die Tür der Zelle geöffnet haben?“

Er muss Hilfe von einem Legionsführer gehabt haben“, erwidert A566 sofort und blickt dabei gezielt auf mich, sodass jeder es mitbekommt.

Hast du denn jemanden gesehen?“, will A350 sofort wissen.

Nein“, gesteht A566. „Aber da nur Legionsführer in der Lage sind, die Türen zu öffnen, gibt es keine andere Möglichkeit.“

Was ist mit den Kameraaufnahmen? Darauf müsste doch alles zu erkennen sein“, wirft nun A233 sachlich ein.

Daraufhin meldet sich nun auch A489 zu Wort. „Das Tragische ist, dass die Kameraaufnahmen dieser Nacht manipuliert wurden, denn sie zeigen keinen der besagten Punkte. Offenbar wurden einfach die Aufnahmen einer anderen Nacht mit den heutigen vertauscht. Aber es gibt keinen Grund, A566s Wort anzuzweifeln.“

Und ob es den gibt, aber den Grund dafür kann ich ihnen nicht sagen. Dennoch sehe ich mich gezwungen, irgendetwas zu Clydes und Zoes Verteidigung beizutragen. Ich weiß, dass A566 lügt. Er ist der Einzige, der die Kameras manipuliert. „Es ist nur gerecht, sich beide Versionen einer Geschichte anzuhören. Wurde C515 schon befragt? Was sagt er dazu?“

Das Wort eines Legionsführers steht gegen das eines Kämpfers. Es wäre eine Beleidigung, den Lügen dieses Verräters auch nur eine Sekunde lang zuzuhören“, verteidigt A489 seinen Sprössling. Er wird sich darüber freuen, dass sie sich nun endlich wieder einig darüber sind, dass ich hier nichts zu suchen habe.

Es wäre keine Beleidigung, sondern nur gerecht“, entgegnet ihm jedoch A233. „Was sollten die anderen Kämpfer denken, wenn wir einen der ihren nicht einmal anhören? Sie würden sich degradiert fühlen und das könnte zu Misstrauen und Unwillen führen.“

Erstaunlicherweise kommt ihr nun auch noch A333 zu Hilfe. „Die These, auf der die ganze Legion beruht, ist, dass alle Menschen gleich sind. Um es zu verdeutlichen, steuern wir das Aussehen eines jeden Einzelnen. Das alles wäre sinnlos, wenn wir jetzt einen Legionsführer bevorzugen würden, nur weil wir ihn zu etwas Besserem gemacht haben. Wir müssen den Menschen zeigen, dass wir selbst hinter dem stehen, was wir predigen.“

Besser hätte ich es auch nicht formulieren können. Ich bin jedes Mal wieder überrascht davon, wie viele Legionsführer in Wirklichkeit mir selbst gar nicht so unähnlich sind. Es sind die, die an die Grundsätze der Legion wirklich glauben, und nicht die, die diese benutzen, um sich selbst zu bereichern.

Die Worte von A333 haben auch die anderen überzeugt, sodass A489 und A566 nun mit ihrer Ansicht alleine dastehen. Die anderen wollen alle C515s Sicht der Dinge hören. Ich bin gespannt, was er aussagen wird.

 

Das Verhörzimmer liegt ebenfalls auf der Krankenstation. Es ähnelt dem Operationssaal, in den sie Finn damals gebracht haben. Denn auch hier teilt ein venezianischer Spiegel das Zimmer in zwei Räume. Ich hätte selbst gerne die Befragung von Clyde übernommen, aber A489 war nicht davon abzubringen, dass er diese Aufgabe übernehmen werde, sodass nun zwanzig Legionsführer hinter der einen Seite der Scheibe stehen, während A489 auf der anderen Seite gegenüber von Clyde auf einem Stuhl Platz nimmt. Clydes Gesicht sieht nicht besser aus als das von A566. Auch er hat ein blaues Auge und dazu eine Platzwunde auf seiner Stirn. Auch muss er Nasenbluten gehabt haben, denn die Reste von getrocknetem Blut kleben ihm immer noch unterhalb der Nase auf den Lippen und seinem Kinn. Dazu kommt aber, dass auch sein blauer Anzug Risse aufweist und Fußabdrücke deutlich in Höhe seines Bauches zu erkennen sind. Seine Sitzhaltung ist ebenfalls gekrümmt, während eine seiner Hände permanent auf seiner linken Seite ruht, dort wo sich die Rippen befinden. Vielleicht ist eine gebrochen. Er befindet sich in einem schlechten Zustand und sollte eigentlich medizinisch versorgt anstatt befragt werden.

Es ist der Wunsch der Legionsführer, deine Ansicht über den Angriff auf Legionsführer A566 zu hören“, erklärt A489 gerade, wobei er deutlich macht, dass er diesen Wunsch nicht teilt. Sowohl sein Gesichtsausdruck als auch seine Tonlage machen seine Abneigung gegenüber Clyde deutlich. Clyde muss das Gefühl haben, gar keine Chance zu haben. Ich hoffe, er weiß, dass ich in der Nähe bin und er sich auf mich verlassen kann. Er darf nicht einen Moment daran zweifeln, dass ich ihm glauben werde, egal was er sagt.

Gibst du zu, A566 angegriffen zu haben?“

Ich habe ihn nur angegriffen, um D523 vor ihm zu schützen“, entgegnet ihm Clyde. Was hat A566 überhaupt bei ihr gewollt? Ich ahne bereits Böses, doch bin ich noch nicht so weit, um den Gedanken wirklich zulassen zu können.

Willst du damit etwa behaupten, A566 hätte D523 angegriffen? Ist es nicht viel eher so, dass er ihre Flucht verhindern wollte und sich ihr deshalb in den Weg gestellt hat?“ Es ist einfach nur gemein, wie A489 Clyde die Worte im Mund verdreht. Er versucht ja nicht einmal, ihn richtig anzuhören. Ich kann nur hoffen, dass auch die anderen Legionsführer das bemerken.

D523 wollte nur vor ihm fliehen. Er hat sie bedrängt.“

Die Bilder aus dem Aufzug drängen sich wie Blitzeinschläge in meinen Kopf. Ich habe versucht, nicht mehr daran zu denken, doch jetzt sind sie so stark, dass ich mich an der Scheibe vor mir abstützen muss. Es darf nicht wahr sein, dass Zoe das gleiche Schicksal ereilt hat wie mich. Ich war es, die A566 überhaupt erst zu ihr geführt hat. Ohne mich wäre sie ihm nie aufgefallen.

Doch A489 geht überhaupt nicht auf Clydes Worte ein. „Als A566 auf die Krankenstation kam, war die Zelle von D523 bereits geöffnet. Wer ist dafür verantwortlich?“

Clyde schüttelt sofort den Kopf. „Das stimmt nicht. Als er kam, stand ich vor ihrer Zelle Wache. Er hat mich fortgeschickt, um mit ihr alleine zu sprechen. Er selbst hat die Zelle geöffnet.“

Lügen!“, schreit ihm A489 aufgebracht entgegen, woraufhin Clyde erschrocken zusammenzuckt. „Warum sollte A566 mitten in der Nacht mit ihr sprechen wollen?“

Clyde zuckt mit den Schultern und blickt hilflos in Richtung des Spiegels. Er weiß, dass er von dort aus beobachtet wird. „Er war nicht da, um mit ihr zu reden. Er wollte etwas anderes von ihr. Als ich ihre Schreie gehört habe, bin ich sofort zurückgekommen...“

A489 fällt ihm sofort ins Wort. „Gerade hast du noch behauptet, dass er mit ihr sprechen wollte, und jetzt behauptest du das Gegenteil. Merkst du nicht, wie unglaubwürdig das ist? Was wollte er denn nun von ihr?“

Ich würde am liebsten in den Raum stürzen und A489 eigenhändig zum Schweigen bringen.

Ich weiß es nicht. Als ich in die Zelle kam, war das Nachthemd von D523 zerrissen. Sie lag auf dem Boden und A566 hielt sie an ihren Händen fest, während er versuchte, sich selbst dabei auszuziehen.“

Cylde versteht nicht, was er dort gesehen hat, weil er nichts über Sex weiß. Mir würde es nicht anders ergehen, wenn ich nicht bei den Rebellen gewesen wäre. Zwar haben wir das Thema kurz im Bildungsunterricht angesprochen, aber in unserer Gesellschaft gibt es keinen Sex, weil es keine Gefühle gibt. Wir pflanzen uns nicht auf diese Weise fort. In diesem Moment bin ich auch froh darüber, denn Sex scheint mir sehr schmerzhaft zu sein. Florance hat jedoch immer das Gegenteil behauptet. Sie sagte immer, es sei, als würden zwei Menschen miteinander zu einer Person verschmelzen. Näher könne man einem Menschen, den man liebt, nicht sein. Obwohl ich ihre Beschreibung schön fand, konnte ich mir nicht vorstellen, es je selbst tun zu wollen. Jetzt erst recht nicht mehr. Ich frage mich nur, woher A566 so viel darüber zu wissen scheint. Hat er alles selbst rausgefunden?

Das ergibt doch alles keinen Sinn!“, behauptet A489 zornig und bricht die Befragung ab. Aufgebracht verlässt er den Raum und stürmt zu uns hinter den Spiegel.

Merkt ihr nicht, dass er nur lügt?“

 

Obwohl die Befragung an diesem Punkt abgebrochen wurde, folgten den Rest des Tages viele Diskussionen, Vorwürfe und Anschuldigungen, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu führen. A566 fordert eine Bestrafung für Clyde, dabei schließt er nicht einmal den Tod aus. Doch die anderen Legionsführer können sich nicht dazu entschließen, ihm zuzustimmen, da vor allem die Frauen entsetzt darüber sind, was Clyde A566 vorwirft. Es wäre leichter, sie von A566s Schuld zu überzeugen, wenn ich ihnen erzählen würde, was er mir angetan hat. Aber anstatt für Clyde zu kämpfen, werden meine Gesprächsanteile immer weniger, bis ich schließlich ganz verstumme. Ich bringe es einfach nicht über mich, ihnen die Wahrheit zu sagen. Es hat nichts mehr damit zu tun, dass ich mich davor fürchte, was A566 über mich erzählen könnte, sondern ich habe Angst vor dem Schmerz und der Hilflosigkeit, die eine Erzählung unweigerlich mit sich bringen würde. Es wäre, als müsste ich alles noch einmal durchstehen. Das schaffe ich nicht. Es ist feige und egoistisch. Ich fühle mich schrecklich dabei.

Erst am späten Abend schaffe ich es deshalb, endlich den Aufzug zu nehmen und in die Krankenstation zu fahren. Wenn mich jetzt jemand dabei beobachten würde, wäre es nicht einmal verdächtig. Niemand wollte die Aussage von Zoe hören, weil sie als Patientin der Krankenstation von allen ohnehin als verrückt abgestempelt wird. Aber ich will hören, was sie zu sagen hat. Ich muss wissen, was A566 ihr angetan hat.

Bevor ich den Aufzug genommen habe, hatte ich nicht einmal mehr Zeit, sie mir über die Kameraaufnahmen auf dem Monitor anzusehen, sodass ich nicht weiß, in welcher Verfassung sie sich nun befindet. Ich halte förmlich den Atem an, als ich die Tür ihrer Zelle durch meinen Fingerabdruck öffne. Zoe liegt wie erstarrt in ihrem Bett und hebt erst den Kopf, als mein Schritte auf dem quietschenden Linoleumboden zu hören sind. Ihre Lippe ist aufgeplatzt und an ihrem Kinn klebt ein weißes Pflaster. Ihr linker Arm ist in einen Verband gewickelt.

Sie atmet jedoch erleichtert auf, als sie mich sieht. „Weißt du, wie es Clyde geht? Ist er noch am Leben?“, will sie sofort wissen und klopft neben sich auf das Bett als Zeichen, dass ich mich zu ihr setzen soll.

Er bleibt erst einmal im Verhörzimmer, bis entschieden ist, was mit ihm geschehen wird“, erkläre ich ihr. Denn die Frage, wie es ihm geht, ist nur schwer zu beantworten. Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Es gab keine Möglichkeit für mich, alleine mit ihm zu sprechen.

Er hat mich gerettet. Wenn er nicht gewesen wäre, dann...“, sie stoppt und ich nicke verständnisvoll. Sie braucht es nicht auszusprechen. Wir wissen beide, was dann passiert wäre. Obwohl es mir unendlich leid tut, was sie durchmachen musste, und ich mich mitschuldig daran fühle, tut es doch irgendwie gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, der so etwas passiert ist. Dieses Gefühl möchte ich mit Zoe teilen.

Behutsam greife ich nach ihrer Hand und streichle zärtlich über ihre Finger, die trotz ihrer langen Gefangenschaft in der Sicherheitszone noch eine Spur brauner sind als meine eigene Haut.

Ich weiß, wie es dir geht“, flüstere ich ihr zu und blicke ihr in die Augen. Ihr Blick ist zweifelnd, aber neugierig.

Ich weiß es, weil mir dasselbe passiert ist.“ Ich deute auf die kleine Schramme über meiner Augenbraue. Die Wunden von A566s Angriff sind mittlerweile so gut wie verheilt und fallen kaum noch auf. Aber Zoe versteht, wofür sie stehen. Ihre Augen weiten sich sorgenvoll. „Hat er... hat er es zu Ende gebracht?“, fragt sie leise, so leise, als ob selbst ihre Worte mich zum Zerbrechen bringen könnten.

Ich schüttele den Kopf und beiße mir dabei auf die Lippe. „Nein, ich konnte rechtzeitig fliehen.“

Erleichtert atmet Zoe auf, bevor sie den Kopf schüttelt. „Nichtsdestotrotz ist es schrecklich. Hast du den anderen davon erzählt?“

Nur A350“, gestehe ich ihr. Jetzt ist sie es, die meine Hand ergreift und kraftvoll drückt.

Du musst es ihnen sagen. Dir werden sie glauben. Wenn du A566 davonkommen lässt, riskierst du nicht nur das Leben von Clyde, sondern auch das vieler anderer Frauen. A566 wird nicht aufhören. Er wird sich andere Opfer suchen. Ich bin sicher, du warst nicht einmal sein erstes.“

Es ist, als würden ihre Worte die einzelnen Teile eines Puzzles, die die ganze Zeit wild verstreut in meinem Kopf lagen, zusammensetzen. Plötzlich ist es eindeutig und ich frage mich, wie ich die ganze Zeit nur so blind sein konnte. Natürlich bin ich weder sein erstes noch sein letztes Opfer. Denn ich kenne sein erstes Opfer: Asha.

Sofort erfasst mich Panik. Als ich mein Zimmer verlassen habe, war sie noch alleine in der Küche. Sie ist erst sicher, wenn ich zurück bin. Deshalb wollte sie auch unbedingt bei mir schlafen. Mein Zimmer ist der einzige sichere Ort.

Ich springe eilig auf. „Entschuldige Zoe, ich muss dringend weg“, sage ich nur kurz und stürze bereits zur Tür. Ich höre noch, wie sie mir etwas nachruft, aber ich habe keine Zeit, um darauf zu reagieren. Wild hämmere ich gegen den Scanner des Aufzugs. Das Öffnen und Schließen der Türen erschien mir nie langsamer. Clyde hat Zoe gerettet und ich verfüge als Legionsführerin über die Möglichkeiten, mich vor A566 zu schützen. Aber Asha ist ihm wehrlos ausgeliefert. Niemand würde ihr glauben und jeder kann ihr Zimmer betreten und verlassen, wie es ihm beliebt. Wie viele schreckliche Stunden musste sie schon unter A566 leiden? Ich will es lieber gar nicht wissen. Aber ich habe ihr an ihrem Krankenbett ein Versprechen gegeben. Ich habe ihr einen Neuanfang versprochen und ihr zum Zeichen dafür ihren Namen geschenkt. Asha darf nicht dasselbe wie D560 widerfahren. Ich muss es verhindern.

Endlich gleiten die Aufzugtüren auf und ich renne geradewegs in Richtung des Konferenzraums, hinter dem sich die Küche befindet. Schon als ich eintrete, sehe ich, dass die Tür zur Küche geschlossen ist, was sonst nie der Fall ist. Es ist eine der wenigen Türen, die keiner Erlaubnis bedürfen, um sie zu öffnen. Voller Panik stoße ich die Tür auf. Genau im richtigen Moment. A566 hat Asha in die hinterste Ecke des Raumes gedrängt. Er bedroht sie mit einer der Laserwaffen, die wir sonst nur für Arenakämpfe benutzen.

Zieh dich aus oder ich töte dich“, zischt er ihr gerade entgegen. Offensichtlich hat er mich noch nicht bemerkt, doch Asha weigert sich.

Es ist mir egal, ob du mich umbringst. Töte mich. Du würdest mir damit einen Gefallen tun“, entgegnet sie ihm emotionslos. In diesem Moment begegnet ihr Blick dem meinen und ihre Augen weiten sich vor Überraschung. A566 bemerkt es auch und fährt erschrocken zu mir herum. Doch mich zu sehen, scheint ihn zu erleichtern. Er betrachtet mich nicht als Gefahr.

Oh, wir haben Besuch. Das ist aber eine schöne Überraschung“, säuselt er mit gespielter Freundlichkeit. „Wollen wir es zu dritt machen? D560 kann dir viel beibringen“, höhnt er weiter.

Ich gehe gar nicht erst auf seine Worte ein und winke Asha zu mir. „Komm her.“

Doch A566 versperrt ihr den Weg. „Was soll das werden? Niemand wird euch glauben.“

Und ob sie das werden. Wenn ihnen meine Worte nicht als Überzeugung reichen, dann vielleicht das, was sie mit eigenen Augen sehen. Ich beginne zu schreien. Aus voller Kehle, so laut ich kann.

Asha blickt mich verständnislos an, doch dann erkennt sie, was ich vorhabe, und beginnt ein letztes Mal zu schreien. So viele Male hat sie es zuvor schon getan, ohne dass sie erhört wurde. Ihr letzter Schrei wird der eine sein, auf den Hilfe folgt. A566 starrt mich erst verwirrt, dann entsetzt an. Er richtet die Laserwaffe auf mich und schreit mich an: „Sei still oder ich schieße.“

Ich lasse mich von ihm nicht einschüchtern und schreie weiter. Der Gebrauch von Laserwaffen außerhalb der Arena ist verboten. Wenn er mich erschießt, unterschreibt er sein eigenes Todesurteil.

A350 ist die Erste, die uns erreicht. Kurz darauf folgen A489 sowie A233 und A333. Sie sehen alle, wie A566 den Strahl der verbotenen Waffe auf mich richtet.

Was ist hier los?“, unterbricht A233 aufgebracht unser Geschrei. Endlich kann ich verstummen. Mein Hals brennt wie Feuer.

Alles, was C515 gesagt hat, ist wahr. A566 wollte D523 vergewaltigen.“

Das Wort kommt mir nur schwer über die Lippen, aber es beschreibt genau das, was er vorhatte.

Asha tritt hinter ihrem Peiniger hervor und stellt sich neben mich. Ihr Blick ist zu Boden gerichtet und ihre Stimme leise und zittrig: „Er hat mich vergewaltigt. Seit Monaten.“

 

Ich greife nach ihrer Hand und sie zieht sie nicht weg. Ganz im Gegenteil, sie greift fest zu. Es ist vorbei. A566 wird ihr nie mehr weh tun. Ich hebe meinen Kopf und blicke den anderen Legionsführern fest in die Augen.

Er hat auch versucht, mich zu vergewaltigen.“

A350 stimmt dem sofort zu. „Ich kann es bezeugen. Ich habe A518 unmittelbar danach gefunden. Ihre Wunden sind gerade erst verheilt.“

Sie lügen“, schreit A566 aufgebracht und sucht verzweifelt den Blick seines Mentors, doch A489 schaut nur betreten zu Boden. Er weiß, dass nun A566 derjenige ist, dem niemand glauben wird.