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An meinem Schreibtisch ließ ich mich erst einmal auf den Stuhl plumpsen. Meine Handflächen waren schon feucht, wenn ich nur daran dachte, mit Brett zu reden, und ich wappnete mich gegen die Wirkung, die seine Stimme auf mich haben würde, und gegen die darauf folgenden Schuldgefühle. Ich wünschte ihn mir weder zurück, noch wollte ich mit ihm zusammen sein. Aber wir hatten eine gemeinsame Vergangenheit, und wir fühlten uns auf rein hormoneller Basis sexuell voneinander angezogen. Das konnte ich zwar nicht einfach so abstellen, aber ich hatte absolut nicht den Wunsch, danach zu handeln.
Ich verstaute meine Handtasche und die Tasche mit meinen Laufschuhen in der Schreibtischschublade. Voller Liebe betrachtete ich die gerahmte Fotocollage, die Bilder von Gideon und mir zeigte. Er hatte sie mir geschenkt, damit ich immer an ihn dachte – als ob ich das jemals nicht tat. Ich träumte ja sogar von ihm.
Mein Telefon klingelte. Der weitergeleitete Anruf von der Rezeption. Brett hatte noch nicht aufgegeben. Entschlossen, einen geschäftsmäßigen Ton anzuschlagen und ihn daran zu erinnern, dass ich arbeiten musste und nicht für unangemessene persönliche Gespräche zur Verfügung stand, nahm ich den Hörer ab. »Mark Garritys Büro, Eva Tramell am Apparat.«
»Eva. Da bist du ja. Ich bin’s, Brett.«
Ich schloss die Augen und genoss den Klang seiner »S-E-X mit Schokosoße«-Stimme. Sie klang noch unwiderstehlicher und erotischer, wenn er sang, was seiner Band Six-Ninths zu einem kometenhaften Aufstieg verholfen hatte. Er stand jetzt bei Vidal Records unter Vertrag, jenem Label, das von Gideons Stiefvater, Christopher Vidal senior, geleitet wurde – wobei Gideon unerklärlicherweise auch hier die Mehrheitsrechte besaß.
Die Welt ist eben klein.
»Hi«, begrüßte ich ihn. »Wie läuft die Tour?«
»Es fühlt sich unwirklich an. Ich kann es immer noch nicht richtig begreifen.«
»Du wünschst dir das schon so lange, und du hast es verdient. Genieße es.«
»Danke.« Er schwieg einen Augenblick, und ich sah ihn im Geiste vor mir. Er hatte umwerfend ausgesehen, als ich ihm das letzte Mal begegnet war. Das Haar stachelig, mit platinblonden Spitzen, die smaragdgrünen Augen dunkel und heiß vor Verlangen nach mir. Er war groß und muskulös, ohne zu bullig zu wirken, sein Körper gestählt von ständiger körperlicher Aktivität und den Anforderungen des Lebens als Rockstar. Seine gebräunte Haut war über und über tätowiert, und er hatte Piercings in den Brustwarzen, an denen ich zu saugen gelernt hatte, wenn ich spüren wollte, wie sein Schwanz in mir härter wurde …
Aber er konnte Gideon nicht das Wasser reichen. Ich bewunderte Brett, wie jede andere heißblütige Frau es ebenfalls getan hätte, aber Gideon war eine Klasse für sich.
»Hör zu«, sagte Brett. »Ich weiß, du arbeitest, deshalb will ich dich nicht lange aufhalten. Ich komme demnächst wieder nach New York, und ich möchte dich sehen.«
Ich kreuzte die Fußknöchel unter dem Schreibtisch. »Das halte ich für keine gute Idee.«
»Wir stellen das Musikvideo für Golden am Times Square vor«, fuhr er fort. »Ich will, dass du mich begleitest.«
»Mit dir … wow.« Ich massierte meine Stirn. Seine Frage überforderte mich, deshalb dachte ich in diesem Augenblick lieber daran, wie meine Mutter mich ausschimpfen würde, weil ich mir das Gesicht rieb, da sie fest davon überzeugt war, dass das Falten gab. »Ich fühle mich wirklich geschmeichelt, dass du mich fragst, aber vorher muss ich eines wissen: Ist es für dich in Ordnung, dass wir nur Freunde sind?«
»Zum Teufel, nein.« Er lachte. »Du bist wieder Single, Golden Girl. Cross’ Verlust ist mein Gewinn.«
O Scheiße. Es war jetzt fast drei Wochen her, seit die ersten Bilder von Gideons und Corinnes inszenierter Wiedervereinigung die Klatschblätter gefüllt hatten. Offensichtlich hatten alle beschlossen, es wäre nun an der Zeit, dass ich mich mit anderen Typen einlasse. »So einfach ist das nicht. Ich bin nicht bereit für eine neue Beziehung, Brett.«
»Ich habe dich gefragt, ob du mit mir ausgehst, nicht ob du dich ein Leben lang an mich binden willst.«
»Brett, wirklich …«
»Du solltest dabei sein, Eva.« In seiner Stimme schwang ein tiefes, verführerisches Timbre, bei dem ich früher immer gleich mein Höschen für ihn heruntergelassen hatte. »Es ist dein Lied. Ein Nein akzeptiere ich nicht.«
»Das musst du aber.«
»Es verletzt mich, wenn du nicht kommst«, sagte er leise. »Und das sage ich nicht einfach so dahin. Dann gehen wir eben nur als Freunde, wenn das deine Bedingung ist, aber ich brauche dich dort.«
Ich seufzte tief, beugte den Kopf über den Schreibtisch. »Ich will ehrlich zu dir sein.« Und Gideon nicht verärgern …
»Ich verspreche, es als Gefallen unter Freunden zu betrachten.«
Wem wollte er denn verdammt noch mal was vormachen? Ich antwortete nicht.
Er gab nicht auf. Vielleicht würde er nie aufgeben. »Okay?«, bohrte er nach.
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Tasse Kaffee an meinem Ellbogen, und ich blickte auf. Mark stand hinter mir.
»Okay«, stimmte ich zu, in erster Linie, um mich jetzt meiner Arbeit widmen zu können.
»Jaaa.« Ich sah die triumphierende Bewegung seiner Faust förmlich vor mir. »Also, es wird entweder Donnerstag- oder Freitagabend sein. Ich weiß es noch nicht genau. Gib mir deine Handynummer, damit ich dir eine SMS schicken kann, wenn ich es genau weiß.«
Eilig ratterte ich die Handynummer herunter. »Hast du’s? Ich muss jetzt loslegen.«
»Einen wunderschönen Arbeitstag wünsche ich dir«, sagte er, und sogleich hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich kurz angebunden und unfreundlich gewesen war. Er war immer nett gewesen und hätte ein guter Freund sein können, aber diese Möglichkeit hatte ich verspielt, als ich ihn geküsst hatte.
»Danke, Brett … Ich freue mich wirklich für dich. Tschüss.« Ich legte auf und lächelte Mark an. »Guten Morgen.«
»Alles in Ordnung?«, fragte er, und seine braunen Augen blickten leicht besorgt drein. Er trug einen marineblauen Anzug mit einer tiefroten Krawatte, die seine dunkle Haut vorteilhaft betonte.
»Ja. Danke für den Kaffee.«
»Gern geschehen. Bereit für die Arbeit?«
Ich grinste. »Immer.«
Ich brauchte nicht lange, um festzustellen, dass mit Mark etwas nicht stimmte. Er war geistesabwesend und mürrisch, was ihm gar nicht ähnlich sah. Wir arbeiteten an einer Kampagne für eine Sprachlernsoftware, aber er war alles andere als konzentriert. Ich schlug vor, noch über die Kampagne für regionale Bioprodukte zu sprechen, aber auch das nützte nichts.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich schließlich und begab mich damit voller Unbehagen auf freundschaftliches Terrain. Wir bemühten uns in der Regel beide, das während der Arbeit zu umgehen.
Alle zwei Wochen stellten wir die Arbeit zurück, und er lud mich zum Mittagessen mit seinem Partner Steven ein, aber ansonsten achteten wir streng darauf, unsere Rollen als Vorgesetzter und Mitarbeiterin einzuhalten. Dafür war ich ihm dankbar, denn Mark wusste, dass mein Stiefvater reich war. Ich wollte nicht, dass mir die Menschen mehr Aufmerksamkeit schenkten, als ich verdiente.
»Was?« Er blickte zu mir auf und fuhr dann mit der Hand durch sein kurz geschorenes Haar. »Tut mir leid.«
Ich legte meinen Tablet-PC in den Schoß. »Ich habe das Gefühl, dir liegt etwas auf dem Herz.«
Er zuckte die Achseln, drehte sich in seinem Aeron-Stuhl weg und wieder zurück zu mir. »Am Sonntag sind Steven und ich sieben Jahre zusammen.«
»Das ist doch toll.« Ich lächelte. Von sämtlichen Paaren, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt hatte, waren Mark und Steven das beständigste und liebevollste. »Gratuliere.«
»Danke.« Er rang sich ein schwaches Lächeln ab.
»Geht ihr aus? Hast du schon in einem Lokal reserviert, oder willst du, dass ich das für dich übernehme?«
Er schüttelte den Kopf. »Hab mich noch nicht entschieden. Ich weiß nicht, was das Beste wäre.«
»Dann lass uns mal überlegen. Ich hatte selbst noch nicht allzu viele Jahrestage, wie ich bedauerlicherweise zugeben muss. Aber meine Mutter ist eine Expertin darin. Ich habe den ein oder anderen Tipp aufgeschnappt.«
Nachdem sie bei drei wohlhabenden Ehemännern oft genug die Gastgeberin spielen musste, hätte Monica Tramell Barker Mitchell Stanton als professionelle Eventplanerin arbeiten können, wenn sie jemals gezwungen gewesen wäre, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
»Wünschst du dir eher etwas Privates«, fragte ich, »nur für euch beide? Oder eine Party mit Freunden und Familie? Schenkt ihr euch etwas?«
»Ich will heiraten!«, platzte er heraus.
»Oh. Okay.« Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »So viel Romantik kann ich natürlich nicht toppen.«
Mark stieß ein humorloses Lachen aus und sah mich unglücklich an. »Es sollte romantisch sein. Gott weiß, als Steven mich vor ein paar Jahren fragte, da hat er mich mit Herzen und Blumen überschüttet. Du weißt ja, wie sehr er das liebt – Drama, Drama, das volle Programm. Er hat sich selbst übertroffen.«
Ich blinzelte verblüfft. »Und du hast Nein gesagt?«
»Ich sagte: ›Noch nicht.‹ Ich hatte gerade angefangen, hier in der Agentur Fuß zu fassen. Er bekam die ersten wirklich lukrativen Aufträge, und wir erholten uns noch von einer schmerzhaften Trennung. Ich hielt es für den falschen Zeitpunkt, und ich war mir nicht sicher, ob er aus den richtigen Gründen heiraten wollte.«
»Das weiß man doch nie«, sagte ich leise, eigentlich mehr zu mir selbst als zu ihm.
»Aber ich wollte auch nicht, dass er dachte, ich hätte Zweifel an uns«, fuhr Mark fort, als hätte ich nichts gesagt. »Deshalb nannte ich als Grund, dass ich die Institution der Ehe ablehnte – ich Idiot.«
Ich verkniff mir ein Lächeln. »Du bist kein Idiot.«
»Während der letzten paar Jahre hat er mehr als einmal erwähnt, wie gut es gewesen sei, dass ich Nein gesagt habe.«
»Aber du hast doch gar nicht Nein gesagt. Du sagtest: ›Noch nicht.‹«
»Ich weiß es nicht mehr, Herrgott noch mal, ich weiß nicht genau, was ich damals gesagt habe.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und den Kopf in die Hände. Seine Stimme klang gedämpft. »Ich hatte Panik. Ich war vierundzwanzig. Vielleicht sind manche Menschen in diesem Alter bereit für derlei Verpflichtungen, aber ich … ich war es nicht.«
»Und jetzt bist du achtundzwanzig und bereit dazu?« Er war im gleichen Alter wie Gideon. Der Gedanke ließ mich erzittern, teilweise auch deshalb, weil ich im gleichen Alter war wie Mark, als er nach Ausflüchten gesucht hatte, und ich konnte das durchaus nachempfinden.
»Ja.« Mark hob den Kopf und sah mir in die Augen. »Ich bin mehr als bereit. Es ist, als ob die Uhr die Zeit runterzählt, und ich werde mit jeder Stunde ungeduldiger. Aber ich fürchte, jetzt wird er Nein sagen. Vielleicht war er vor vier Jahren bereit, und nun ist er drüber hinweg.«
»Es mag ja banal klingen, aber das weißt du erst, wenn du ihn gefragt hast.« Ich lächelte ihn ermutigend an. »Er liebt dich. Sehr sogar. Ich glaube, deine Chancen, doch ein Ja als Antwort zu bekommen, stehen verflucht gut.«
Trotz seiner leicht schiefen Zähne war sein Lächeln bezaubernd. »Danke.«
»Sag mir Bescheid, wenn ich etwas reservieren soll.«
»Das ist sehr lieb von dir.« Sein Gesichtsausdruck wurde wieder geschäftsmäßig. »Tut mir leid, dass ich dieses Thema so kurz nach deiner schlimmen Trennung anspreche.«
»Mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut.«
Mark musterte mich einen Augenblick lang aufmerksam. Dann nickte er.
»Lust auf Mittagessen?«
Ich blickte auf und in Will Grangers ernstes Gesicht. Will war der neueste Assistent bei Waters Field & Leaman, und ich hatte ihn eingearbeitet. Er trug Koteletten und ein eckiges Brillengestell. In der Kombination verliehen sie ihm einen leicht altmodischen Beatnik-Look, der ihm allerdings gut stand. Er war ein lockerer Typ, und ich mochte ihn. »Klar. Worauf hast du denn Lust?«
»Pasta und Brot. Und Kuchen. Vielleicht eine Ofenkartoffel.«
Ich runzelte die Stirn. »Na gut. Aber wenn ich ohnmächtig werde und sabbernd auf meinem Schreibtisch liege, weil ich ins Kohlehydratkoma falle, dann erklärst du das bitte Mark.«
»Du bist eine Heilige, Eva. Natalie ist auf so einem kohlehydratfreien Ernährungstrip, und ich halte es keinen Tag länger ohne Stärke und Zucker aus. Ich verkümmere förmlich. Schau mich nur an.«
Will und seine Freundin Natalie kannten sich seit der Highschool und schienen nach allem, was ich hörte, eine gute Beziehung zu führen. Ich zweifelte nicht daran, dass er für sie durchs Feuer gehen würde, und sie schien liebevoll für ihn zu sorgen, auch wenn er sich hin und wieder in gutmütigem Ton über ihre übermäßige Fürsorge beklagte.
»Du sagst es«, sagte ich und bekam plötzlich Sehnsucht. Von Gideon getrennt zu sein, war eine Qual für mich. Besonders, da ich von Freunden umgeben war, die alle in festen Händen waren.
Als es auf Mittag zuging und ich auf Will wartete, schickte ich eine SMS an Shawna – Marks Beinaheschwägerin – und fragte sie, ob sie Zeit für einen Mädelsabend am Samstag hätte. Ich hatte gerade auf »Senden« gedrückt, da klingelte das Telefon auf meinem Schreibtisch.
Energisch hob ich ab: »Mark Garritys Büro …«
»Eva.«
Meine Zehen krampften sich zusammen, als ich Gideons leise Reibeisenstimme hörte. »Hi, Ace.«
»Sag mir, dass alles gut ist mit uns beiden.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, mein Herz machte einen Satz. Er schien die gleiche beunruhigende Kluft zwischen uns zu spüren, die auch mich verunsicherte. »Alles ist gut. Bist du anderer Meinung? Ist etwas passiert?«
»Nein.« Er hielt inne. »Ich musste es nur noch einmal hören.«
»Habe ich mich gestern Nacht nicht deutlich ausgedrückt?« Als ich meine Nägel in deinen Rücken grub … »Oder heute Morgen?« Als ich vor dir kniete …
»Ich wollte es noch einmal von dir hören, wenn du mich nicht ansiehst.« Gideons Stimme streichelte meine Sinne. Mir wurde ganz heiß vor Verlegenheit.
»Tut mir leid«, flüsterte ich und fühlte mich unbehaglich. »Ich weiß, dass du dich über Frauen ärgerst, die dich nur als Sexobjekt betrachten. Das sollte dir bei mir erspart bleiben.«
»Ich würde mich nie darüber beklagen, dass ich genau das bin, was du willst, Eva. Du lieber Gott.« Sein Ton wurde ruppig. »Ich bin so verdammt froh, dass dir gefällt, was du siehst, denn Gott weiß, dass ich es verflucht noch mal liebe, dich anzuschauen.«
Ich schloss die Augen, als eine Woge des Verlangens mich erfasste. Die Gewissheit, dass ich ihm wichtig war, machte es noch schwerer, mich von ihm fernzuhalten. »Ich vermisse dich so sehr. Und es ist so seltsam, denn jeder denkt, dass wir uns getrennt haben, und dass ich nach vorn blicken soll …«
»Nein!« Das Wort explodierte so laut in der Telefonleitung, dass ich zusammenzuckte. »Verdammt. Warte auf mich, Eva! Ich habe mein ganzes Leben auf dich gewartet.«
Ich schluckte schwer, öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um Will auf mich zukommen zu sehen. Ich senkte die Stimme. »Ich würde ewig auf dich warten, solange du mir gehörst.«
»Es wird nicht für immer sein. Ich tue, was ich kann. Vertrau mir.«
»Das tue ich.«
Im Hintergrund klingelte ein anderes Telefon und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit. »Wir treffen uns pünktlich um acht«, sagte er rasch.
»Ja.«
Die Verbindung wurde unterbrochen, und sofort fühlte ich mich wieder einsam.
»Bereit fürs Essen?«, fragte Will und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Megumi aß mit ihrem Beziehungsphobiker zu Mittag, weshalb sie unsere Verabredung verschoben hatte. Es gab also nur noch Will und mich und so viel Pasta, wie er innerhalb einer Stunde essen konnte.
Da dachte ich plötzlich, dass ein kleiner Kohlehydratrausch vielleicht genau das war, was ich gerade brauchte. Also stand ich auf und antwortete: »Auf jeden Fall, los geht’s.«
Auf dem Rückweg vom Mittagessen kaufte ich mir einen kohlehydratfreien Energydrink. Als es auf fünf Uhr zuging, überlegte ich mir, dass ich nach der Arbeit im Fitnessstudio aufs Laufband gehen würde.
Ich war Mitglied im Equinox, aber eigentlich wäre ich lieber zu CrossTrainer gegangen. Ich empfand den Abgrund zwischen mir und Gideon gerade jetzt besonders deutlich, und wenn ich Zeit an einem Ort verbrachte, mit dem ich schöne gemeinsame Erinnerungen verband, würde sich das vielleicht geben. Außerdem wollte ich loyal sein. Gideon war mein Mann. Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um den Rest meines Le bens mit ihm zu verbringen. Für mich bedeutete das, ihn in allem zu unterstützen, was er tat.
Ich ging zu Fuß nach Hause. Mein Aussehen war mir nun egal, denn nach dem Workout im Fitnessstudio würde ich sowieso verschwitzt sein. Als der Aufzug auf meiner Etage anhielt, ertappte ich mich dabei, wie ich die Tür nebenan anstarrte. Meine Finger spielten mit dem Schlüssel, den Gideon mir gegeben hatte. Der Gedanke, hineinzugehen und mir seine Wohnung anzusehen, war verlockend. Ob sie wohl ähnlich aussah wie seine Wohnung in der Fifth Avenue? Oder vollkommen anders?
Gideons Penthouse war einfach überwältigend mit seiner Vorkriegsarchitektur und dem Charme der alten Welt. Sein Zuhause strahlte Wohlstand aus, wirkte aber dennoch warm und einladend. Ich konnte mir dort genauso gut Kinder wie ausländische Würdenträger vorstellen.
Wie hatte er sein vorübergehendes Domizil wohl gestaltet? Spärlich möbliert, keine Kunstwerke, eine nackte Küche? Wie häuslich hatte er sich hier eingerichtet?
Ich blieb vor meiner Wohnung stehen, starrte seine Tür an und diskutierte mit mir selbst. Schließlich widerstand ich der Versuchung. Ich wollte, dass er mich hineinführte.
Als ich mein Wohnzimmer betrat, hörte ich das Lachen einer Frau. Ich war nicht überrascht, als ich eine langbeinige Blondine neben Cary auf meiner weißen Couch sitzen sah. Ihre Hand lag in seinem Schoß und streichelte ihn durch die Jogginghose hindurch. Er trug noch immer kein Hemd, sein Arm lag um Tatiana Cherlins Schultern, und seine Finger streichelten träge ihren Oberarm
»Hey, Baby«, begrüßte er mich grinsend. »Wie war es bei der Arbeit?«
»Wie immer. Hi Tatiana.«
Sie antwortete mit einem Nicken. Sie war eine auffällige Erscheinung und arbeitete als Model. Mal abgesehen von ihrem Äußeren hatte ich sie von Anfang an nicht allzu sehr gemocht und tat es immer noch nicht. Aber wenn ich mir Cary so ansah, musste ich zugeben, dass sie ihm momentan vielleicht sogar guttat.
Seine Blutergüsse waren verblasst, aber er musste sich noch immer von einem brutalen Angriff erholen. Nathan hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt und damit die Ereignisse in Gang gesetzt, die Gideon und mich nun voneinander fernhielten.
»Ich ziehe mich um und gehe ins Fitnessstudio«, sagte ich und trat auf den Flur hinaus.
Hinter mir hörte ich, wie Cary zu Tatiana sagte: »Warte einen Augenblick, ich muss mit meinem Mädchen etwas besprechen.«
Ich betrat mein Zimmer und warf meine Tasche aufs Bett. Ich wühlte gerade in der Kommode herum, als Cary in der Tür erschien.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ich.
»Besser.« Seine grünen Augen blitzten schelmisch. »Wie steht es mit dir?«
»Besser.«
Er verschränkte die Arme vor der nackten Brust. »Weil jemand dich diese Nacht nach Strich und Faden gevögelt hat?«
Ich schloss die Schublade mit der Hüfte und gab zurück: »Ernsthaft? Ich kann nicht hören, was du in deinem Zimmer treibst. Wie kommt es, dass du mich hörst?«
Er tippte sich an die Schläfe. »Sexradar. Hab ich nun mal.«
»Was soll das heißen? Etwa, dass ich keinen Sexradar habe?«
»Nein, ich meine nur, dass Cross während eurer Sexathons deinen Kreislauf in Schwung gebracht hat. Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, was der für ein Durchhaltevermögen hat. Ich wünschte, er würde sich mal um mich kümmern und es mir so richtig besorgen, bis ich nicht mehr kann.«
Ich warf ihm einen Sport-BH an den Kopf.
Geschickt fing er ihn auf und lachte. »Also? Wer war’s?«
Ich biss mir auf die Lippe, denn ich wollte den einen Menschen nicht anlügen, der immer Klartext mit mir sprach, auch wenn es wehtat. Aber ich musste. »Ein Typ, der im Crossfire Building arbeitet.«
Sein Lächeln verblasste, er kam ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Und dann hattest du Lust, ihn mit nach Hause zu nehmen und dir die ganze Nacht das Gehirn herausficken zu lassen? Ich dachte, du warst bei deinem Krav-Maga-Kurs.«
»War ich auch. Er wohnt in der Nähe, und ich habe ihn nach dem Kurs zufällig getroffen. Eins führte zum anderen …«
»Sollte ich mir jetzt Sorgen machen?«, fragte er leise und betrachtete aufmerksam mein Gesicht, als er mir den Sport-BH zurückgab. »Du hattest schon lange keinen One-Night-Stand mehr.«
»So ist es ja auch gar nicht.« Ich zwang mich, Carys Blick standzuhalten, denn ich wusste, dass er mir sonst niemals glauben würde. »Ich … treffe mich mit ihm. Wir essen heute Abend zusammen.«
»Lerne ich ihn irgendwann kennen?«
»Klar. Aber nicht heute. Ich gehe zu ihm.«
Skeptisch spitzte er die Lippen. »Du verschweigst mir irgendetwas. Spuck’s aus.«
Ich wich der Frage aus. »Ich habe heute Morgen gesehen, wie du Trey in der Küche geküsst hast.«
»Okay.«
»Läuft es gut zwischen euch beiden?«
»Kann mich nicht beklagen.«
Mist. Wenn Cary einmal Lunte gerochen hatte, ließ er sich nicht so leicht davon abbringen.
Ich startete ein weiteres Ablenkungsmanöver.
»Ich habe heute mit Brett gesprochen«, sagte ich so beiläufig wie möglich, um keine große Sache daraus zu machen. »Er hat mich im Büro angerufen. Und nein, er war nicht der Kerl von letzter Nacht.«
Cary zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was wollte er denn?«
Ich schleuderte die Schuhe von mir und ging in Richtung Badezimmer, um mir die Reste des Make-ups aus dem Gesicht zu waschen. »Er kommt nach New York, um hier das Musikvideo für Golden vorzustellen. Er bat mich, ihn zu begleiten.«
»Eva …«, begann er in jenem tiefen Warnton, den Eltern für ungezogene Kinder reserviert hatten.
»Ich möchte, dass du mitkommst.«
Damit hatte er nicht gerechnet. »Als Anstandsdame? Traust du dir selber nicht?«
Ich betrachtete sein Spiegelbild. »Ich möchte nicht wieder mit ihm zusammenkommen, Cary. Nicht dass wir jemals zusammen gewesen wären, also hör auf, dir darüber Sorgen zu machen. Ich will dich dabeihaben, weil ich glaube, dass du dich dort amüsieren wirst, und ich will Brett keine falschen Hoffnungen machen. Er hat sich einverstanden erklärt, dass wir nur als gute Freunde hingehen, aber ich glaube, man muss ihm dieses Konzept noch einmal etwas genauer erklären, nur um sicherzugehen. Und um fair zu bleiben.«
»Du hättest ablehnen sollen.«
»Ich habe es versucht.«
»Ein Nein ist ein Nein, Baby. So schwierig ist das nicht.«
»Ach, halt den Mund!« Ich schrubbte mit einem Make-up-Entferner-Pad an meinem Auge herum. »Es ist schon schlimm genug, dass er mich aufgrund meiner Schuldgefühle dazu bringen konnte, ihn zu begleiten! Glaubst du, es macht mir Spaß, dieses Konzert zu besuchen, ohne zu wissen, wen ich dort treffen werde? Ich muss mich nicht auch noch von dir runtermachen lassen.«
Denn das würde Gideon sicher schon zur Genüge tun …
Cary runzelte die Stirn. »Warum zum Teufel fühlst du dich schuldig?«
»Brett ist meinetwegen ganz schön verprügelt worden!«
»O nein, er hat eins auf die Nase bekommen, weil er ein schönes Mädchen geküsst hat, ohne an die Folgen zu denken. Er hätte damit rechnen müssen, dass du vergeben bist.«
»Vorhaltungen wegen Brett kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen, okay?« Was ich tatsächlich brauchte, war Carys Meinung zu meiner Beziehung zu Gideon und zu den Sorgen, die mich plagten, aber ich konnte mich meinem besten Freund nicht anvertrauen. Und dadurch empfand ich alles, was in meinem Leben schieflief, als noch beunruhigender. Ich fühlte mich vollkommen allein und haltlos. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich auf ihn nicht mehr einlassen werde.«
»Da bin ich aber froh.«
Ich erzählte ihm so viel von der Wahrheit wie möglich, denn ich wusste, dass er mich nicht verurteilen würde. »Ich liebe Gideon noch immer.«
»Natürlich«, stimmte er ganz einfach zu. »Ich persönlich glaube sogar, dass er ebenfalls unter eurer Trennung leidet.«
Ich umarmte ihn. »Danke.«
»Wofür?«
»Dass du so bist, wie du bist.«
Er schnaubte. »Damit hab ich ja nicht gesagt, dass du auf ihn warten solltest. Was auch immer Cross’ Gründe sind, es spielt keine Rolle. Aber ich finde, dass du noch nicht bereit bist, gleich mit irgendeinem Kerl ins Bett zu hüpfen. Du bist zu oberflächlichem Sex nicht fähig, Eva. Sex bedeutet dir etwas; darum bringt es dich so dermaßen durcheinander, wenn du einfach so mit jemandem schläfst.«
»Du hast recht, das funktioniert nie«, stimmte ich ihm zu und reinigte weiter mein Gesicht. »Wirst du mich zu der Premiere des Videos begleiten?«
»Ja, ich komme mit.«
»Willst du Trey oder Tatiana mitbringen?«
Er schüttelte den Kopf, sah in den Spiegel und fuhr sich mit ein paar geübten Handbewegungen durchs Haar. »Das wäre wie ein Double Date. Es ist besser, wenn ich das fünfte Rad am Wagen bin. Größere Wirkung.«
Ich betrachtete sein Spiegelbild und lächelte sanft. »Ich hab dich lieb.«
Er warf mir eine Kusshand zu. »Dann pass auf dich auf, Baby. Mehr brauche ich nicht.«
Zu einer Einweihung verschenkte ich am liebsten Martinigläser von Waterford. Für mich repräsentierten sie genau die richtige Mischung aus Luxus, Spaß und Nützlichkeit. Ich hatte einer Freundin aus dem College welche geschenkt, die zwar nicht wusste, was Waterford-Kristall war, dafür aber Apple-Martinis liebte. Sogar meiner Mutter hatte ich sie geschenkt. Sie trank zwar keine Martinis, liebte aber Waterford. Eigentlich war es auch ein Geschenk, das ich problemlos Gideon Cross hätte machen können, obwohl er mehr Geld besaß, als für Normalsterbliche vorstellbar war.
Aber als ich an seine Tür klopfte, waren es nicht Gläser, die ich umklammerte.
Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und strich mir mit der Hand über die Hüfte, um mein Kleid zu glätten. Nach dem Fitnessstudio hatte ich mich ein bisschen aufgebrezelt und mir die Zeit genommen, meine neue Frisur perfekt zu stylen und mir Smokey Eyes zu schminken. Mein blassrosa Lippenstift war kussecht, und ich trug ein schwarzes Kleid mit tiefem, gerafftem Dekolleté und einem noch tieferen Rückenausschnitt.
Das kurze Kleid zeigte eine Menge Bein, was ich durch die Jimmy-Choo-Peeptoes noch betonte. Ich trug Diamantohrringe – die gleichen wie bei unserem ersten Date – und den Ring, den er mir geschenkt hatte. Es war ein auffälliges Schmuckstück mit verschlungenen goldenen Bändern, die von mehreren diamantenen X zusammengehalten wurden. Die Kreuze standen für ihn, für seinen Namen Cross, und hielten ihn an den verschiedenen Facetten meiner Persönlichkeit, den verschlungenen Bändern, fest.
Die Tür öffnete sich, und ich schwankte leicht beim Anblick dieses großartigen, umwerfend attraktiven Mannes, der mich willkommen hieß. Gideon hatte ebenfalls sentimentale Anwandlungen. Er trug den gleichen schwarzen Pullover, den er bei einer unserer ersten Begegnungen in einem Club getragen hatte. Er sah fantastisch darin aus – die perfekte Mischung aus Lässigkeit und sinnlicher Eleganz. Zusammen mit der grafitfarbenen grauen Hose und den nackten Füßen wirkte er auf mich wie das pure Verlangen.
»Mein Gott«, grummelte er. »Du siehst umwerfend aus. Nächstes Mal musst du mich warnen, bevor ich die Tür öffne.«
Ich lächelte. »Hallo, Mr. Dunkel und Gefährlich.«